16 - Edith-Stein

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Inklusion und pastoraler Auftrag in katholischen KiTas
„Öffne Deine Augen, neige Dein Ohr, löse Deine Zunge und erschließe Dein
Herz“ (Dipl. theol. N. Wenner)
Meine Damen und Herren. Ich möchte Sie heute für eine spezielle Sichtweise oder
eine Lebensform sensibilisieren, die meinem Wissen und meinem Glauben nach
wesentliche Elemente inklusiver Arbeit in Bereichen der Erziehung und des
gemeinsamen Lebens trifft, und deren Wurzeln Sie alle, wie wir sehen werden,
bereits in sich haben. Es geht um die christliche Spiritualität. Als Zugänge habe ich
für Sie eine Mischform von Grundelementen der Religionspädagogik,
wissenschaftlich fundierten Informationen aus dem Bereich der Forschung zur
Laienspiritualität und persönlichen Erfahrungen aus meiner begleitenden Tätigkeit in
der Praxis der Behindertenhilfe gewählt. Weiterhin fließen Inhalte der Fortbildungen
zur „Eröffnung spiritueller Räume mit Menschen mit Behinderung“ ein, die mein
Kollege Herr Schriegel, Dr. Dickmann von der Katholischen Akademie Schwerte und
ich konzipiert haben.
Dies vorweg, und ich hoffe, dass in diesem Kreis das Folgende als
Grundvoraussetzung Geltung haben kann:
Ich glaube daran, dass es einen liebenden Gott gibt, der in dieser Welt zugegen und
wirksam ist, und dass jeder Mensch als Geschöpf Gottes eine Idee des Göttlichen in
sich trägt.
Schauen Sie mal vorsichtig nach links und rechts. Neben Ihnen sitzen Menschen, die
sie gerade vielleicht sogar anlächeln. In Ihnen lebt oder besser gesagt, sie alle sind
Ideen Gottes. Ich glaube wir könnten erheblich besser miteinander leben, wenn wir
uns dessen bewusst sind und beginnen den Blick zu schärfen für das Besondere in
uns und im Anderen.
Nein, keine Sorge. Ich möchte Ihnen keine „Lach doch, Gott liebt Dich“ Parole um die
Ohren hauen (wenngleich vor allem in der Osterzeit, schon eine innere Freude in
Ihnen da sein darf). Christlicher Glaube muss alltagsrelevant sein, er muss einen für
Sie erlebraren Mehrwert besitzen. Es funktioniert einfach nicht, Ihnen etwas von Gott
zu erzählen und zu hoffen, dass Sie dies kapieren, wie Prof. Matthias Sellmann mit
Hinweis auf die Sinus Studie oft betont hat.
Ich erhoffe mir, Ihnen Lust zu machen, sich mit Gott zu beschäftigen im Denken von
Möglichkeiten einer spirituellen Begleitung von Menschen mit Beeinträchtigung in
Ihrer alltäglichen Arbeit.
I. Der pastorale Auftrag an katholischen KiTas
Zunächst zu Ihrem pastoralen Auftrag, der für mich in Kurzform heißt:
Christliche Spiritualität entdecken und gemeinsam leben und feiern
Damit streifen wir den Bereich der Religionspädagogik, die entgegen früherer
Annahmen nicht darin besteht Methoden und Techniken zu entwickeln, mit dem man
dogmatisches Wissen wie mit einem Trichter in Kinder einfüllt. Für den christlichen
Glauben ist seine praktische Grundverfassung charakteristisch. Es geht darum, die
1
Bedingungen zu reflektieren und zu analysieren unter denen die Wahrheit des
Glaubens in der alltäglichen Lebenspraxis Wirklichkeit werden kann.
Religionspädagogik muss Wege finden wie die gemeinsame Suche nach Wahrheit
gelingen kann und Rahmenbedingungen für religiöse Begegnungen entwickeln.
Religiöse Erziehung im Kindergarten ist etwas anderes als schulischer
Religionsunterricht. Sie findet nicht nach Stundenplan zu einer festlegten Zeit statt,
sondern ist eingebettet- in das gesamte Alltagsleben der Kindergruppe. Religiöse Erziehung beginnt bereits da, wo im Kindergarten eine soziale Atmosphäre herrscht, in
der das Kind spürt: Ich gehöre dazu, hier bin ich geborgen und werde ich angenommen. Der Religionspädagoge NORBERT METTE meint:
Religiöse Erziehung ... ist nicht in erster Linie ein Vertrautmachen mit Inhalten ...,
sondern grundlegend die Vermittlung einer Erfahrung unbedingten Erwünscht- und
Anerkanntseins. Man wird sogar sagen dürfen, dass jede Erziehung, die auf
unbedingter Liebe basiert, in ihrem Kern genau das realisiert, was christliche Praxis
ist (METTE, 275f.).
Diese Grundhaltung und die Kinder nicht vom Fragen und Suchen im Bereich des
Glaubens abzuhalten, wurden als Minimalkriterien für Erzieherinnen und Erzieher
vom Verband katholischer Tageseinrichtungen vor einigen Jahren festgelegt.
Es geht nicht darum Glaube zu lehren sondern miteinander Glauben zu lernen.
Die grundlegende religionspädagogische Aufgabe der Erzieherin besteht also
darin, eine solche Atmosphäre unbedingten Erwünscht- und Anerkanntseins zu
schaffen. An Gott glauben heißt im christlichen Verständnis1:
Ein Mensch, der an Gott glaubt, glaubt daran, dass er - so wie er ist - ganz und ohne
Vorbehalt akzeptiert ist.
Das kann dazu führen:
Sich selbst zu bejahen, das Leben zu bejahen.
Die Zuversicht haben, dass man immer wieder eine Chance hat; dass es keine
Situation gibt, die nicht zu bewältigen ist, aber auch offen zu sein für die Probleme
der Mitmenschen und dann auch tätiger für sie etwas zu tune.
Dazu braucht es ...
Strukturelle Voraussetzungen durch zeitliche und Personalschlüssel gemäße
Möglichkeiten, Räume, Tagesablauf, Begrüßung und Verabschiedung, Regeln
Und auch ein persönliches Setting der Erzieherinnen und Erzieher, die aufgefordert
sind ihre eigene Lebenseinstellung überprüfen
Unsere Zeit ist gekennzeichnet durch Oberflächlichkeit, Schnelllebigkeit und
Konsumorientierung. Angesichts dessen diagnostiziert der Religionspädagoge
KARL-ERNST NIPKOW bei sehr vielen Menschen unserer Tage so etwas wie eine
"spirituelle Leere". Es ist eine zweite Aufgabe moderner religiöser Erziehung, diese
Leere zu füllen, indem sie Kindern gezielt spirituelle Erfahrungen als Alternative zu
ihren gewohnten Alltagserfahrungen ermöglicht. Solche alternativen, spirituellen
Erfahrungen wären etwa die Erfahrung von Zeit inmitten unseres hektischen
Alltagslebens. Oder die Erfahrung von Stille inmitten einer lauten und nicht zur Ruhe
kommenden Umwelt; oder die Erfahrung von Dankbarkeit und Ehrfurcht dem Leben
gegenüber, das eben nicht wie selbstverständlich in unserer Verfügungsgewalt liegt.
Religiöse Erziehung in diesem zweiten Sinne zielt darauf ab, dass Kinder lernen,
"meditative" Haltungen wertzuschätzen und zu praktizieren.
Dazu gehören:
1
In: Jellouschek/Wessinger, Mit Kindern Glauben lernen, KBW Verlag, Stuttgart, 1974
2
- Stilleübungen
- Phantasiereisen
- Gebet
- Lauschen auf Erzählungen
- Erleben von Geschichten nach Prinzipien religionspädagogischer Praxis (Kett)
Für Erzieherinnen und Erzieher muss es dann darum gehen: Den Wert von
Spiritualität entdecken
Kinder wollen über ihre "spirituellen" Erfahrungen aber auch reden. Außerdem
kommen sie mit einer Menge von Fragen über Gott und die Welt in den Kindergarten.
Insofern ist die Kommunikation über Religion und Glauben der dritte Bereich
religiöser Erziehung. Dabei ist die Aufgabe der Erzieherin nicht in erster Linie Antwort
zu geben. Gefordert ist vielmehr, dass sie die Fragehaltung der Kinder wach hält.
Dazu gehören: wachsames Beobachten, blinde Flecken bei mir als Erzieher
wahrnehmen, Geschichten, Bilder, Symbole, Lieder ...
Das Gespräch sollte immer als offener Deutungsversuch gesehen werden!
Kinder machen schon früh die Erfahrung, dass es nicht nur eine Religion und eine
Konfession gibt. Es gibt evangelische, katholische, orthodoxe Christen, es gibt
Juden, Muslime, Buddhisten, Hindus; es gibt Zeugen Jehovas und viele andere
kleinere religiöse Gemeinschaften und schließlich auch Menschen, die sich mit
keiner Religion verbunden fühlen. Von daher ist es die vierte Aufgabe religiöser
Erziehung, Kindern zu helfen, sich in der Vielfalt von Religionen und Weltanschauungen zurechtzufinden. Dabei es geht es nicht eine Beliebigkeit zu
vermitteln. Die jeweilige Glaubensrichtung soll wahr und ernst genommen werden.
Soweit die Basics Ihres pastorales Auftrags. Nun werden Sie mit der Tatsache
konfrontiert, dass zunehmend Kinder mit Beeinträchtigungen Teil Ihrer Gruppen
werden. Wenn unter Inklusion „ein Zugehörigsein zu einer Gemeinschaft oder ein
Einbezogensein in lebensrelevante Kommunikationszusammenhänge verstanden“
werden kann(Speck 2010, 61), dann könnte man theologisch korrekt sagen.
Wo ist das Problem? Es kommen ergänzend in meine Gruppe Kinder, die wie ich alle
Idee Gottes sind und demgemäß stellt sich gar nicht die Frage nach der
Zugehörigkeit, weil sie ja sind wie ich selbst und alle anderen. Dazu passt auch der
zweite Teil des Liebesgebots der zehn Gebote in Mt. 22,37-40, der in der
Einheitsübersetzung der Bibel lautet: Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich
selbst. Martin Buber übersetzt diese Stelle durch seine Sprachkenntnisse hart am
originalen Text mit: „Du sollst Deinen Nächsten lieben, denn er ist wie du.“
Aber so einfach ist das nicht. Trotz der wesensgemäßen Gleichheit gibt es
Unterschiede, machen sich Menschen mit Behinderungserfahrung bemerkbar durch
besondere Fähigkeiten in ihrer eigenen Art der Lebensbewältigung auf, die Ihnen
ungewohnt oder fremd sind. Da taucht dann sicher bei der ein oder anderen die
Frage auf, Hilfe, rette mich, wer kann. Wie soll das denn gehen? Da müssen Profis
ran. Und da haben Sie Recht. Es gibt vieles zu wissen für den förderlichen Umgang
mit Personen mit Behinderung, nur zu erwähnen die wesentliche Ressourcen- und
Kompetenzorientierung, die erforderlichen Kompetenzen des Assistenten auf einen
MmB zugehen und mit ihm auf unterschiedlichsten Kommunikationskanälen in
Beziehung zu treten, ihm Selbstwirksamkeit zu ermöglichen …
Sie werden nicht herumkommen sich Teile solchen Wissens anzueignen, was Sie
aber jetzt schon haben und einsetzen können ist ein spirituelle Einstellung.
3
I. Wissenschaftliche Erkenntnisse zur Phänomenologie von Spiritualität
Was meint Spiritualität?
Wahrscheinlich werden einige von Ihnen mit dem Wort Spiritualität Räucherstäbchen,
eine abgehobene Frömmigkeit, etwas Transzendentes, vielleicht Mystisches
Verbinden und eher etwas in Distanz gehen.
Kennen Sie magische Momente? Situationen, in denen Sie in der Begegnung mit
Freunden, mit Kindern plötzlich so ein Gefühl absoluter Nähe hatten? Wo Zeit und
Raum völlig weggeblendet waren?
Christliche Spiritualität beinhaltet, solche Situationen zu deuten als Raum, in dem
Gott anwesend ist.
Beispiele eigene Kinder zu Bett bringen. Lesen auf der Couch
Beten einer HEP mit MmB
Mitgenommen werden beim Trampen
2008! Als Praxislehrer in der Ausbildung der Heilerziehungspflegerinnen hatte ich die
Planung einer Aktivität gelesen und erwartete die Begegnung mit einer Person mit
Behinderungserfahrung, die von dem Studierenden als ein Mensch mit vielen
besonderen Fähigkeiten beschrieben wurde, der dazu neige, sich mit massiv
fremdaggressivem (heute würde man sagen herausforderndem) Verhalten zu
äußern. Es sollte in der Aktivität darum gehen, die Person durch geeignete Assistenz
des Studierenden zu unterstützen, eine kurze Zeit zur Ruhe zu kommen. Als ich die
Person mit Behinderung dann vor Ort sah, hatte ich Jemand vor Augen, der von
seiner aktuellen Verfassung und seinem Tun ganz und gar meiner Vorstellung eines
gefährlichen Kämpfers entsprach. Ich beobachtete aus sicherer Entfernung das
Geschehen und bewunderte den Mut des Studierenden, dem es immer wieder
gelang, sehr aktive Bewegungen umzuleiten und gleichzeitig Freiräume zu lassen.
Plötzlich richtete diese so unruhige Person auf und schaute mir direkt in die Augen.
Er schaute mir in die Augen, mir als Jemanden, der mit seiner Augenlähmung größte
Schwierigkeiten mit dem gezielten Sehen hat. Und dieser Blick schien mir bis in
meine Seele zu gehen. Da war plötzlich eine unglaublich intensive Begegnung
zwischen zwei Menschen auf Augenhöhe, die für mich mit Zuneigung und Wärme
verbunden war. Ich hielt diesem Blick stand und mein Gegenüber stand auf, näherte
sich mir langsam und setzte sich behutsam direkt auf Tuchfühlung neben mich – ich
hatte zwar noch Sorge, ob es gleich vielleicht durch einen plötzlichen Ausbruch
wilden Tatendrangs meines Nachbarn meine Brille erwischen würde, was aber nicht
geschah. Diese Person war für mich eine andere geworden, eine Person, die mit mir
irgendwie eine tiefe Verbindung hergestellt hat. Zwischen uns, und zumindest mit mir
war etwas passiert, etwas was für mich größer war als das Zusammentreffen zweier
Menschen mit ihren Lebensgeschichten.
Kees Waaijman und seine MitarbeiterInnen im Titus Brandsma Institut in Nijmwegen
beschäftigen sich in einem phänomenologischen Ansatz seit ca. 30 Jahren
international und religionsübergreifend mit dem Thema Spiritualität. In dem
dreibändigen „Handbuch der Spiritualität“ geht es im ersten Teil um Formen von
Spiritualität, die zusammengenommen durchscheinen lassen können, was mit
Spiritualität gemeint sein kann.2 Das Bedeutungsfeld Spiritualität zeigt sich als ein
geistlicher Horizont und meint ein Beziehen der Person auf eine Gesamtperspektive
2
Die Inhalte dieses Kapitels sind teilweise Zusammenfassungen des ersten Bandes des Handbuches
für Spiritualität und eines Vortrages von Dr. Dickmann anlässlich des Akademietages im Februar 2009
in der Akademie Schwerte zum Thema „Laienspiritualität“
4
des Lebens. Der Begriff Spiritualität ersetzt den im Mittelalter gebräuchlichen
Ausdruck der „Frömmigkeit“, womit ein Stand religiöser Leistungen verbunden war.
Spiritualität meint einen vom Hl. Geist getragenen Umgang mit der gesamten
Lebenswirklichkeit, nämlich Gott in allen alltäglichen Dingen des Lebens zu suchen.
Dies bedarf einer Entscheidung, aufgrund eigener personaler Erfahrungen.
An dieser Stelle gibt es ein Problem. Es gibt nämlich viele Menschen, die genau
diese Erfahrung einer personalen Beziehung zu Gott nicht teilen können. Wie lässt
sich Gott finden?
Ein Lösungsversuch beruht auf den Wesensbeschreibungen des Menschen in den
alttestamentlichen Schöpfungsgeschichten. Demnach ist der Mensch unter anderem
Geschöpf, Ebenbild und Idee Gottes. Ursache und Ziel des Menschen ist Gott. Wie
kann ich Gott aber finden? Wie erfahren? Einmal kann ich mich ihm selbst
zuwenden, mit ihm sprechen, ihm in seinen Sakramenten begegnen, mich von ihm
finden lassen. Ich kann ihn aber auch finden in der Begegnung mit anderen
Menschen, die ja auch Idee Gottes sind. Wenn man dem jüdischen
Religionsphilosophen Martin Buber folgt, ist Gott anzutreffen wenn zwei Personen
sich offen und vorbehaltlos begegnen. Es entsteht dann eine Ich –Du-Beziehung,
ein Dialog, in welchem sich ein Zwischenraum bildet, in dem Gott anwesend ist.
Letztlich kann ich Gott in mir selbst nahe kommen. Treffend für die Hauptaufgabe
des menschlichen Lebens und die Lösung der äußeren Probleme steht das „Erkenne
dich selbst“ (gnôthi seautón, γνῶθι σεαυτόν) am Eingang des Orakels zu Delphi.
Menschen müssen also Gott gar nicht nur als personale Größe außerhalb sich selbst
erleben müssen, sondern können sich auf die Suche nach der Gottesebenbildlichkeit
in sich selbst machen, um letztendlich die Frage beantworten zu wollen, wer bin ich,
was ist meine Besonderheit?
Doris Nauer schreibt dazu sehr treffend auf Seite 115 ihres Buches „Seelsorge –
Sorge um die Seele“ Kohlhammer, Stuttgart 2007 „Indem Gott dem Menschen seinen
Lebensatem einhaucht, wird der Mensch zu einem lebendigen Seelen-Wesen. Gott
haucht dem Staub vom Ackerboden keine Seele ein, sondern seinen eigenen
göttlichen Geist, wodurch dieser zu einem Lebewesen, zu einer lebendigen Seele
wird. ... Der Mensch hat keine göttliche Seele eingeblasen bekommen, die vielleicht
irgendwo in ihm schlummert. Der Mensch hat überhaupt keine Seele, sondern ist,
solange er am leben ist, als Ganzes Seele.“
Dies bedeutet konkret, dass ein vom Geist Gottes durchwirktes Dasein nicht in der
Ferne und Transzendenz liegend ist, sondern in jedem Menschen atmet, und zwar
nicht in einer versteckten Ecke sondern in seinen mannigfaltigen Lebensäußerungen.
Es gibt drei Bereiche von Spiritualität, die alle für sich Besonderheiten und
Abgrenzungen zu den anderen aufweisen: Die sogenannten Schulen, die
Gegenbewegung zu den Schulen (Franziskaner, Propheten) und die Laien.
Drei Bereiche von Spiritualität
Die Perspektive
der Laien
1. Sitz im Leben
(Domäne)
familiärer Kontext
Mann-Frau
Eltern-Kinder
HausgemeinschaftNachbarschaft
Die Perspektive
der Kleriker
(Schulen)
öffentlicher Raum
Die Perspektive der
Ordensleute
(Gegenbewegungen)
außerhalb der
gängigen Muster von
Religiosität,
zunächst außerhalb
der Ordnung; wird
aber meist in eine
Schule umgesetzt
5
2. Zeitdimension
genealogisch; sie
rechnet mit
Generationen
eigene
Periodisierung mit
Beginn des
Gründungsdatums
Tempel, Kirche,
Kloster, Synagoge,
Lehrhaus
es geschieht , wann
es geschieht
3. Raumdimension Wohnung
Wüste, Unort,
(Intimität des fam.
Heimatlosigkeit
Kontextes und
Beziehung zum
öffentlichen Leben)
4. Grundstoff der
vom persönlichen
der Schüler ist
die menschliche
Spiritualität
Lebenslauf gebildet bereit, seinen
Person als restlose
Lebenslauf
Verfügbarkeit
umformen zu
lassen durch das
spirituelle Modell,
das die Schule
anreicht
Geschichtlich kommt der Laienspiritualität eine besondere Bedeutung zu, indem z.B.
im Judentum nach der Zerstörung des Tempels, es von dem Glaubensleben der
Laien in den Familien abhing, ob die Kirche Bestand haben würde. Laienspiritualität
ist Schau Gottes in der Praxis im Kontext der Familie und fängt immer wieder neu an,
Gott auf die Spur zu kommen.
Die Spiritualität von „Laien“ unterscheidet sich von jener der „geistlichen Schulen“
und deren „Gegenbewegungen“. Laien schöpfen die Spiritualität aus sich selber.
Wenn bis zum Vat II. der Begriff des Laien als eine der Lebensweise und dem
kirchlichen Auftrag der Kleriker untergeordnete Rolle spielte (noch sehr deutlich in
Vatikanum I. , supremi pastores, Kap. 10: „Niemand kann leugnen, dass die Kirche
eine nicht homogene Gemeinschaft ist, in der Gott manche eingesetzt hat um zu
befehlen, andere um gehorsam zu sein. Die Letztgenannten sind die Laien, die
ersten sind die Kleriker“), wurde mit dem 2. Vat. allen Menschen die Fähigkeit zur
Heiligung des Lebens zugesprochen (Lumen Gentium und Gaudium et Spes 43). Der
Begriff des Gottesvolkes und des allgemeinen Priestertums wird geprägt. Das
Besondere der Laien ist jetzt, dass ihnen der Weltcharakter in besonderer Weise
eigen ist. Daraus folgt (für jeden Christen): Ich bin auch im Vollzug von Kirche
jemand Besonderer im Gegensatz zum internalisierten Selbstbild eines
Minderwertigen (Laien, der kein „Profi“ ist). Oder anders gesagt. „Wir sind Kirche.“
In der Bewegung der „devotio moderna“ (vor allem durch Geer Groote 1340-1384
beeinflusst) wird die Bedeutung des „Laien“, des laicus inliteratus oder idiotus
aufgewertet. Nikolaus von Kues erzählt in einer Geschichte, dass ein Philosoph, der
in seinem Denken über das Wirken Gottes in der Welt an Grenzen kommt, von einem
Vorbeter zu einem Laien geschickt wird, mit dem er das Problem besprechen soll.
Dieser Laie ist gerade dabei einen Löffel zu schnitzen und im Disput stellt sich der
Laie (der weder Lesen kann [inliteratus], noch sich in philosophischen hochgeistigen
Theorien auskennt, also im Auge der höheren Schicht ungebildet ist) als der
eigentliche Fachmann heraus. Dieser macht anhand des Schnitzens eines Löffels
deutlich, dass die eigene Spiritualität aus sich selbst heraus [idios: gr. Selbst, idiotus:
lat. der Privatmann] entsteht, und zwar im Erfüllen der alltäglichen Aufgaben des
Lebens. Der Löffelschnitzer lässt die göttliche Idee eines Löffels, die in ihm ist,
Wirklichkeit werden ohne es perfekt zu machen, einfach in seinem Tun. Die
Spiritualität erwächst also aus dem, was zutiefst in einem Menschen eingewebt
ist.
6
II. Zugänge zur eigenen Spiritualität
Kees Waaijman schreibt auf Seite 35 des ersten Bandes seines Handbuches für
Spitiualität: „In zeitgenössischen spirituellen Zentren wird der Körper als
Ausgangspunkt von Spiritualität genommen. Die angebotenen Übungen lehren, wie
die Körpersprache zu verstehen ist: Indem man still wird, kann der Körper erzählen,
welche Energien uns bewegen; durch Bewegung können tiefere Schichten im
Körperbewusstsein freigelegt werden; durch Expressionsformen können wir
Verklemmungen und Verzerrungen in unseren gespannten Äußerungen auf die Spur
kommen. Dies alles wird Körperarbeit genannt. Diese Körperübungen haben eine
doppelte Orientierung. (1) Sie sind darauf ausgerichtet, den Übenden mit der inneren
Welt in Verbindung zu bringen (tiefere Energieströme, kreative Kräfte), so dass er frei
atmen kann, dem Leben in sich selbst nachgehen kann, sich für das Leben öffnen
kann. (2) Die Übungen sind darauf ausgerichtet, das tägliche Leben intensiver und
gleichgewichtiger zu erleben: den Umgang miteinander, die Wohnung, die Arbeit, die
Umwelt, die Gesellschaft.“
In dem Buch „Christliche Spiritualität leben und feiern - ein Praxisbuch zur inklusiven
Arbeit in Diakonie und Gemeinde wird Spiritualität als eine Haltung beschrieben, „die
sich durch das gesamte Leben zieht – es ist eine Haltung, die getragen ist von der
Einsicht, dass es mehr als nur das Materielle geben muss.“ S.10
An einem inklusiven Fachtag des diakonischen Werks Württemberg, äußerten sich
Teilnehmer spontan persönliche Meinungen zur Spiritualität:
„Spiritualität ist etwas, das mit mir zu tun hat, wo ich vorkomme.
Etwas kommt in mir zum Klingen.
Spiritualität ist etwas, das mich mit anderen verbindet.
Spiritualität ist ein Weg. Auf diesem Weg brauche ich ein Licht.
Spiritualität bedarf einer „Haltung“ (Bezugnahme auf Meditationshocker)
Musik und Gesang sind wichtige Wesensäußerungen von Spiritualität, verbinden
Menschen miteinander
Symbole sind wichtig für die Spiritualität.
Spiritualität verbindet Himmel und Erde.
Spiritualität und Gebet gehören zusammen, Vertrautes wird immer wieder neu erlebt.
Ich bin nicht allein, wenn ich bete.
Spiritualität macht manchmal sprachlos, ist überraschend, Klassisches und Neues
verbinden sich.
Spiritualität braucht Zeit.
Spiritualität verträgt den Aktionismus nicht, z.B. den voll durchgeplanten
Gottesdienst.
Spiritualität kennt keinen Leistungsgedanken. ...
Wenn wir uns Gedanken machen über Spiritualität mit Menschen mit Beeinträchtigungen, dann ist es wichtig, unseren eigenen Standpunkt und den eigenen Zugang
zu diesem Thema bewusst zu machen.“ (Mirja Küenzlen, christliche Spiritualität ..., S.
20 f.) Da aber heute häufig durch die Schnelllebigkeit der Zeit und unglaublich viele
zu verarbeitende Außeneinflüsse eine Verschüttung der Herzen stattgefunden hat
(Karl Rahner), ist es wichtig, sensibel zu werden für die eigenen spirituellen
Bedürfnisse und die der Menschen mit den wir zu tun haben. Bischof Gerhard Feige
aus dem Bistum Magdeburg hat vor wenigen Jahren in einer Fastenpredigt
geschrieben: „Es kommt darauf an, dass jede und jeder von uns sich wandelt und
menschlicher wird“. An anderer Stelle weist er darauf hin, dass ein guter Weg dazu
darin bestehe, wieder zu lernen „das Gras wachsen zu hören“, was keineswegs
negativ zu verstehen sei, sondern als besondere Fähigkeit sich dem Wesentlichen
zuzuwenden. Die Grundhaltung einer Person zum Thema Spiritualität speist sich aus
ihrer Geschichte mit diesem Thema, ihrer Herkunft, den Traditionen, mit denen sie
7
aufgewachsen oder eben auch nicht aufgewachsen ist. Daneben gibt es eine
situative Haltung, die sich aus der momentanen Gestimmtheit heraus ergibt, der vor
allem in der Praxis eine große Bedeutung zukommt.
III. Christliche Spiritualität gestalten mit Menschen mit geistiger Behinderung
Der Psychologe Michael Kief berichtet über die Folgen eines Missbrauchs christlicher
Werte und Bezugssysteme: “Menschen mit geistigen Behinderungen haben einen
sehr konkreten und häufig auch unreflektierten Zugang zu Fragen des Glaubens.
Trifft diese Offenheit und mangelnde Reflexionsfähigkeit auf missbräuchlich
eingesetzte theologische Ideologien (z.B. Leid als Strafe oder Prüfung Gottes),
können sehr ungünstige Entwicklungen die Folge sein.“3
„Menschen mit geistiger Behinderung besitzen oftmals eine hohe emotionale
Kompetenz. Ihr unverstellter Gefühlsausdruck, z. B. in Freude oder Trauer, erzeugt
auch in seelsorglichen Begegnungen eine Atmosphäre von Echtheit und Ehrlichkeit.
In der gottesdienstlichen Feier ist sowohl ihre staunende Ehrfurcht als auch ihre
heitere Verbundenheit ansteckend und fördert so einen vertiefenden liturgischen
Vollzug.“ In: Deutsche Bischofskonferenz Arbeitsstelle für Menschen mit
Behinderung http://www.behindertenpastoral-dbk.de
Sich kein Bildnis machen
(Heiner Küenzlen S. 60 Christliche Spiritualität) „Die Wirklichkeit von Menschen mit
Behinderung wird oft zugedeckt durch Bilder von anderen Menschen, die aus
„positiven“ und „negativen“ Vorurteilen bestehen. Die Menschen werden zur
Zielscheibe für Übertragungen eigener Ängste und Vorurteile:
„Oh, der oder die Arme!“ – es wird nur die Einschränkung gesehen oder in den
Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestellt.
„Oh, so ein Sonnenschein!“ – es wird ein verklärtes unrealistisches Bild vermittelt.
Letztlich nehmen wir „den anderen nicht in seiner Lebenswirklichkeit wahr, wir
zwingen ihn in unsere Wirklichkeiten hinein und fixieren ihn dort. ...Wenn wir uns im
Glauben zusammen vor einer dritten Wirklichkeit sehen, vor Gott, vor dem wir alle
Geschöpfe und alle gleich sind, kann es leichter fallen, aus unseren Bildern über
Menschen herauszukommen. Wenn wir vor ihm und mit ihm gemeinsam feiern,
singen, trauern und beten, dann leben wir als seine erwachsenen Söhne und
Töchter, unterschiedlich begabt, gleich geliebt.“
[Beispiel „Julia“ Christliche Spiritualität leben und feiern S. 21 f.]
Julia: „Danke, Liebergott!"
„Meike Überraschung!", sagt Julia - wie der Wind ist sie angelaufen gekommen und
mit einem Wupps auf Meikes Arm gesprungen. So schnell konnte ich gar nicht
gucken, schon saß sie da und umarmt Meike innig. „Gottesdienstfrau!" Sagt sie und
zeigt auf mich. Sie weiß, dass ich gern mit ihr über Gottesdienst und so etwas
sprechen möchte. Julia, eine Frau mit Down-Syndrom, ist 34 Jahre alt. Sie lebt in
einer Pflegefamilie und geht zur Arbeit in die Handweberei in einer diakonischen
Einrichtung. Als Julia das Kassettengerät sieht, nimmt sie sofort das Mikrophon in die
Hand und beginnt zu singen: Großer Gott, wir loben dich! Mit großer Inbrunst singt
sie, mit Ergriffenheit, sie muss ein bisschen weinen, aber sie singt weiter, und sie
kennt viele Strophen. Als ich dann versuche, mit ihr über Gott zu reden, verstehen
wir uns nicht. Erst später begreife ich: den abstrakten Begriff „Gott" gibt es nicht für
Julia. Wenn sie von ihm redet, sagt sie „Liebergott" - das ist für sie keine
Beschreibung, sondern es ist der Name Gottes. Als ich sie frage, ob sie auch
3
Christliche Spiritualität leben und feiern S. 38
8
manchmal wütend auf Gott sei, sieht sie mich erstaunt und verständnislos an und
antwortet aus vollster Überzeugung: „Nein!" Ihr Glaube ist unverbrüchlich. Es gibt
einiges, was ihr im Leben Schwierigkeiten macht, aber „Liebergott" ist da. Daran gibt
es keinen Zweifel. Für Julia ist klar. „Liebergott" ist da, er wohnt im Himmel, und die
Menschen, die schon gestorben sind, sind bei ihm im Himmel. „So wie die Vögel."
Julia nimmt sich auch ihr Recht auf Trauer, niemand kann sie davon abhalten zu
weinen, wenn sie traurig ist, und ein Gebet zu sprechen, wenn ihr danach ist. Sie bestimmt selbst die Zeit, die sie zum Trauern braucht. Die Trauer um ihre Mutter und
um ihren geliebten Vogel. Ähnlich wichtig wie die Trauer sind für Julia andere
spontane, fröhliche Gefühlsäußerungen: Sie singt im Wirtshaus ein Geburtstagslied,
für die Frau, die mit am Tisch sitzt und die an diesem Tag Geburtstag hat. Das
berichtet mir Julias Betreuerin. Mein Gespräch mit Julia kommt nicht so recht in
Fluss, immer wieder erzählt Julia mir vom bevorstehenden Abendessen mit
Butterbrezel und von dem Rittersaal auf der Freizeit. Immer wieder aber greift sie
zum Mikrophon und singt. Ich merke, die Sprache, das Gespräch, ist kein Mittel für
Julia, um ihren Glauben zu begreifen. Später höre ich unser Gespräch auf dem
Tonband an und denke: Es sind die Lieder, mit denen Julia ihren Glauben ausdrückt.
Mit ihnen kann sie Stimmung und Haltung ausdrücken, mit den Liedern kann sie sich
einer Sprache bedienen, die sie nur dort benutzt, nur dort benutzen kann. Ihr
Wortschatz im Alltag besteht aus fünfzig bis hundert Wörtern, mit denen sie sich sehr
beredt ausdrücken kann. „Der Mond ist aufgegangen ..." Julia singt, und sie kann
wirklich fast alle Strophen. Ich bin sehr berührt, als ich Strophen höre, die ich nicht
kannte. „So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsere Augen
sie nicht sehn!" Julia denkt nicht über ihren Glauben nach - Julia lebt ihren Glauben.
Sie lebt ihren Glauben, indem sie singt und betet. Julia betet viel, und immer, so erzählt mir ihre Pflegemutter, immer sagt sie „Danke". Sie findet immer etwas, wofür
sie aus tiefstem Herzen „Liebergott" dankt. Ihre Pflegefamilie und viele andere
Menschen, die Julia erleben, sind davon sehr beeindruckt. Julia betet oft am Tag.
„Danke für die Butterbrezel und danke, dass du so lieb bist!"
Rianne Joongstra ist ein Theologin und Hauptamtliche Seelsorgerin in einer großen
Einrichtung für Menschen mit Behinderung in Holland. Sie betet jeden Morgen einen
mit Freunden abgesprochenen Psalm damit sie am Tag Gott nicht im Weg steht. Ihr
Hauptanliegen in Bezug auf eine spirituelle Sicht ist: In dem Menschen mit
Behinderungserfahrung Gott freigucken. Rianne bringt ihre Erfahrung mit Spiritualität
in folgende Worte:
 „Mich in einer spirituellen Rolle (der Verkündigung) zu erleben, macht etwas
mit mir.“
 Spiritualität bedeutet auch: Etwas erzählen lassen, das ein Echo in mir auslöst
 „Oft sind wir gefangen in unseren eigenen Systemen“
 (Für)Sorge wird nicht mehr bestimmt durch das Angebot, sondern durch die
Frage: „Was willst du?“
 Für MmB ist Seelsorge genauso wichtig wie für Menschen ohne Behinderung.
 „Man muss sehen, fühlen und sich selbst entwickeln.“ (Man braucht keine
Angst zu haben).
 „Spiritualität bedeutet, dass mein Bild von der Wirklichkeit nicht die Wirklichkeit
ist.“
 „Wenn es Niemand gibt, der dich anschaut wie du selber bist, dann kann ich
nicht in der Welt sein und auch nicht in mir.“ Es ist gut wie du bist.
 „Es geht um das Schöne in jedem Menschen, das ich in ihnen erkennen kann.
Spiritualität ist dann immer Beziehung.“
 „Wie schaue ich auf die Leute hin? Ich…, ich … , ich …, oder öffne ich mich,
weil es jemand gibt, der mich als Seelsorgerin anerkennt?“
 „Dass du da bist reicht schon. Du bist geboren wie du bist.“
9
 „Die gegenseitige Begegnung ist das Herzstück der Sorge.“
 „Jeder Mensch ist in seinem Tiefsten Bild Gottes.“
 „Wenn ich selbst in Balance bin zwischen Innen und Außen, dann bin ich
empfänglich für die offene Begegnung.“
 Meister Eckhardt: „Im Werden von mir kommt Gott ans Licht.“
Zum Umgang mit Leid: „Das Leid muss immer von den Betroffenen formuliert werden
und nicht von mir, die ich immer meine Sicht und auch meine Ängste projiziere! ... Es
geht um Begegnung auf Augenhöhe! In vielen Heilungsgeschichten geht es bei
genauerem Hinsehen darum, dass Jesus die Menschen mit Behinderung ins Leben
und in die Gemeinschaft stellt, Ausgrenzung beendet und Beziehungen heilt. Heil
kann auch sein, wo keine Heilung ist.“4
[Beispiel Bärbel, Christliche Spiritualität S. 29]
Wenn ich also in meinem alltäglichen offen bin für Tun mögliche Gotteserfahrung
dann wird Begleitung und Assistenz auch zur Seelsorge. Doris Nauer schreibt in
ihrem Buch Seelorge, Sorge um die Seele ab S. 105: „Glaubwürdige Seelsorge
enthält sich allen Versuchen und Versuchungen Gott enträtseln und ihn dadurch
seines Geheimnischarakters entkleiden zu wollen. ... SeelsorgerInnen müssen daher
nicht alles über Gott wissen und schon gar nicht alle Fragen über Gott beantworten
können. ... Auch ihr Wissen über Gott ist nur äußerst fragmentarisch.
Glaubwürdige Seelsorge nimmt de Ambivalenz menschlicher Gotteserfahrungen
ernst.
Glaubwürdige Seelsorge darf mit der Anwesenheit des Heiligen Geistes in allen
Kulturen, Religionen und Menschen rechnen. ... Gottes zuvorkommendes Handeln ist
in den alltäglichen Lebenszusammenhängen bereits am Werk, bevor seelsorgliches
Handeln überhaupt den Menschen erreichen kann.
Glaubwürdige Seelsorge orientiert sich an den Worten und Taten Jesu Christi.
Glaubwürdige Seelsorge geschieht nicht aus persönlichem Mitleid, aus
paternalistischer Überheblichkeit oder deswegen, um sich als Seelsorgerin wichtig
und unentbehrlich zu fühlen , um Ruhe, Ruhm oder Verdienst anzuhäufen, um sich
bei Gott beliebt zu machen oder bei den Menschen gut dazustehen.“
Prof. Bert Roebben an der Fakultät für Humanwissenschaften und Theologie ab der
TU Dortmund nutzt für seine Vorstellung von religiöser Vermittlung und Spiritualität
das Bild des Narthex. Narthex: bezeichnet ein Eingangsportal in byzantinischen und
romanischen Kirchen (Bsp.: Sainte Marie-Madeleine in Vézelay/Burgund), das dem
eigentlichen Kirchenschiff vorgelagert ist und als Durchgangsportal die Verbindung
darstellt zwischen Außen- und Innenwelt, alltäglichem und Sakralem. Man tritt aus
der alltäglichen Welt in diesen Vorraum; von diesem aus ist ein Eintritt in die Kirche
selbst möglich. Die Türen zu beiden Seiten müssen offen bleiben, offen gehalten
werden, um Menschen in den sakralen Raum einzuführen, aber sie auch wieder
hinauszulassen, damit sie es für sich aneignen können. Das ist ein Bild für religiöse
Erziehung/Bildung. Religiöse Bildung muss so organisiert werden: Was bedeutet das
Angebot des Sakralen für das Alltägliche? Die Menschen sind frei zu entscheiden.
Das Leben ist eine Pilgerreise, wir sind mit einem Rucksack unterwegs, mit Fragen
nach Vergangenheit und Zukunft: Wie kann ich glücklich leben etc.? Da ist es schön,
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Mirja Küenzlen, S. 28f)
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in bestimmten Momenten an solchen Orten zu verweilen, an denen ich
Antwortversuchen begegne. Der Narthex ist ein solcher Ort, an dem solche
Lebensfragen gestellt werden: miteinander und mit nicht vorhersehbaren Antworten
(so wie die Vorhalle selbst durch eine Tür vom Sakralraum getrennt ist) als Hilfe, um
mich selbst und meine Fragen anders zu verstehen. Im Narthex spricht man
miteinander, er ist Begegnungsort, Rückzugsort z.B. für Kinder, Ort der Taufe
(Taufbecken).
Religiöse Bildung heißt dann nicht, jemanden zum Christen machen, sondern ihm
Angebote machen für das eigene Fragen. Es geht von Fragen/Sehnsüchten hin zu
einer Perspektive und wieder zurück. Es braucht Mut zu Erziehung, d.h. Angebote
zu machen und die Offenheit zu ermöglichen, damit Fragen überhaupt thematisiert
werden können.
Heilpädagogen/Erzieher schaffen Strukturen, damit MmB Fragen stellen können. Wie
kann das geschehen in einer Weise, dass sich die MmB nicht bedroht fühlen? Der
Narthex ist Durchgang, Raum der Freiheit, Begegnung, Diskussion und der Suche
nach neuen Antworten.
Wofhard Schweiker entwickelt im Praxisbuch „Christliche Spiritualität gemeinsam
leben und feiern ab S. 78 eine Checkliste für einen inklusiven Gottesdienst, die
deutlich macht, dass die Person mit Behinderung tatsächlich ernst genommen wird
und nicht als geduldetes Anhängsel einer Gemeinde gesehen wird sondern als
Bereicherung der Vielfalt der Gemeinschaft. Inklusion beruht auf der Grundhaltung,
sich dem Reichtum in der Andersartigkeit einer Person bewusst zu sein und sich von
ihr überraschen und bewegen zu lassen. Es bedeutet, dass ein Mensch (mit
Behinderungserfahrung) mit Ihnen und Sie mit ihm auf Augenhöhe in Kontakt treten.
Sie sind offen dafür, sich durch Ihr individuelles Sein gegenseitig bereichern zu
lassen, voneinander zu lernen, sich verändern zu lassen.
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Abschluss:
Exklusion meint, wenn ein Bewusstsein in Kommunikationssystemen nicht von
Bedeutung ist. Dies trifft zum Beispiel zu, wenn ein Mensch mit geistiger
Behinderung in einer Einrichtung zwar anwesend ist, aber nicht als ernst zu
nehmendes Mitglied in Betracht gezogen oder in dieser Interaktion auf den Körper
reduziert wird, weil ihm kognitive Fähigkeiten nicht zugetraut werden. Exklusion ist
gegeben, wenn eine Person mit Behinderung sich in einem Gottesdienst lautierend
einbringt und dies lediglich geduldet wird.
Inklusion meint
Öffne deine Augen für die Andersartigkeit jeder Person, die unsere
Vielfaltsgemeinschaft ausmacht
Neige Dein Ohr, um zu Verstehen, was dir Dein Gegenüber zu sagen hat. Er ist
nämlich Jemand, der etwas zu sagen hat und für das soziale Miteinander etwas
beizutragen hat.
Löse deine Zunge und spreche einen Menschen an, damit er spürt, dass er eine
Bedeutung für dich hat.
Erschließe dein Herz und lass dich berühren von einer tieferen, nicht materiellen
Dimension des Lebens (der Idee Gottes in Dir)
Martin Buber schreibt: „Sodann aber verlangt es einen Mal um Mal, seinem
Mitmenschen zu danken, selbst wenn er nichts Besonderes für einen getan hat.
Wofür denn? Dafür, dass er mir, wenn er mir begegnete, wirklich begegnet ist; dass
er die Augen auftat und zuverlässig vernahm, was ich ihm zu sagen hatte; ja, dass er
das auftat, was ich recht eigentlich anredete, das wohlverschlossene Herz.
Zu solchen Stunden
Zu solchen Stunden gehn wir also hin
und gehen jahrelang zu solchen Stunden,
auf einmal ist ein Horchender gefunden14
und alle Worte haben Sinn.
Dann kommt das Schweigen, das wir lang erwarten,
kommt wie die Nacht, von großen Sternen breit:
zwei Menschen wachsen wie im selben Garten,
und dieser Garten ist nicht in der Zeit.
Und wenn die beiden gleich darauf sich trennen,
beim ersten Wort ist jeder schon allein.
Sie werden lächeln und sich kaum erkennen,
aber sie werden beide größer sein...
R.M. Rilke (1875 - 1926)
Literatur
- Christliche Spiritualität leben und feiern - ein Praxisbuch zur inklusiven Arbeit in
Diakonie und Gemeinde, Verlag Kreuz, 2007 (19,50 inkl CD)
- Deutsche Bischofskonferenz Arbeitsstelle für Menschen mit Behinderung
http://www.behindertenpastoral-dbk.de
- Doris Nauer, Seelsorge – Sorge um die Seele, Kohlhammer, Stuttgart 2007
- Wolfgang Reuter,Heilsame Seelsorge, TuP 19, Lit Verlag Münster 2004
- Jellouschek/Wessinger, Mit Kindern Glauben lernen, KBW Verlag, Stuttgart, 1974
- Tom Kitwood, Der person-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen
Huber, Bern, 20085
- Christoph Beuers, u.a., Wie Licht in der Nacht, Elementarisierung biblischer Texte
für Menschen mit und ohne Behinderung, Verlag Butzon & Bercker 2003
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