Großmodul 237: Mit Klassen klarkommen Thema: Disziplin und Unterrichtsstörungen Autoren: Franziska Born, Nina Frick, Robert Höckner, Susanne Meyer 1. Definition der Begriffe Disziplin und Unterrichtsstörungen Unter Unterrichtsstörungen versteht man im Allgemeinen Ereignisse, die den Lehr- und Lernprozess beeinträchtigen. Dabei werden die Voraussetzungen für das Lernen und Lehren durch eben diese Ereignisse negativ beeinflusst oder sogar außer Kraft gesetzt. Generell sollte man sich darüber im Klaren sein, dass ein störungsfreier Unterricht eine didaktische Fiktion ist (vgl. Lohmann, 2003, S. 13). Ein gewisses Maß an Störungen ist also normale Begleiterscheinung des Unterrichtsgeschehens. Dabei unterscheidet man jedoch unterschiedliche Arten von Unterrichtsstörungen: So kann der Lehr- und Lernprozess beispielsweise durch Zwischenrufe, verbale und physische Attacken, motorische Unruhe, Durchsagen, Baustellenlärm, Tiefflieger, außergewöhnliche Naturereignisse wie z.B. plötzlich heftiger Schneefall oder auch Hektik und Sarkasmus des Lehrers gestört werden. Dabei haben die verschiedenen Störungen des Unterrichtes auch unterschiedliche auslösende Akteure. Während die ersten Beispiele vor allem von den Schülern selbst ausgehen, sind Störungen wie Durchsage, Baustellenlärm usw. durch äußere Umstände bedingt. Aber auch der Lehrer, als maßgeblicher Gestalter des Lehr- und Lernprozesses, kann Verursacher von Störungen sein. Die oben genannten Beispiele wie Hektik und Sarkasmus können da ebenso genannt werden wie Brüllen, das Formulieren unklarer Arbeitsaufträge und unstrukturierte und langweilige Gestaltung des Lernstoffes. Klammert man nun die von außen kommenden und von keiner Seite her beeinflussbaren Störungen, wie z.B. Baustellenlärm oder Durchsagen, aus, so bleiben als Verursacher von Störungen noch die Schüler und die Lehrperson. Störendes Schülerverhalten wird dabei häufig als Mangel an Disziplin angesehen. Unter Disziplin versteht man in diesem Zusammenhang ein sich an vorgegebene Regeln und Normen orientierendes Verhalten. Im Schulalltag begegnen uns immer wieder Regeln und Normen, die den reibungslosen Ablauf des Schul- und Unterrichtsalltags gewährleisten sollen. Diese sind meist von der Schulleitung bzw. dem Lehrer vorgegeben. Kommt es von Schülerseite zur Verletzung dieser Normen und Regeln, spricht man von einem Disziplinkonflikt. Diese sogenannten Disziplinkonflikte sind unausweichlicher Bestandteil schulischen Lebens, da Lehrer und Schüler sehr unterschiedliche Erwartungen und Normvorstellungen haben. „Je weiter diese jeweiligen Normen voneinander abweichen, umso höher ist das Konfliktpotenzial.“ (Lohmann, 2003, S. 12). D.h. also, dass die Art, Häufigkeit und Intensität dieser 1 Begleiterscheinungen als Maßstab gesehen werden können, der angibt, wie groß die Schere zwischen den Normvorstellungen und Erwartungen ist. Verstärkt wird diese Problematik noch durch die heterogene Schülerpopulation. Dabei treffen in der Schule sehr unterschiedliche Wünsche, Interessen und Persönlichkeiten aufeinander, sodass nicht von einem einheitlichen Basis-Normencode des Schülerverhaltens ausgegangen werden darf (vgl. Lohmann, 2003, S. 17). In diesem Zusammenhang sieht sich der Lehrer immer wieder mit unterschiedlich ausgebildeter Impulskontrolle, Selbststeuerungskontrolle und Reflexionskompetenz konfrontiert. Zudem wird nicht allen Schülern der Sinn schulischer Verhaltensregeln einsichtig sein, sodass der Lehrer diese immer wieder aufs Neue erklären und verhandeln muss (vgl. ebd.). Betrachtet man nun wie im Folgenden die verschiedenen Formen störenden Verhaltens von Schülerseite, so ließen sich unzählige nennen. Um diese Fülle an störendem Schülerverhalten etwas übersichtlicher zu machen, kategorisiert man diese in folgende vier Gruppen: 1. Verbales Störverhalten, wie z.B. das Schwätzen mit dem Banknachbarn, vorlautes Verhalten, Zwischenrufe und Beleidigungen 2. Mangelnder Lerneifer, was sich beispielsweise in geistiger Abwesenheit, Desinteresse und Unaufmerksamkeit zeigt 3. Motorische Unruhe in Form von Zappeln oder Herumlaufen 4. Aggressives Verhalten, wie z.B. Sachbeschädigung, Wutausbrüche oder sogar Angriffe auf Mitmenschen Ebenso vielfältig wie die Störungen an sich sind deren Gründe. Lohmann nennt da als wesentliche Ursache für störendes Schülerverhalten die Langeweile (vgl. Lohmann, 2003, S. 20). Die Ursache für das sog. Langeweile-Syndrom ist dabei auf der Unterrichtsebene zu suchen, denn Langeweile entsteht, wenn die Schere zwischen dem, was die Schüler erwarten und dem, was der Lehrer bieten kann, zu groß wird. Ist dies der Fall, versuchen die Schüler den für sie langweiligen Unterricht durch Nebentätigkeiten zu verkürzen. Ein weiterer Grund für das Stören des Unterrichtsgeschehens ist das Buhlen um Aufmerksamkeit. Dies ist häufig bei Schülern der Fall, bei denen Anerkennung durch akademische Leistung nicht möglich ist oder in Klassen, in denen störendes Verhalten durch Bewunderung durch die Mitschüler begünstigt wird. Auch das Bedürfnis nach Kommunikation mit den Mitschülern kann zum Stören des Unterrichtes führen. Es zeigt sich also, dass die Ursachen für störendes Verhalten oft trivial sind. Weitere, weniger triviale Ursachen für störendes Schülerverhalten, können z.B. organische Störungen, wie beispielsweise Hyperkinese (Zappelphilipp-Syndrom), Entwicklungsstörungen oder 2 Familienprobleme sein. Diese Ursachen kann der Lehrer nicht lösen, hier müssen außerschulische Fachleute weiterhelfen. Häufig ist es so, dass Störungen aus Lehrerperspektive als unangemessenes Schülerverhalten wahrgenommen werden. Dabei sieht die Lehrperson vor allem die Persönlichkeitsstruktur des Schülers als Ursache. Wie bereits oben erwähnt kann aber auch der Lehrer selbst oder sein pädagogisches und didaktisches Konzept Initiator für Unterrichtsstörungen sein. Sarkasmus und Hektik seine da beispielsweise als unangemessenes und störungsförderndes Verhalten von Lehrerseite aus zu nennen. Eine Analyse ineffektiven Lehrerverhaltens hat gezeigt, dass vor allem einseitige und ungeeignete Strategien angewendet werden (vgl. Lohmann, 2003, S. 23f.) wie z.B.: Betonung korrektiver Handlungen, d.h. proaktive Maßnahmen zur Vorbeugung von Störungen fehlen Einseitiger Adressat, d.h. Disziplinarmaßnahmen zielen nur darauf ab, dass sich ein bestimmtes Schülerverhalten ändert; Änderungen der Umgebung oder des Lehrerverhaltens sind nicht vorgesehen Inkonsequenz Ungeeignete Interventionen, die selbst zur Störungsquelle werden Gestörte bzw. kaum genutzte Kommunikation, sodass Schüler kein Mitspracherecht bei Klassenregeln haben Schülerinteressen stehen hinter Stoffvermittlung Es zeigt sich also, dass nicht nur die Schüler, sondern auch die Lehrer maßgeblich für Störungen im Unterricht verantwortlich sind. Wichtig ist, dass der Lehrer sich selbst und sein Konzept als mögliche Quelle störenden Verhaltens mitberücksichtigt, denn es wäre fatal, wenn er die Ursache ausschließlich in der Persönlichkeitsstruktur der Schüler suchen würde. Lohmann sieht gerade in diesem Verhalten einen großen Fehler auf Lehrerseite, denn „Wer Verantwortung abgibt, verabschiedet sich von Einflussmöglichkeiten!“ (Lohmann, 2003, S. 15). 2. Arten und Ursachen von Unterrichtsstörungen Nachdem Unterrichtsstörungen definiert wurden, sollen nun die Arten und Ursachen, sofern sie für den Pädagogen, in Abgrenzung zum Psychologen, von Bedeutung sind, erörtert werden. Dabei können sich Überschneidungen mit dem ersten Kapitel ergeben. In der Literatur lassen sich verschieden Kategorisierungen von Unterrichtsstörungen finden, die sich teilweise in ihrer Erklärung unterscheiden. Nolting (2002, S. 14 – 19) nennt drei Kategorien, mit deren Hilfe Unterrichtsstörungen erklärt werden können. Sie können durch 3 individuelle, gesellschaftliche und institutionelle Ursachen hervorgerufen werden. Primär geht es Nolting jedoch nicht um die Ursachen von Unterrichtsstörungen, sondern um Strategien, diese Art von Konflikten zu lösen. Born (1986, S. 78 – 79) bezieht sich in ihrem Buch nur auf Disziplinschwierigkeiten, die unseres Erachtens nur einen Teil von Unterrichtsstörungen ausmachen. Besonders bei der Erklärung der Ursachen ist das Werk von Lohmann und Minsel (1978) sehr hilfreich. Störungen werden von Schülern anders wahrgenommen als von Lehrern. Aus Lehrersicht sind Unterrichtsstörungen unangemessene Verhaltensweisen einiger Schüler, die die Mitschüler in ihrem Lernverhalten beeinträchtigen. Dabei fühlen sich jedoch nicht immer nur Mitschüler gestört, sondern oftmals allein der Lehrer. Es zeigt sich, dass Schüler Unterrichtsstörungen oftmals ganz anders als Lehrer bewerten. Dies wird auch bei unserem praktischen Beispiel, der Disziplinierungsmethode nach Ergenzinger, deutlich. So entstehen Disziplinkonflikte häufig aus der Interaktion zwischen Schülern im Klassenraum. Störendes Verhalten ist von den Schülern selten gewollt. Meist fehlt es an Rückmeldung, Reflexionsvermögen oder klaren Regeln. Dabei hat der störende Schüler oft drei Absichten: der Langeweile zu entkommen, mit Mitschülern privat zu kommunizieren und Aufmerksamkeit (Zuwendung, Anerkennung) zu erhalten. In diesem Zusammenhang ist auch zu verstehen, dass Schüler im Ermahnen des Lehrers einen „heimlichen Gewinn“ sehen (vgl. Lohmann, 2003, S. 21, 22). Auch verlangen Schüler, dass ihre Interessen wahrgenommen, thematisiert und Kompromisse ausgehandelt werden. Dies schließt auch Normen, Werte und Verhaltensregeln ein. Werden die Interessen der Schüler vom Lehrer nicht wahrgenommen, kann es ebenfalls zu Unterrichtsstörungen kommen. Die Ursachen von Unterrichtsstörungen lediglich aus Schülerperspektive verstehen zu wollen, würde jedoch ein einseitiges Bild der komplexen Thematik ergeben. Auch sollte bedacht werden, dass diese Ursachen nicht psychologisch, sondern weitestgehend pädagogisch erklärt werden, um Handlungsoptionen für den Unterricht daraus ableiten zu können. Unterrichtsstörungen können dabei vier typischen Begründungen zugeschrieben werden: organische Störungen, Entwicklungsstörungen, Familienprobleme und schulische Fehler (Lohmann/Minsel, 1978, S. 62). Organische Störungen, wie z.B.: MCD (minimal cerebrate dysfunction), können das Verhalten von Menschen beeinflussen. Diese leichtgradige Hirnfunktionsstörung kann zur Hyperkinese (Zappelphilipp-Syndrom) oder zu Affektkontrollproblemen führen (Lohmann/Minsel, 1978, S. 62f). Die Schwierigkeit dieser Schüler ihr Verhalten zu steuern, führt dazu, dass sie schlechter mit den normativen Anforderungen des Unterrichts zurecht kommen als gesunde Schüler. Sanktionen seitens der Lehrer führen wiederum zu Minderwertigkeitskomplexen bei diesen Kindern, die diese dann durch „Kaspern, Selbstverkleinerungen und Racheakte zu kompensieren versuchen“ (Lohmann/Minsel, 1978, 4 S. 63). Neuere Schätzungen vermuten, dass bei etwa zwei Prozent der verhaltensauffälligen Kinder als Ursache MCD angenommen werden kann (Lohmann/Minsel, 1978, S. 63). Schilddrüsenüberfunktion, und die damit verbundene erhöhte Produktion des Hormons Thyroxin, führt zu Unruhe bei Schülern und kann eine Ursache von Unterrichtsstörungen sein. Auch organische Veränderungen durch die Aufnahme von Umweltgiften kann zu diesen Störungen führen (vgl. Lohmann/Minsel, 1978, S. 63) An zweiter Stelle nennen Lohmann und Minsel Entwicklungsstörungen; Störungen, die aus der psychischen Entwicklung des Kindes resultieren (vgl. Lohmann/Minsel, 1978, S. 65). Diese Defekte kurz zu erklären, ist insofern wichtig, als dass Lehrer täglich damit konfrontiert werden. Werden Kinder in ihrer Entwicklung von den unmittelbaren Bezugspersonen verletzt, können daraus Minderwertigkeitsgefühle oder Affektstauungen entstehen. Dies führt dazu, dass Schüler unbewusste Botschaften – z.B. durch verbales Stören im Unterricht, durch physische Gewalt an Mitschülern, durch Sachbeschädigungen – senden, die vom Lehrer bzw. auch von den Schülern als erhebliche Behinderung empfunden werden. Als Entwicklungsstörungen bezeichnet man auch jene Probleme, die durch mangelnde Erziehung hervorgerufen werden. Hierzu zählen zum Einen verwöhnte Kinder, die von ihren Eltern keine Grenzen erfahren haben, und somit nicht in der Lage sind, sich in soziale Systeme, wie die Schule, zu integrieren (vgl. Lohmann/Minsel, 1978, S. 65), und zum Anderen Kinder, „die Opfer einer vernachlässigten, verwahrlosten Erziehung geworden sind“ (Lohmann/Minsel, 1978, S. 65) und somit in ihrer Moralentwicklung auf der präkonventionellen Stufe zurückgeblieben sind (vgl. Lohmann/Minsel, 1978, S. 66). Auch die Pubertät ist durch zahlreiche Entwicklungsstörungen oder besser Identitätskonflikte gekennzeichnet, die jedoch temporär sind. Dieser Aspekt von Unterrichtsstörungen wird ausführlich bei Born thematisiert (vgl. Born, 1986, S. 78 – 79). Neben der Schule ist das Elternhaus eine wichtige Sozialisationsinstanz. Entstehen gravierende Konflikte in der Familie, sind Kinder oftmals dazu geneigt, diese in einen anderen sozialen Kontext, hier die Schule, zu übertragen und zu verarbeiten. Dabei wird bei Lohmann/Minsel vor gegenseitigen Schuldzuweisungen gewarnt, da Lernschwierigkeiten oft mit Verhaltens- und Erlebnisstörungen verbunden sind, deren Ursachen nicht allein mit Familienproblemen erklärt werden können, sondern sich vielmehr gegenseitig negativ bedingen. Man spricht hier auch vom „Teufelskreis Lernstörungen“ (Lohmann/Minsel,1978, S. 69). Doch nicht nur das Elternhaus, sondern auch die Schule trägt zu Verhaltensproblemen bei Schülern bei. Lohmann und Minsel ( 1978, S. 76) prangen das uneinige Erziehungsverhalten an, bei dem ein minimaler pädagogischer Konsens fehlt. Während bei strengen Lehrern, oberflächlich gesehen, weniger Verhaltensprobleme auftreten, treten diese bei Lehrern mit einem liberaleren Erziehungsstil deutlich zutage. Unklare Verhaltensregeln und mangelnde 5 Konsequenz auf Normverletzungen führen ebenso zu Verhaltensproblemen, wie unangemessene, persönlich verletzende Reaktionen des Lehrers (Lohmann/Minsel, 1978, S. 76). In diesem Zusammenhang steht auch der menschliche Umgang des Lehrers mit den Schülern. Unterrichtsstörungen werden vermieden, wenn der Lehrer pädagogisch positiv voreingenommen ist und sich seinen Schülern zuwendet. Jugendliche besitzen ein starkes Beziehungsbedürfnis, das, wenn es über die Stoffebene kompensiert wird, zu Unterrichtsstörungen führen kann (Lohmann/Minsel, 1978, S. 76). Lohmann (2003, S. 23) erklärt ineffektives Lehrerhandeln mit der Anwendung von einseitigen oder ungeeigneten Strategien, die nicht auf das Verhandeln von Verhaltensnormen ausgerichtet ist. So verliert eindimensionales Handeln auf der Disziplin- oder Managementebene den Blick für Probleme, die eventuell auf der Beziehungs- oder Unterrichtsebene liegen. Auch ist die Schuldzuweisung fast immer eindeutig. Der Schüler wird dazu aufgefordert, sein Verhalten zu ändern, während das Lehrerverhalten oder die Beziehung zwischen beiden selten thematisiert wird. Dabei erweisen sich die Maßnahmen des Lehrers immer als Korrektiv zu entstandenen Unterrichtsstörungen. Es wäre jedoch sinnvoller – wo dies möglich ist – bereits proaktive Maßnahmen zur Störungsprophylaxe zu entwickeln. Wir kommen zu dem Ergebnis, dass man Unterrichtsstörungen in vier Arten unterteilen kann: verbales Störverhalten, mangelnder Lerneifer, motorische Unruhe und aggressives Verhalten. Die Ursachen können organische Störungen, Entwicklungsstörungen, Familienprobleme und schulische Fehler sein. Hierbei erscheint es besonders wichtig, die schulischen Fehler hervorzuheben, da Unterrichtsstörungen durch eine effiziente Klassenführung und geeignete Disziplinierungsmethoden deutlich reduziert werden können. 3. Was kann man präventiv gegen Disziplinprobleme tun? Bevor Disziplinprobleme überhaupt auftreten und man wichtige Unterrichtszeit darauf verwenden muss gegen diese Disziplinprobleme vorzugehen, sollte man als Lehrer Präventivmaßnahmen treffen, um Unterrichtsstörungen von vornherein möglichst gering zu halten. Werner Schulitz nennt erstens die Prävention durch Klassenmanagement und zweitens die Prävention durch Akzeptanz, um Konflikte und die damit einhergehenden Störungen im Vorfeld zu vermeiden (vgl. Schulitz, 2005, S. 409). Im Hinblick auf das Klassenmanagement gibt es vier Faktoren, die dafür sorgen, dass Störungen gar nicht erst oder nur selten auftreten und die Schüler sich gut am Unterricht beteiligen. Hierbei stützt sich Schulitz auf die Untersuchungsergebnisse von Kounin (vgl. Kounin, 1976): 6 - Faktor 1: Dabeisein, Überlappung Dabeisein: Der Lehrer weiß, was in der Klasse geschieht, hat praktisch „Augen im Hinterkopf“ und greift beim richtigen Schüler ein, bevor die Störung sich ausweitet. Überlappung: Der Lehrer muss auf mehrere Dinge zugleich achten; diese Fähigkeit unterstützt die des Dabeiseins. - Faktor 2: Flüssigkeit, Zügigkeit Unterrichtsabläufe müssen angemessen schnell und störungsfrei gesteuert werden auch der Lehrer darf den Unterricht nicht durch Abschweifungen stören. - Faktor 3: Gruppenmobilisierung, Rechenschaftsprinzip Der Lehrer muss immer möglichst viele Schüler gleichzeitig aktivieren und den Gruppenfokus auch wahren, wenn er sich mit Einzelnen beschäftigt. - Faktor 4: Überdrussvermeidung Im Unterricht muss eine intellektuelle Herausforderung und Abwechslung gegeben sein. Dies wird durch abwechslungsreiche Sozialformen und Methoden erreicht. Die Ergebnisse von Kounin, auf die Schulitz sich stützt, sind zwar recht alt, jedoch nie widerlegt, sondern eher unterstützt worden. Als zweite Maßnahme nennt Schulitz die Prävention durch Akzeptanz und meint damit, dass die gute Lehrer-Schüler-Beziehung dadurch gekennzeichnet ist, dass sie die „Balance zwischen Nähe und Distanz“ (Schulitz, 2005, S. 412) einzuhalten vermag. Das heißt, sie sollte einerseits „verbindlich und bestimmt“ andererseits aber nicht „kalt und bestimmend“ (Schulitz, 2005, S. 412) sein. Wichtig ist, dass der Lehrer Vorwürfe und Forderungen geschickt und wertschätzend formuliert. Dies gelingt am Besten, wenn man dem Störer mit Ich-Botschaften begegnet. So wird die Schuld nicht gleich dem Schüler zugeschrieben und verlockt ihn nicht zu einem Gegenangriff, der eine weitere Störung nach sich zieht. Außerdem zeigt man als Lehrperson seinen eigenen Anteil am Konflikt und trennt Person und Handlung. Um diese gute Lehrer-Schüler-Beziehung zu erreichen, kann die Lehrperson ihrerseits bestimmte Maßnahmen treffen, um bei den Schülern einen entsprechenden Eindruck zu hinterlassen. Soll dieser positiv sein, sollte man auf seine Kleidung, Körpersprache und Sprache achten (Lohmann, 2003, S. 93-95). Zu beachten ist hierbei Folgendes: a) Kleidung Professionalitätsanspruch durch Äußeres unterstreichen (keine Freizeitkleidung!) 7 Nicht wie die Schüler kleiden, dies wirkt anbiedernd Eintönigkeit vermeiden b) Körpersprache Der Raum ist zu nutzen; den Schülern ist nicht zu viel körperliche Nähe zuzumuten So wenig wie möglich setzen Blickkontakt mit den Schülern halten Die nonverbalen Signale müssen kongruent zur sprachlichen Botschaft sein c) Sprache Schüler-Slang vermeiden Vulgäre oder obszöne Sprache ist nicht zu dulden Man sollte Vorbild sein und sprachliche Nachlässigkeiten vermeiden Auch Humor im Unterricht wirkt sich positiv auf die Beziehungsebene aus und zusätzlich auf die Lehr-Lern-Ebene („Spaß am Lernen“) und die Managementebene (Reduzierung des „Langeweile-Störpotentials“). Humor entsteht zwar meistens spontan, er kann aber vom Lehrer auch in bestimmten Situationen gezielt eingesetzt werden, zum Beispiel - zu Stundenbeginn, um Schüler zu motivieren - in Problemsituationen mit gespannter Atmosphäre zur Entkrampfung - nach konzentrierten Phasen zur Auflockerung und Entspannung - in „hängenden“ Unterrichtsphasen, um Schüler aus der Reserve zu locken - systematisch zur Beziehungspflege (Lohmann, 2003, S. 104) Der Einsatz von Humor muss allerdings sensibel erfolgen. Selbstverständlich dürfen keinesfalls Witze auf Kosten der Schüler gemacht werden! Aber nicht nur die Beziehung zwischen der Lehrperson und den Schülern sollte ausgeglichen sein, sondern so weit wie möglich auch die zwischen den Schülern; es muss für ein gutes Klassenklima gesorgt werden, denn „Lerngruppen mit einem schlechten Klima […] haben ein hohes Störpotential.“ (Lohmann, 2003, S. 112) Zusammenfassend und ergänzend sind für den Lehrer folgende Verhaltensregeln zur Prävention von Unterrichtsstörungen zu nennen (Tücke, 1985): - Der Lehrer sollte selbst auf Pünktlichkeit achten. - Der Lehrer sollte gut vorbereitet sein. - Die Klasse sollte zügig an die Arbeit herangeführt werden. - Es sollte auf die Mitarbeit der gesamten Klasse geachtet werden. - Die Stimme sollte effektiv eingesetzt werden. - Der Lehrer muss darauf achten, was in der Klasse geschieht. - Die Aufmerksamkeit sollte fair auf alle Schüler verteilt werden. 8 - Der Lehrer sollte keine unsicheren Versprechungen machen und seine Versprechen einhalten. - Das Klassenzimmer sollte effektiv organisiert sein. - Probleme der Schüler, auch die vermeintlich kleinen, müssen ernst genommen werden. - Der Unterricht sollte pünktlich und freundlich beendet werden. 4. Was kann man gegen bereits aufgetretene Probleme tun? Die Meinungen, ob man bei Störungen im Unterricht überhaupt eingreifen sollte, gehen z.T. auseinander. Die orthodoxe Verhaltenspsychologie betont, dass man diese ignorieren soll, da Fehlverhalten durch Reaktionen des Lehrers verstärkt wird. Schreitet der Lehrer jedoch nicht ein, bekommt der Störer von seinen Mitschülern eine Reaktion, die in den meisten Fällen eine positive Verstärkung ist. So sollte man nur die kleinen Störungen von meist disziplinierten Schülern ignorieren. Den „Klassenkasper“ muss man jedoch in jedem Fall im Sinne einer kooperativen Verhaltensmodifikation zur Ordnung rufen. Wie genau soll der Lehrer aber agieren, wenn ein Schüler ständig stört? Bevor man sich über eine angemessene Reaktion entscheidet, muss man sich erst verdeutlichen, ob der Schüler absichtlich kränken will oder eher Aufmerksamkeit benötigt. Die „Antwort“ an den Schüler muss gut überlegt sein. Im Alltag neigt man schnell dazu, die Nicht-Störer zu bevorzugen und die Störenden mit lautem Schimpfen schnell ruhig bekommen zu wollen. (vgl. Heidemann, 1999, S. 182) Es sind die Ursachen der Störung und nicht die Störung selber, die bekämpft werden müssen. Winkel gibt fünf Kategorien der Handlungsmöglichkeiten bei Unterrichtsstörungen: 1. Pädagogisch-therapeutische Möglichkeiten 2. Psychoanalytische Prozesse 3. Gruppentherapien 4. Verhaltenstherapien 5. Psychopharmakologie Da es in dieser Darstellung nur um die „leichten“ Störungen gehen soll, wird im folgenden nur eine Auswahl von pädagogischen-therapeutischen aufgezeigt. (Vgl. Cloer, 1982, S. 3839) Pädagogische Maßnahme Funktion Bewusstes Ignorieren Pathologisches Verhalten nicht verstärken Ritualisierte Zeichen geben Bereits gelernte Verhaltenweisen reaktivieren 9 Verschieben der physischen Distanz und Bei aggressivem Verhalten beruhigen Kontakthalten Unauffällige affektive Zuwendung Trösten Entspannen der Situation durch Humor, ohne Entkrampfen Ironie Hilfestellungen zur Überwindung des Darüber hinweghelfen Hindernisses Umstrukturierung der Situation Verfremden, z.B. Unterricht umgestalten Umgruppierung der Schüler Entreizen Intellektuelle Gegenbeweise Auflockern Bewusstmachung und Entspannung der Rationale Erhellung emotionalen Spannungen Appelle an das Ich, Über-Ich oder Ich-Stützung Verhaltensnormen der Gruppe (Wir) Vorbeugendes Hinausschicken Abreagieren, Schlimmeres verhindern Physische Einschränkungen Ablenkungen vermeiden Beschränkung von Aktivität, Raum und Desensibilisieren Gegenständen Erweiterter Freiraum bei gleichzeitiger Verdeutlichen schärferer Grenzziehung Verbote Markierungen aufzeigen Versprechungen Hoffnungen erwecken / ermuntern Belohnungen Dank / Freude zeigen Drohungen Warnen Strafen Resozialisieren Bei den von uns hier thematisierten Störungen könnte eine konkrete Reaktion wie folgt aussehen: - sanft ermahnen: „pst! Nicht reden!“ - eine Ich-Botschaft senden: „Dein Verhalten stört mich in meiner Konzentration.“ - präzise auffordern: „Warte bis du drangenommen wirst!“ - ein mit Verständnis gekoppeltes Verbot: „Ich kann nachvollziehen, dass dieses Thema nicht so interessant ist, aber schwatzen sollst du trotzdem nicht.“ - ein mit Androhung von Strafe gekoppeltes Verbot: „Ich kann euren Hunger verstehen, aber es wird jetzt nicht gegessen. Wer es dennoch tut, bekommt eine Strafarbeit.“ 10 Wenn diese Maßnahmen nicht nutzen, so muss der Lehrer eine Bestrafung vornehmen, weil ein Schüler mit Grenzen und den Konsequenzen seiner Handlung konfrontiert werden muss. Bei der Einforderung von Disziplin ist die Körpersprache von entscheidender Bedeutung. Eine mit fester Stimme ausgesprochene Bitte um Ruhe wird wirkungslos, wenn der Lehrer in seiner Gestik und Mimik eine Unsicherheit vermittelt. Schüler durchschauen das sofort und verlieren den Respekt von der Lehrkraft. Die Mimik sollte auch bei der Disziplinierung offen und neutral sein und es muss unbedingt auf Drohgebärden wie z.B. ein erhobener Zeigefinger oder gar eine Faust verzichtet werden. (vgl. Henning, 1998, S. 79, 82) Dies löst eine Abwehrhaltung und Aggressionen beim Schüler aus. 5. Praxisbeispiel und Begründung: Die Methode der Disziplinierung nach Ernst Ergenzinger Im Rahmen des Großmoduls „Mit Klassen klarkommen“ haben wir uns die Methode der Disziplinierung nach Ernst Ergenzinger ausgesucht. Sie besteht darin, dass man störende Schüler im Unterricht nicht permanent ermahnt oder ihnen droht, sondern dass man ihr Privatgespräch als solches thematisiert und den Schülern in dieser Situation Handlungsoptionen aufzeigt. Ergenzinger rät bei einer auffälligen privaten Unterhaltung zwischen Schülern zu fragen: „Wie lange braucht ihr für euer Gespräch noch, damit ich weiß, wie lange ich meinen Unterricht unterbrechen muss? Wir stören uns ja sonst gegenseitig.“ Mit der kurzen Erklärung zum gegenseitigen Stören zeigt der Lehrer, dass es ihm darum geht, Störungen im Unterricht zu vermeiden und nicht darum, Ruhe zum Selbstzweck herzustellen. Es ist anzunehmen, dass die Schüler darauf beschämt reagieren und ihr Gespräch unterlassen. Kommt es in dieser Stunde erneut zu einer Störung dieser beiden Schüler, so soll der Lehrer noch einmal nach dem Mitteilungsbedürfnis der Schüler fragen, eventuell mit den Worten: „Entschuldigt bitte die erneute Störung. Ihr braucht wohl doch noch Zeit...“ Wichtig dabei ist, dass er im Anschluss daran mindestens 30 Sekunden schweigt. Darin sehe ich auch den schwierigsten Teil der Durchführung, denn man neigt dazu, nach der Beendigung der Störung unverzüglich mit dem Unterricht weiterzumachen. Den Schülern ist diese Form der Intervention peinlich, denn sie erkennen, dass ihre Schwätzerei als ernsthaftes Gespräch respektiert wird, das im Unterricht unangemessen ist. Da man die Schüler als Erwachsene ernst nimmt, müssen sie sich jetzt auch so verhalten und sich entschuldigen. Sie gestehen somit ein, dass ihr Gespräch nicht notwendig und für den Fortgang des Unterrichts behindert hat. Hierbei ist entscheidend, dass die Schüler ihr Gespräch selbst als Unterrichtsstörung empfinden. Nicht der Lehrer erklärt das Gespräch zur Störung, sonder die Schüler selbst. Es wäre möglich, dass dieses Lehrerverhalten als 11 zynisch und wenig wertschätzend den Schülern gegenüber empfunden werden könnte. Es handelt es sich hierbei jedoch nicht um eine Bloßstellung der störenden Schüler, sondern um eine sinnvolle Maßnahme der Intervention, die auf partnerschaftlicher Interaktion beruht. Im Vordergrund steht hier nicht das Gespräch der Schüler, sondern die Tatsache, dass das Unterrichtsgespräch und das Schülergespräch zur gleichen Zeit nicht störungsfrei möglich sind. Es handelt sich sozusagen um einen Prozess des Aushandelns von Normen. Ergenzinger weist jedoch darauf hin, „dass die Schüler vielleicht wirklich für eine kurze Zeit vor die Tür gehen, um dort ihr Gespräch fortzusetzen.“ Er räumt aber gleichzeitig ein, dass das relativ selten vorkommt. Ergenzinger zufolge besteht der Vorteil dieser Methode darin, dass man damit Diskussionen mit den Schülern vermeidet und somit „Machtkämpfe“ zwischen Lehrern und Schülern umgeht, die viel Unterrichtszeit in Anspruch nehmen und meist ohne Resultate bleiben. Gerade im Fremdsprachenunterricht kommt des Weiteren hinzu, dass hier ein authentischer Sprechanlass gegeben wird, auf den die Schüler in der Fremdsprache angemessen reagieren müssen. Natürlich muss man abwägen, wann diese Intervention sinnvoll ist. Man sollte nur behutsam aber gezielt einsetzen, um möglichst wenig Unterrichtszeit für Interventionen zu opfern und um graduell auf Unterrichtsstörungen eingehen zu können. Oftmals reichen nonverbale Impulse aus, wie etwa ein ernster Blick, eine beruhigende Handbewegung oder die Modulation der Stimme, um angemessen mit Störungen umzugehen. Sollte jedoch auch kurzes Ermahnen nicht zur Beendigung der Störung führen, bietet sich Ergenzingers Methode an. Es ist zu beachten, dass diese, wie jede Methode, bei zu häufigem Einsatz ihre Wirkung verliert, deshalb sollte sie sparsam und pädagogisch sinnvoll eingesetzt werden. 6. Beispiele aus der Praxis Beschreibung eines Beispiels aus der Praxis (Klasse 7) Nach mehrmaligem Ausprobieren dieser Methode möchte ich mich hier auf ein Beispiel aus meinem eigenverantwortlichen Unterricht, Klasse 7, Fach Englisch, konzentrieren, da dieses Beispiel exemplarisch für alle anderen Versuche ist. Im Unterrichtsgespräch, das dem Einstieg in ein neues Thema diente, merkte ich, wie zwei Mädchen in der vorletzten Bankreihe unaufmerksam waren und sich über scheinbar Privates unterhielten. Ein ernster Blick in ihre Richtung führte nicht zum Erfolg, denn die beiden waren sehr vertieft. Auch eine deutliche Stimmmodulation beim Formulieren eines Arbeitsauftrags erzielte bei den beiden keine Wirkung. Als die beiden nach einer Ermahnung immer noch nicht aufhörten, fragte ich sie nach Ergenzingers Methode auf Englisch: “How much time do 12 you need for your conversation? I’ll give you some time because otherwise we will disturb each other.” In der Klasse wurde es für einen Moment spürbar ruhiger und die beiden fühlten sich offensichtlich ertappt. Sie erklärten in kurzen Sätzen auf Englisch (!), dass es nichts Wichtiges war und versprachen von nun an aufmerksam zu sein. Eine weitere Intervention1 war nicht notwendig. Aus dieser Situation kann ich folgende Deutungen für die Mitschüler, die Betroffenen und für mich als Lehrer ableiten. Obwohl dies bereits das dritte Mal war, dass ich diese Methode angewendet habe, reagierten die Mitschüler überrascht und verhielten sich augenblicklich still. Vielleicht waren einige auch daran interessiert, worüber sich die beiden Schülerinnen unterhielten. Im Anschluss an die Intervention war es auch in der Klasse deutlich ruhiger, woraus ich schließe, dass auch die anderen Schülern für sich die Möglichkeit einräumten, dass ich sie ebenfalls nach ihrem Gespräch fragen könnte. Im Bezug auf meine Rolle als Lehrer habe ich festgestellt, dass die vorangegangenen Interventionen nicht zum Erfolg führten, dass aber diese etwas zweitintensivere Intervention fruchtete. Damit zeigt sich, dass ich die Methode so angewendet habe, wie es von Ergenzinger vorgesehen war. Doch mein Verhalten als Lehrer soll in der „theoriegeleiteten Reflexion“ näher erklärt werden. Theoriegeleitete Reflexion (Klasse 7) Es wäre interessant gewesen zu erfahren, was passiert wäre, wenn die Schüler auf die Intervention damit reagiert hätten, dass sie tatsächlich vor die Tür gegangen wären. In der Realität scheuten die Schüler aber diesen Schritt. Lediglich in einem Fall, in meinem eigenverantwortlichen Unterricht in Deutsch, war es notwendig, den zweiten Schritt dieser Methode zu vollziehen. Hier war es besonders schwierig, die dreißig Sekunden zu warten. Die Schüler haben sich zwar nicht, wie es Ergenzinger vorsieht, entschuldigt, die Störung war aber beseitigt. Bezüglich des kommunikativen Wertes der Intervention, lohnt es sich, die Aussagen des Lehrers mithilfe des 4-Seiten-Modells von Watzlawick und Schulz von Thun zu analysieren. Der Lehrer sagt: „Wie lange braucht ihr für euer Gespräch noch, damit ich weiß, wie lange ich meinen Unterricht unterbrechen muss? Wir stören uns ja sonst gegenseitig.“ In der Kommunikation werden dabei vier verschiedene Aussagen gemacht und zwar auf der Sachebene, der Appellebene, der Beziehungsebene und auf der Ebene der Selbstoffenbarung. Die Sachaussage besteht darin, dass der Lehrer seinen Unterricht für ein Gespräch der Schüler unterbrechen will. Der Nachsatz „wir stören uns sonst gegenseitig“ zeigt den Grund für diese Unterbrechung an. Die Appellfunktion dieser Frage und der 1 Anm.: Es gab beim Ausprobieren dieser Methode keine Probleme. Den Fall, den Ergenzinger schildert, dass die 13 nachgestellten Erläuterung kommt nicht explizit zum Ausdruck. Indem der Lehrer fragt, fordert er die Schüler zu einer Antwort auf, nämlich ihm darüber Auskunft zu geben, ob die Schüler Zeit für ihr Gespräch brauchen und wenn ja, wie lange. Der Appell dieser Sequenz kann darin gesehen werden, dass der Lehrer eine Handlungsoption ermöglicht. Die Selbstaussage ist offensichtlich. Es handelt sich hierbei um eine Form der Intervention, d.h. um eine Reaktion auf eine Unterrichtsstörung. Die Selbstaussage könnte wie folgt formuliert sein: „Ich fühle mich durch euer Gespräch gestört, gebe euch aber die Möglichkeit, es fortzuführen, wenn ihr das jetzt als angemessen erachtet.“ Diese Selbstaussage ist insofern wichtig, als dass sie zeigt, dass der Lehrer die Handlungsoption der Fortführung des Gesprächs tatsächlich ermöglicht, dies aber im Rahmen der Institution Schule unangemessen ist, weil es den Normen und Regeln der Schule widerspricht. Somit ist auch zu verstehen, weshalb Schüler sich ertappt fühlen und ihr Gespräch unterlassen. Obwohl sich die Aussage „Wir stören uns sonst gegenseitig“ auf beide Konfliktparteien bezieht, fühlt sich doch nur der Lehrer gestört, denn die Schüler hätten kein Gespräch begonnen, wenn sie der Lehrer mit seinem Gespräch dabei stört. Im Gegenteil, die Schüler fühlen sich unbeobachtet und nutzen diese Gelegenheit für eine Unterhaltung. Wie bereits unter der Überschrift „Arten und Ursachen von Unterrichtsstörungen“ beschrieben, nehmen Schüler Unterrichtsstörungen oftmals ganz anders als Lehrer wahr. Das störende Verhalten in diesem Beispiel ist nicht intendiert. Es geht hierbei weniger darum, die Aufmerksamkeit des Lehrers zu erlangen, sondern vielmehr um einen Mangel an Reflexionsvermögen. Auch verlangen Schüler, dass ihre Interessen wahrgenommen und ernst genommen werden. Genau dies geschieht bei der Methode von Ergenzinger. Vom Charakter der Botschaften beinhalten diese Aussagen sowohl Ich- als auch WirBotschaften. Der Lehrer signalisiert, dass er den Unterricht unterbrechen will (Ich-Botschaft), räumt in einem auf Verständnis erhoffenden Erklärung ein, dass sich Schüler und Lehrer sonst gegenseitig stören (Wir-Botschaft). Mit dieser Wir-Botschaft, die auf gegenseitige Rücksichtnahme abzielt, kann es wie bei jeder Wir-Botschaft dazu kommen, dass bei dem Gesprächspartner eine Blockade aufgebaut wird, indem sich der Gesprächspartner ganz bewusst von dem angesprochenen Wir distanziert. Aufgrund dieser Erkenntnisse, könnte die Intervention nicht als wertschätzend, sondern als ironisch verstanden werden. Diese Befürchtung hat sich jedoch in der Praxis nicht bewahrheitet. Vermutlich überwiegt das Gewicht, der vorher gesendeten Ich-Botschaft, die eine sachliche Botschaft vermittelt, in dem Fall eine ernstgemeinte Frage und einen emotionalen Aspekt hat. Somit wird bei der Methode Ergenzingers eine Konfrontationssituation vermieden. Der Lehrer reagiert auf die Störung nicht mit der hierarchisch-autoritären Beziehungsebene, die zu Machtkämpfen führen kann, sondern sein Verhalten erscheint eher partnerschaftlich. Er versucht unter Schüler vor die Tür gehen, um ihr Gespräch fortzusetzen, trat nicht ein. 14 Berücksichtigung der Schülerinteressen einen Konflikt, nämlich das Schwatzen im Unterricht, zu vermeiden. Wenn ich mir meine Stundenreflexionen anschaue, so ist ersichtlich, dass ich die Schüleräußerungen in dieser Situation nicht kommentiert habe, sondern unverzüglich zum Unterrichtsgegenstand zurückgekehrt bin. Ich hoffe, dass somit keine Rivalitäten oder Machtkämpfe entstanden sind. Ich habe mich bemüht ein möglichst symmetrisches Verhältnis zwischen Schülern und Lehrer herzustellen, dessen Konventionalität nicht auf der Machtbasis des Lehrers beruht, sondern auf der Notwendigkeit der Situation; das heißt, die Konventionalität der Schulstunde, in der die Schüler aufpassen und sich nicht über Privates unterhalten sollen, ermöglicht den ungestörten Ablauf des Unterrichts und somit den Lernerfolg der Schüler. Natürlich muss hierbei auch die Entwicklungsebene der Schüler im Blick werden. Im Gegensatz zum Verhalten meiner neunten Klasse, konnte ich in der siebenten Klasse aber eher weniger pubertierendes Verhalten feststellen und auch die Reaktion der Mitschüler auf die Intervention machen es nicht notwendig, auf den Entwicklungstand der Pubertät einzugehen, die durch zahlreiche Identitätskonflikte gekennzeichnet ist (vgl. Born, 2003, S. 78 – 79). Beschreibung eines Beispiels aus der Praxis (Klasse 10) Am sinnvollsten ist es, ein Beispiel zur Disziplinierung wie das bereits beschriebene von Ergenzinger im eigenverantwortlichen Unterricht auszuprobieren, da man diese Schüler bereits besser kennengelernt hat als dies im Ausbildungsunterricht überhaupt möglich ist und besser einschätzen kann, wann und bei welchen Schülern diese Art der Disziplinierung einzusetzen ratsam ist. Wir haben versucht Ergenzingers Methode in möglichst vielen Klassen der Sekundarstufe I auszuprobieren, um zu einer differenzierten Einschätzung die Tauglichkeit der Methode betreffend zu kommen. Aber nicht nur aus diesem Grund habe ich diesen Weg zur Unterbindung von Störungen in der Klasse 10 eingesetzt, sondern auch deshalb, weil die betreffende Klasse im Allgemeinen als besonders schwierig im Umgang gilt und die verschiedensten Methoden zur Disziplinierung, die auch von verschiedenen Lehrern der Klasse eingesetzt wurden, kaum Besserung gebracht haben. Aufgrund der allgemein unruhigen Art der Klasse konnte die beschriebene Methode mehrfach eingesetzt werden, wobei die Reaktionen der Schüler sehr unterschiedlich waren. Eine Dreiergruppe von Mädchen, die immer wieder zu Privatgesprächen während des Unterrichts neigt, ließ sich durch einen ernsten Blickkontakt kaum stören und auch die Tatsache, dass ich mich während des Unterrichtsgesprächs in der direkten Nähe der Schülerinnen aufgehalten habe (ich habe mich in den hinteren Teil des Klassenraums bewegt, wo die Mädchen sitzen), zeigte nur so lange Wirkung, wie ich in der Nähe war. Als 15 ich wieder bei der Tafel stand, wurde das Privatgespräch nach kurzer Zeit fortgesetzt. Tatsächlich ertappt fühlte sich die Gruppe erst dann, als ich sie wie von Ergenzinger vorgeschlagen danach fragte, wie lange ihr Gespräch noch dauere, damit ich wisse, wie lange ich meinen Unterricht noch unterbrechen müsse. In diesem Fall trat die nach Ergenzinger zu erwartende Reaktion ein; die Mädchen reagierten beschämt und unterließen ihr Gespräch. Außerdem war auch der Rest der Klasse überrascht von dieser Art der Disziplinierung und verhielt sich insgesamt ruhiger. Ein weiteres Eingreifen meinerseits war in dieser Stunde nicht mehr nötig, es reichte dann Blickkontakt. Doch wie bereits erwähnt gab es auch andere Reaktionen: Ein besonders häufig störender Schüler der Klasse reagierte sehr selbstbewusst, als ich ihn nach der Dauer seines Gesprächs mit dem Banknachbarn fragte. Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und antwortete, dass er noch eine Minute brauche. Da es mir zu lange erschien, die Schüler eine ganze Minute lang gewähren zu lassen, bat ich sie, vor die Tür zu gehen, um ihr Gespräch zu beenden und dann wieder hereinzukommen. Ich erklärte dies damit, dass der Unterricht sonst zu lange nicht fortgeführt werden könne. Dies lehnten die beiden Jungen jedoch ab, mit der Begründung, dass es ihnen wichtiger sei, dem Unterricht zu folgen. Dies geschah jedoch mit einem ironischen Unterton. Es ist zu vermuten, dass die Schüler eventuell einen Klassenbucheintrag fürchteten und deswegen nicht vor die Tür gehen wollten. Für ihr Privatgespräch entschuldigt haben sich diese beiden Schüler nicht und es war auch während des weiteren Stundenverlaufs nötig, nonverbal weitere Störungen zu unterbinden. Da die Schüler das Angebot, ihr Gespräch zu Ende führen zu können, nur scheinbar ernst genommen haben, erschien mir eine erneute Intervention nach der Methode Ergenzingers nicht ratsam. Reflexion der Erfahrungen mit der Disziplinierungsmethode nach Ergenzinger in Klasse 10 Nachdem wir uns dazu entschlossen hatten, die Disziplinierungsmethode nach Ergenzinger auszuprobieren, hatte ich von Anfang an Bedenken, diese Art mit Störungen umzugehen in der im Beispiel beschriebenen 10. Klasse einzusetzen. Es war mir schon vorher klar, dass es Schüler in der Klasse geben würde, die sich von dieser Methode beeindrucken lassen würden und die anschließend nicht mehr stören würden, da sie erfahren haben, dass die Lehrperson auf sie aufmerksam geworden ist und weitere Privatgespräche nicht zulassen würde. Ebenso konnte aber die Reaktion des Schülers vorausgesagt werden, der mir auf meine Intervention hin sagte, wie lange er noch brauche, um sein Privatgespräch zu beenden und die Situation so eher nutzte, um noch weiter zu provozieren, anstatt sich zu entschuldigen und zuzugeben, dass Privatgespräche im Unterricht nicht angebracht sind. 16 Durch diese Reaktion konnte die Störung leider nicht so klein wie möglich gehalten werden – wie es im besten Fall eigentlich sein sollte – sondern wurde unnötig ausgeweitet und hat mehr Zeit in Anspruch genommen, als es der Fall gewesen wäre, wenn ich nur durch Blicke, nonverbal oder meine Bewegung im Klassenraum auf die Störung reagiert hätte. Dass ich die Reaktion des besagten Schülers genauso eingeschätzt hatte, wie sie dann tatsächlich auch eingetroffen ist, zeigt, dass man als Lehrperson seine Klasse gut kennen gelernt haben muss, bevor man die Methode Ergenzingers einsetzt. Denn erst dann kann man entscheiden, bei welchem Schüler diese Art der Störungsbeseitigung effektiv ist und mit welchen Schülern man anders umgehen muss. Damit geht die Tatsache einher, dass man die Entwicklungsebene der Schüler sehr genau im Blick haben sollte, will man einer Störung entgegenwirken. Ob es sich dabei um die Methode von Ergenzinger handelt oder um eine andere Art der Disziplinierung ist eher nebensächlich. Es ist in jedem Fall wichtig, dass man seine Schüler gut genug kennt, um in etwa zu wissen auf welcher Ebene ihrer Entwicklung sie sich gerade befinden. Gerade in der Sekundarstufe I sollte zum Beispiel auf die verschiedenen Entwicklungsphasen und Persönlichkeitsveränderungen während der Pubertät geachtet werden. So kann man individueller auf die Schüler eingehen, was auch bei Störungen von Bedeutung sein kann, wie an den beiden Beispielen aus der genannten 10. Klasse zu erkennen ist. Üblicherweise sind Mädchen in ihrer Entwicklung den Jungen voraus. Dies spiegelt sich auch in den unterschiedlichen Reaktionen auf den gleichen Interventionsversuch von meiner Seite. Während die Mädchen ihr Fehlverhalten erkannt haben und nach meinem Eingreifen nicht weiter gestört haben, haben die Jungen die Situation zur weiteren Provokation genutzt und durch meinen Versuch, die Störung zu beseitigen, noch mehr Aufmerksamkeit erregt, was die Störung ausgeweitet hat. Im Gegensatz zu den Mädchen konnten die Jungen noch kein erwachsenes Verhalten unter Beweis stellen. Da ich die Schüler gut genug kenne, um eben diese Reaktion vorherzusehen, hätte ich die von uns ausgewählte Disziplinierungsmaßnahme im Falle der beiden Jungen besser nicht einsetzen sollen. An dieser Stelle seien zusätzlich die unterschiedlichen Persönlichkeiten in einer Klasse erwähnt, auch ganz unabhängig von verschiedenen Entwicklungsebenen. Ein Schüler wie der zuletzt genannte steht offensichtlich gerne im Mittelpunkt und versucht die Rolle des „Klassenclowns“ auszufüllen. Hätte man dies berücksichtigt, wäre klar gewesen, dass die Disziplinierungsmethode nach Ergenzinger für diesen Schüler ungeeignet ist und nicht eingesetzt worden. 7. Folgerungen für die Praxis 17 Die Methode der Disziplinierung nach Ernst Ergenzinger kann in der Praxis sinnvoll eingesetzt werden und erweitert somit das Repertoire an Möglichkeiten, um mit Störungen im Unterricht umzugehen. Die Methode konnte in allen Fällen erfolgreich angewendet werden. Ein weiterer Vorteil, besonders für den Fremdsprachenunterricht, besteht darin, dass hier ein authentischer Sprechanlass geschaffen wird. Positiv ist auch, dass die Methode zumindest für die Stunde Nachhaltigkeit besitzt, denn bis auf einen Fall musste ich nicht ein zweites Mal intervenieren. Um einen Gewöhnungseffekt bei den Schülern zu vermeiden, sollte man darauf achten, die Methode nicht zu häufig einzusetzen. Während zunächst Normen und Regeln der Schule akzeptiert werden, könnte sich die Tendenz entwickeln, dass es Schüler vorziehen, den Unterricht kurzfristig zu verlassen, um ihr Privatgespräch zu beenden, was nicht der Intention der Intervention entspricht. Die Methode von Ergenzinger setzt an der Beziehungsebene zwischen Lehrer und Schüler an und trägt zur effizienten Klassenführung bei, denn mit dieser Methode kann eine Eskalation des Konflikts vermieden werden. Disziplinprobleme werden in kommunikativen Situationen gelöst. Somit stellt Ergenzingers Methode eine integrative Maßnahme dar, die Lohmann zufolge (2003, S. 24) wesentlich sinnvoller ist, als strafende Methoden. Die Methode von Ergenzinger ist Teil einer schülerorientierten Pädagogik, die die Interessen der Schüler ernst nimmt sich den Konfliktsituationen des Alltags stellt, ohne den Schüler bevormunden zu wollen. Literatur Monika Born: Mehr Disziplin in der Schule. Besinnung auf pädagogische Grundhaltungen und Handlungsmöglichkeiten. Essen 1986. Ernst Cloer (Hg): Disziplinkonflikte in Erziehung und Schule. Bad Heilbrunn 1982. R. Heidemann: Körpersprache im Unterricht. 6. Auflage. Wiebelsheim 1999. C. Henning / U. Knödler: Problemschüler – Problemfamilien. 5. Auflage. Praxis des systemischen Arbeitens mit schulschwierigen Kindern. Weinheim 1998. Jacob Kounin: Techniken der Klassenführung. Bern 1976 Gerd Lohmann: Mit Schülern klarkommen. Professioneller Umgang mit Unterrichtsstörungen und Disziplinkonflikten. Berlin 2003. Jürgen Lohmann / Beate Minsel (Hg): Störungen im Schulalltag. München 1978. Hans-Peter Nolting: Störungen in der Schulklasse. Ein Leitfaden zur Vorbeugung und Konfliktlösung. Weinheim 2002. Schulitz, Werner: Konflikte in der Schule. In: Bovet, Gislinde/Huwendiek, Volker (Hg). Leitfaden Schulpraxis. Pädagogik und Psychologie für den Lehrberuf. Berlin 2005. Tücke, Manfred: Verhaltensregeln für Lehrer zur Prävention von Unterrichtsstörungen (nach Fontana, 1985). Siehe: www.dueker.psycho.uniosnabrueck.de/pp/pdfs/tabelle_79.pdf 18