Evaluation des institutions résidentielles romandes de

Werbung
UNIL Université de Lausanne
Institut de géographie
Observatoire universitaire
de la Ville et du
Développement durable
Faculté des géosciences et de l’environnement
Evaluation
der stationären Suchteinrichtungen
in der Westschweiz und
ihrer Komplementarität zum ambulanten
und sozialmedizinischen Angebot
Schlussbericht
im Auftrag der CRIAD (Coordination romande des institutions oeuvrant
dans le domaine des addictions), unterstützt von der Loterie Romande und der
CLASS (Conférence latine des affaires sanitaires et sociales) und auf Antrag
des GRAS (Groupement romand des chefs de service des affaires sociales)
Antonio Da Cunha
(wissenschaftliche Leitung)
Isabelle Caprani
Elsa Martins
Olivier Schmid
Suzanne Stofer
Oktober 2010
UNIL - OBSERVATORIUM STADT UND NACHHALTIGE ENTWICKLUNG
-1-
Zusammenfassung
Synthese und Empfehlungen
Gelb = übersetzter Teil
Inhaltsverzeichnis nur zur Orientierung
1. Einleitung
2. Ausgangslage und Vorgehen
2.1. Referenzsystem als Analysator: Historisches und Anpassungsprozess
2.2. Allgemeine Problematik: Drogenpolitik, Wandel des Referenzsystems, Massnahmen
2.3. Studiendesign: Fragestellungen, Arbeitshypothesen und Vorgehen
3. Das stationäre im Bezug zum ambulanten und sozialmedizinischen Angebot:
gegenseitige Vorstellungen, Strukturen und Verbindungen
3.1. Das stationäre Angebot in den Westschweizer Kantonen: gross und vielfältig, aber schlecht lesbar
3.2. Verständnis und Wirkung des stationären Bereichs: Wandlungsbedarf
3.2.1. Verständnis von Sucht und Behandlung: zwischen Bewahren und Erneuern
3.2.2. Blick auf die Abhängigen: von der Marginalisierung zur Desintegration
3.2.3. Stationäre Behandlung: Anpassung der Wege und Ziele
3.2.4. Spezifität und Wirkungen des stationären Bereichs: von der Schadensminderung zur Reintegration
3.3. Verbindung und Komplementarität des stationären zum ambulanten und sozialmedizinischen
Angebot: Akteure, gegenseitige Vorstellungen, Praktiken
3.3.1. Das stationäre und das übrige Angebot: Vielfalt der Akteure, Schnittstellen und Verbindungen
3.3.2. Vernetzung von stationärem, ambulantem und medizinischem Angebot: multidisziplinärer Ansatz nötig
3.3.3. Verbindungen und Experimentierfelder: Substitutionsbehandlung, Komorbiditäten und Eingliederungsproblematik
3.4. Schlussbemerkung: Stärkung des stationären Angebot für Kontinuität bei der Behandlung
4. Die Klienten: soziodemografische Profile, Lebenswege, Wahrnehmungen
4.1. Profile: Prekarisierung, Mehrfachabhängigkeit und Komorbidität
4.2. Parcours: stationäre Behandlung und Lebensweg
4.2.1. Stationäre Aufnahme: Anforderungen, wahrgenommene Vorteile, Kontakt mit Angebot
4.3. Autonomie statt Abhängigkeit: Klienten berichten
4.3.1. Befreiung von der Abhängigkeit: vielfältige Parcours und Motivationen
4.3.2. Ausstieg aus der Sucht: ein multifaktorieller Prozess
4.4. Betreuung und Lebensqualität der Klienten: eine positive Bilanz
4.4.1. Konsum: gesamthaft reduziert
4.4.2. Gesundheitszustand: Besserung wahrgenommen
4.4.3. Soziale Situation: soziale und familiäre Beziehungen reaktiviert
4.4.4. Arbeit und Ressourcen: Möglichkeiten und Grenzen sozioprofessioneller Massnahmen
4.4.5. Probleme mit dem Gesetz: stationärer Bereich als Alternative geschätzt
4.5. Schlussbemerkung: komplexe Parcours, Leistungsbedarf und Durchlässigkeit
5. Schlussfolgerungen und Empfehlungen: Denkanstösse
5.1. Stärken und Schwächen, Risiken und Chancen
5.1.1. Stärken: nötige und wirksame Leistungen
5.1.2. Schwächen: Anpassungen nötig
5.1.3. Risiken: Abwärtsspirale
5.1.4. Chancen: komplementäres Angebot für Kontinuität bei der Behandlung
5.2. Empfehlungen: Denkanstösse
5.2.1. Leitlinien für einen pluralistischen, integrativen Ansatz: Blick auf gemeinsame Strategie
5.2.2. Das stationäre Angebot lesbarer machen: systematisches Inventar und Leistungskonzept
5.2.3. Das Angebot an neue Anforderungen anpassen: Schalt- und Schnittstellen verstärken
5.2.4. Kompetenzzentren schaffen: sozialpädagogischer und sozioprofessioneller Bereich gefordert
5.2.5. Zusammenarbeit formalisieren: Integration und Qualität der Betreuung fördern
5.2.6. Indikation vernetzen: ein zentrales Element für bedarfsgerechte Leistungen
5.2.7. Klientenparcours vernetzen: durch Koordination und Absprache besser behandeln, begleiten, helfen
5.2.8. Interdisziplinäre Ausbildung fördern: übergreifendere Betreuung sicherstellen
5.2.9. Informationssystem verbessern: effizientere Entscheidungshilfen schaffen
5.2.10. Neue Runde in der Politik: Rahmenbedingungen im stationären Bereich im Hinblick auf Integration verbessern
Literaturhinweise (nicht abschliessend)
Anhang 1: Material zur Analyse des Angebots: Arbeitspapier
Anhang 2: Anleitung Interviews stationäre Einrichtungen
Anhang 3: Anleitung Interviews ambulante Einrichtungen
Anhang 4: Klienten: Stichprobe
Anhang 5: Anleitung Interviews Klienten: Themenschwerpunkte
-2-
EVALUATION STATIONÄRE SUCHTEINRICHTUNGEN
Zusammenfassung1
Die Entwicklung der Suchtprävention und Suchtbehandlung der Schweiz mit ihrem stationären und ihrem ambulanten Bereich verläuft in einem kontinuierlichen Auf- und Ausbauprozess. Seit Ende der 1990er-Jahre zeichnet sich beim stationären Bereich eine Abschwächung ab. Die zunehmende Bedeutung schwerer sozialer und psychopathologischer
Situationen und die veränderten Profile der Personen, die von psychotropen oder
psychoaktiven Stoffen abhängig sind, könnten diesem Trend aber ein Ende setzen.
Sucht wird von den einzelnen Akteuren der Suchtarbeit allgemein als Phänomen
anerkannt, das aus der Wechselwirkung multipler Faktoren hervorgeht. Entsprechend
umfasst die Suche nach Lösungen auf diesem Gebiet mehrere komplementäre,
aufeinander abzustimmende Bereiche wie Soziales, Gesundheit, Erziehung und Sicherheit.
Aus dieser multifaktoriellen und interdisziplinären Sicht erfolgt der Ausstieg aus Sucht und
Abhängigkeit nicht nur über den Konsumstopp, sondern auch durch Distanzierung von
sozial und individuell problematischen Situationen. Diese Sichtweise führt zu einer
adaptiven Annäherung von medizinischem und sozialem Ansatz, von ambulantem und
stationärem Bereich, und wirft gleichzeitig die Frage nach deren Zusammenspiel auf.
Welche Anhaltspunkte und Überlegungen ergeben sich daraus, die Impulse für mögliche
Neukonfigurationen der Schweizer Suchtprävention und Suchtbehandlung liefern können?
Die Studie geht von der Hypothese aus, dass eine relevante Betreuung suchtabhängiger
Menschen aus einem Querschnitts- und Mehrfachansatz hervorgeht, der die bestehenden
Kompetenzen stärkt und die Aktivitäten der einzelnen Akteure im sozialpädagogischen und
im medizinischen Bereich, des stationären und des ambulanten Angebots in einem gemeinsamen Referenz- und Handlungssystem vernetzt. Welches sind die Stärken und
Schwächen der stationären Suchttherapie? Welche Wirkungen erzielt sie bei den
Behandelten, welche Chancen bietet sie bei der Betreuung? Wie sieht eine bessere
Integration des stationären und des ambulanten Angebots aus, und wie können allenfalls
bestehende Referenz- und Handlungssysteme integriert werden, ohne im Lauf der Zeit
erworbenes Knowhow aufs Spiel zu setzen? Diese Fragestellungen liegen unserer Studie
zugrunde.
Um diese Fragen zu beantworten, verwendet die Evaluation einen sogenannt pluralistischen Ansatz mit drei komplementären Methoden zur Datenerhebung und -bearbeitung
und bildet die Dispositive der einzelnen Akteure durch eine Kombination ihrer Sichtweisen
ab: Die drei Methoden bestehen aus einer dokumentarische Analyse, einem quantitativen,
statistischen, datenorientierten Ansatz und einem qualitativen Ansatz mit 120 eingehenden
Befragungen bei den stationären Anbietern, den ambulanten Leistungserbringern und den
betroffenen Klienten.
Die Studie zeigt, dass es nicht nur einen Weg gibt, Abhängigkeit zu besiegen oder zu
bewältigen, nicht nur eine Behandlungsart, nicht nur eine Kontakt- und Anlaufstelle für Menschen in Suchtsituationen. Diese Erkenntnis führt zur Forderung nach institutioneller Durchlässigkeit und besserer Vernetzung der Suchtarbeit. Die stationären Suchteinrichtungen in
der Westschweiz gehören zu den wichtigen Akteuren bei der politischen Neudefinition
eines zentralen Themas unserer Gesellschaft. Sie bieten Klientinnen und Klienten mit
unterschiedlichen Lebensläufen und soziodemografischen Profilen eine zunehmend diversifizierte Betreuung mit positiven Ergebnissen, wie verschiedene Studien übereinstimmend
bestätigen. Ihr Entwicklungspotenzial ist gross. Das Stichwort heisst «adaptive Innovation».
1
In diesem Dokument verwendete männliche Titel-, Funktions-, Positions- und Personenbezeichnungen gelten für
beide Geschlechter.
UNIL - OBSERVATORIUM STADT UND NACHHALTIGE ENTWICKLUNG
-3-
Die Vernetzung von stationärem und ambulantem Bereich bietet die Möglichkeit, die
Kontinuität der Behandlung zu verbessern und damit die Wirksamkeit der Betreuung zu
erhöhen. Querschnittbereiche sind nötig, um die Kohärenz des Gesamtsystems sicherzustellen und nachhaltige, integrierte Lösungen mit Einbezug des erworbenen
institutionellen und therapeutischen Wissens, des vorhandenen Knowhows und der
bisherigen Leistungen zu entwickeln.
Angesichts der zentralen öffentlichen Herausforderung, die das Abhängigkeitsproblem
darstellt, müssen die Kantone die Möglichkeiten für eine bedarfsgerechte Behandlung von
Abhängigen in unterschiedlichen Situationen und mit unterschiedlichen Parcours schaffen.
Dieser Bericht liefert Anhaltspunkte und Denkanstösse, die sich nach einigen
Themenschwerpunkten gruppieren lassen:
• gemeinsame Neudefinition der Zielsetzungen der einzelnen Akteure beim Angebot,
dem Betreuungskonzept, den Leistungen, den Zielgruppen und der Partnerschaft auf
dem Gebiet der Suchtbehandlung und Suchtprävention;
• Erneuerung und Anpassung des stationären Leistungsangebots und Anerkennung
seiner Relevanz bei der Behandlung von Menschen mit Suchtproblemen;
• Aufbau geeigneter Schnittstellen zwischen stationärem und ambulantem Bereich als
komplementäre Ketten eines kohärenten Behandlungssystems;
• formalisierte Indikationsverfahren und Zusammenarbeitsformen im Hinblick auf
Kontinuität bei der Behandlung mit gemeinsamem Therapieplan und Transparenz bei
der Betreuung;
• Ausbau von Ausbildung und Information zum integrierten Angebot, um Good Practices
zu nutzen, erworbenes Wissen und gewonnene Erkenntnisse zu verbreiten.
-4-
EVALUATION STATIONÄRE SUCHTEINRICHTUNGEN
Synthese und Empfehlungen
1. Einleitung
Die Entwicklung der Suchtprävention und Suchtbehandlung der Schweiz verläuft in einem
kontinuierlichen Auf- und Ausbauprozess. In einer ersten Phase erfolgt die Entwicklung vor
allem in einem Ausbau des stationären Bereichs, verlagert sich dann aber ab den 1990erJahren im Zusammenhang mit Schadensminderung und Substitutionstherapien zunehmend
auf die ambulanten Strukturen.
Durch die historische Unterscheidung zwischen ambulant und stationär sind auch die
Leistungserbringer in zwei Bereiche geteilt, die mit der Zeit unterschiedliche Referenzsysteme und teils gegensätzliche Definitionen der Suchtabhängigkeit ausgebildet haben.
Diese Zweiteilung hat zu einer gewissen Konkurrenz zwischen dem ambulanten und dem
stationären Bereich geführt, die einem integrierten Ansatz bei der Suchthilfe angesichts der
allgemeinen Budgetkürzungen der öffentlichen Hand nicht förderlich ist.
Seit Ende der 1990er-Jahre zeichnet sich eine Abschwächung des stationären Anteils an
der Suchthilfe ab. Die zunehmende Bedeutung schwerer sozialer und psychopathologischer Situationen und die veränderten Profile der Personen, die von psychotropen oder
psychoaktiven Stoffen abhängig sind, könnten diesem Trend aber ein Ende setzen und
stattdessen den Bedarf nach einem integrativen, übergreifenden Ansatz erhöhen, der durch
ein komplementäres Angebot der einzelnen Bereiche eine situations- und bedarfsgerechte
Suchthilfe ermöglicht.
In diesem Kontext hat die Westschweizer Suchtkoordination CRIAD (Coordination romande
des institutions oeuvrant dans le domaine des addictions) das Observatorium Stadt und
nachhaltige Entwicklung der Universität Lausanne (Observatoire de la ville et du
développement durable) mit einer Studie beauftragt, um eine pluralistische Evaluation des
stationären Suchthilfeangebots 2 und seiner Verbindungen zum ambulanten Bereich vorzunehmen. Die Studie wurde vom GRAS (Groupement romand des chefs de service des
affaires sociales) und der CLASS (Conférence latine des affaires sanitaires et sociales)
unterstützt. Ihre methodische Besonderheit besteht aus dem Einbezug aller Akteure der
Suchtarbeit in den Evaluationsprozess. Die Vielfalt der Evaluationsstellen erweitert den
Blickwinkel der Beurteilung, Einseitigkeit wird durch Intersubjektivität abgelöst. Die
Ergebnisse der Studie basieren auf zwei Hauptquellen: einerseits eine vorgängige
dokumentarische Analyse, andererseits 120 Gespräche mit den beteiligten Akteuren, zur
Hälfte mit Klientinnen und Klienten. Die wichtigsten Ergebnisse werden nachfolgend kurz
vorgestellt.
Weiter enthält der Überblick einige Empfehlungen oder Denkanstösse zu den eingangs mit
dem Auftraggeber vereinbarten und abgesprochenen Fragestellungen. Eine Begleitgruppe
mit Vertretern aus dem Umkreis der Einrichtungen hat das 18-monatige Projekt während
seiner gesamten Dauer begleitet. Wir möchten der Begleitgruppe bestehend aus Annick
Clerc Bérod (wissenschaftliche Mitarbeiterin Ligue Valaisanne contre les toxicomanies,
Sion), Pierre Mancino (Leiter Centre Toulourenc, Association Argos, Genf), Thierry Chollet
(Leiter Fondation vaudoise contre l’alcoolisme) und Pascal Roduit (Projektleiter
Koordination CRIAD und Direktionsadjunkt der Fondation du Relais, Morges) an dieser
Stelle für ihre permanente Unterstützung mit Rat und Tat bestens danken. Für die
Ergebnisse und Aussagen des Berichts sind ausschliesslich die Autoren verantwortlich.
2
Die stationären Einrichtungen dieses Berichts umfassen stationäre Institutionen mit einem Angebot zur
Behandlung und Begleitung von Suchtabhängigen von allen Arten von psychotropen oder psychoaktiven Stoffen,
die auf das zentrale Nervensystem (Empfindungen, Wahrnehmungen, Gemütszustände, Gefühle, Motorik)
einwirken oder das Bewusstsein verändern und zu physischer und/oder psychischer Abhängigkeit führen. Dazu
zählen wir sowohl illegale Substanzen wie Cannabis, Heroin oder Kokain als auch legale Drogen wie Nikotin,
Alkohol oder Medikamente. Wo nicht anders vermerkt umfassen die Bezeichnungen «Süchtige» und «Abhängige»
auch Personen mit problematischem Alkoholkonsum.
UNIL - OBSERVATORIUM STADT UND NACHHALTIGE ENTWICKLUNG
-5-
2. Fragestellungen und allgemeine Hypothese
Für die Studie sind in Absprache mit den Auftraggebern drei Hauptziele festgelegt worden,
nämlich:
das stationäre Suchtangebot der Westschweizer Kantone und des französischsprachigen
Bern zu erheben und zu analysieren;
die Wirkung von Aufenthalt und Massnahmen auf die persönliche Situation der Klienten zu
beurteilen; und
die Möglichkeiten interinstitutioneller Zusammenarbeit abzuschätzen, um die verfügbaren
Ressourcen ohne Einbussen bei Qualität und Umfang des Leistungsangebots besser zu
nutzen.
Dazu ist eine Reihe von Fragestellungen formuliert worden, an denen sich die Studie
orientiert:
• Welche Wirkungen hat die stationäre Behandlung für die betroffenen Klienten und ihre
soziale Integration, ihre Situation in Bezug auf Familie, Gesundheit, Arbeit oder Gesetz?
• Welches sind die Stärken und Schwächen des stationären Bereichs? Welche Chancen
bietet er in Bezug auf die Betreuung für die Klienten?
• Wie kann das stationäre Angebot verbessert werden? Unter welchen Voraussetzungen
und auf welche Weise ist eine Vernetzung denkbar, um das Potenzial des ambulanten und
des stationären Angebots zum Nutzen der Betroffenen im Sinne einer langfristigen
Betreuung miteinander zu verbinden?
Die Studie geht vom Postulat aus, dass der stationäre Bereich zur Kohärenz und
Wirksamkeit der Suchtprävention und Suchtbehandlung in der Schweiz beitragen kann.
Unter Postulat ist eine spekulative Annahme zu verstehen, die ausreichend Gültigkeit
aufweist, um untersucht und evaluiert zu werden. Weiter haben wir die Hypothese
aufgestellt, dass eine angemessene Betreuung der Klienten auf einem Querschnittsansatz
beruht, der die jeweiligen Kompetenzen fördert und die Aktivitäten der einzelnen Akteure im
sozialpädagogischen und medizinischen Bereich , im stationären und ambulanten Sektor in
einem gemeinsamen Referenz- und Handlungssystem miteinander verbindet. Damit stellt
sich als Grundsatzfrage für weitere Überlegungen: Wie können die bisherigen
Referenzsysteme, Dispositive und Vorgehensweisen integriert werden, ohne dass dabei die
im jeweiligen Bereich erworbenen Kompetenzen verloren gehen?
-6-
EVALUATION STATIONÄRE SUCHTEINRICHTUNGEN
3. Das stationäre im Bezug zum ambulanten Angebot:
Strukturen, Verbindungen, gegenseitige Vorstellungen
Der Studienteil zur Wirkung des stationären Angebots und den Verbindungen zum ambulanten und sozialmedizinischen Bereich basiert auf insgesamt 60 Befragungen. Wir
haben bei den verschiedenen institutionellen Akteuren je 20 Interviews durchgeführt: 20 mit
Verantwortlichen stationärer Einrichtungen, 20 mit Leitern von ambulanten und 20 von
medizinischen Strukturen. Die Kernfragen betrafen das Suchtverständnis, die Organisation
der Betreuung und deren Wirkung für die Betroffenen sowie das Verhältnis des stationären
Angebots zu den anderen Akteuren im Suchtbereich.
3.1 Das Suchtverständnis: interdisziplinärer Ansatz nötig
Neue Erkenntnisse im medizinischen Bereich haben sich auf das Suchtverständnis
ausgewirkt. Abhängigkeit lässt sich nicht mehr nur durch den sozialen Kontext und den
individuellen Lebensweg der Abhängigen erklären, auch neurobiologische und genetische
Faktoren spielen eine Rolle. Diese Erkenntnisse erfordern einen integrierten,
multidisziplinären Ansatz bei der Suchtproblematik.
Bei den Akteuren im stationären Bereich wirkt sich dies dahingehend aus, dass die
Abstinenz in einigen Einrichtungen «nach unten revidiert» werden kann. Abstinenz ist in
diesem Falle nicht mehr das alleinige Ziel, sondern kann ein Mittel sein, um einen anderen
Zustand als den der Abhängigkeit auszuprobieren und so die am besten geeigneten
Massnahmen zu bestimmen. Auch der kontrollierte Konsum ist eine Möglichkeit, die aber
nach Ansicht der Befragten weniger auf die Klientel stationärer Leistungen zugeschnitten
ist. Nicht selten lassen die Einrichtungen auch die Methadonsubstitution zu.
Die Mehrheit der Befragten und vor allem die Strukturen mit einer Klientel, die illegale
Drogen konsumiert, verzichten wie die Lehre auf eine Unterscheidung zwischen legalen
und illegalen Suchtmitteln. Weniger angemessen erscheint diese Nichtunterscheidung
Vertretern von Strukturen für Alkoholabhängige. Die Allgegenwärtigkeit von Alkohol in
unserer Gesellschaft verlange eine spezifische Betreuung auf diesem Gebiet. Es wird aber
auch die Befürchtung geäussert, dadurch «Klienten an andere Strukturen zu verlieren».
Aufgrund der neuen Erkenntnisse aus Neurowissenschaften und Psychiatrie müssen die
Befragten den medizinischen Interventionsbereich zwar einbeziehen, dabei ist aber eine
gewisse Ambivalenz spürbar. Diese äussert sich teils in Vorbehalten, wie sich die
medizinischen Erkenntnisse vor allem in Bezug auf die Ziele auf die Suchtarbeit auswirken.
Einige Vertreter aus der Sozialarbeit befürchten, die Sucht als chronische Krankheit zu
betrachten – was ihrer Meinung nach bei den Ärzten der Fall ist – könnte dazu führen, dass
nicht alle Behandlungsmöglichkeiten aktiviert werden und die Klienten in der Abhängigkeitssituation verharren. Andere wiederum geben zu bedenken, die Vielzahl und
Diversität des Angebots zur Betreuung und Begleitung Suchtabhängiger könnten den
Ausstieg aus der Sucht erschweren, da sie den weiteren Konsum unter erträglicheren
Bedingungen ermöglichen.
3.2 Das stationäre Angebot: Lesbarkeit und sich ändernde Profile und
Situationen der Klienten
Das stationäre Angebot ist in den meisten Kantonen gross und umfasst zahlreiche und
vielfältige Leistungen. Das Problem besteht darin, dass es allgemein und besonders für
Akteure ausserhalb des stationären Bereichs schwer lesbar erscheint. Die Inhalte der
einzelnen Einrichtungen gehen aus den Beschreibungen zu wenig klar hervor. Die
UNIL - OBSERVATORIUM STADT UND NACHHALTIGE ENTWICKLUNG
-7-
stationären Einrichtungen selbst geben an, für die Wahl der Klienten seien oft die
Ambiance, der Ort und das Team einer Einrichtung entscheidender als deren Programm.
Praktisch alle Einrichtungen und Akteure im stationären Bereich hielten und halten
weiterhin Änderungen bei den Bedingungen stationärer Betreuung und Begleitung der
Suchtabhängigen für nötig oder zwingend. Dieser Wandlungsbedarf ergibt sich nicht nur
aus den neuen Erkenntnissen der Medizin, sondern auch aus Veränderungen beim Profil
und der Situation der Klienten im stationären Bereich. Nach Ansicht der Befragten haben
Veränderungen beim Profil der Klienten die stationäre Betreuung verändert. Die Gruppe der
marginalisierten Drogenkonsumenten der 1980er- und 90er-Jahre ist individuell stark
desintegrierten Abhängigen gewichen. Diese leiden häufiger als früher an Mehrfachabhängigkeit und Komorbidität (Abhängigkeit und zusätzliche psychiatrische Probleme).
Es handelt sich häufig um sozial und beruflich aufgrund langer Abhängigkeit stark
desintegrierte Abhängige, da der stationäre Bereich mit dem Aufkommen des ambulanten
Sektors heute vor allem Klienten behandelt, bei denen die ambulante Betreuung gescheitert ist, oder anders gesagt die Fälle mit den grössten und langanhaltendsten
Problemen. So gesehen entsprechen die meisten Einrichtungen im stationären Bereich
heute nicht mehr einem hochschwelligen Angebot mit hohen Anforderungen an die
Abhängigen (Abstinenz, Zusammenleben, allenfalls berufliche Wiedereingliederung). Heute
werden im stationären Bereich meist Abhängige behandelt, die aufgrund ihrer Probleme
und ihres Parcours Massnahmen sozialpädagogischer Art (vor allem die Jungen) oder zur
gesundheitlichen oder sozialen Wiederherstellung benötigen. Der Zugang zum stationären
Bereich wird dadurch niederschwelliger, die weniger Beeinträchtigten wenden sich zuerst
an den ambulanten Bereich. Herkömmliche Zielsetzungen der stationären Therapie wie
Abstinenz und berufliche Wiedereingliederung sind damit ins Wanken geraten. Mittlerweile
haben einige stationäre Einrichtungen die Abstinenz relativiert und lassen Substitution zu.
In Bezug auf die Methoden der stationären Behandlung macht die Therapiegruppe
zunehmend einer individualisierteren Betreuung Platz.
3.3 Verbindung und Ergänzung des stationären zum ambulanten und
sozialmedizinischen Angebot: Neukonfiguration und Erwartungen der
Akteure
Durch die neuen Erkenntnisse über Abhängigkeit und die veränderten Profile suchtabhängiger Menschen ist die Suchthilfe in den letzten Jahren komplexer geworden. Es gibt
nicht nur einen Weg, die Sucht zu besiegen oder zu bewältigen, nicht nur eine
Behandlungsart, nicht nur eine Kontakt- und Anlaufstelle für Menschen in Suchtsituationen.
Diese neue Ausgangslage bedingt beträchtliche Anpassungen bei den Einrichtungen, die
teilweise bereits erfolgt sind. Einige bisherige Praktiken treten dadurch in den Hintergrund
(definitiver Konsumstopp als Ziel, Therapiegruppe) und bieten Raum für neue wie die selektive Abstinenz oder die Zusammenarbeit mit dem ambulanten und sozialmedizinischen
Bereich.
Heute erachten alle Akteure die Vernetzung und gegenseitige Ergänzung der Interventionsbereiche (sozial und medizinisch) und Betreuungsarten (ambulant und stationär) als
Voraussetzung für die am besten geeignete Behandlung und Begleitung von
Suchtabhängigen. Ihre Sicht der Abhängigkeitsprobleme und der Mittel dagegen stimmt
zunehmend überein.
Alle Akteure im Suchtbereich haben auf die eine oder andere Weise Erwartungen an die
anderen Beteiligten geäussert. Der stationäre Bereich beispielsweise möchte nicht, dass
die ambulanten Strukturen ihn als letztes Mittel betrachten. Der ambulante Bereich
seinerseits hätte gerne «niederschwelligere» stationäre Stellen, die Klienten in
gesundheitlichen oder sozialen Krisensituationen ohne Abstinenzgebot rasch und kurzfristig
aufnehmen. Der stationäre Bereich und die Sozialarbeiter im ambulanten Bereich erwarten
vom medizinischen Bereich, dass er Klienten bei Bedarf rasch behandelt. Durch eine
Indikationszentrale – mehr als Orientierungshilfe denn als Vorschrift gedacht – könnten die
Klientenparcours nach einigen Aussagen besser vernetzt werden. Andere meinen, wo noch
-8-
EVALUATION STATIONÄRE SUCHTEINRICHTUNGEN
nicht vorhanden könnte der Aufbau einer kantonalen Koordinationsstelle die Vernetzung
der einzelnen Strukturen und Interventionsbereiche fördern.
3.4 Die Wirkungen des stationären Bereichs: von der Schadensminderung
zur Reintegration
Einige Vertreter sind der Ansicht, mit der neuen Art von Klienten könnte eine weitere
Wirkung des stationären Bereichs neben dem Ausstieg aus Konsum und Konsumumfeld
und neben sozialer oder beruflicher Reintegration darin bestehen, das soziale Risiko zu
reduzieren. Für junge Erwachsene kann die stationäre Therapie eine Ausbildung, berufliche
Kompetenzen, die Eingliederung in die Arbeitswelt bedeuten. Eine gute Möglichkeit bietet
sich im stationären Bereich auch mit dem Aufbau von Strukturen zur kurzzeitigen Aufnahme in Krisensituationen, wenn die ambulante Betreuung nicht ausreicht, oder langfristig
auch wenn es um eine Lösung für Abhängige mit grossen gesundheitlichen oder sozialen
Problemen geht, für die eine berufliche Eingliederung nicht oder nicht mehr in Frage kommt
wie beispielsweise ältere Menschen. Die Ergebnisse der Studie bei der Wahrnehmung der
Klienten stützen Überlegungen in dieser Richtung.
4. Die Klienten: Profile, Parcours, Wahrnehmung und
Zufriedenheit
Das Profil der Klienten im stationären Bereich wurde mithilfe einer vorgängigen Dokumentenanalyse erstellt. Um die Wirkungen der stationären Behandlung auf die Situation
und den Parcours der Betroffenen zu beurteilen, haben wir 60 Klienten befragt, die
stationäre und ambulante Leistungen bezogen haben. Konkret ging es darum
herauszufinden, wie sich die stationäre Behandlung nach Auffassung der Klienten auf ihre
Lebensqualität, ihr Konsumverhalten und ihren Behandlungsparcours (stationärer oder
ambulanter Bereich) ausgewirkt haben, und was die Klienten als Stärken und Schwächen
des stationären Bereichs erachten.
4.1 Die Klienten des stationären Bereichs: ein spezifisches Profil
Die Männer- und Frauenanteile bei den Klienten spezialisierter stationärer Einrichtungen
lagen in den letzten Jahren bei 75 respektive 25 Prozent und haben sich kaum verändert.
Das Alter der Abhängigen ist auf der einen Seite gesunken, auf der anderen Seite
gestiegen. Die Altersgruppe der 17- bis 25-Jährigen hat vor allem bei den Konsumenten
illegaler Substanzen und dabei hauptsächlich beim Cannabis zugelegt. Die Hälfte der
Klienten im stationären Bereich ist aber bei der Aufnahme über 30 Jahre alt. Etwas weniger
als die Hälfte der stationären Aufnahmen im Jahr 2008 hat die Behandlung hauptsächlich
aus eigener Initiative begonnen. Andere Motive für den Eintritt sind allen voran ein
Gerichtsentscheid (15%) oder eine Überweisung von einer ambulanten Fachstelle (8%). In
10 Prozent der Fälle haben in erster Linie die Angehörigen (Partner, Familie, Freunde) den
stationären Eintritt veranlasst. Bei diesen Angaben handelt es sich um Mittelwerte, die je
nach Kanton und/oder Einrichtung variieren können.
Die aktuelle Statistik lässt keinen markanten Rückgang bei den Opiat- oder Kokainkonsumenten erkennen. Beim Tabak-, Alkohol- oder Cannabiskonsum hingegen ist eine
deutliche Zunahme vor allem der jugendlichen Konsumenten festzustellen. Auch die
psychischen Störungen in Zusammenhang mit Suchtabhängigkeit haben unabhängig vom
Alter allgemein zugenommen.
Gemäss einer neueren Vergleichsstudie zwischen dem Profil stationärer und ambulanter
Klienten nehmen die stationären Einrichtungen einen höheren Anteil an Personen auf, die
UNIL - OBSERVATORIUM STADT UND NACHHALTIGE ENTWICKLUNG
-9-
schon mindestens eine Behandlung hinter sich haben, deren Wohnsituation instabil ist oder
die über einen hohen Berufsstatus oder ein hohes Ausbildungsniveau verfügen. Ein nicht
unerheblicher Teil der Suchtabhängigen wird heute älter. Die längere Lebensdauer durch
bessere Betreuung kann zu Problemen wie fehlende Plätze in Einrichtungen für Ältere
führen. Weiter wird festgehalten, dass eine stationäre Behandlung eher bei extremen
Konsumverhalten, psychiatrischen oder kognitiven Störungen, früheren Behandlungsabbrüchen, rückfallfreundlichem Umfeld oder schlechter sozialer Integration angezeigt ist.
Die ambulante Betreuung hingegen sei geeigneter, wenn genügend persönliche und
soziale Ressourcen vorhanden sind, wenn keine medizinischen Komplikationen vorliegen,
wenn es darum geht eine Arbeit zu behalten oder wenn ein stationärer Aufenthalt für die
betreffende Person nicht in Frage kommt.
4.2 Die Wirkungen der stationären Behandlung: ein Faktor zur
Verbesserung der Lebensqualität
Um die Wirkungen des Betreuungsangebots für die Klienten zu evaluieren, sind wir vom
Schweregradindex «Addiction Severity Index» (ASI) und damit den Bereichen ausgegangen, die Suchtabhängige am häufigsten als existenziell bezeichnen. Die Einschätzung der Klienten bestätigt die auf unterschiedlichen Methoden basierenden
Ergebnisse anderer Studien (LVT, Argos) und zeigt, dass die Wirkungen stationärer
Behandlung gesamthaft in allen Bereichen häufig positiv wahrgenommen werden. Unsere
nach qualitativen Methoden bei einer begrenzten Gruppe von 60 Personen durchgeführte
Befragung ergibt eine deutliche Verbesserung des physischen und/oder psychischen
Gesundheitszustands der Klienten aufgrund der stationären Behandlung, die bei den
Frauen besonders markant ist. Während und/oder nach dem stationären Aufenthalt sind bei
allen Substanzen eine Reduktion oder Kontrolle der Menge und des Mischkonsums, eine
Stabilisierung bis hin zu einer Verbesserung im Beziehungsbereich und eine gewisse
Stabilisierung in Bezug auf Probleme mit der Justiz im Zusammenhang mit diversen
Delikten zu erkennen.
Als schwieriger erweist sich die Situation in Bezug auf wirtschaftliche Selbständigkeit und
sozioprofessionelle Integration. Die meisten Befragten bezeichneten ihre Arbeitssituation
als sehr prekär und gaben an, zum Überleben auf finanzielle Hilfe (Sozialhilfe, IV)
angewiesen zu sein. Bei der Frage zur Zufriedenheit mit den Leistungen ihres stationären
Aufenthalts fiel die Antwort aber in der Regel positiv aus.
4.3 Die Lebensgeschichten: Prekarität, unterschiedliche Parcours, wiederkehrende Anfälligkeiten
Die Lebensgeschichten der befragten Klienten von stationären Einrichtungen und von ambulanten Strukturen (die aber einen oder mehrere stationäre Aufenthalte hinter sich haben)
sind einzigartig und verlaufen sehr unterschiedlich, sind aber alle fragmentiert. Sie weisen
Situationen der Ausgrenzung geprägt durch die Häufung und Komplexität von Anfälligkeitsfaktoren auf, die den Einstieg in eine «Konsumkarriere» fördern und zu einem labilen
emotionalen Gleichgewicht und einer (schleichenden oder sprunghaften) Degradation der
persönlichen Situation insgesamt führen können. Die Suchtparcours weisen bei aller
Unterschiedlichkeit gemeinsame Faktoren auf (Bruch mit Lebensumfeld, traumatische
Erlebnisse, anhaltender Stress usw.), die nach Meinung der Klienten ihre Suchtprobleme
und den Autonomieverlust auf der Beziehungs- und sozioprofessionellen Ebene erklären.
Die Problematiken kumulieren sich und haben häufig Straffälligkeit, anhaltende gesundheitliche Probleme, wiederholte Behandlungen, grosse Labilität und kürzere oder längere
Abschnitte mit psychischen Störungen aufgrund des Suchtkonsums zur Folge.
Insgesamt unterschieden sich die analysierten Lebensgeschichten aber deutlich danach,
ob es sich um Konsumenten von Alkohol oder von anderen Drogen handelt. Die
Alkoholabhängigen sind in der Regel älter und sozioprofessionell besser integriert als die
- 10 -
EVALUATION STATIONÄRE SUCHTEINRICHTUNGEN
Konsumenten von illegalen Drogen. Was auf die Bedeutung hinweist, auch beim Betreuungsangebot nach Substanzarten zu unterscheiden. Die analysierten Parcours der
Konsumenten von illegalen Drogen oder der Alkoholkonsumenten geben auch Aufschluss
über das Phänomen der Komorbidität im Zusammenhang mit dem Substanzkonsum, wobei
festzustellen ist, dass die Doppeldiagnose in den Suchtdispositiven oft nicht ausreichend
berücksichtigt wird.
Die stationäre Intervention stellt einen wichtigen Schutzfaktor dar, der die Lebensqualität
der Klienten während und nach dem Aufenthalt (den Aufenthalten) trotz teils starker
Rückfälle massgeblich verbessert. In den selten linear verlaufenden Parcours mit vielen Auf
und Abs und Hin und Her zwischen stationären, ambulanten, Spital-, sozialen und anderen
Strukturen beurteilt die Mehrheit der Befragten den stationären Aufenthalt als positiv. Mehr
noch als die Erfolge sprechen die Misserfolge für eine stärkere Vernetzung von stationärem
und ambulantem Ansatz und machen deutlich, wie nötig ein gemeinsames, abgestimmtes
Vorgehen zwischen stationärer Behandlung, medizinischer und sozialer Begleitung ist. In
einigen Fällen haben sture Vorschriften die Kommunikation zwischen den zuständigen
Strukturen verhindert, die Vernetzung gebremst und eine bedarfsgerechte Begleitung auf
diese Weise erschwert. Die Parcours der Klienten mit ihren Brüchen machen deutlich, wie
wichtig eine Vernetzung zwischen stationärem, ambulantem und sozialmedizinischem
Bereich ist, um den besonderen Bedürfnissen der Klienten im Lauf ihres Parcours in den
einzelnen Strukturen gerecht werden zu können.
5. Synthese: Stärken und Schwächen des stationären Angebots
Durch Kombination der Analyse der Klientenparcours mit der Analyse des Angebots
gestützt auf die bereitgestellten umfangreichen Unterlagen lassen sich die Stärken und
Schwächen des stationären Angebots aufzeigen. Dabei beschränkt sich diese Studie aber
auf die Auflistung der Punkte, die aus den subjektiven Darstellungen oder Wahrnehmungen
der Befragten hervorgehen. Es hat keine Gewichtung stattgefunden. Die Studie führt
lediglich Forschungsmaterial auf, dessen Relevanz durch fundiertere Untersuchungen
bestätigt oder widerlegt werden müsste. Diese Auflistung ist keineswegs abschliessend und
lässt sich auch nicht festen Strategien oder Positionen der Akteure zuordnen, die uns ihre
Eindrücke geliefert haben. Sie dient einzig dazu uns zu erlauben, auf dieses Weise das
stationäre Angebot und die Vorstellungen davon wenn auch mit Verzerrungen abzubilden.
Die von den Akteuren genannten Stärken sind vielfältig:
• Der stationäre Bereich verfüge über ein solides Knowhow im Bereich psychosozialer
und/oder sozioprofessioneller Begleitung.
• Der stationäre Bereich mit seinen Einrichtungen und erworbenen Kompetenzen
ermögliche:
• Leistungen an einem Ort: Betreuung, Begleitung und/oder dosierbare Leistungen rund
um die Uhr;
• Reduktion oder Stopp des Substanzkonsums, indem der Klient Distanz zum
Konsumumfeld schaffen kann;
• die zur Behandlung und Prävention der einzelnen Suchtsituationen als nötig anerkannte
psychosoziale, soziale oder sozialpädagogische Betreuung.
• Der stationäre Bereich ermögliche Schutz bei Krisensituationen (bezüglich Konsum,
Wohnung, Gesundheit).
• Er ermögliche den Klienten eine Pause, die Wiedererlangung eines Rhythmus, einer
Tagesstruktur, die Motivation für Schritte in Richtung soziale Integration unter anderem
durch das Zusammenleben und/oder dank diverser Leistungen und allfälligen Kontakten mit
Arbeitgebern den Anstoss für eine berufliche Wiedereingliederung.
• Der stationäre Bereich helfe Stressfaktoren zu reduzieren (Rückfall-, Depressionsfaktor).
UNIL - OBSERVATORIUM STADT UND NACHHALTIGE ENTWICKLUNG
- 11 -
• Er ermögliche die Delinquenz zu verringern und die Wiedereingliederungschancen zu
erhöhen.
• Der stationäre Bereich biete den nötigen Rahmen für Substitutionsbehandlungen bei
Klienten mit schweren und multiplen psychiatrischen Problemen.
• Er ermögliche ergänzende Leistungen in gewissen Behandlungsbereichen, wo optimale
Resultate bei bestimmten Klienten nur über eine Kombination medizinischer, pharmakologischer, sozialer und psychotherapeutischer Massnahmen zu erreichen sind und sich
ein kürzerer oder längerer stationärer Aufenthalt als nötig erweisen kann.
Nach Angaben der Befragten weist der stationäre Bereich folgende Schwächen auf:
• Er verfüge über eine diversifiziertes, aber schwer lesbares Angebot, das nicht immer auf
die aktuellen Profile und Bedürfnisse der Klienten abgestimmt sei, wobei die geringe
Spezialisierung auf den Trend der stationären Einrichtungen zurückführen sei, ihr
Leistungsangebot laufend zu erweitern.
• Das stationäre Angebot sei vor allem bezüglich des Zusammenlebens in stationären
Einrichtungen unattraktiv, stationäre Behandlung könne auch mit Angst vor einer Stigmatisierung und einer Prekarisierung der beruflichen Situation verbunden sein, und die
Klienten seien bei langen Aufenthalten oft gezwungen die Wohnung aufzugeben, ein
Nachteil angesichts der derzeitigen Wohnungsnot.
• Die stationäre Behandlung könne zum Verlust von Eigenverantwortung und von sozialen
Kompetenzen der Klienten führen, die für eine Wiedereingliederung in einen nicht
geschützten Bereich nötig seien, was die Abhängigkeit institutionalisieren und das Risiko
einer vorübergehend-dauerhaften «Unterstützungsfalle» beinhalten könne.
• Nach Ansicht einiger Befragter ist die stationäre Behandlung mit einem erhöhten Risiko
einer Überdosis bei einem Rückfall nach der Therapie verbunden, die tendenziell die
Faktoren nachtherapeutischer Rückfälle unterschätze.
• Der stationäre Bereich habe Mühe die nötigen Anpassungen vorzunehmen, um
unterschiedliche Klientengruppen aufzunehmen, und es gelinge ihm im heutigen
sozioökonomischen Kontext immer weniger, das Ziel beruflicher Wiedereingliederung zu
erreichen.
• Schliessungen, weniger Stellenprozente und die Subventionsmodalitäten könnten zu
einer Konkurrenzsituation und defensivem Festhalten am bisherigen «Klientenstamm»
führen und die Bemühungen um eine partnerschaftlich organisierte, an optimaler
Behandlung orientierte Vernetzung der Leistungen bremsen.
• Das im stationären Bereich benötigte langzeitliche Engagement seitens der Klienten und
der einzelnen Behandlungsbereiche könnte durch den heutigen Kostendruck und das
Kosten-Nutzen-Gebot beeinträchtigt und eine Weiterentwicklung gebremst werden.
• Die neue Aufgabenverteilung zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden gefährde das
«stationäre Therapieangebot», der aktuelle Spardruck mit dem Trend zu weniger
Kostenübernahmen für Therapieaufenthalte oder Leistungen zur Wiedereingliederung
konfrontiere den stationären Bereich mit finanziellen Schwierigkeiten, die eine Erneuerung
des Angebots im Hinblick auf seinen langfristigen Bestand verhindern könnten.
- 12 -
EVALUATION STATIONÄRE SUCHTEINRICHTUNGEN
6. Empfehlungen: Leitlinien für einen pluralistischen, integrativen
Ansatz mit Blick auf eine gemeinsame Strategie
Die Analyse zeigt die Schwächen des stationären Bereichs auf, macht aber auch seine
Stärken und sein Entwicklungspotenzial deutlich. Das Angebot im stationären Bereich
erweist sich praktisch übereinstimmend als gross, zahlreiche und vielfältige Leistungen
umfassend. Die grosse Mehrheit der Fachpersonen ist sich einig, dass ein rein
medizinischer Ansatz heute durch einen psychosozialen Ansatz und umgekehrt ein rein
psychosozialer Ansatz durch psychomedizinisches Wissen ergänzt werden muss.
Sucht wird allgemein als Phänomen anerkannt, das aus der Wechselwirkung multipler
Faktoren sowohl psychologischer als auch sozialer und medizinischer Natur hervorgeht, die
zum Kontrollverlust über den Konsum eines Produkts oder ein Verhalten führen.
Entsprechend umfassen Massnahmen dagegen mehrere komplementäre, aufeinander
abzustimmende Bereiche wie Soziales, Gesundheit, Erziehung und Sicherheit. Es gibt nicht
nur eine Methode Sucht anzugehen, sondern eine Palette von einander ergänzenden
Massnahmen, die es fassbar und für eine individuelle Behandlung mit Blick auf mehr
Autonomie der Abhängigen nutzbar zu machen gilt.
Der Einsatzbereich der Suchtarbeit ist sehr vielfältig. Behandlung und Betreuung im
stationären und im ambulanten Bereich haben aber das gemeinsame Ziel,
Substanzabhängigen ein selbständigeres Leben zu ermöglichen. Es besteht ein breiter
Konsens zur Viersäulenpolitik. Der Wille zur Zusammenarbeit für eine Vernetzung der
einzelnen Kompetenzen ist somit grundsätzlich vorhanden.
Die Vernetzung von stationärem und ambulantem Bereich bietet gute Chancen, die Kontinuität in der Behandlung und das Durchhalten der Klienten zu verbessern und damit eine
effizientere Suchtprävention und Suchtbehandlung zu ermöglichen. Querschnittbereiche
sind nötig, um die Kohärenz des Gesamtsystems sicherzustellen und nachhaltige,
integrierte Lösungen mit Einbezug des erworbenen institutionellen und therapeutischen
Wissens, des vorhandenen Knowhows und der bisherigen Leistungen zu entwickeln. Die
Kantone müssen die Möglichkeiten für eine bedarfsgerechte Behandlung von Abhängigen
in unterschiedlichen Situationen und mit unterschiedlichen Parcours schaffen.
Vorstösse zur Entwicklung von integrierten Leistungsangeboten könnten sich an folgenden
Schwerpunkten orientieren:
• Aufbau eines gemeinsamen Referenz- und/oder Handlungssystems sowie
gegenseitiger Einbezug der Behandlungskonzepte im Hinblick auf eine
übereinstimmende Definition der Suchtproblematik, der damit verbundenen Störungen
und der geeigneten Behandlungskette;
• gemeinsame Neudefinition der Zielsetzungen der einzelnen Akteure beim Angebot,
dem Betreuungskonzept, den Leistungen, den Zielgruppen und der Partnerschaft auf
dem Gebiet der Suchtbehandlung und Suchtprävention;
• Erneuerung und Anpassung des stationären Leistungsangebots und Anerkennung
seiner Relevanz bei der Behandlung von Menschen mit Suchtproblemen;
• Aufbau geeigneter Schnittstellen zwischen stationärem und ambulantem Bereich als
komplementäre Ketten eines kohärenten Behandlungssystems;
• Formalisierung von Zusammenarbeitsformen im Hinblick auf Kontinuität bei der
Behandlung mit gemeinsamem Therapieplan und Transparenz bei der Betreuung;
• Ausbau von Ausbildung und Information zum integrierten Angebot, um Good Practices
zu nutzen, gewonnene Erkenntnisse zu verbreiten, Forschung und Evaluation zu
fördern, die Kompetenzen der Fachpersonen zu stärken, über die verfügbaren
Kommunikationsmittel zu informieren, Öffentlichkeit und Politik zu sensibilisieren.
UNIL - OBSERVATORIUM STADT UND NACHHALTIGE ENTWICKLUNG
- 13 -
Mit der Definition gemeinsamer Strategien und mit institutionalisierten Formen der Koordination, der Zusammenarbeit und des Austauschs können die Massnahmen der Akteure
auf allen Ebenen des Viersäulenprinzips an Effizienz gewinnen: bei der Gesundheitsförderung und Prävention, der Therapie, der Schadensminderung und der Repression.
Über diese allgemeine Feststellung werden abschliessend einige Überlegungen angestellt,
wie die einzelnen Akteure, Vorgehensweisen und Leistungsangebote besser vernetzt
werden könnten. Es ergeben sich folgende Anhaltspunkte:
• gemeinsame Strategien und integrierte Therapiekonzepte entwickeln;
• das Leistungsangebot sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht
anpassen und stärken: das Angebot lesbarer machen und das Konzept nach den
heutigen Bedürfnissen präzisieren;
• Kompetenzzentren
schaffen;
im
sozialpädagogischen
und
sozioprofessionellen
Bereich
• die interinstitutionelle Zusammenarbeit formalisieren, die Vernetzung fördern und
damit die Qualität der Betreuung verbessern;
• das Indikationswesen verbessern: die Kette der stationären und der ambulanten,
medizinischen und sozialen Leistungen besser vernetzen und damit die Kontinuität und
die Qualität der Behandlung sicherstellen;
• die Klientenparcours besser vernetzen: durch Koordination und Absprache besser
behandeln und begleiten, heilen und helfen;
• die interdisziplinäre Ausbildung und die Information bei allen Akteuren und den
Klienten im Suchtbereich fördern;
• die Bemühungen zur Optimierung des statistischen Informationssystems fortsetzen;
• die Rahmenbedingungen im stationären Bereich verbessern.
Angesichts der Bedeutung der Suchtfrage in unserer Gesellschaft und der jüngsten Entwicklungen müssen die Kräfte rationalisiert und bessere Rahmenbedingungen zur Vernetzung der einzelnen Fachwissen und Erfahrungen geschaffen werden, um einer komplexen Herausforderung nachhaltig zu begegnen. Der Aufbau von Zusammenarbeit im Hinblick auf ein gemeinsames Vorgehen unter Einbezug der bisherigen Leistungen kann trotz
weiterhin komplexer Rollen kantonaler und interkantonaler Instanzen ein guter
Anhaltspunkt sein.
Die gemeinsame Organisation des Suchthilfesystems kann aber sicher nicht nur anhand
der Zweckmässigkeit der Projekte, anhand der Aktivitäten oder der Wirkungen für die
Klienten-Patienten konzipiert und beurteilt werden. Ebenso abhängig wie von Projekten und
Aktivitäten sind die Modalitäten und der Erfolg der Vernetzung vom Verhältnis zwischen
Kollaboration, Wettbewerb und Macht unter den Akteuren. Die Vernetzung von stationärem
und ambulantem, sozialem und medizinischem Bereich wird somit immer eine dynamische
Realität in Interaktion mit dem organisatorischen und institutionellen Umfeld sein, die ihr als
Rahmen und Stütze dienen.
Herunterladen