Therapie narzisstischer Störungen

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Existenzialität, Identität und Kreativität.
Zur Therapie narzisstischer Störungen mit Hilfe von mal- und gestaltungstherapeutischen
Methoden.
Abschlussarbeit zur Ausbildung in Mal- und Gestaltungstherapie
MGT Österreich
Februar 2005
Inhaltsverzeichnis
I. VORWORT
II.WAS IST EINE NARZISSTISCHE STÖRUNG?
1. Phänomene der narzisstischen Störung
Ideal-sein wollen
Das Verhältnis zum eigenen Körper
Gefühle
Beziehung zu anderen
III. MEIN EXISTENZANALYTISCHES NARZISSMUSVERSTÄNDNIS
1. „Ich weiß nicht wer ich bin!“ Das Kernproblem des Narzissmus
2. „Nicht werden können“
IV. ZUR THERAPIE NARZISSTISCHER STÖRUNGEN
1. Vorteile der Anwendung mal- und gestaltungstherapeutischer Methoden bei
narzisstischen Störungen
Fördern des Selbstausdrucks
Innerer Raum und Emotionalität
Malen ist ein erstes Handeln
Ein Bild ist immer mehr, als der Malende intendiert hat.
2. Die therapeutische Haltung
3. Falldarstellungen und maltherapeutische Interventionstechniken
Nora – „Sich erlauben können, anders zu sein.“
Barbara in der Glasvitrine
Verwendete Methoden
Fördern des Selbstausdrucks in der ersten Therapiephase
Arbeit mit Gefühlen und Schlüsselsätzen
Arbeit mit Konflikten und gegensätzlichen Persönlichkeitsanteilen
Den eigenen Weg gehen: Eine Märchenimagination
V. BIBLIOGRAPHIE
I.VORWORT
Das Thema der narzisstischen Störungen bildet schon seit längerer Zeit einen Schwerpunkt
meiner therapeutischen Tätigkeit. Als ich 1997 meine Abschlussarbeit für die Ausbildung in
Existenzanalyse und Logotherapie zu diesem Thema verfasste, war mein Zugang noch
vorwiegend ein theoretischer. Damals war mir wichtig, die Grundzüge existenzanalytischer
Anthropologie und Therapie auf das Problem des Narzissmus anzuwenden. Ich habe in
meiner Schule damit sozusagen Pionierarbeit geleistet, denn Narzissmustheorie war nach wie
vor eine bevorzugte Domäne der Psychoanalyse und der damit zusammenhängenden
Objektbeziehungstheorie.
Damals wäre es mir noch unmöglich gewesen, einen Therapieteil zu schreiben. Ich hatte zwar
einige KlientInnen mit narzisstischen Störungen in meiner Praxis, meine therapeutische
Vorgangsweise war aber eher intuitiv und ziemlich unreflektiert. Durch meine Fortbildung im
Mal- und Gestaltungstherapie hat sich mein Arbeiten insgesamt verändert und erweitert: Es ist
im wahrsten Sinne kreativer geworden. Ich empfinde die Beschäftigung mit inneren Bildern
und Symbolen als kostbaren therapeutischen Schatz, der umfassenderes Verstehen, tiefe
Emotionalität und das Sichtbarwerden des Entwicklungspotentials eines Menschen in sich
birgt. In meiner Praxis machte ich die Erfahrung, dass kreative Methoden gerade in der
Behandlung narzisstischer Störungen sehr hilfreich sind. Durch meine Tätigkeit in einer
Beratungsstelle für Essstörungen hatte ich auch vermehrt mit KlientInnen zu tun, die an
Identitätsproblemen litten. So ist in den letzten Jahren langsam gereift, was nun der
Gegenstand dieser Arbeit ist: Eine Therapie narzisstischer Störungen mit Betonung mal- und
gestalttherapeutischer Methoden.
Natürlich muss ich damit auch nochmals zum Ursprung, zur Theorie zurück. In den ersten
beiden Abschnitten habe ich versucht, die Kernstücke meiner damaligen Arbeit in verkürzter
und überarbeiteter Form wiederzugeben. Dabei kommt meinem existenzanalytischen
Narzissmusverständnis ein besonderer Stellenwert zu, ist es doch nach wie vor
Ausgangspunkt und Grundlage meiner therapeutischen Tätigkeit. Das dritte Kapitel behandelt
dann die eigentliche Therapie narzisstischer Störungen, in welcher Existenzanalyse und Malund Gestaltungstherapie ineinander verwoben sind und sich gegenseitig ergänzen. Vielleicht
könnte man es für meine therapeutische Arbeit so formulieren: Ohne Existenzanalyse wäre
mir die Problematik der Identitätsstörungen in ihrem existenziellen Kern weniger erfassbar,
ohne Mal- und Gestalttherapie, hätte ich weniger Möglichkeiten, meine KlientInnen zu mehr
Authentizität und zu dem Wagnis zu führen, an der Welt und in steter Beziehung und
Auseinandersetzung mit ihr werden zu können, auch immer wieder neu werden zu können.
II. WAS IST EINE NARZISSTISCHE STÖRUNG?
Narzissmus ist in unserer Zeit schon zu einem strapazierten Begriff der Alltagssprache
geworden. Man ärgert sich über den narzisstischen Chef oder Politiker, sorgt sich im Hinblick
auf Erfolg und Karriere möglicherweise um den eigenen unterentwickelten Narzissmus.
Auch in der Fachwelt haben narzisstische Störungen Konjunktur. Psychiater und
Psychotherapeuten prognostizieren ein dramatisches Ansteigen dieses Krankheitsbildes in
unserer konsumorientierten und zunehmend beziehungsarmen Wohlstandsgesellschaft.
Gegenstand dieser Arbeit ist also ein sowohl breitgefächertes als auch viel diskutiertes
Phänomen; und so steht am Beginn die Schwierigkeit, eine möglichst kohärente und
praxisnahe Beschreibung der narzisstischen Grundstörung zu verfassen. Vorausgeschickt sei,
dass es beim Thema Narzissmus nicht eine Definition gibt, sondern es handelt sich um eine
viel diskutierte facettenreiche Theorie und je nach therapeutischer Schule gibt es
unterschiedliche Betrachtungsweisen und divergierende Meinungen, was noch oder gerade
nicht mehr einer narzisstischen Störung zuzuordnen sei. Zusätzlich ist Narzissmus nicht nur
eine Störung, gibt es ja auch den „gesunden Narzissmus“ und eine „gesunde narzisstische
Entwicklung“, die in unserer Psyche die Voraussetzungen für eine gegründete Identität und
einen stabilen Selbstwert schafft. Es handelt sich also auch um ein Grundthema des
menschlichen Seelenlebens und dies erklärt sowohl den Umstand, dass sich narzisstische
Themen auch in anderen Krankheitsbildern finden, als auch die Tendenz zu einer
thematischen Ausweitung insgesamt.
Bei einer Arbeit, die die Therapie narzisstischer Störungen zum Thema hat, erscheint es mir
sinnvoll, von der „narzisstischen Persönlichkeitsstörung“ auszugehen wie sie auch im DSMIII
beschrieben ist.1 Ausgehend von meiner früheren Arbeit über Narzissmus möchte ich
zunächst einige Phänomene der narzisstischen Störung beschreiben und dann meine
existenzanalytische Sicht darlegen. Ähnlich der Jung´schen Auffassung, dass jede Neurose
auf etwas Positives hinstrebt2, vertreten wir auch in der Existenzanalyse die Ansicht, dass in
jeder Störung eine existentielle Not zum Ausdruck kommt, die erkannt und erlöst werden will.
1. Phänomene der narzisstischen Störung:
1.1. Ideal-sein wollen
Das Bestehen idealer Selbstbilder und das unaufhörliche Streben nach „dem Ideal“ ist das
augenfälligste Charakteristikum der narzisstischen Störung. Schon der mythologische Narziss
ist seinem idealtypisch schönen Spiegelbild in der Quelle verfallen, das keine wirkliche
Berührung duldet.3
Menschen mit narzisstischen Störungen haben eine sehr bildhafte Vorstellung von sich und
die Beschäftigung mit diesen Bildern macht im wesentlichen die Beziehung aus, die sie zu
sich selbst haben. Die Bilder sind makellos, superlativ und frei von Ambivalenz. Sie ähneln
den Archetypen in Märchen und nicht so selten nehmen sich narzisstische Persönlichkeiten in
1
DSM–III-R. Diagnostische Kriterien und Differentialdiagnosen. Basel 1989, S.
Jolande Jacobi: Die Psychologie von C.G. Jung. Frankfurt a.M. 1978, S. 106
3
Ovid: Metamorphosen. Das Buch der Mythen und Verwandlungen. Zürich/München 1986, S. 72-77
2
Bildern von Märchenfiguren war, so etwa begegnet man dem Phänomen, das Leben einer
Prinzessin führen zu wollen, nicht so selten in der therapeutischen Praxis.
Die Bilder sind auch statisch, haben kein Geworden-sein und gründen nicht in der realen
Lebenserfahrung der Person. Gerade deshalb dulden sie keine Berührung mit der Realität, so
wie im Mythos die durch Berührung erzeugten Turbulenzen des Wassers das Spiegelbild des
Narziss gleich zum Verschwinden bringen.
Menschen mit narzisstischer Störung besitzen keine Identität, die sich auf ihren Wesenkern
und ihre konkreten Lebenserfahrungen gründet. Ihr Selbstgefühl hat somit etwas äußerst
fragiles und immer droht die Leere und die Bedeutungslosigkeit hinter der dargestellten oder
vorgestellten Grandiosität.
Eine meiner Klientinnen, ich werde sie im Folgenden Nora nennen, die sich in einer
Imagination mit ihrer Angst vor dem Dick-werden auseinandersetzte, beschrieb dies
folgendermaßen:
Ich stehe in einer Menge von anderen Frauen. Ich bin dünn, stark und überrage mit meiner
Größe alle anderen. Die anderen sind alle kleiner, dick und gar nicht einzeln, sondern eine
zerfließende Masse. Wenn ich nun etwas mehr esse, dann habe ich Angst, auch ich zerfließe in
dieser Masse von passiven und depressiven Frauen. Dann bin ich gar nichts mehr und habe
mein Leben nicht mehr in der Hand.
1.2. Das Verhältnis zum eigenen Körper:
Obiges Beispiel macht auch deutlich, dass sich die idealen Selbstvorstellungen nicht selten
auch auf den eigenen Körper beziehen und dieser somit zu einem wichtigen Aushängeschild,
zu einer unentbehrlichen Stütze der fragilen Identität wird. Die Beziehung zum narzisstisch
besetzten Körper ist rein visuell: Es zählt seine Macht, die Blicke der anderen auf sich zu
ziehen. Er wird gestylt, abgespeckt und modisch gekleidet. Narzisstischen Menschen fällt es
schwer, den eigenen Körper überhaupt zu fühlen, auf seine Signale zu achten und liebevoll
mit ihm umzugehen. Den Körper als Behausung der Seele zu schätzen, als Grundlage für Lust
und Genuss, ist diesen Menschen ganz fremd und es ist therapeutisch sehr hilfreich, diese
andere Sichtweise einzubringen und erfahrbar zu machen.
Das visuelle Verhältnis zum Körper hat auch Auswirkungen auf die Sexualität. Vielfach lässt
sich beobachten, dass nicht so sehr das sexuelle Erleben, das Genießen des anderen und des
eigenen Körpers im Vordergrund steht, sondern das Betrachten oder Betrachtet-werden. Die
Beschäftigung damit, wie der andere den eigenen Körper wohl gerade wahrnimmt, verstellt
oft überhaupt den Weg zur Lust und zur Begegnung. Sexualität erhält dadurch eine kühle,
distanzierte und ästhetisierte Note.
Der Körper wird zur Ikone der eigenen Vorstellung und wie das Geworden-sein in der
eigenen Identitätsentwicklung ausgeklammert bleibt, so ist auch die Vergänglichkeit ein
absolutes Tabu. Menschen mit narzisstischen Störungen haben mehr oder weniger bewusst
eine große Angst vor dem Älterwerden, und an diesen Umstand knüpfen sich mitunter eine
Reihe hypochondrischer Befürchtungen und Symptome.
1.3. Gefühle:
Da der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit auf den eigenen Selbstvorstellungen liegt, haben
Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstruktur generell Schwierigkeiten, Gefühle
bei sich wahrzunehmen und auszudrücken. Ihre Heimat ist der Kopf, nicht das Herz und nicht
der Bauch. Selbst über ihre Symptome oder ihr Leiden sprechen sie oft in einem distanzierten,
analysierenden Modus: Sie vermögen die Winkelzüge ihres Charakters, ihre Unsicherheiten
und Rückversicherungsmethoden schlüssig zu schildern, ohne das dabei ihr Ringen mit sich
selbst emotional spürbar wird. Dies ist eine Gefahr für die Therapie, fällt es doch schwer, eine
therapeutische Beziehung aufzubauen, wenn die reale Person so wenig spürbar ist. Die
Ungerührtheit, mit der solche Menschen von sich sprechen, überträgt sich leicht auf den
Therapeuten, der dann selbst zum distanzierten Beobachter und Kommentator wird.
Da die Welt mehr Projektionsfläche als Quelle sinnlicher und sinngebender Erfahrungen ist,
haben narzisstische Persönlichkeiten mehr zuständliche als wahrnehmende Gefühle: Sie
können schwer spüren, wie etwas oder jemand für sie ist und zumeist bleiben Menschen, mit
denen sie sich umgeben oder Dinge, mit denen sie sich beschäftigen, seltsam fern und
anonym.
Analog zu der Polarisierung der Selbstvorstellungen in „ideal“ und „schlecht“, haben
narzisstische Persönlichkeiten die Tendenz, vorwiegend die Extreme des
Empfindungsspektrums wahrzunehmen: Hochstimmung wechselt mit Niedergeschlagenheit,
Begeisterung mit Leere, Überlegenheitsgefühle mit tiefer Verunsicherung über das eigene
Sein.
So wie die Gewissheit einer stabilen, gegründeten Identität, mangelt es auch an einer
gleichbleibenden Grundgestimmtheit bzw. Grundstimmung. Bewundernde Anerkennung oder
das Ausbleiben derselben sind dabei jene Faktoren, die das Stimmungsbarometer nach oben
oder unten schnellen lassen. Auf diese Weise sind Menschen mit narzisstischen Störungen in
ihrem Selbstwert sehr exponiert und dies erklärt auch ihre hohe Schamanfälligkeit. Kohut
spricht in diesem Zusammenhang von einer hohen Anfälligkeit zu „traumatischen
Ereignissen“.4 Damit meint er alltägliche Situationen, die jeder als harmlos bewerten würde,
für solche Menschen aber narzisstisch bedeutsam sind und intensive Peinlichkeitsgefühle
auslösen. Als Beispiel nennt er etwa das Erzählen eines Witzes, der bei den anderen nicht
ankommt. Die Heftigkeit der ausgelösten Scham erklärt sich durch den Zustand der Offenheit
und der Erwartung auf Bestätigung, in der sich der Betroffene gerade befunden hatte.
Menschen mit narzisstischen Störungen fehlt der schützende Mantel fundierter
Selbsteinschätzung und deshalb sind sie den Bewertungen der anderen schutzlos ausgesetzt.
Die Exponiertheit des Selbstgefühls führt uns auch zu den charakteristischen Ängsten
narzisstischer Menschen. Auf einer halbbewussten oder unbewussten Ebene spüren sie die
Wackeligkeit ihrer Selbstvorstellungen und fürchten sich davor, ihre Größenphantasien
könnten eines Tages zusammenbrechen und sie selbst wären dann nichts, hohl und leer. Diese
latente Angst fungiert als Motor eines Kompensationsmechanismus, den man als zwängliche
Komponente beschreiben könnte. Manche Lebensbereiche sind stark kontrolliert und
verfeinert (etwa Kleidung, Essen, aber auch Tagesgestaltung) und Spontaneität wird
zugunsten von strengen Regeln und Perfektionismus geopfert. Gerade bei PatientInnen mit
Essstörungen spürt man sehr deutlich, dass es nicht nur um den idealen, schönen Körper geht,
sondern auch um eine Art der Selbstdefinition, der Abgrenzung von anderen und um eine
Manifestation von Stärke und Sicherheit.
1.4. Beziehungen zu anderen
Das „Heilen durch Beziehung“ ist ein wesentlicher Aspekt jeglicher psychotherapeutischer
Arbeit. Für eine erfolgreiche Therapie narzisstischer Störungen ist es unerlässlich, die
Phänomene der charakteristischen Beziehungsgestaltung genau zu kennen, da sie ja unter
Umständen auch in die therapeutische Beziehung hineingetragen werden und Erfolg und
Misserfolg einer Therapie wesentlich beeinflussen können.
4
Heinz Kohut: Narzissmus. Eine Theorie der Behandlung narzisstischer Persönlichkeitsstörungen. Frankfurt a.
M. 1973, S. 263
Wie bereits beschrieben, kreisen Menschen mit narzisstischen Störungen sehr um sich selbst.
Ihr letztlich unsicheres Identitätsgefühl, notdürftig abgesichert durch starre Idealbilder, ist
dabei der Motor, der die hartnäckige Dynamik der Selbstbespiegelung in Gang hält. Wir
erleben narzisstische Menschen in der Praxis zunächst meist als sehr selbstbezogen, kühl,
kopflastig, und es ist gar nicht so leicht, mit ihnen in Kontakt zu kommen. Volkan und Ast
sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Glaskugelübertragung“5 und meinen damit,
dass diese Klienten zu Therapiebeginn zumeist in selbstzentrierter Weise von irgendwelchen
Erlebnissen berichten, ohne auf Anfragen des Therapeuten zu reagieren und ohne Gefühle
aufkommen zu lassen.6
Menschen mit ausgeprägten narzisstischen Störungen können nicht in unmittelbaren Kontakt
mit anderen und mit der Welt im allgemeinen treten. Es fehlt ihnen die Fähigkeit, den anderen
in seiner Andersartigkeit und in seinem So-Sein wahrzunehmen.
Kohut unterscheidet in seiner Analyse der narzisstischen Persönlichkeit zwei Grundbereiche:
den Bereich des „Größenselbst“ („ich bin großartig und vollkommen´“) und den Bereich des
„allmächtigen Objekts“ („du bist großartig und vollkommen, aber ich bin ein Teil von dir“).7
Analog zu dieser Einteilung lassen sich zwei Grundphänomene narzisstischer
Beziehungsgestaltung ausmachen, die isoliert, parallel oder abwechselnd auftreten können:
das Phänomen des Bewundert-werden-wollens und das der Idealisierung einer anderen
Person.
Viele narzisstische Menschen sind während sie ihrer Arbeit nachgehen, bei Freizeitaktivitäten
oder auch im Bett mit ihrem Partner oft nicht ganz bei der Sache. Ihr Blick ist nach außen
gerichtet, haftet am Gegenüber, um zu beobachten, wie das, was sie gerade sagen oder tun,
ankommt und ob sie den Glanz der Bewunderung in den Augen des anderen wecken können.
Sie sind sehr darauf bedacht, welches Bild sie gerade machen und haben feine Antennen für
Billigung und Missbilligung. Oftmals sind sie Meister der Darstellung mit einem besonderen
Geschick, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und sie vermögen zu brillieren, zu
monologisieren und andere in den Bann zu ziehen. Nicht von ungefähr findet man unter
Führungspersönlichkeiten, anerkannten und beliebten Lehrern, Politikern und
„Psychotherapeutengurus“ nicht wenige „erfolgreiche Narzissten“. Die gelungene
Selbstdarstellung, die zurückflutende Woge unverhohlener Bewunderung führt bei solchen
Menschen zu einem intensiven Seinserlebnis, das ob seiner Flüchtigkeit immer wieder
angestrebt wird.
Nora erzählt in der Therapiestunde begeistert vom vergangenen Wochenende. Gemeinsam mit
ihrer Zwillingsschwester war sie von einem Diskothekenbesitzer engagiert worden, um auf
einem Podest zu tanzen. Auf diese Weise erhöht und vor bewunderndem Publikum vermochte
sie sich ganz der Musik hinzugeben, fühlte sich lebendig und stark. Wieder zu Hause und für
sich allein dominierten wieder ängstliche Besorgtheit über ihr Gewicht und schlechtes
Gewissen über ein paar Stück verzehrter Schokolade.
Dass viele Verhaltensweisen darauf ausgerichtet sind, das anerkennende Staunen der anderen
zu wecken oder einfach die Nummer eins zu sein, ist oft zu einer zweiten Haut geworden und
vielen gar nicht bewusst. Sie können dann zumeist gar nicht sagen, warum es ihnen auf
einmal wieder besser geht, depressive Symptome oder hypochondrische Ängste
verschwunden sind. Erst nach einem längerfristigen therapeutischen Prozess und wenn die
eigene Identität schon mehr gefestigt ist, kann es gelingen, den „Bewunderungsmechanismus“
bewusst zu machen und daran zu arbeiten.
5
Vamik Volkan; Gabriele Ast; Spektrum des Narzissmus. Göttingen 1994, S. 54
ebd. S. 75 ff.
7
Kohut, Narzissmus, S. 26
6
Nicht selten bezieht sich das Bedürfnis, in den Augen des anderen zu glänzen auf das jeweils
andere Geschlecht. Die unverhohlene Bewunderung eines anderen zu gewinnen wird bei
narzisstischen Menschen oft mit Geliebt-werden verwechselt, weshalb sie die Tendenz haben,
sich in ihre Bewunderer zu verlieben, mit ihnen Beziehungen einzugehen. Gleichzeitig spüren
sie manchmal ein gewisses Befremden, da sie die Begeisterung, die ihnen entgegengebracht
wird, ihrem Partner nicht erwidern können. Meistens wird für Außenstehende spürbar, dass
sie nicht sehr an dieser Person hängen, dass sie in gewissem Maße austauschbar ist. Wenn in
der therapeutischen Praxis Menschen mit narzisstischen Störungen von ihren Partnern
sprechen, bleiben diese für den Therapeuten trotz Nachfragen oft gesichts- und charakterlos.
Sie scheinen vielmehr eine geeignete, angenehme und sichere Kulisse zu sein, vor der sich
das Leben der jeweiligen Person abspielt.
Der bewundernde Partner, der das narzisstische Gleichgewicht aufrecht erhält, führt uns zum
anderen Pol narzisstischer Beziehungsgestaltung, dem der Idealisierung einer anderen
Person. Auch wenn die jeweiligen Positionen in einer narzisstischen Paarbeziehung fix
vergeben sind, so finden sich im Leben von in ihrer Größenvorstellung verharrenden
Narzissten zumeist einige wenige, die sie bewundern, die ihnen als Vorbild der
Vollkommenheit dienen. Sonst eher auf Unabhängigkeit bedacht, können narzisstische
Persönlichkeiten hier eine besondere, kindlich anmutende Anhänglichkeit entwickeln. Es fehlt
ihnen dann der kritische Blick, den anderen in seiner Gesamtheit, in seinen Stärken und
Schwächen wahrzunehmen.
In dieser häufig beobachtbaren Idealisierungstendenz scheint die Sehnsucht zum Ausdruck zu
kommen, endlich einmal das Ideal zu finden, das für längere Zeit Ruhe und Sicherheit gibt.
Letztendlich ist es die Sehnsucht, endlich einmal zu wissen, woran und wer man eigentlich
ist.
Idealisierung duldet keine Ambivalenz, kein sowohl - als auch und dies ist der Grund, warum
die Abwertung als deren Kehrseite sehr rasch erfolgt, wenn eine Person den an sie
herangetragenen Anspruch der Perfektheit und Vollkommenheit längerfristig nicht erfüllen
kann. In der Therapie narzisstischer Störungen ist diese Dynamik eine reale Gefahr. Ein
idealisierter Therapeut wird auch rasch wieder als solcher abgesetzt und das kann den
Therapieabbruch bedeuten.
Die plötzlich auftauchende Geringschätzung steht auch in Zusammenhang mit dem
Phänomen der leichten Kränkbarkeit narzisstischer Menschen. Da sie ihre Fühler beständig zu
den anderen ausgestreckt halten, um sich zu vergewissern, dass sie etwas besonderes sind,
sind sie an diesem Punkt sehr empfindlich und verletzlich. Sie sind sehr geneigt, sofort etwas
als Zurückweisung zu interpretieren, wenn ihnen einmal nicht die Aufmerksamkeit zuteil
wird, die sie sich gerade erwarten, wenn die andere Person vielleicht gerade mit etwas
anderem beschäftigt ist oder sie auf Rückmeldung warten müssen. Dieses Phänomen steht in
engem Zusammenhang mit der bereits weiter oben beschriebenen hohen Schamanfälligkeit.
Ein Modus mit dieser großen Verletzlichkeit umzugehen, ist bei diesen Menschen häufig der
Rückzug in eine „splendid isolation“8 Es ist ein Zustand der Selbstgenügsamkeit auf hohem
Niveau, ein Elfenbeinturm, der Überblick und Weitblick gibt, ohne sich mit den „Mühen der
Ebene“ oder des „Lebens da unten“ abgeben zu müssen. Menschen mit narzisstischen
Störungen haben häufig nur einen kleinen, erlesenen Freundeskreis oder überhaupt nur
näheren Kontakt mit einer Person , wo ihr Selbstbild keiner Gefahr ausgesetzt ist.
8
Vokan; Ast, Spektrum des Narzissmus, S. 54
Jakob beispielsweise lebte ziemlich zurückgezogen mit seiner Freundin. Er hatte in
Wien niemanden, den er als Freund hätte bezeichnen können. Er schätzte seine
Freundin als Gesprächspartnerin in philosophischen und weltanschaulichen Belangen
und debattierte gerne mit ihr, weil er bei ihr ein gewisses Niveau voraussetzen konnte.
Er empfand es als mühsam, sich mit anderen Personen zu unterhalten, denn hier
müsse man erst so vieles erklären, sich um banale Dinge streiten etc. .So blieb er
lieber in seiner abgeschlossenen Welt, die er als niveauvoll, angenehm und ihm
entsprechend empfand.
All diesen real inszenierten oder auch nur phantasierten „retreats“ ist gemein, dass sie einen
regressiven Charakter haben, dass sie einen Zustand der Ruhe und Zufriedenheit herbeisehnen
oder zeitweilig schaffen, in welchem es absolut keine Bedürfnisspannung gibt und keine
Gefahr die Idylle einstürzen lassen kann.
Wie bereits zu Beginn des Kapitels beschrieben, befinden sich Klienten mit narzisstischen
Störungen zu Beginn der Therapie nicht selten in dieser Art „Glaskugelzustand“. Für den
therapeutischen Umgang mit diesem Phänomen ist es wichtig zu begreifen, das es eine hohe
Schutzfunktion hat, die nicht ohne weiteres aufgegeben werden kann.
III. MEIN EXISTENZANALYTISCHES NARZISSMUSVERSTÄNDNIS
„Jeder, der um die Liebe weiß, weiß um dieses Gesetz: dass erst im Weggehen von sich selbst
die Offenheit entsteht, worin das Eigene wirklich und alles blühend wird.“9
Für die Therapie jeglicher Störungen ist es wichtig hinter die Phänomene der Störung zu
schauen. Bei ihnen zu verharren, würde bedeuten, den Klienten auf seine Erkrankung zu
reduzieren, er wäre dann eben nichts als -in diesem Falle - narzisstisch gestört. Therapie wäre
letztendlich gar nicht möglich, wenn wir nicht immer schon das Gesunde oder besser den
Menschen hinter seiner Erkrankung ansprechen und ihn zum Verbündeten im therapeutischen
Prozess machen könnten. In der Existenzanalyse sprechen wir in diesem Zusammenhang von
der „geistigen Person“ und meinen damit das Freie im Menschen, das hervortreten und zu
sich, seinem Leben und zu jedem anderen Sachverhalt Stellung beziehen kann.10 Die geistige
Person steht in semantischer Nähe zu Begriffen wie „Authentizität“ oder dem „wahren
Selbst“. Frankl war es aber immer wichtig zu betonen, das die Person nicht als etwas
Substantielles gedacht werden kann, sondern sie ist etwas „Fakultatives“11 , das im aktuellen
Lebensvollzug hervortreten kann. In einer jeweiligen Situation verhält sich jemand personal,
der, aus seiner inneren Freiheit heraus und in einem aktuellen Angesprochensein, zu etwas
oder zu jemandem Stellung bezieht oder eine Handlung setzt. Somit steht die geistige Person
über jeglicher Störung.
In der Therapie schreiben wir dem Verstehen gegenüber dem Helfen eine größere Bedeutung
zu. Das Verstehen des Therapeuten fördert das zunehmende Selbstverständnis des Klienten
und eine wachsende Fähigkeit, sich selbst in seinem Geworden-sein annehmen zu können.
Allerdings wissen wir auch aus Erfahrung, dass die Einsicht in das Warum noch lange nicht
bedeutet, dass sich daraus etwas verändert. In der Existenzanalyse geht es deshalb auch immer
um das Wozu. Damit meinen wir sowohl die individuelle Lebensausrichtung (Wozu will ich
gesund werden? Was will ich in meinem Leben verwirklichen?), als auch das Wozu einer
Erkrankung. Ähnlich der Jung´schen Auffassung, dass jede Neurose letztlich auf eine höhere
Entwicklung im Individuationsprozess hinstrebt 12, glauben auch wir in der Existenzanalyse,
das in jeder Störung eine existentielle Not zum Ausdruck kommt, die erlöst werden will. Auf
diesem Hintergrund könnte man jede psychische Störung überhaupt als einen gescheiterten
und immer wieder zum Scheitern verurteilten Selbstheilungsversuch bezeichnen. Auch in der
Therapie der narzisstischen Störungen ist es wichtig, sich zu fragen: Wonach wird in der
Störung verzweifelt gesucht? Was will so notwendig zum Leben kommen?
1. „Ich weiß nicht wer ich bin!“ Das Kernproblem des Narzissmus
Der Mythos schildert Narziss als einen Menschen, der sich - im Glauben er habe eine andere
Person vor sich - in sein eigenes, idealtypisch schönes Spiegelbild verliebt. Dieser Illusion
kann er nur erliegen, weil er sich selbst im Spiegel der Quelle nicht erkennt, weil er nicht
weiß, wer er eigentlich ist. Er verzehrt sich nach dem vermeintlich anderen und ist doch
immer nur bei sich, respektive bei seinem wunderschönen, letztlich aber gegenstandslosen
Bild von sich. Der Seher prophezeit ihm ein langes Leben, wenn er sich dieses Umstandes
9
Romano Guardini: Gedeutetes Dasein. Ein Romano Guardini Textbuch. Hildesheim 1986, S. 34
Viktor Frankl: Der leidenden Mensch. Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie. Bern 1975, s. 226
11
Viktor Frankl: Der Wille zum Sinn. Bern 1972, S. 113
12
Jacobi, S. 134
10
nicht bewusst wird. Seine existentielle Not, die schließlich sein Ende besiegelt, kommt zum
Ausdruck als er sein Spiegelbild erkennt und ihm somit klar wird, er kann den anderen/sich
selbst so nicht erreichen. Aber erkennt er sich damit wirklich selbst, so wie man die
Prophezeiung des Sehers zu Beginn der Geschichte zunächst deuten könnte? Ich glaube nicht,
denn dann könnte er sich von der Quelle, von seinem Selbstbild lösen, er bräuchte dort nicht
zu verkümmern. Er jedoch, immer noch in das Bild verliebt, bleibt, sucht sich und den
anderen dort, wo er nicht ergriffen, be-griffen werden kann.
Wenn wir uns an dieser Stelle nochmals vor Augen führen, wie Menschen mit narzisstischer
Persönlichkeitsstruktur Beziehungen zu anderen gestalten, dann erkennen wir die gleiche
Grunddynamik. Der Andere - als Bewunderer, als Ideal oder als abgewertetes Nicht-Ideal wird ja nicht aus seiner Mitte heraus, in seinem So-sein wahrgenommen, sondern er wird zum
Spiegel, erhält die Funktion, die eigene ideale Selbstvorstellung rückzuversichern oder er
muss, im Sinne der beschriebenen Idealisierung, selbst ideal sein, damit man an ihm ideal
werden, sich in seiner Größe spiegeln kann. In alldem ist zumeist eine große Rastlosigkeit und
auch Besessenheit spürbar: Immer wieder muss die narzisstische Persönlichkeit sich ihrer
Größe versichern, immer neue Ideale werden gesucht und auch ebenso rasch wieder
abgesetzt. Was ist der Motor dieser Hetze oder - im Bild des Narziss ausgedrückt - was hält
die narzisstische Persönlichkeit an der spiegelnden Quelle fest? Ich glaube, es ist die Suche
nach sich selbst, das notwendige Grundbedürfnis zu wissen, wer man eigentlich ist.
Allerdings, so könnte man sagen, ist es eine Suche an dem falschen Ort und eine Suche wird
ja bekanntlich zur Sucht, wenn das Gesuchte so nicht gefunden werden kann. Wir erleben
narzisstische Persönlichkeiten tatsächlich oft als süchtig: als arbeitssüchtig, geltungssüchtig,
publikumssüchtig etc. Wir erfahren sie als Menschen, die ihre Fühler stets zu den anderen
ausgestreckt haben, mit einer seismographischen Fähigkeit ausgestattet, Gefallen und
Missbilligung zu orten. Auf der augenscheinlichen Ebene geht es dabei um die
Rückbestätigung der eigenen Selbstbilder, auf existentieller Ebene aber geht es um die Frage:
„Wer bin ich?“ und in zweiter Linie auch um die Frage: „Bin ich wertvoll, so wie ich bin?“
Ich möchte an dieser Stellen noch einmal auf die weiter oben beschriebene Elfenbeinturmoder Glaskugelphantasie zurückkommen, die sich als die Sehnsucht begreifen lässt, glorreich
und von den „Niederungen des Daseins“ entfernt an einem abgeschiedenen Ort zu leben.
Jakob, der sich am liebsten nur mit auserwählten Personen umgab, wünschte sich
beispielsweise, dass er durch seinen Meditationslehrer zu absoluter Weisheit gelangen werde
und mit ihm auf diese Weise vereint, im Zustand der Allwissenheit verbleiben könnte.
Oberflächlich geht es einmal mehr um die Erreichung eines Ideals, existentiell aber um den
Wunsch, endlich – nach all der Suche – einmal anzukommen, sich sicher zu sein: „Ja, der bin
ich, darauf gründe ich, darauf kann ich mich bei mir verlassen!“
Was bedeutet es aber nun eigentlich nicht zu wissen, wer ich wirklich bin? Was fehlt mir,
oder positiv gefragt, was brauche ich, um mich in meinem So-sein erfahren zu können und um
ein in dieser Erfahrung gegründete Identität zu haben?
Diese Fragestellung führt unweigerlich zur Notwendigkeit, sich um eine Definition der
Begriffe „ich“ und „selbst“ zu bemühen. Die eigene therapeutische Vorgangsweise wurzelt ja
letztendlich nicht nur in dem persönlichen Narzissmusverständnis, sondern auch in der
Konzeption der zugrundeliegenden zentralen Begriffe.
Bekanntlich ist es eine Frage der psychologischen und psychotherapeutischen Schule, wie
diese Termini zu definieren sind. Im Alltag gehen wir sehr selbstverständlich damit um, sagen
„ich“, um uns als Zentrum unserer Handlungen, Erfahrungen, Vorstellungen und Ziele zu
beschreiben. (Ich habe das und das gemacht, gespürt, erfahren, gedacht etc.). Das Wort
„selbst“ verwenden wir eher in rückbezüglicher Weise (z.B.“ Darin habe ich mich selbst
gesehen.“) oder auch um das Eigene zu betonen. („Das habe ich selbst gemacht“ oder „Selbst
ich habe das geglaubt.“). Atmosphärisch hat das Wort „ich“ eine aktivere, bewusstere und
bestimmtere Note als „selbst“. Letzteres ist weiter, unbestimmter und unbestimmbarer.
Wenn man sich in psychologischen Wörterbüchern nach diesen Begriffen umsieht, so findet
man immer das „ich“, wird aber auf der Suche nach dem Selbst öfters nur an das Ich
verwiesen13. In anderen Fällen, wo eine begriffliche Differenzierung vorgenommen wird,
erfolgt die Unterscheidung durchaus in Anlehnung an unser Alltagsverständnis. Gemeinhin
wird das „Ich“ als der „Kern des Bewusstseins“14 aufgefasst, als „der bewusste Mittelpunkt
eines Subjekts oder Grundinhalt des Bewusstseins „ich bin“.15 In diesem Sinne ist das „ich“
auch Träger des Denkens, aller Erfahrungen und Willenshandlungen16 und jener „Ort“ in
welchem eine Abgrenzung zum Nicht-Ich, von äußeren Gegenständen, vom Du erfolgt.17
Auch in der Psychoanalyse wird das „Ich“ aktiv, realitätsbezogen und bewusst gefasst, es ist
jene Instanz, die zwischen den Ansprüchen des „Es“ (der Triebe) und jenen des „Über-Ichs“
(der verinnerlichten Normen) vermittelt und somit für ein psychisches Gleichgewicht sorgt.
Demgegenüber nimmt sich der Begriff des „Selbst“ komplexer aus und wird, je nach
psychologischer Richtung, unterschiedlich definiert.. So gilt es unter anderem als:
„die Ganzheit derjenigen Merkmale, die das Individuum als zu sich gehörig auffasst (...), teils
mehr begrifflich (Selbstkonzept), teils mehr emotional (Selbstgefühl).“18
Schneewind19 hat den Begriff des Selbstkonzepts auf seinen Bedeutungsgehalt in den
verschiedenen Richtungen untersucht und fand fünf Gruppen. Ihm zufolge wird das Selbst je
nach Schule 1. als Persönlichkeit, 2. als Prozess, 3. als Potential, 4. als Rolle oder 5. als
Portrait gefasst. In der ersten Bedeutung werden unter das „Selbst“ alle bewussten und
unbewussten Anteile der Persönlichkeit subsummiert, der Persönlichkeitsbegriff ist mit jenem
des Selbstkonzepts praktisch ident. In der zweiten Gruppe wird das Selbst als Instanz gesehen,
die bestimmte Funktionen auszuüben hat. In diese Kategorie fiele auch das Freud´sche Ich.
Jene Richtungen, die das Selbst als Potential definieren, postulieren eine dem Selbst inhärente
Tendenz zur Verwirklichung individueller Verhaltens- und Erlebnismöglichkeiten; hier wird
angesprochen, was wir gemeinhin mit Selbstentfaltung oder Selbstverwirklichung meinen.
Der soziologische Blickwinkel sieht das Selbst als Insgesamt der verschiedenen sozialen
Rollen, die eine Person im Umgang mit anderen im Laufe der Zeit erwirbt. Die fünfte Gruppe
nun versteht das Selbst als Abbild oder Portrait einer Person, als Summe der Wahrnehmungen
und Bewertungen, die eine Person von sich selbst hat.
In der Existenzanalyse gibt es keine expliziten Definitionen dieser Begriffe. Frankl streift sie
aber „en passant“ in seinem Buch „Der leidende Mensch“. Meine Konzeption der Begriffe
gründet in seinem Ansatz und deshalb möchte ich an dieser Stelle genauer auf Frankls
Auffassung eingehen. Er schreibt:
„Im Gegensatz zum faktischen Ich ist das Selbst etwas fakultatives. Es repräsentiert den
Inbegriff der Möglichkeiten des Ich. Diese Möglichkeiten sind solche der Sinnerfüllung und
13
siehe beispielsweise: Gerhard Leibold: Wörterbuch der Psychologie. Wiesbaden 1988
Bertelsmann Lexikon. Psychologie. Gütersloh 1995, S. 183
15
Reinhard Brunner, Michael Titze (Hg.): Wörterbuch der Individualpsychologie. München
1995, S. 238
16
ebd.
17
Bertelsmann Lexikon, S. 183
18
ebd., S. 438
19
Theo Herrmann u.a. (Hg.): Handbuch psychologischer Grundbegriffe. München 1977,
S.424 - 425
14
Wertverwirklichung, und als solche sind sie Möglichkeiten, die nicht zuletzt in der
Konfrontation des Menschen mit schicksalhaften Notwendigkeiten aufscheinen. Wer einem
Menschen um diese Möglichkeiten betrügt, beraubt ihn des Selbst als des Spielraums, in dem
das Ich atmet.“20
Wenn wir Schneewinds Einteilung folgen, so versteht also auch Frankl das Selbst als
Potential, als Möglichkeiten des Ich, für oder gegen die man sich frei entscheiden kann.21
Seine Definition steht, wenn auch hier nicht explizit ausgeführt, in engem Zusammenhang mit
dem Person-Verständnis der Existenzanalyse. Auch die Person ist etwas fakultatives22 , existiert, indem sie sich „zu welchem Sachverhalt auch immer - frei verhalten kann“23. Die
Person, als das Freie im Menschen, kann nur dort hervortreten, wo es Wahlmöglichkeiten
gibt, wo eine freie Entscheidung getroffen werden kann. Analog dazu kann, gemäß Frankls
Definition, das Ich - als Vollzugsorgan der Person - nur dort atmen, frei sein, wo es das
Selbst, oder besser einen Zugang zum Selbst gibt. Das Ich als personales, frei handelndes Ich
braucht also den Zugang zum Selbst. Dies schließt nicht aus, dass es das Ich, als das faktische,
nicht auch ohne diesen Zugang zum Selbst, ohne diesen Handlungsspielraum gibt. Nach
unserem Verständnis wäre es allerdings dann nicht personal, „es gehorchte einem anderen
Herren“, etwa dem der einfach übernommenen gesellschaftlichen Normen, selbstauferlegter
Zwänge, drängender Bedürfnisse etc. Können wir dies auch auf das Selbst umlegen, kann
auch es apersonal sein? Nach Frankls Überlegungen nicht. Er schreibt, dass man einen
Menschen seines Selbst beraubt, wenn man ihm die Möglichkeiten zur Wertverwirklichung
nimmt, wenn man ihm die Voraussetzungen entzieht, sich auch mit dem leidvollen
schicksalhaften Teil seines Lebens auseinander zu setzen. Wenn wir es, im Frankl´schen Sinn,
dann auch als Inbegriff der Möglichkeiten zur Wertverwirklichung verstehen, kommt neben
dem personalen Aspekt des Selbst noch ein zweites, wesentliches Charakteristikum hinzu, das
der Weltzugewandtheit. Werte können wir im existenzanalytischen Sinn nicht machen, sie
sind das, was uns anspricht und bewegt, sind „ein Stück Welt“, das in unser Leben getreten
ist24. Selbst-verwirklichung in diesem Sinne bedeutet dann auch Verwirklichung unserer Sinnund Wertmöglichkeiten. Unser Selbst als Potential kann also nur dann hervortreten, existieren, wir können es nur dann aktualisieren, wenn wir die Welt in uns hineinlassen und die
Offenheit haben, an ihr werden zu können. Das ist der Grundgedanke, der in Frankls
Definition des Begriffes Selbsttranszendenz zum Ausdruck kommt:
„Darunter verstehe ich (...), dass Menschsein immer über sich selbst hinaus auf etwas
verweist, das nicht wieder es selbst ist, - auf etwas oder auf jemanden: auf einen Sinn, den da
ein Mensch erfüllt, oder auf mitmenschliches Sein, dem er da begegnet. (...) ganz Mensch ist
der Mensch eigentlich nur dort, wo er ganz aufgeht in einer Sache, ganz hingegeben ist an
eine andere Person. Und ganz er selbst wird er, wo er sich selbst - übersieht und vergisst.“25
20
Viktor E. Frankl: Der leidende Mensch. Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie.
Bern 1975, S. 266
21
Auch in der Jungschen Psychologie hat das selbst potentiellen Charakter und ist die Grundbedingung für die
Ich-Entwicklung. Es wird als der geheime „spiritus rector“ angesehen, der unser Sein und unsere Entwicklung
begründet. Vgl. Verena Kast: Die Dynamik der Symbole.
22
Viktor E. Frankl: Der Wille zum Sinn. Bern 1972, S. 113
Frankl, Der leidende Mensch, S. 226
24
Alfried Längle: Wertberührung. in: Wertbegegnung. Phänomene und methodische
Zugänge. Tagungsbericht Nr. 1 und 2/ 1991 der GLE, S. 25
25
Viktor E. Frankl: Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse.
Wien 1982, S. 201
23
Wenn ich mich nun wieder dem Problem des Narzissmus zuwende, dann möchte ich von
diesem existenzanalytischen Selbst-Verständnis ausgehen und im Folgenden zeigen, dass
analog zu den beschriebenen beiden Aspekten des Selbst, zwei Grundbereiche des
menschlichen Seins bei der narzisstischen Störung in charakteristischer Weise betroffen sind :
jener des Person-seins und jener der Weltoffenheit, des Werdens an der Welt. Der Frage also,
was brauche ich, um zu wissen, wer ich bin, respektive was fehlt der narzisstischen
Persönlichkeit in dieser Hinsicht möchte ich in den zwei folgenden Abschnitten begegnen. Im
Unterkapitel „Nicht werden können“ möchte ich die Grundvoraussetzungen der SelbstErfahrung noch genauer darlegen und davon ausgehend beschreiben, was sich bei der
narzisstischen Persönlichkeit vor die Wert- und somit Selbstverwirklichung stellt. Der
Abschnitt „Die Antwort anstelle des Spiegels“ beschäftigt sich mit den
Grundvoraussetzungen des Person-seins und versucht die existentielle Problematik und auch
die Weisheit des Mythos noch einmal tiefer zu fassen.
2. „Nicht werden können“
„Das Dasein steht in der Spannung zwischen dem Seienden und Gesollten, und es bedarf
dieser Spannung. Denn der Mensch ist nicht da, um zu sein, sondern um zu werden...“26
Von einem existenzanalytischen Verständnis des Selbst ausgehend, brauche ich also die Welt
und die Weltoffenheit, um mich selbst erfahren zu können. Dass Welt- und Selbsterfahrung
im eigentlichen nicht zu trennen sind, erweist sich aber auch schon auf einer ganz basalen
Ebene: Wir werden in diese Welt geboren und können gar nicht anders, als uns in
Auseinandersetzung mit ihr zu erfahren. So brauche ich z.B. etwas, das ich ergreifen kann, um
die Erfahrung zu machen, dass ich Hände habe. Wie es letztendlich unmöglich ist, Berührung
von Berührt-sein zu trennen, so ist es also auch müßig zwischen Selbst- und Welterfahrung
überhaupt zu unterscheiden. Ich möchte dies anhand eines Beispiels noch genauer darlegen.
Nehmen wir an, ich besteige einen Berg. Ich setze eine Schritt vor den anderen, ich spüre den
Boden unter meinen Füßen, erfahre die Beschaffenheit des Weges, die Steile des Hanges.
Gleichzeitig erfahre ich etwas über meine Kraft, die Schwere oder Leichtigkeit meiner Füße,
meine Geschicklichkeit etc. Oben angekommen, werde ich den Ausblick genießen oder
vielleicht hauptsächlich meine Erschöpfung spüren. Aber jedenfalls habe ich etwas erfahren,
über den Berg und über mich. Vielleicht wird sich dieses Erlebnis in eine Reihe ähnlicher
Erfahrungen einreihen und ich erfahre einmal mehr, dass ich z.B. eine gute Bergsteigerin bin.
Anderenfalls erfahre ich etwas neues über mich, bin überrascht, dass ich so ausdauernd sein
kann. In jedem Fall wird dieses Erlebnis, vorausgesetzt ich war ganz dabei, mein „ich bin“,
mein Identitätsgefühl stärken, sei es im Sinne des schon Bekannten („Ich habe gewusst, dass
ich es kann!“) oder des Überraschenden („Aha, so bin ich also auch.!“)
Erfahrungen dieser Art erschließen mir also ein Stück der Welt und gleichzeitig einen Teil
meines Selbst. Aus der Vielzahl meiner Möglichkeiten ist eine damit zur Wirklichkeit
geworden oder , im Sinne Frankls ausgedrückt, ein Stückchen meines fakultativen Selbst
wurde so zum faktischen Ich.
Narzisstische Persönlichkeiten aber vermeiden gerade diese konkrete Auseinandersetzung,
das mitunter auch mühevolle Sich-erproben an der Welt. Sie wollen etwas sein (ein Ideal),
aber sie wollen nichts werden. So wie im Mythos die spiegelnde Quelle keine Turbulenzen
duldet, ohne auch schon das Bild verschwinden zu lassen, tolerieren die zerbrechlichen
Idealvorstellungen narzisstischer Menschen keine Erschütterungen durch die Realität, durch
26
Frankl, Der leidende Mensch, S.294
die wirkliche Berührung mit der Welt. Sie meiden es daher, konkrete Erfahrungen zu machen
und versperren sich dadurch auch den Weg, sich im hier und jetzt kennen zu lernen.
Anstelle einer personalen, im Lebensvollzug gegründeten Identität finden sich bei
narzisstischen Persönlichkeiten also Selbstbilder und ihre Selbstvorstellungen ersetzen die
sinnliche Selbst- und Welterfahrung. Wie bereits weiter oben beschrieben, sind diese
Selbstbilder frei von Ambivalenz, lebensfern in ihrer Vollkommenheit. Sie ändern sich nicht,
sondern kippen, wie das Umspringbild der „alten und jungen Frau“, ins Gegenteil, wenn die
Realität ihre Aufrechterhaltung zunehmend verunmöglicht. Auch wenn dies nicht passiert,
sind sie doch stets gefährdet, da sie ja nicht im Erlebten, im gelebten Leben, im persönlichen
Erfahrungsschatz begründet sind. Diese Gefährdung ist es, die die narzisstische
Persönlichkeit die sinnliche Selbst- und Welterfahrung immer wieder meiden lässt. Um es in
der Symbolik des Narziss auszudrücken: Statt der Welt sucht er/sie den Spiegel. Statt auf den
Berg zu steigen wird er davon träumen, Reinhold Messner zu sein. Er wird sich jemanden
suchen, der in ihm - auch so - den Bergsteiger erkennt oder er wird sein ideales
Bergsteigertum geschickt zu inszenieren wissen.
Keine Erfahrungen zu machen, hindert narzisstische Menschen also daran, sich in ihrer
Potentialität erfahren zu können. Gleichzeitig aber entziehen sie sich damit auch der
Begrenzung des Daseins, des Hier und Jetzt. Denn nur in der Begrenztheit meiner
Möglichkeiten kann ich meine Potentialität erfahren, bin ich auch handlungsfähig. Die
Verwirklichung eines Wertes verlangt ja gerade, dass ich mich momentan auf das eine
beschränken muss, es verlangt in gewisser Hinsicht eine Bescheidenheit im Aktuellen, im
jeweils zu Aktualisierenden. Wenn ich prinzipiell alle Fähigkeiten und Talente habe, so wie
Jakob das von sich glaubte, ja was soll ich dann tun? In der Unbegrenztheit ihrer
Idealvorstellungen entziehen sich narzisstische Menschen ihren Handlungsspielraum. Auch
Narziss kann nicht anders als bei der Quelle zu verharren und sogar auf der Fahrt in die
Unterwelt kann er sich noch nicht von seinem Bild trennen.
Nicht nur die Wertverwirklichung jedoch bedarf der Begrenzung. Eigentlich passiert ja
Selbsterfahrung im Allgemeinen an der Grenze, dort wo ich auf etwas treffe, etwas antreffe,
ein Widerstand sich mir entgegenstellt. Nicht nur im Gelingen sondern auch im Misslingen
erfahre ich etwas über mich und letztendlich ist es ja die Begrenztheit, auch die Begrenztheit
meiner Möglichkeiten, das Abgegrenzt sein von anderen, das mich in meiner Einmaligkeit
überhaupt konstituiert. In diesem Zusammenhang möchte ich erwähnen, dass ja in der
Literatur oft von „optimaler Frustration“ gesprochen wird, wenn es um die Frage geht, wie
sich ein gesunder Narzissmus entwickeln kann. Wir wissen auch, dass viele Narzissten in
ihrer Kindheit verwöhnt wurden. Sie galten, ohne sich anstrengen zu müssen, schon immer als
etwas besonderes. Ihre Eltern hatten schon ein genaues Bild (der Großartigkeit), eine fixe
Vorstellung, von dem, was sie sind oder einmal sein werden. So entzieht also auch die
Verwöhnung, das Nichtvorhandensein von Grenzen, dem Menschen die Möglichkeit, sich mit
der Welt und dann auch mit sich selbst auseinander zu setzen.
Ich möchte an dieser Stelle nochmals auf die Wertverwirklichung zurückkommen. Wenn
Erfahrungen unsere Selbsterfahrung bereichern sollen, wenn sie uns (auch manchmal
überraschende) Auskunft gegen darüber, wer wir eigentlich sind, dann haben sie immer die
Qualität der Wertverwirklichung. Sie erfordern, dass wir zum jeweiligen Zeitpunkt ganz bei
der Sache sind, offen für das, was uns gerade begegnet. Ich habe bereits angeführt, dass
narzisstischen Persönlichkeiten diese Offenheit fehlt, sich ansprechen zu lassen. Der
narzisstische Bergsteiger in meinem Beispiel sieht ja nicht den Berg, nicht die Schönheit der
Natur etc., er sieht lediglich sich auf dem Berg ,genauer gesagt, am Gipfel. Seine Selbstbilder,
derer er sich stets auch durch andere rückversichern muss, versperren ihm den Weg, den
„Kostbarkeitscharakter der Dinge“ überhaupt wahrzunehmen. Indem ein narzisstischer
Mensch, um sich selbst zu finden, seinen Blick stets auf sich gerichtet hält und sich in den
Bildern zu fassen versucht, die er vor sich herträgt, verliert er die Existenzialität seines
Daseins. Man könnte sagen, dass er, indem er sich der Welt verschließt, sich auch selbst
verfehlt, nicht erfahren kann, wer er eigentlich ist. Im Mythos stirbt Narziss an dem Umstand,
dass er nur von optischen und akustischen Spiegeln umgeben ist. Als er sich in seinem
Spiegelbild erkennt, erkennt er sich nur in der Faktizität seines eingekerkerten Ichs, nicht aber
im Fakultativen, in seinem personalen Selbst, was ja auch bedeutet hätte, dass er die
Möglichkeit hat, anders zu werden. Dazu hätte er - doch dies ist Gegenstand des nächsten
Abschnittes - nicht nur das andere sondern auch den anderen gebraucht. Wir können den
Tod des mythologischen Narziss als Symbol für den Verlust von existenziellem Leben
begreifen.
Das Nicht-zum-Leben-kommen, die existentielle Dynamik der narzisstischen Persönlichkeit
möchte ich an dieser Stelle zum Abschluss nochmals schematisch darstellen:
ideale Selbstvorstellungen


Unsicherheit:
Wer bin ich?
Welt wird zum Spiegel
zur Rückversicherung
der Selbstvorstellungen

kein Zugang zur Welt
der Werte


keine Erfahrungen sammeln können
und somit keine gegründete Selbsterfahrung im hier und jetzt
erwerben können
3. „Die Antwort anstelle des Spiegels“
„Ebenso entscheidend für das Heilsein der Person ist die Liebe. Lieben bedeutet, die
Wertgestalt im fremden – vor allem im personalen - Seienden zu erblicken, deren Gültigkeit
zu spüren; zu fühlen, es sei wichtig, dass sie bestehe und sich entfalte; von der Sorge um diese
Verwirklichung als wie um Eigenes erfasst zu werden.“(Hervorhebung d. Verf.)27
Von den vielen Bedeutungsaspekten, die der Person in der Existenzanalyse zukommen,
erscheint mir einer im Zusammenhang mit dem Problem des Narzissmus als besonders
27
Guardini, Gedeutetes Dasein, S. 34
bedeutend: Die Person ist einzigartig. Sie ist ein „absolutes Novum“ und in ihrer geistigen
Existenz nicht übertragbar. Sie kann nicht von Generation zu Generation weitervererbt
werden. Weitergegeben werden körperliche und charakterliche Eigenheiten, in den Worten
Frankls „Bausteine“, nicht aber der „Baumeister“.28 Die Person als das somit wesenhaft
Andere ist dem Ideal oder der idealen Selbstvorstellung diametral entgegengesetzt. Letzteres
konstituiert sich ja geradezu durch die Entledigung der persönlichen Anteile, ist die
Verallgemeinerung im Superlativ. Das Ideal-sein ist im eigenen Streben und in der Biographie
narzisstischer Persönlichkeiten immer an ein „So werden oder so sein müssen wie...“geknüpft
und ist somit a priori an eine Ausklammerung des Personalen gebunden.
Im letzten Abschnitt habe ich ausgeführt, dass sich das personale Selbst und somit auch die
personale Identität nur an der Welt und im Austausch mit ihr entfalten können. Hier möchte
ich der Frage nachgehen, ob dies denn schon ausreicht, ob, um das Bild des Bergsteigers
wieder zu bemühen, der Berg allein genügt, um mir zu sagen, wer ich bin.
Die Existenzanalyse geht davon aus, dass der Mensch Person ist von Anfang an29 und dass es
ein ursprüngliches, nicht weiter rückführbares Wissen um dieses Person-sein gibt. Damit
einhergehend seien wir mit einem grundlegenden Gespür ausgestattet zu erkennen, ob ich als
Person angesprochen, in meinem Wesen gemeint bin oder nicht.30 Wir postulieren also dieses
ursprüngliche Wissen um uns selbst, doch bleibt es uns auch erhalten? Unsere therapeutische
Erfahrung belehrt uns eines anderen und gerade narzisstische Persönlichkeiten haben große
Schwierigkeiten zu unterscheiden zwischen echter, personaler Wertschätzung und
Bauchpinselei, zu abhängig sind sie von der Rückspiegelung ihrer Selbstvorstellungen. Dieses
ursprüngliche Wissen kann also leicht verschüttet werden und aus diesem Umstand würde ich
ableiten, dass es neben der Weltoffenheit noch eines Zweiten bedarf, um uns in unserem Sosein und in unserer Personalität erfahren zu können, um zu begreifen, wer wir sind: es bedarf
der Rückmeldung, der Antwort einer anderen Person auf unser ureigenstes Wesen. Nur damit
erhalten wir eine Einladung in die Welt, wird der Raum konstituiert, der uns uns selbst in
unserer Einzigartigkeit und die Welt in ihrer Wertpotentialität erschließt. Anstelle des Spiegels
bedürfen wir der Antwort, anstelle der Bewunderung brauchen wir die Liebe.
Gerade narzisstische Persönlichkeiten aber sind von Spiegeln umgeben, von ihren eigenen
Selbstvorstellungen und von Personen, denen die Aufgabe zukommt, sie in diesen zu
bestätigen. Da sie den anderen also vorwiegend als Projektionsfläche benutzen, kennen sie die
Liebe - im Sinne der Wertschätzung des wesensmäßig anderen - nicht. In diesem Sinne wird
ihnen auch nur selten wirkliche Liebe zuteil, da die Personen in ihrer Nähe bei der
Bewunderung ihrer Größe „hängen bleiben“ und ebenfalls nicht zum Personalen vordringen.
Das existentielle Scheitern des Narziss, seine misslungene Suche nach sich selbst ist auch auf
dem Hintergrund dieser letztlich unglücklichen Liebesgeschichte zu verstehen. Auch er will
ja, dass sein Spiegelbild ihm antwortet. Er verzweifelt, als er erkennt, dass er nur von
Spiegeln umgeben ist, es den anderen als den wesensmäßig Verschiedenen gar nicht gibt und
er somit keine wirkliche, reale Liebe erfahren kann. Man könnte auch sagen, er erkennt, dass
narzisstische Liebe keine Erfüllung bringt. Er, der selbst auch nicht liebesfähig war und für
die anderen nur Geringschätzung übrig hatte, wird mit dem Fluch bestraft, auch keine
wirkliche Liebe zu erfahren. Auf einer tieferen Ebene erschließt uns der Mythos also die
Weisheit, dass Liebe zwischen wesensgleichen Personen (man könnte auch sagen,
narzisstische Liebe als Form der Selbstbespiegelung) nicht zur Existenz führen kann. Dies
deckt sich mit dem existenzanalytischen Verständnis von Liebe:
„Gegenüber der Begegnung scheint mir nun die Liebe einen Schritt weiter zu gehen, und zwar
insofern, als sie den Partner nicht nur in seiner ganzen Menschlichkeit erfasst, sondern
28
Frankl, Wille zum Sinn, S. 109
Alfried Längle: Die Person und der andere
30
Ausbildungsmitschrift
29
darüber hinaus auch in all seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit, und das heißt: als Person;
denn Person ist ein Mensch kraft der Tatsache, dass er nicht nur Mensch unter anderen ist,
sondern auch anders als alle anderen ist (...)Und erst dadurch, dass der Liebende den
Geliebten in dessen Einmaligkeit und Einzigartigkeit erfasst, wird der Geliebte für den
Liebenden zu einem Du.“31
Wenn wir die Liebe auf diese Art verstehen und wir uns auch der Sichtweise Bubers
anschließen, dass sich das Ich erst an der Erfassung des wesensmäßig anderen, am Du
konstituiert32 , so wird deutlich, dass es zur Selbsterkenntnis die Liebe braucht, die Liebe
sowohl als die Fähigkeit einen anderen in seinem Wesen zu schätzen, als auch als das
Geschenk, von einem andern in seiner Einzigartigkeit gesehen worden zu sein.
Ein gesunder Narzissmus und folglich ein reales Selbstbild kann sich somit nur aus der
Erfahrung des Angesprochen-seins, des Ernstgenommen-werdens und aus dem Erleben
entwickeln, dass einem etwas zugetraut wird (im Gegensatz zu Über- und Unterforderung). Er
ernährt sich durch das liebevolle Einlassen auf das andere und den anderen. Man könnte auch
sagen, ein gesunder Narzissmus wurzelt in der Liebe, gedeiht am Verschiedenen und
verkümmert im Spiegelkabinett.
31
32
Frankl, Ärztliche Seelsorge, S. 202
ebd., S. 25
IV. ZUR THERAPIE NARZISSTISCHER STÖRUNGEN
Der Mythos endet tragisch: Narziss verkümmert an der Quelle, gefangen in seiner
permanenten Selbstbespiegelung und verzehrt von der Sehnsucht nach dem vermeintlich
„anderen“ Jüngling, von dem er nicht ablassen kann, obgleich er schmerzlich erkennt, dass
dieser nur substanzloser Spiegel seiner selbst ist.33
Es ist nicht der jugendliche, selbstverliebte Hochmut des Narziss, der sein Leiden und seinen
Tod besiegelt, sondern die Erkenntnis seiner Selbsteinkerkerung und die Erfahrung, dass es
das wesenhafte Andere und somit auch eine erfüllte Liebesbeziehung für ihn nicht geben
kann.
Analog dazu begeben sich Menschen mit narzisstischen Störungen nur dann in Therapie,
wenn sie zu ahnen beginnen, dass ihr Leben, ihre Beziehungen und ihre Identität gar nicht „so
wirklich“ sind. Hypochondrische Ängste, eine manifeste Essstörung oder eine gescheiterte
Beziehung können Auslöser solcher latenter Erkenntnisprozesse sein.
In die therapeutische Praxis kommen also nicht die „Tänzer“ oder die „erfolgreichen Jäger“
sondern die schon „an der Quelle festgenagelten“ und Gegenstand jeder Therapie muss es
sein, sie von dort wegzulocken, sie mit der „anderen“ Welt in Berührung zu bringen. Erst im
Weggehen von sich selbst kann, so wie Guardini sagt, die Offenheit entstehen, dass das
Eigene wirklich und das Andere wertvoll wird.34
Dieses Unterfangen ist nun nicht gerade leicht und es ist hilfreich, sich bewusst zu halten,
dass die permanente Selbstbespiegelung von einer fundamentalen Angst gespeist wird: der
Angst, dass hinter den Bildern und Identitätskonstrukten eigentlich nichts und niemand ist.
Eine erfolgreiche Therapie narzisstischer Störungen darf sich also keineswegs der
Dekonstruktion der idealen Selbstvorstellungen widmen, sondern sie muss in einem
langwierigen und langfristigen Prozess einen neuen Boden bereiten, auf den sich eine neue
Art der Identität und der Identitätsgefühls gründen kann.
Mal- und gestaltungstherapeutische Methoden sind für mich zu einem sehr hilfreichen
Instrument in diesem Prozess geworden. Deshalb möchte ich meine Ausführungen mit einer
kurzen Skizzierung der Vorteile kreativer Techniken beginnen.
Die phänomenologische Beschreibung und mein existenzanalytischer Narzissmusverständnis
hatte in den ersten Abschnitten deshalb so breiten Raum, weil sie die Grundlage meiner
therapeutischen Haltung sind, die ich im nächsten Abschnitt darlegen werde.
Therapie und somit auch Narzissmustherapie ereignet sich immer in der aktuellen und
konkreten Begegnung mit dem jeweils individuellen Klienten und entzieht sich deshalb einer
allgemeinen Darstellung in gewisser Weise. Deshalb werde ich an Hand konkreter
Fallbeispiele versuchen, mein therapeutisches Arbeiten erfahrbar zu machen. Überall, wo ich
kann, werde ich konkrete Übungen oder bewährte Methoden anfügen.
1.Vorteile der Anwendung mal- und gestaltungstherapeutischer Methoden bei narzisstischen
Störungen:
1.1. Fördern des Selbstausdruckes:
Menschen mit narzisstischen Störungen sind biographisch gesehen vielfach dressierte Kinder,
angehalten dazu, den Bildern der Eltern zu entsprechen. In ihrem Selbstausdruck wurden sie
nur immer dann bestätigt, wenn sie den Erwartungen entsprachen. Das lässt wenig bis gar
keinen Raum für Spontanes, Halbfertiges und für jenes weite Land an „dunklen“ Gefühlen
33
34
Ovid, Metamorphosen, S.
Guardini, S. 34
wie etwa Trauer, Enttäuschung, Unsicherheit etc.. Im Erwachsenenalter – wo man dann den
eigenen/verinnerlichten Selbstvorstellungen gehorchen muss – ist die Tür zur Welt ganz
streng bewacht, hinaus darf eigentlich nur, was dem entspricht, wie man idealerweise sein
möchte.
Der Förderung eines spontanen Selbstausdrucks kommt bei der Therapie narzisstischer
Störungen folglich ein eminente Bedeutung zu. Mal- und gestaltungstherapeutische Methoden
sind hier eine große Hilfe. Mit Hilfe kurzer Imaginationen und kleiner Malaufträge kann man
den spontanen Ausdruck stufenweise fördern und die Angst vor unkontrollierter
Selbstäußerung nehmen. Das Malen eines inneren Bildes und die anschließende
Bildbesprechung kommt darüber hinaus jenem Vorgang gleich, der in der Kindheit
Voraussetzung für die Entwicklung eines gesunden Narzissmus ist: ein spontaner Ausdruck
aus der eigenen Mitte hat Raum und erhält eine konkrete Antwort in der Welt.
1.2. Innerer Raum und Emotionalität:
Klienten mit narzisstischen Störungen sind sehr „im Kopf“ und haben eine große Tendenz zu
Rationalisierungen. Sie können sich selbst oft psychologisch genau beschreiben und
formulieren, woran sie leiden, ohne das jedoch ihre seelische Not wirklich spürbar wird. Da
sie keinen oder nur sehr wenig Zugang zu ihrer wahren seelischen Natur haben, mangelt es
ihnen auch an emotionaler Plastizität in ihrem Erleben und in ihrem Ausdruck.
Ausschließliche Gesprächstherapie läuft bei diesem Klientenkreis Gefahr in
Rationalisierungen stecken zu bleiben. Die Provokation innerer Bilder und das Zeichnen
derselben sind aus diesen Gründen ein ausgezeichneter Weg den Rede- und
Rationalisierungsfluss dieser Klienten zu unterbrechen. Allein die die Imagination einleitende
Entspannungsformel eröffnet bereist einen Raum für eine andere Qualität inneren Erlebens,
einen Raum den diese Klienten, biographisch gesehen, durch den hohen Erwartungsdruck
ihrer Eltern, nie hatten.
Da die Wesensnatur von Menschen mit narzisstischen Störungen größtenteils im
Unbewussten schlummert, sind Methoden, die unbewusste Inhalte evozieren, hier von Vorteil.
Die Beschäftigung mit den auf diese Weise entstandenen Bildern führt dann erstmals zu jener
inneren, emotionalen Berührung, die die Klienten im bloßen Schildern ihrer Probleme und
ihres Leidens vermissen lassen.
1.3. Malen ist ein erstes Handeln.
Ich habe im vorangegangenen Kapitel bereits dargestellt, dass sich Menschen mit
narzisstischen Störungen dem konkreten Handeln entziehen, weil sie fürchten, ihre idealen
Selbstvorstellungen könnten der Realität nicht standhalten. Umgekehrt ist es therapeutisch
natürlich überaus wichtig gerade diese Klienten zu einer konkreten Auseinandersetzung mit
der Welt zu bringen. Nur so erhalten sie die Möglichkeit eine in der realen Erfahrung
gegründete Identität zu entwickeln.
Für mich stellt das Malen eines inneren Bildes, eines Gefühls etc. einer ersten
Handlungsschritt dar, es ist ein erstes Tun, das den Weg für weitere Handlungsschritte
erleichtern kann. In der bildlichen Darstellung lege ich mich erstmals (wenn auch in weitem
Rahmen) fest und ich schaffe etwas Bleibendes, auf das im weiteren Therapieverlauf
zurückgegriffen werden kann.
In den Bildserien, die in der Therapie entstehen, lässt sich der Entwicklungsweg
dokumentieren, den ein Klient gegangen ist. Für jemanden, der von seiner Selbstvorstellung
her immer schon „ist“ und eigentlich „nicht werden kann“, ist dies möglicherweise eine ganz
entscheidende Erfahrung.
1.4. Ein Bild ist immer mehr als der Malende intendiert hat
Zum Abschluss möchte ich noch einer eher philosophischen Überlegung Ausdruck verleihen.
Im schöpferischen Akt liegt eine Analogie zum Individuationsprozess, zum Weg der
Selbstwerdung.
Wir wissen, dass sich ein gemaltes Bild in seiner Bedeutung nie vollkommen erschließt. Dem
Symbol haftet immer etwas numinoses an. In der Therapie erleben wir es nun oft, dass
gemalte Bilder immer wieder auftauchen und wichtig werden. Vielfach erhellt sich dabei ein
weiterer Aspekt des Symbols und man könnte sagen, dass manche Bilder als Marksteine und
Wegweiser im therapeutischen Prozess und somit im Weg der Selbstfindung fungieren.
Analog dazu verhält es sich im Individuationsweg allgemein. Mein Selbst erschließt sich mir
nie vollkommen und es ist ein lebenslanger Weg, mich in immer neuen Facetten und
Variationen zu erfahren. Frankl sagte einmal: Immer bin ich mehr, als ich oder ein anderer
von mir wissen kann.35 Auch Verena Kast stellt fest, dass Individuation immer eine Utopie
bleibt, „weil dieses absolute Ganzwerden, das uns immer wieder vor Augen steht, überhaupt
nicht möglich ist.“36
2. Die therapeutische Haltung:
Therapie ist ein Prozess mit verschiedenen Stadien, die sowohl Klient als auch Therapeut
immer wieder vor spezielle Herausforderungen stellen. Therapie ist auch nie ein linearer
Entwicklungsprozess, sondern verläuft in spiraligen Schleifen, die sich manchmal zu einer
tieferen Bedeutung hin verengen, um sich dann wieder zu größerem Handlungsspielraum oder
zu erhöhter Beziehungsfähigkeit hin zu erweitern.
Wie bei jeder Behandlung so ist es auch bei der Therapie narzisstischer Störungen zunächst
einmal wichtig, eine tragfähige Arbeitsbeziehung aufzubauen den Grundstein für eine
grundsätzliche Therapiemotivation zu legen.
Gerade bei meinen jungen Klientinnen habe ich die Erfahrung gemacht, dass das Ansprechen
der zugrundeliegenden Thematik in der ersten Stunde in dieser Hinsicht sehr förderlich ist.
Dabei ist es natürlich sehr wichtig, die eigene Hypothese positiv zu formulieren, wie z.B.:
„Ich habe das Gefühl, dass Sie auf der Suche nach sich selbst sind, dass es darum geht, dass
Sie sie selbst sein können...“
Ganz wesentlich ist es auch, das Gesagte nicht als Feststellung zu präsentieren, sondern als
Frage, die dem Klienten den Raum gibt zu spüren, ob der Therapeut damit etwas
Wesentliches von ihm und seinem Leiden verstanden hat. Die damit entstehende Atmosphäre
von Ernsthaftigkeit und wirklichem Interesse schafft ein erste tragfähige Basis und nährt das
Vertrauen in die Kompetenz des Therapeuten.
Bei narzisstischen Störungen steht der Therapeut immer vor einer grundsätzlichen
Herausforderung, der Aufgabe, nach etwas zu suchen, was sehr im Verborgenen liegt. Dabei
geht es keineswegs um ein „authentisches Selbst“, das es unversehrt und vollkommen,
vergleichbar einem längst versunkenen Schatz, zu heben gilt. Vielmehr geht es um das
Erspüren eines energetischen Feldes, das man als Wesensnatur oder als Potential bezeichnen
könnte. Diese Spurensuche verlangt vom Therapeuten Intuition und Offenheit. Zunächst geht
es einmal darum, ohne Erwartungsdruck dem Klienten einen Raum zu eröffnen in der
Haltung, dass man ein ernsthaftes Interesse an der noch verborgenen Person hat. Für den
betreffenden Klienten ist es ganz wichtig (möglicherweise erstmals in seinem Leben) zu
erfahren, dass er frei von bestimmten Erwartungen etwas von sich zeigen kann.
35
36
Viktor Frankl: Ärztliche Seelsorge, S. 22
Verena Kast: Dynamik der Symole, S. 16
Über den gesamten therapeutischen Prozess hinweg, erscheint es mir wesentlich, dass die
Entscheidung, ob angebotene Erklärungen und Deutungen zutreffen, immer explizit angefragt
wird und beim Klienten verbleibt. Andernfalls würde sich das Muster wiederholen, abermals
den Bildern und Erwartungen eines anderen entsprechen zu müssen.
Dies bedeutet aber nicht , dass sich der Therapeut als Person nicht einbringen soll, im
Gegenteil. Nur wenn die Wesensnatur und die Menschlichkeit des Therapeuten spürbar und
erlebbar ist, entsteht ein wirkliches Gegenüber und die Chance, dass sich narzisstische
Übertragungen nicht voll entwickeln oder leichter wieder zurückgenommen werden können.37
In einer Therapiephase, wo es schon darum geht, starre Selbstbilder und Perfektionsansprüche
zu lockern und erste neue Erfahrungen zu wagen, ist es sehr hilfreich, wenn der Therapeut
sich als einen Menschen einbringt, der selbst einen Entwicklungsprozess durchgemacht hat.
Zu erfahren, dass der Therapeut beispielsweise auch einen längeren Suchprozess durchlaufen
hat, um seine berufliche Identität zu finden , kann manchmal für den Betroffenen sehr
entlastend sein. Generell ist es wichtig, immer wieder zu vermitteln, dass es letztendlich
immer Erfahrung und konkrete Auseinandersetzung mit der Welt um uns ist, die unser
Identitätsgefühl prägen und im Laufe unserer Biographie auch immer wieder modulieren.
Wenn es dem Klienten in zunehmenden Maße gelingt, anzunehmen, dass man dabei Umwege
und Fehler machen darf, wird und soll, ist schon viel gewonnen.
3. Falldarstellungen und maltherapeutische Interventionstechniken
3.1. Nora - „Sich erlauben können, anders zu sein.“
Nora gehört zu jenen jungen Frauen, nach denen man sich umdreht. Sie ist auffallend groß,
hat einen dunklen, südländischen Teint und ihr feinen Gesichtszüge werden von roten Locken
umrahmt. Sie ist intelligent, temperamentvoll und weltoffen. Ihre Familie stammt aus der
Ukraine. Als sie 11 Jahre alt war, verließen sie ihre Heimat Richtung Deutschland. Seit sie 13
ist, wohnt sie gemeinsam mit ihren Eltern und ihrer eineiigen Zwillingsschwester in
Österreich und studiert Philosophie und Pädagogik.
Nora kommt in Therapie, weil sie seit 3 Jahren an Anorexie leidet und ihre Lebensqualität
durch ihr zwanghaftes Essverhalten, den ständigen Streit mit der Mutter und durch ein
ausgeprägtes Konkurrenzverhältnis zu ihrer Schwester stark eingeschränkt ist.
Ihre Zwillingsschwester hatte zunächst mit der Magersucht angefangen. Nora hat eine sehr
enge Beziehung zu ihr, die durch Zuneigung und Vertrautheit, aber auch durch Konkurrenz
und Kontrolle gekennzeichnet ist. Lisa, so erlebt es Nora, war immer die bessere Schülerin,
hübscher und beliebter bei den Freundinnen. Bis zur Matura waren sie immer in der gleichen
Klasse und sie müssen sich zu Hause auch jetzt noch ein Zimmer teilen, da die elterliche
Wohnung fein, aber doch eher klein ist. Die Mahlzeiten nehmen die Schwestern immer
gemeinsam ein und jede ist sehr darauf bedacht, nicht mehr als die andere zu essen. Nora will
unbedingt mindestens so dünn sein wie die Schwester, denn – so erlebt sie es gefühlsmäßigwarum soll Lisa immer recht haben. Gleichzeitig hat sie das höhere Problembewusstsein, was
die Essstörung betrifft und macht sich auch große Sorgen um ihre Schwester. Wenn Nora
einmal etwas Freudiges erlebt, bekommt sie gleich ein schlechtes Gewissen: Sie hat kein
Recht, dass es ihr besser geht. Schuldgefühle und Neidgefühle sind eng miteinander verwoben
und wechseln einander ständig ab.
Auch die Ablösung von den Eltern gestaltet sich schwierig. Die Familie war nach Österreich
gekommen, um sich hier ein besseres Leben aufzubauen. Leistung und Erfolg hatten seit jeher
37
Vgl. auch dazu: Irvin D. Yalom: Der Panama-Hut oder Was einen guten Therapeuten ausmacht. München
2002, S. 21 ff,
einen hohen Stellenwert. Nora und Lisa gingen in ihrer Heimat trotz angespannter finanzieller
Situation in eine Eliteschule. Sie waren der ganze Stolz der Eltern und bei den Lehrern als
Musterschülerinnen stets beliebt . Unter Klassenkameradinnen galten sie wegen ihrer
bescheidenen Herkunft als Außenseiterinnen und Streberinnen. Der Vater hegte stets eine
zärtliche Liebe zu seinen hübschen Töchtern und hat nun große Schwierigkeiten, sie ins
Erwachsenenleben zu entlassen. Auf zunehmende Autonomiebestrebungen reagiert er
gekränkt und eifersüchtig. Die Mutter war stets der kühlere Pol und mehr auf die schulischen
Leistungen ihrer Töchter konzentriert. Auch die Ernährung wurde seit jeher von ihr stark
reglementiert. Durch die Essstörung Noras und Lisas gibt es hier jetzt ein erhebliches
Konfliktpotential. Die Mutter verhält sich nun abwertend und enttäuscht. Sie bringt offen zum
Ausdruck, dass die Töchter so sein sollten wie sie, mit ihren Interessen und weniger
kompliziert.
Nora formuliert in der ersten Stunde bereits ihre Therapieziele. Sie möchte weniger Angst
haben vor dem Zunehmen und sich nicht ständig mit ihrer Schwester vergleichen müssen. Ich
teile ihr meine Wahrnehmungen der ersten Stunde mit und frage sie, ob es nicht eigentlich
darum gehe, dass sie sie selber sein kann ohne Schuldgefühle. Sie stimmt mir begeistert zu,
fühlt sich erkannt und verstanden. Dieses gemeinsame Erfassen der Grundthematik schafft die
Basis für eine hohe Therapiemotivation, die im gesamten Verlauf anhält. In den nächsten
Stunden entwickelt sie, was man psychoanalytisch als positive, idealisierende Übertragung
bezeichnen kann. Nora trägt sich schon seit längerer Zeit mit dem Gedanken, am Ende des
Studiums eine Therapieausbildung zu machen. Sie sieht mich als kompetente, erfahrene
Therapeutin, von der sie viel lernen kann. Gleichzeitig steht sie maltherapeutischen Methoden
zunächst sehr skeptisch gegenüber, obgleich sie zu Hause sehr gerne zeichnet. Ich spüre ihre
Angst, auch dieser Bereich könnte – wie so vieles in ihrem Leben – unter einen Bewertungsund Leistungsdruck kommen.
Um ihren Selbstausdruck zu fördern, liegt der Schwerpunkt am Anfang der Therapie dann
zunächst auf Musik und auf kreativen Übungen und Imaginationen, die sie zu Hause macht
und von denen sie mir keine konkreten Ergebnisse mitbringen muss.
Die Beziehung zu ihrer Schwester steht in der Therapie zunächst im Vordergrund. Da die
existentielle Notwendigkeit, sich von der Schwester abzugrenzen und sich selbst gegenüber
der Schwester zu definieren, symbolisch auf der Ebene der Schlankheits-Konkurrenz
ausgetragen wird, ist es mir zunächst wichtig, dass sie andere Formen der Abgrenzung und
der Unterscheidung von der Schwester findet. Diese ersten „Selbstdefinitionen“ sind umso
nachhaltiger, wenn sie nicht ausschließlich auf der verbalen Ebene erfolgen. So zeichnet sie
sich zu Hause als Blume oder sie arbeitet mit einer Imagination, wo aus einem Samen zwei
unterschiedliche Bäume wachsen und sie sich imaginativ in den einen Baum hineinversetzt,
wächst, Raum greift etc. Gerne kommt sie meinem Vorschlag nach, zwei Musikstücke in die
Stunde mitzubringen, von welchen das eine ihr gefällt und ihr Wesen ausdrückt und das
andere für ihre Schwester steht. Ganz berührt spielt sie mir ihr Lieblingslied, das Lied einer
ukrainischen Sängerin vor. Es ist ein Wiegenlied und wird mit warmer, weicher Altstimme
gesungen. Der Text beschreibt die Schönheit der Natur und vermittelt dem Kind, dass es
beruhigt sein kann, weil alles so ist, wie es sein soll. Nora mag diese Sängerin sehr und es
wird deutlich, dass dieses Lied sehr viel mit ihren Wurzeln in ihrer Heimat zu tun hat.
Gleichzeitig wird spürbar, dass diese Melodie und die Stimme der Sängerin in Nora jenes
energetische Feld ins Schwingen bringen, das ich ihren Wesenkern oder ihre Authentizität
nennen möchte. Im therapeutischen Prozess ist auch die Botschaft des Liedes immer wieder
präsent: Im Wesentlichen geht es darum, dass Nora immer mehr erkennt, dass es genügt so zu
sein, wie sie ist und dass es keiner rigorosen Schlankheits- und Leistungsdoktrin bedarf, um in
ihrer Besonderheit wahrgenommen zu werden.
Nach den ersten drei Monaten der Therapie geht die Zwillingsschwester für ein Semester ins
Ausland. Nora erlebt diese Trennung zunächst als krisenhaft und verstärkt ihr kontrolliertes
Essverhalten. In zunehmendem Maße kann sie aber diese Zeit der Trennung nützen, sich die
Konflikte mit der Schwester genauer anzuschauen. Einen Schritt hinaus aus der Familie zu
tun, ist für Nora immer mit großen Schuldgefühlen verbunden. Die Schwester fühlt sich dann
verlassen und setzt sie emotional unter Druck. Nun verspürt sie Neid, weil es nun die
Schwester geschafft hat, sich etwas zu distanzieren und dem emotionalen Druck der
Familiensituation zeitweilig zu entkommen. Auch Noras Vater zeigt ein sehr anklammerndes
und latent erotisiertes Verhalten. Obwohl Nora bereits 20 Jahre alt ist, will der Vater, dass sie
am Abend beim Fernsehen auf seinem Schoß sitzt und fragt gekränkt und vorwurfsvoll, ob sie
ihn nun verlassen würde, wenn sie es nach fünf Minuten nicht mehr aushält. Da der Vater
immer der gefühlsbetontere Elternteil war, der sich der Probleme seiner Töchter stets
angenommen hatte, ist bei Nora der Konflikt zwischen dem Wunsch nach mehr
Eigenständigkeit und der Angst, dem Vater weh zu tun, besonders groß.
Die emotionale Verstrickung in Beziehungen und anklammernde symbiotische Bindungen
finden sich sehr häufig in der aktuellen Lebenssituation von Menschen mit narzisstischen
Störungen. Gründliche Arbeit an den Schuldgefühlen ist daher therapeutisch eine notwendige
Voraussetzung, dass sich der Raum zum Selbst-sein überhaupt erst konstituieren kann. Dabei
ist es immer wieder wichtig, den Klienten in seinem ursprünglichen Recht nach
Eigengehörigkeit zu bestärken, den emotionalen Missbrauch deutlich zu machen und ihn zu
begleiten, wenn er anderen weh tun muss, um den eigenen Weg zu gehen. Ich arbeite gerne
mit Gleichnissen, um den Klienten die eigene Lebensberechtigung und die
Eigenverantwortlichkeit der anderen emotional näher bringen zu können.
Für Nora ist dies sehr hilfreich, als sie während der Therapie mit dem Vorwurf der Mutter
konfrontiert ist, Nora würde ihr Leben zerstören. Wie besprechen zunächst die
Eigenverantwortlichkeit der Mutter, ihre Möglichkeiten, Hilfe in Anspruch zu nehmen etc.
und als alles nichts hilft, sage ich ihr, es sei wie mit einem reißenden Fluss. Ich könne ihm
nicht vorwerfen, dass er eine zerstörerische Kraft habe. Es liegt in meiner Verantwortung, mit
diesem Fluss umzugehen, Übergänge zu finden, der Strömung zu folgen... Nora hat plötzlich
Tränen in den Augen und fühlt sich von der Last der Schuldgefühle befreit. Ich glaube, sie
fühlte, dass ihr eigener Lebensfluss angesprochen war und es der Mutter nicht zustünde oder
gelänge, ihn aufzuhalten.
Im ersten Kapitel habe ich beschrieben, dass anstelle eines authentischen Idenditätsgefühls bei
Menschen mit narzisstischen Störungen immer ideale Selbstvorstellungen stehen, die sehr
hartnäckig sind, weil gleichzeitig die Angst besteht, in Wirklichkeit nichts und niemand zu
sein. Therapeutisch ist es notwendig, diese „Konstrukte“ und die damit verbundenen Ängste
zu bearbeiten, in Frage stellen oder gar dekonstruieren darf man sie aber nicht. Vielmehr ist es
wichtig, parallel in der therapeutischen Arbeit den Selbstausdruck zu fördern, den
authentischen Wesenskern zu spiegeln und den Patienten anzuregen, sich selbst mehr ins
Leben einzubringen und neue Erfahrungen zu sammeln. Erst wenn sich ein neues,
authentischeres und ein im eigenen Lebensvollzug gegründeteres Selbstgefühl entwickelt hat,
können starre und bildhafte Selbstvorstellungen immer mehr losgelassen werden.
Bei Nora ist ihr ideales Selbstbild sehr stark mit ihrer Essstörung verbunden. Sie fühlt sich
stark und herausragend, weil sie dünn ist. „Ja, schaut nur her, so will ich sein!“ möchte sie
gerne Leuten zurufen, die sich nach ihr umdrehen. Es gefällt ihr aufzufallen.
Je mehr Nora im Therapieverlauf nun ihren eigenen Interessen nachgeht (Sie malt oft und
beginnt mit einer Gesangsausbildung.), desto mehr kann sie sich ihren idealen
Selbstvorstellungen stellen und desto stärker erlebt sie deren einschränkenden Charakter. Im
sechsten Therapiemonat arbeitet sie verstärkt an ihrer Esstörung. In diesem Zusammenhang
schildert sie ihre eigene Elfenbeinturmphanatasie.
Sie steht in einer Landschaft wie ein alles überragender Turm. Um sie, weit unten ist die
Masse der Menschen, vielmehr der Frauen. Die sind alle irgendwie willenlos, schwach,
ordinär. Würde sie nun einfach essen, so hat sie die Angst, in dieser Masse unterzugehen. Sie
wäre dann auch nur depressiv und willenlos wie alle anderen. Ein aktives, selbstgestaltetes
Leben wäre dann nicht mehr möglich.
Zunächst bearbeiten wir die in dieser Vorstellung enthaltenen Ängste: Kennt sie Situationen,
wo sie sich willenlos, schwach und ausgeliefert fühlt oder fühlte? Nora fallen viele Erlebnisse
mit ihrer Mutter ein, in welchen sie sich ihren Erwartungen hilflos ausgeliefert sah. Einmal
hatte sie in der Volksschulzeit mit ihrer Schwester eine Nacht lang das Einmaleins geübt, weil
ihre Mutter am Vorabend so verzweifelt gewesen war, weil sie es noch nicht fehlerlos
beherrschte. Schmerzlicher aber noch hatte sie die Gymnasialzeit in Erinnerung, als sie als
Tochter aus bescheidenen Verhältnissen krampfhaft um die Zughörigkeit und Anerkennung
der reichen Mitschülerinnen gekämpft hatte.
Nora erkennt, wie sehr ihre Eltern – mit dem Anspruch, ihre Töchter müssten etwas
besonderes sein – diesen Elfenbeinturm mitgebaut hatten und welcher Anstrengungen es
bedurfte und bedarf, immer herausragend sein zu müssen. Obwohl ihr Dünn-sein auch die
Funktion hat, Willensstärke gegenüber ihrer Mutter zu zeigen, wird ihr nun immer mehr
bewusst, dass sie mit ihrer unerbittlichen Härte gegenüber sich selbst viel von der
mütterlichen Strenge verinnerlicht hat. Sie erkennt, dass ihre Anorexie zwar dem Zweck
dient, sich selbst als ein eigenständiger Mensch zu fühlen, dass sie aber auf diese Weise noch
keinen Raum hat, sie selber zu sein.
Nora zeichnet ihre Angst vor dem Dick-werden. Die breiten Hüften und der vorgewölbte
Bauch sind körperliche Merkmale ihrer Mutter.
Auseinandersetzung mit ihrem Leistungsstress und den verinnerlichten Erwartungen der
Eltern.
Im weiteren Verlauf der Therapie gelingt es Nora immer besser ihren eigenen
Leistungsanspruch zugunsten sozialer Kontakte, Gesang und kreativer Betätigung zu lockern.
So erlebt sie immer mehr unmittelbare Freude an eigenem Tun, Zugehörigkeit und eine
Anerkennung, die sich nicht ausschließlich auf ihr Äußeres bezieht.
Nun bringt Nora sogar Bilder mit, die zu Hause spontan entstanden sind. Eines davon zeigt
eine rundliche Vase, aus welcher bunte, konzentrischen angeordnete Kreise hervorquellen.
Dieses Bild macht ihr besondere Freude und lässt sich als Ausdruck ihrer wachsenden
Lebendigkeit verstehen. Die rundliche Vase deutet darauf hin, dass das Rundliche und somit
auch das Weibliche langsam einen positiven Bedeutungsgehalt bekommt. Es ist ein Hinweis,
dass die Bearbeitung ihrer Mutterproblematik positive Wirkung zeigt.
Umso mehr Nora sich selbst in ihrem Leben einbringt, umso leichter wird es auch mir, ihre
Authentizität zu spüren und widerzuspiegeln. Auf diese Weise vertieft sie in der Therapie das
Erleben, dass sie immer schon etwas besonderes ist und sich gar nicht so anzustrengen
braucht, um einer idealtypischen Vorstellung zu entsprechen.
Auch in der Psychotherapie gibt es nie eine vollkommene Heilung. Noras neues Selbstgefühl
ist in der letzten Phase ihrer Selbsterfahrung noch immer sehr vulnerabel und leicht irritierbar
durch ihre bildhaften Vorstellungen oder durch andere schöne Frauen. In dieser Zeit arbeiten
wir noch einmal verstärkt mit Imaginationen, die ihr authentisches Selbstgefühl stärken
sollen. Sie stellt sich beispielsweise vor, dass in ihrem Inneren und durch ihre eigene Energie
eine Blume wächst, die der ureigenste Ausdruck ihrer Persönlichkeit ist. Nora zeichnet
anschließend diese Blume und arbeitet öfters mit ihr, wenn sie verunsichert ist. Gleichzeitig
übt sie, im Umgang mit sich selbst immer mehr auf ihr inneres Gespür und weniger auf ihre
Selbstbilder zu vertrauen.
Noras Blume als Ausdruck ihrer Persönlichkeit
Am Ende der Therapie möchte Nora noch einmal ihre innere Blume zeichnen. Als Kind hatte
sie eine Märchensendung sehr geliebt. Der Vorspann zeigte eine aus einer Bohne sprießende
Pflanze, die immer neue Ranken und Blüten bildete und Wohnstatt für viele
Phantasiegestalten war. Die Erinnerung an das kindliche Entzücken, das ihr diese Sequenz
immer bereitete und das Malen dieser neuen/alten Blume wird für Nora zu einem starken
Seinserlebnis.
Noras „Lebensbaum“ unterscheidet sich stark von der Elfenbeinturmgestalt: Er ist lebendig,
treibt immer neue Blüten und andere Menschen sind eingeladen, sich auf ihm wohl zu fühlen.
Wenngleich immer noch ein bisschen „grandios“, ist er Ausdruck ihrer vielseitigen,
temperamentvollen Persönlichkeit.
Letztlich ist ja die Identität eines jeden Menschen einem ständigen, lebenslangen
Wandlungsprozess unterworfen. Auch dies kommt in dem Symbol der stetig wachsenden
Pflanze sehr schön zum Ausdruck.
3.2. Barbara in der Glasvitrine
Barbara ist 28 Jahre alt und Berufsmusikerin in einem renommierten Orchester. Eine schwere
Depression und die Angst, nicht mehr spielen zu können, bringen sie zur Psychotherapie. Sie
arbeitet mit einer befreundeten Kollegin, die sie schließlich an mich überweist, weil ich mit
maltherapeutischen Methoden arbeite.
Barbaras Depression hatte sich mittlerweile sehr gebessert und ihre wesentlichen Themen
waren ihr klar geworden. Was fehlte war ein Brückenschlag des Verstehens zum Verändern:
Barbara weiß um ihre verunsicherte Identität, kann aber ihren eigenen persönlichen Ausdruck
noch nicht finden. Noch hat sie nicht den Raum, wirklich ihr eigenes Leben zu gestalten.
Durch ihren Beruf ist ein regelmäßiges therapeutisches Setting nicht möglich. Wir
vereinbaren Doppelstunden und Maltherapie steht als Methode explizit im Zentrum.
Barbara ist eine zierliche Frau mit einem wachen Geist und hoher Sensitivität. Offen bringt
sie ihre Themen ein, die Atmosphäre von Ernsthaftigkeit und Traurigkeit ist deutlich spürbar.
Seit 4 Jahren lebt sie in Wien und beginnt gerade, sich ein bisschen heimisch zu fühlen.
Ursprünglich kommt sie aus Konstanz und ihre Eltern und ihre Zwillingsschwester leben
immer noch dort.
Ähnlich wie in Noras Geschichte ist auch bei Barbara die komplizierte Beziehung zu ihrer
Schwester ein gewichtiger Grund für ihre Identitätsdiffusion. Auch sie hatte die gesamte
Schulzeit an deren Seite verbracht. Barbara als die Introvertiertere und Schüchterne stand
dabei immer im Schatten. Einerseits suchte sie selbst immer wieder den Schutz der
dominanteren Schwester, andererseits litt sie, da sie so fast nicht wahrgenommen wurde. Oft
fühlte sie sich als „zweite“ (schlechtere) Version. Barbara kommt es so vor, als ob sie in ihrer
Schulzeit gar nicht wirklich gelebt habe. Besondere Ereignisse, an die sich die Schwester
lebhaft erinnert, hat sie vollkommen vergessen. Mit zunehmendem Alter begannen die beiden
dann ihre Territorien bewusster abzustecken. Was die eine tat, war dann für die andere
automatisch tabu. Weil die Schwester Klavier lernte, wählte Barbara für sich Klarinette.
Obwohl sie mit diesem Instrument jetzt ihren Unterhalt verdient, empfindet sie die damalige
Entscheidung immer noch als beliebig. Es gab damals nicht viel Wahlmöglichkeiten und ihre
Musiklehrerin hatte sie von Anfang für ihre Begabung gelobt und sehr „gepusht“. So hatte
Barbara auch in diesem Bereich nicht den Raum, ihr Eigenes zu finden. Nach wie vor mag sie
Konstanz sehr, doch weil ihre Schwester dort lebt, ist eine Rückkehr unmöglich. Umgekehrt
hat die Schwester sie in Wien noch keine einziges Mal besucht.
In den schwersten Phasen ihrer Depression fühlte sich Barbara vollkommen leer. Sie hatte die
starke Sehnsucht, alles so wie die Schwester zu machen. Gleichzeitig quälte sie die Frage, ob
und inwiefern sie überhaupt unterschiedlich sei. Auch noch zu Beginn ihrer Therapie bei mir,
fragt sie sich, ob es nicht rein zufällig sei, dass die Schwester Journalistin und sie Musikerin
geworden ist. Sie könnte wahrscheinlich genau so gut das Leben ihrer Schwester leben, meint
sie.
Thematisch steht in der Therapie ihre berufliche Situation zunächst im Vordergrund.
Einerseits ist das Orchester ein gesicherter und sehr renommierter Arbeitsplatz, andererseits
spürt sie, es ist nicht so ganz ihre Musik und der geforderte Perfektionismus hindert sie an
ihrem kreativen Ausdruck. Zwar arbeitet sie freiberuflich auch noch mit anderen Ensembles
zusammen, ihre Verpflichtungen im Orchester haben aber Vorrang und nehmen sehr viel Zeit
in Anspruch. Barbara fühlt den inneren Zwiespalt zwischen dem Wunsch nach kreativer
Selbstentfaltung einerseits und ihrer vernünftigen und leistungsorientierten Haltung
andererseits immer stärker. Der Konflikt spitzt sich zu auf die Frage, ob sie ihre Arbeit im
Orchester ganz aufgeben soll. Eine geführte Imagination, in welcher sie ihren
widerstrebenden Anteilen Gestalt verleiht wird zu einem Schlüsselerlebnis. Das im Anschluss
gemalte Bild wird ein wichtiger Begleiter in der weitern Therapie, enthält es doch in
verdichteter Form Barbaras Geschichte und ihr zentrales Entwicklungsthema.
Im linken Bildteil ist jener Persönlichkeitsanteil dargestellt, der im Orchester verbleiben
möchte. Er enthält viel von Barbaras aktueller Thematik: hoher Leistungsanspruch und die
Angst, vor dem Publikum zu versagen. Barbara beschreibt die weinende Figur als innerlich
erstarrt und in einen schwarzen Anzug (in die Depression) gezwängt. Die vielen Notenständer
stehen für das Orchester und symbolisch auch für die vielen Vorgaben, nach denen Barbara zu
„spielen“ hat. Barbara steht in einer Vitrine aus Glas, die sie als sehr beengend beschreibt. Sie
ist einerseits für jeden sichtbar und ungeschützt vor den Blicken der Zuschauer, andererseits
hindert sie die Glaswand daran, mit den anderen Menschen und mit dem lebendigen Leben in
Kontakt zu kommen.
In diesem Bild ist viel von Barbaras Biographie zum Ausdruck gebracht. Auch Barbaras
Eltern hatten viel von ihren narzisstischen Bedürfnissen auf sie übertragen. Generell gab es
die unbewusste Botschaft: Wir sind herausragend und deshalb bist auch du etwas besonderes.
Fühlte sie sich einmal unsicher und hatte Probleme mit einem Lernstoff in der Schule, dann
meinte der Vater nur: „Das kannst du sicher, du bist ja so gut.“ Die Mutter, selbst eine
„verhinderte“ Musikerin, legte vor allem Wert auf die musikalische Ausbildung. Barbaras
Talent und Barbaras Auftritte waren dabei eine wichtige Selbstwertinduktion für die Mutter.
Immer wenn die Mutter „besonderen“ Besuch hatte, musste Barbara vorspielen. Passierten ihr
dabei Fehler, war das der Mutter immer sehr peinlich. Im Verhältnis zu ihrer Musiklehrerin
war Barbara nochmals mit dieser Konstellation konfrontiert. Auch diese übertrug all ihren
Ehrgeiz auf sie. Im Publikum hinter der Glasscheibe steht denn auch die Musiklehrerin. Ihre
Gesichtslosigkeit/Identitätslosigkeit könnte zum Ausdruck bringen, das alle Personen, die
Barbara förderten und forderten, als reale Bezugspersonen und als wirkliches Gegenüber nicht
zur Verfügung standen. Zu sehr hatten sie ihre eigene, verschwommene Identität in Barbara
hineinprojiziert. Barbara stand also von klein an in dieser Glasvitrine und konnte nicht
unbefangen das Leben an sich herankommen lassen. Immer verspürt sie den Druck, das
jeglicher Selbstausdruck bereits vollkommen und großartig sein müsste.
Im rechten Bildteil hat Barbara ihrer Sehnsucht nach mehr Selbstentfaltung Gestalt verliehen.
Die Person stellt eine Sängerin dar, die ganz „auf ihr innerstes konzentriert ist“ und
improvisierend ihre eigene Kreativität zum Ausdruck bringt. Alles in diesem Bild drängt nach
Expansion: die ausgebreiteten Arme, die explodierenden Farben, die sich ausbreitenden
blauen Schallwellen. Am Boden steht ein Akkordeon, ein Instrument, das Barbara nicht spielt
aber in besonderem Maße liebt. Südamerikanische Akkordeonmusik mache sie immer ganz
weich und auf eine angenehme Art traurig, sagt sie. Auch habe sie vor einiger Zeit einmal
selbst Gesangsunterricht genommen und das habe ihr viel Freude bereitet. Der rote Schal der
in Schwarz gekleideten Musikerin und die Öffnung der Vitrine zur Sängerin hin, deuten
bereits an, dass erlittene Realität und erträumte Zukunft nicht mehr ganz isoliert
nebeneinander stehen.
Barbara ist von ihrem Bild und der Bildbesprechung sehr berührt. Deutlicher spürt sie jetzt
ihre innere, drängende Notwendigkeit nach mehr Raum für ihre eigene Entfaltung.
Durch die bildnerische Auseinandersetzung mit ihrem inneren Konflikt kann sie nun ihre
Arbeitssituation im Orchester differenzierter betrachten. Es zeigt sich, dass sie mit der 2.
Klarinettistin viel von ihrer Zwillingsgeschichte wiederholt. Oft empfindet sie es als
entlastend ihr den Vortritt bei Auftritten zu lassen, ärgert sich dann aber, wenn sie von dieser
bewusst zurückgedrängt wird. Als sehr verletzend erlebt sie es, wenn ihre Kollegin von
Dirigenten bewusst bevorzugt wird.
In Folge begegnet Barbara nun diesem Konflikt bewusster, erprobt neue Umgangsweisen mit
der Kollegin und lernt Konstellationen auszuweichen, die ihr Zwillingstrauma erneut
aktualisieren. Vermehrt gelingt es ihr, sich den Raum zu geben, den sie für eine stressfreiere
Ausübung ihres Berufes braucht.
Barbara bewundert Kollegen, die ganz ihren eigenen künstlerischen Weg zu gehen scheinen.
Einerseits ist dabei ihr Entwicklungsthema angesprochen, andererseits muss sie aufpassen,
nicht gleich in neue starre Idealisierungen abzugleiten. Es imponiert ihr, wenn Musiker sich
jahrelang ganz auf einen bestimmten musikalischen Aspekt konzentrieren. Darauf
angesprochen, ob das auch wirklich ihres wäre, sich auf eine einzelne Sache zu konzentrieren,
muss sie zugeben, dass ihr ein vielfältiges Arbeitsfeld und die Zusammenarbeit mit anderen
eigentlich mehr liegt. Da Barbara in ihrer Kindheit und Jugend mir ihrer Schwester
symbiotisch sehr verwoben war, hat sie nun die Tendenz, ihr Heil im Gegenteil, in einer sehr
abgegrenzten und minimalistisch auf das Wesentlichste zentrierten Identität zu suchen.
Die Ambivalenz zwischen symbiotischer Nähe und deutlicher Distanz erfährt Barbara ganz
besonders auch in der Beziehung zu Männern. Diese Thematik steht in der zweiten
Therapiehälfte im Vordergrund und an ihr kann Barbara ihr Zwillingsthema vertieft
bearbeiten.
In der Vergangenheit hatte Barbara immer Beziehungen zu Männern, die leichtlebiger und
oberflächlicher waren als sie und die sie als Musikerin bewunderten. Barbara blieb in der
Glasvitrine, litt tendenziell unter Einsamkeit, von erdrückender Nähe bedroht war sie nie.
Während der Therapie hat sie nun einen spanischen Musiker kennen gelernt, der ihr vom
Wesen her viel näher ist. In seiner Gegenwart fühlt sie sich sehr wohl und kann sich so zeigen
wie sie ist. Wieder für sich allein, verblasst jedoch dieses Gefühl und macht einer
zwanghaften Kritiksucht Platz, die ihr Verbliebt-sein und ihre Zuneigung verdrängt. Barbara
setzt sich mit diesem Phänomen in den folgenden Bildern auseinander.
Beiden Bildern sind Imaginationen vorausgegangen, in welchen Barbara vertieft in die
einander wiederstrebenden Gefühle von Harmonie und Kritiksucht, von Angezogen-sein und
Sich-abgestoßen-fühlen hineingegangen ist.
Im oberen Quadranten des 3. Bildes hat Barbara ihre positiven Gefühle dargestellt, die sie
beim Zusammensein mit ihrem neuen Freund erlebt. Barbara malt sich an einen Früchte
tragenden Baum gelehnt. Sie genießt die unberührte Natur und die Landschaft ihrer
Ursprungsheimat. In diesem Bild fühlt sie sich zu Hause, innerlich ruhig und ganz bei sich. Es
bringt zum Ausdruck, dass sie einfach da sein kann ohne Erwartungs- und Leistungsdruck.
Ihre Kritiksucht hat sie im unteren Teil des Bildes dargestellt. Es zeigt eine reale Begebenheit
aus ihrer Kindheit, als ihre Schwester mit Hilfe der Mutter das Radfahren erlernte, sie es
hingegen noch nicht konnte. Trotzig und isoliert steht Barbara unter einem Klettergerüst, das
in seiner bildlichen Darstellung an die Glasvitrine erinnert. Barbara kann durch dieses Bild
ihre damals schmerzlichen Gefühle erneut erleben: Den Leistungsdruck, den sie hatte, wenn
ihre Schwester wieder einmal etwas besser konnte und das vernichtende Gefühl der
Einsamkeit, als die Schlechtere und Weniger-Autonome zurückgelassen zu werden. In der
Folge kann Barbara verstehen, dass ihre Abwertungstendenz die Funktion hat, eigenem
Abgewertet-werden und eigenem Selbstverlust zuvorzukommen und dass ihr kritisches
Abstand-halten sie vor ihrer Angst bewahrt, in einer engen Beziehung als hilflose Verliererin
zurückgelassen zu werden.
Das nächste Bild zeigt nochmals die gleiche Thematik in einer der darauf folgenden Stunden.
Das Mädchen am Strand vor dem Sonnenuntergang stellt wiederum die in-sich-ruhende
Barbara dar. Die Taucherin steht für ihre kritische Haltung. Im Gegensatz zu der trotzigen
Gestalt unter dem Klettergerüst ist hier bereits eine deutliche Hinwendung zum Anderen/zum
bunten Leben sichtbar. Die Taucherin streckt ihre Hände sehnsuchtsvoll den vielfältigen
Lebewesen des Wasser entgegen. Es ist nur mehr der gläserne Helm (ihre eigenen
Idealbilder?), der sie von dem Anderen trennt.
Barbara spürt in dieser Stunde deutlich, dass sie ein großes Bedürfnis nach Nähe hat und sie
bringt erstmals zum Ausdruck, wie schön es auch war, eine Zwillingsschwester zu haben und
sich mit ihr ganz ohne Worte zu verstehen. Erstmals in ihrem Leben kann sie trauern um diese
verlorene Einheit und ihren Schmerz zulassen darüber, dass sie ihr eigenes (getrenntes)Leben
hat. Diese Trauerarbeit ist eine wichtige Grundbedingung für ihre weitere Identitätsfindung
und fördert die Integration Barbaras gegensätzlicher Strebung nach hingebungsvoller Nähe
einerseits und dezidierter Abgrenzung andererseits.
Barbara gelingt es, in der 8 Monate währenden Therapie einige Weichen für ein stärker
selbstgestaltetes Leben zu stellen. Dabei entscheidet sie sich für die Vielseitigkeit und für die
Arbeit mit anderen. Sie reduziert ihre Tätigkeit im Orchester und widmet sich verstärkt
anderen musikalischen Projekten, teilweise in ihrer Ursprungsheimat. Zusätzlich beginnt sie
eine Ausbildung zur Atemtherapeutin für Musiker mit dem Ziel, sich ein zweites, berufliches
Standbein zu schaffen.
An Barbaras Geschichte können wir noch einmal vertieft verstehen, wie sehr eine gesunde
Identität von einer lebendigen Beziehung zur Welt und zu anderen Menschen abhängt. Weder
symbiotische Nähe noch die Abgeschiedenheit des Elfenbeinturms lassen uns spüren, wer wir
sind und wer wir noch werden könnten. Alles fließt – so auch unsere Identität. Für uns alle
bleibt es eine lebenslange Aufgabe, sich nicht zu verlieren, sich näher zu kommen und dabei
auch immer wieder neu zu werden.
3.3. Verwendete Methoden:
3.3.1.Fördern des Selbstausdrucks in der ersten Therapiephase:
Wie bereits weiter oben beschrieben, fällt es Menschen mit narzisstischen Störungen
öfters zunächst schwer, in mal- und gestalttherapeutische Methoden direkt einzusteigen.
Vielfach ist es deshalb hilfreich mit Imaginationen zu beginnen, die während der
Therapiestunde eingeübt werden und zu Hause vertieft und gezielt eingesetzt werden
können. Der / die KlientIn erhält dabei die Möglichkeit, die erlebten inneren Bilder zu
beschreiben und wird angehalten, auch emotional Stellung zu beziehen: Wie haben sie
sich während der Imagination gefühlt? Welche Gefühle löst das Bild in ihnen jetzt aus?
Da bei narzisstischen Störungen das Thema der Identitätsfindung und –entwicklung
zentral im Fordergrund steht, bieten sich Bilder an, die archetypisch auf diese Thematik
verweisen: „Ich werde zu einem Baum“, „Ich bin jetzt eine Blume/Pflanze“ ... In der
geführten Imagination können hier erstmals die für narzisstische Störungen so wichtigen
Bereiche des Werdens, des Wachsens und des Raumgreifens angeschnitten werden.
In diese erste Therapiephase gehört auch die Exploration, was die Person mag oder früher
einmal besonders gemocht hat und welche Form des Ausdrucks (Bewegung, Sprache,
Musik, bildende Kunst) sie besonders anspricht. Je nach dem kann man sich dann
Hausübungen ausdenken, die dem Klienten die Möglichkeit bieten, in einen
Selbstausdruck zu kommen, ohne dabei jedoch Gefahr zu laufen, beobachtet oder gar
bewertet zu werden.
Beispiele:
Nehmen Sie Sich die Zeit und tanzen Sie bis zur nächsten Stunde einmal zu einem
Musikstück, das sie besonders anspricht.
Schreiben Sie ein kurze Phantasiegeschichte zu diesem Wort oder diesem Thema (das in
der Therapie angeklungen ist).
Malen Sie auf einem großen Blatt Papier mit Wasserfarben zu jener Musik, mit der sie
sich sehr verbunden fühlen. Versuchen sie dabei die Bewegung und den Klang in Farbe
umzusetzen und nicht gegenständlich zu malen. Wichtig ist der Prozess, nicht das
Ergebnis! Versuchen Sie, davon Abstand zu nehmen, dass es ein schönes Bild werden
muss.
Wenn es zur Identitätsfindung wichtig ist, sich von einer nahestehenden Person
abzugrenzen – so wie es bei meinen „Zwillingsklientinnen“ der Fall war – kann es auch
hilfreich sein, den Unterschied in die Übung einzuarbeiten.
Beispiele:
Welche Farbe würden Sie sich geben, welche ihrer Schwester?
Bringen Sie in die nächste Stunde zwei Musikstücke mit. Eines, das sehr zu ihnen passt
und eines, das zu der anderen Person passt.
Stellen Sie sich vor, Sie und die andere Person sind jeweils ein Gewässer. Welches
Gewässer sind Sie, welches die andere Person. (Gewässer haben eine symbolische Nähe
zur Energie, zum Temperament, zum aktuellen Lebensfluss einer Person).
3.3.2.Arbeit mit Gefühlen und Schlüsselsätzen:
Wie bereits beschrieben, sind Menschen mir narzisstischen Störungen mehr im Kopf als
im Rest ihres Körpers zu Hause und deshalb ist es besonders wichtig ihr emotionales
Leben und ihr Gespür für sich selbst zu fördern. Sehr hilfreich ist es, wenn der Therapeut
eine schnell dahin gesagte Gefühlsäußerung (z.B. Ich bin wieder stark unter Stress)
aufgreift und damit eine geführte Imagination mit anschließendem Malauftrag aufbaut.
Dadurch passiert eine Verlangsamung und Vertiefung von emotionalen Prozessen, die
sonst in der Sitzung vorbei gehuscht wären.
Dabei gehe ich folgendermaßen vor: Ich frage den Klienten um Einverständnis bei diesem
eben kurz geschilderten Gefühl etwas länger zu verweilen. Es folgt eine kurze
Tiefenentspannung. Nun bitte ich ihn, sich nochmals auf dieses Gefühl zu konzentrieren,
u.U. wiederhole ich den Wortlaut des Klienten. Ich fordere ihn auf zu spüren, in welchem
Bereich des Körpers dieses Gefühl sitzt und wie es sich speziell dort anfühlt. Dann kommt
der Auftrag, dieses Gefühl nach Möglichkeit noch etwas zu verstärken, es noch deutlicher
zu machen. Nun sage ich, das Gefühle ja eine Form der Energie sind und dass nun – wie
im Märchen – sich diese Energie in eine konkrete Gestalt verwandelt. Es folgen dann
Anweisungen, diese Gestalt genau zu betrachten. Nach einer kurzen Rückführung wird
dann das Erlebte gemalt.
Ich habe mit dieser Methode die Erfahrung gemacht, das dabei oft sehr wesentliche
Bilder entstehen, die über das Gefühl hinausgehend zentrale Entwicklungsthemen
ansprechen, die dann sehr tief bearbeitet werden können. Ein umfassenderes Verstehen
(eine Verbindung zwischen Herz und Kopf) wird so viel leichter möglich. (Bild 3 und 4 in
Barbaras Falldarstellung sind auf diese Weise entstanden.)
Diese Methode ist auch übertragbar auf sogenannte Schlüsselsätze. Damit meine ich
spontane Stellungnahmen eines Klienten zu einem Sachverhalt, wo ich als Therapeutin
spontan und intuitiv spüre, dass damit jetzt etwas Wesentliches angesprochen ist.
Manchmal kommt es vor, dass diese Stellungnahme bereits in einer Metapher erfolgt, was
es natürlich umso leichter macht, direkt in das Bild hineinzugehen.
Als ich mit einer meiner Klientinnen an ihrer Schwesterproblematik arbeitete und wir der
Frage nachspürten, was sie so grundsätzlich daran hindere, ihr eigenes Leben zu leben,
sagte sie spontan: „Ja, es ist als ob Fäden mich irgendwie zurückhalten“ Die Imagination
und das anschließend gemalte Bild waren sehr hilfreich, ihre Verstrickungen in Beziehung
besser verstehen zu können. Gleichzeitig entstand durch das Bild eine große emotionale
Betroffenheit, die durch bloße Analyse schwerer erreicht worden wäre.
3.3.3. Arbeit mit Konflikten und gegensätzlichen Persönlichkeitsanteilen
Innere Konflikte und gegensätzliche Tendenzen innerhalb einer Person sind ebenfalls ein
guter Katalysator für den Prozess der Identitätfindung. Meistens zeigt sich in der
Bearbeitung, dass der eine Pol mehr in die Vergangenheit, in die Biographie und in die
psychische Grundstruktur verweist, während der andere einen Entwicklungsaspekt
beinhaltet.
Die Vorgangsweise ist dabei ähnlich wie in der Bearbeitung spontan geäußerter Gefühle.
Nachdem die zwei Seiten einer Sache oder die gegensätzlichen Persönlichkeitsanteile klar
ausgesprochen sind, geht die Person nacheinander imaginativ in diese zwei Aspekte
hinein und verleiht ihnen eine Gestalt. Beide Gestalten werden nacheinander auf eine
Bühne gestellt und die Klientin betrachtet sie vom Zuschauerraum aus. Es wird angeregt,
dass sich die Figuren möglicherweise mit einer Aussage an die Betrachterin wenden, oder
aber einen Dialog miteinander beginnen. Bei Barbaras Entscheidungskonflikt, ob sie das
Orchester verlassen soll oder nicht, habe ich diese Methode angewendet.
Sie eignet sich auch gut bei der Bearbeitung von Zwängen, wenn es schon einen Anteil
gibt der des Zwanges schon etwas überdrüssig ist. Hier kann man in er Imagination auch
anregen, ob es etwas gäbe, was die fordernde, zwingende Gestalt besänftigen könne. Eine
Klientin mit Putzzwang hat beispielsweise dem strengen älteren Herrn, der für ihre
übertriebene Reinlichkeitsliebe stand, ein Glas guten Rotwein angeboten. Sie erhielt dann
die Anweisung, dies auch real zu tun. Wenn sie müde von der Arbeit nach Hause kam und
all die dreckigen Glasscheiben sah, musste sie zunächst sich und dem älteren Herrn ein
Glas Rotwein einschenken. Dieses schräge Ritual erheiterte sie so, dass sich der Zwang
wirklich lockerte, der Rotwein mag ein Übriges dazu beigetragen haben.
3.3.4. Den eigenen Weg gehen: Eine Märchenimagination
Nachfolgendes Märchen ist dem Buch „Die Frau, die im Mondlicht aß.“38 von Anita
Johnston entnommen. Es thematisiert die Stärke, der eigenen inneren Stimme trotz
widriger Umstände zu folgen und ist für die letzte Therapiephase geeignet. Gleichzeitig
liegt in ihm auch der Appell, nicht nur auf das vordergründige Nützliche zu achten,
sondern nach dem eigenen tieferen Sinn zu suchen. Nur in einem erfüllten, nach den
eigenen inneren Werten gelebten Dasein kann sich eine Identität gründen, die fest
verwurzelt und für Zukünftiges offen zugleich ist.
In dieser afrikanischen Geschichte „Der Tutu-Vogel“ geht es um ein Mädchen, das in
schweren Zeiten in einem Dorf wohnt. Die Ernte war schlecht, und es gibt nur wenig
zu essen. Die Menschen müssen Vögel fangen und essen auch Hunde, Eidechsen und
Ratten, um zu überleben.
38
Anita Johnston: Die Frau, die im Mondlicht aß
Eines Tages schickte man das Mädchen, nach den Vogelfallen zu sehen. Als sie mit
leeren Händen zurückkam, sagten die Dorfbewohner: „Wo sind die Vögel? Wir
verhungern!
„In den Fallen saß nur ein einziger Tutu-Vogel“ antwortete das Mädchen. „Und er
sang ein so süßes Lied, dass ich ihn einfach freilassen musste.“
„Du hast ihn freigelassen?“ fragten die Dörfler ungläubig.
„Für ein Mädchen wie dich haben wir keine Platz!“ riefen sie wütend. Sie waren so
wütend, dass sie das Mädchen hinaus in den Busch zerrten und eine kleine Hütte aus
Dornenzweigen um sie herum bauten, die weder Tür noch Fenster hatte. Darin ließen
sie sie zurück.
Das Mädchen weinte und weinte, als es so allein in der Hütte saß, weil es nicht wusste,
was aus ihr werden sollte. Als sie keine Tränen mehr hatte, begann sie zu singen. Sie
sang das allerschönste Liede, eine Klage an den Tutu-Vogel mit der süßen Stimme,
dessen Leben sie gerettet hatte. Dieses Lied sang sie wieder und wieder.
Schließlich hörte sie zu singen auf und saß in der dunklen, stillen Dornenhütte und
lauschte. Da hörte sie ein leises Geräusch wie einen fernen Vogelruf, und dann ein
Flattern wie von Flügeln, gefolgt von einem Rascheln, das vielleicht von einer Maus
stammte. Die blickte hoch zur Decke, von wo das Geräusch kam, und entdeckte ein
kleines Loch, durch das ein Lichtstrahl fiel. Überrascht sah sie, wie eine kleine Frucht
durch dieses Loch vor ihr auf den Boden fiel. Sie war süß, saftig und köstlich.
Dann wurde es wieder still, und das Mädchen wartete in der Dunkelheit.
Nach einer Weile hörte sie die Geräusche wieder, und eine weitere Frucht fiel ihr zu
Füßen. Als sie hochblickte, erkannte sie, dass das Loch ein wenig größer geworden
war und dass der Tutu-Vogel darüber schwebte. Das Mädchen dankte dem Vogel
überschwänglich, der Vogel ließ sich auf dem Hüttendach nieder und sang das
wunderschöne Lied, wegen dem das Mädchen ihn freigelassen hatte.
Dies ging mehrere Tage so weiter. Der Vogel ließ süße Früchte herabfallen, das
Mädchen sang ihm ein Lied zum Dank, und der Vogel erwiderte das Lied mit einer
süßen Melodie. Jedesmal, wenn der Vogel sang, wurde das Loch ein wenig größer und
ließ mehr Licht in die Hütte. Schließlich war das Loch groß genug, dass das Mädchen
herausklettern konnte und frei war.
Um dies zu feiern, gesellten sich alle Vögel des Waldes zu dem Tutu-Vogel und
bereiteten ein großes Festmahl aus köstlichen Früchten und Nüssen für das Mädchen
und die Dorfbewohner. Die Dörfler, die das Mädchen so grausam behandelt hatten,
sahen überrascht, wie gutgenährt sie war, während sie selbst immer noch dünn und
unglücklich waren. Sie lobten die Vögel und hießen das Mädchen wieder im Dorf
willkommen – in der Hoffnung von ihrem Glück zu profitieren.
Aber das Mädchen weigerte sich mit ihnen zu reden oder zu essen. Sie ging mit den
Vögeln in den Wald zurück und wurde nie wieder gesehen.
Barbara identifizierte sich in der Imagination mit dem Mädchen. Sie wählte jene
Szene, als das Mädchen mit den Vögeln zurück in den Wald geht. Für sie war aber
nicht der Wald das Ziel, sondern das weite Meer, das von der Abendsonne warm
beschienen wurde.
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