Folie 1 Frontalhirnsyndrom Oder Exekutivstörung Die Summe der Erkenntnisse aus tierexperimentellen Untersuchungen sowie klinischen Befunden lassen daraufschließen, daß der frontale Cortex eine Leitungs- und teuerfunktion hat, die für das Planen, Ausführen und Kon-trollieren von Handlungen wesentlich ist ("executive func- tion", Stuss u. Benson, 1986). Die Funktionen des Stirnhirnsbetreffen die Aufnahme und Verarbeitung von sensorischen Informationen für Wahrnehmung, Denken,Sprache, moto-rische Operationen, Aktivitäts-, Bewegungs- und Handlungssteuerung, Willkürbewegungen und -handlungen, Bewußt-sein, mnestische und höhere intellektuelle Prozesse sowie emotionell-affektive Aspekte des Verhaltens (Luria, 1970).Darüberhin-aus gibt es zahlreiche Hinweise darauf, daß bei chronisch lkoholabhängigen neben diffusen und verschiedenen spe-zifischen hirnorganischen Veränderungen die Frontalhirn- region in besonderem Maße beeinträchtigt ist. Forscher nehmen eine neurologische Pathologie frontaler Hirnregionen bei chronisch Alkoholabhängigen an. Abhängige mit alkoholbedingtem amnestischen Syn- drom zeigen in verschiedenen neuropsychologischen Dia-gnoseverfahren die gleichen Schädigungsmuster wie Patien-ten mit frontalen Hirnschädigungen. Frontalhirnsyndrom, Das Frontalhirn oder Stirnhirn ist zuständig für die exekutiven Funktionen und das Arbeitsgedächtnis. Es steuert damit auch unseren Antrieb und unsere Handlungsmotivation und unsere moralische und soziale Kompetenz. Es gibt verschiedene reine und gemischte Formen (außer bei primär temporalen und parietalen Verläufen) des Frontalhirnsyndroms. Konvexitätstyp: Antriebsarmut bis Apathie (z.T. "Pseudodepression"), Sprachverarmung bis Mutismus, Echolalie/Palilalie, Defizite von Denk-Flüssigkeit, Konzentration, Denk- und Urteilsvermögen. Wenn große Teile des linken und rechten Frontalhirns geschädigt sind kann es zum akinetischen Mutismus kommen. Es fehlt dann jeder Antrieb zu eigenem Handeln, die Betroffenen handeln ausschließlich auf Kommando - wie Roboter. Basaltyp: Wesensänderung mit Disinhibition, Unruhe, Hyperoralität, mangelnder Hygiene, emotionaler Labilität (z.B. Euphorie, Dysphorie, Angst, Indifferenz), Zwangshandlungen, Bewegungsstereotypien. Patienten mit Frontalläsionen zeigen generelle Verschlechterung in komplexen Aufgaben, nicht jedoch in Routine-Tätigkeiten. Dieselben frontalen Regionen scheinen jedoch keinen Einfluss auf reine Behaltensprozesse zu haben, da die Patienten zumeist normale Kurzzeitgedächtnisspannen haben. Folie 2 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns (F07) Definition Das Krankheitsbild umfasst psychische Krankheiten mit nachweisbarer Ätiologie in einer zerebralen Krankheit, einer Hirnverletzung oder einer anderen Schädigung, die zu einer Hirnfunktionsstörung führt. Die Funktionsstörung kann primär sein, bei Krankheiten, Verletzungen oder Störungen, die das Hirn direkt oder in besonderem Maße betreffen; oder sekundär, z.B. bei Systemerkrankungen oder Störungen, die auf das Gehirn nur als eines von vielen anderen Organen oder Körpersystemen übergreifen. Frontalhirnsyndrom und seine Auswirkungen Kaum eine Struktur des Gehirns kann bei einer Läsion eine solche Bandbreite an verschiedenen, widersprüchlichen und paradoxen Symptomen und Interpretationen darüber pro- duzieren wie die Frontallappen Walsh (1978) unterteilt die Auswirkungen des Frontalhirnsyn-droms in zwei Hauptgruppen: Persönlichkeits- veränderun-gen und kognitive Veränderungen. Folie 3 Persönlichkeitsstörungen Verlust von Initiative, Spontaneität und Antrieb - äußert sich in Gleichgültigkeit, Apathie, Lethargie, Verlangsmung und Trägheit Hyperaktivität, motorische Unruhe, Euphorie, Impulsivität, albernes, kindisches Verhalten Unangepaßtes Sozialverhalten, Takt- und distanzlos Unangepaßtes sexuelles Verhalten Persönlichkeitsänderungen Für Jantzen u. Jüttner (1981) ist das Frontalhirnsyndromdie "schwerste neuropsychologisch denkbare Persönlich-keitsstörung", die sich in einem vielfältigen Bild von Persön-lichkeitsund Wesensänderungen sowie Veränderungendes Sozialverhaltens manifestiert. Häufig zeigt sich ein Ver-lust von Initiative, Spontaneität und Antrieb, der sich inGleichgültigkeit, Apathie, Lethargie, Verlangsamung undTrägheit äußert. Andererseits kann die Beeinträchtigungder Steuerungs- und Kontrollinstanzen aber auch zu Hy-peraktivität, motorischer Unruhe, Euphorie, Impulsivität,albernem, kindischem, läppischem Verhalten und "Witzel-sucht" führen. Das Sozialverhalten wirkt unangepaßt, sozia-le Normen und Konventionen werden nicht beachtet, Be-troffene wirken oft takt- und distanzlos (Prosiegel, 1988;Beaumont, 1983). Die Beeinträchtigung kan sich auch insexuell deviantem Verhalten zeigen, das sich, in Folge desVerlustes sozialer Hemmungen, etwa in exhibitionistischenHandlungen oder öffentlicher Masturbation äußert. Blumeru. Benson (1975) bringen eine gewisse Systematik in dieumfangreiche Liste der möglichen Frontalsymptome, indemDie pseudopsychopathische Ausprägung (Plusvariante) istdurch eine Störung der Impulskontrolle, distanzlos-antiso-ziales und kindlich-kindisches Verhalten, motorische Unru-he, ungerichtetes Handeln und Verlust "sozialer Intelligenz" gekennzeichnet. Die Störung bietet das Bild einer psycho-pathischen oder soziopathischen Persönlichkeit.Die pseudodepressive Ausprägung (Minusvariante) desFrontalhirnsyndroms imponiert durch Antriebslosigkeit,mangelnde Eigeninitiative, ineffektive und nachlässige Ar-beitshaltung, affektive Indifferenz, schwerfälliges Denkenund eine reduzierte Psychomotorik. Sie ähnelt depressivenZustandsbildern. Stuss u. Benson (1986) gehen davon aus,daß prämorbide Persönlichkeitsmerkmale bei der Akzen-tuierung des Syndroms eine wesentliche Rolle spielen. Folie 4 Kognitive Leistungen Unvermögen, Umweltreize zur Verhaltensmodifikation zu benutzen, d.h. etwa aus Fehlern zu lernen. Sie „kleben“ hartnäckig an einer einmal gewählten Strategie, auch wenn sich diese eindeutig als falsch oder ineffektiv erweist. )Messbar mit dem Wisconsin-Card-SortingTest (WCST) oder dem „STROOP“-Test Kognitive LeistungenUmweltunabhängigkeit versus -abhängigkeitDas häufigste kognitive Symptom nach Frontalhirnschädi-gung ist das Unvermögen, Umweltreize zur Verhaltensmodifikation zu benutzen, d. h. etwa aus Fehlern zu lernen oder beispielsweise in einer Testsituation aufgrund von Rückmeldungen einen Wechsel der Antwortstrategie oder des Lösungsverhaltens vorzunehmen. Frontalhirnbeein- trächtigte neigen zur Perseveration: Sie "kleben" oder "haf- ten" hartnäckig an einer einmal ge ählten Strategie, auch wenn sich diese eindeutig als falsch oder ineffektiv erweist.Messen kann man perseveratives Verhalten mit dem Wis-consin-Card-Sorting-Test (WCST) oder dem "Stroop"Test. Lernen Folie 5 Kognitive Leistungen Assoziatives Lernen, Lernen einer differentiellen Reaktion ist schon bei nur zwei (!) unterschiedlichen Reizen beeinträchtigt. Das assoziative Lernen (etwa Lernen von Wortpaaren, Ge-sichter-Namen-Assoziation) und das Lernen einer differentiel-len Reaktion ist schon bei nur zwei (!) unterschiedlichen Reizen beeinträchtigt (Luria u. Homskaya 1964; Petrides 1982). Folie 6 Arbeitsgedächtnis Leistungsbeeinträchtigung des Kurzzeitspeichers Probleme bei der Erinnerung der Darbietungsreihenfolge von Reizen Die Zeitgestalt wird nicht erfaßt Defizite des Arbeitsgedächtnisses Frontalhirnpatienten zeigen Leistungsbeeinträchtigungen des Kurzzeitspeichers: Der Frontallappen braucht für seine Aufgabe der zeitlichen Integration des Verhaltens eine Aufzeichnungsmöglichkeit für gerade beendete Geschehensab-läufe. Genau das ist bei frontalen Dysfunktionen nicht gege-ben: Zwar können Einzelelemente wiedererkannt werden,jedoch versagt der Proband in der Erinnerung der Darbie-tungsreihenfolge von Reizen. Die Zeitgestalt wird nicht er-faßt. Außerdem haben Patienten Schwierigkeiten bei Ver-zögerten-Antwort-Aufgaben (delayed-response), weil der kritische Reiz nicht mehr zeitlich zugeordnet werden kann. Folie 7 Schätzleistungen Ab einer Rate von mehr als fünf Wiederholungen entstehen starke Defizite. Strategisches Verhalten Probleme bei der Antwortabfolge und Aufrechterhaltung einer einmal gewählten Strategie Schätzleistungen Bei der Schätzung der Auftrittshäufigkeit eines Reizes in-nerhalb einer Stimulusserie zeigen Frontalhirnpatienten ab einer Rate des kritischen Reizes von mehr als fünf Wiederholungen starke materialspezifische Defizite (linksfrontal eher sprachbezogen, rechtsfrontal eher räumlich-visuell). Strategisches Verhalten Bei der Organisation einer Antwortabfolge und der Auf-rechterhaltung einer einmal gewählten Strategie (Aufstel-lung und Durchführung eines Gesamtplanes) haben Frontalhirnpatienten Probleme: In einem Experiment von Petrides u. Milner (1982) hatten die Probanden entweder keine Strategie entwickelt (Angabe durch Selbstprotokoll), oder aber die gewählte Strategie war ungeeignet oder in- konsistent angewendet worden. Folie 8 Intelligenz Fehlende Wortflüssigkeit Drastischer Leistungseinbruch bei divergentem Denken (z.B. multiplechoice-Intelligenzmessungen) Kaum Beeinträchtigungen bei konvergentem Denken (nur eine richtige Antwort auf eine Frage) Intelligenz Milner (1964) und Ramier u. Hecaen (1970) fanden unter- durchschnittliche Leistungen in der Wortflüssigkeit (vermin- derte Spontansprache) und in der Produktion abstrakter Formen. Bei Aufgaben, die divergentes Denken (es sind mehrere, unterschiedliche Antworten auf eine Frage möglich) erfor-dern, etwa Mehrfachwahlaufgaben und multiple-choiceIntelligenzmessungen, ist nach Zangwill (1966) ein drasti-scher Leistungseinbruch zu erwarten. Bei traditionellen In-telligenztests, die eher konvergentes Denken (nur eine richtige Antwort auf eine Frage) erfordern, finden sich demgegenüber kaum Beeinträchtigungen. Folie 9 Sprache Stereotype Sätze (Berge sind sehr hoch.) Konfabulationen Einfache und unvollständige Sätze Sprache Kaczmarek (1984;1987) fand bei spontanen Erzählungen Frontalhirngeschädigter oft stereotype Sätze (z.B. "Berge sind sehr hoch"); Konfabulationen sind ein ebenso häufiger Fehlertyp. Außerdem verwenden Frontalhirnpatienten häufiger einfache und unvollständige Sätze und perseverie- ren den ersten Satz einer Nacherzählung. Konfabulation oder konfabulieren ist eine Variation der Unwahrheit ohne bewußte Absicht mit fester und anhaltender Überzeugung, daß keine Erinnerungslücken vorliegen und die Geschichte (fabula) so stimmt, während sie tatsächlich nachträglich "hinzugedichtet" wurde, um die Erinnerungslücke zu schließen. Während ein Symptomträger der Pseudologia phantastica nur im "Augenblick" der Erzählung von der Wahrheit und Richtigkeit überzeugt ist, bleibt der Konfabulierende bei seiner Geschichte. Konfabulationen dürfte es vielfach auch bei Gesunden geben. Besondere Aufmerksamkeit hat sie bei organisch bedingten (Abbau) Prozessen bekommen, z.B. beim amnestischen Korsakow-Syndrom. Eine besondere Rolle spielen Konfabulationen auch im Bereich der forensischen Psychologie und Psychopathologie, besonders bei der Psychologie der Aussage oder der Aussagepsychologie, was dort zu der auch 2004 noch anhaltenden Kontroverse um das sog. False-Memory-Syndrom führte Korsakow-Syndrom Bei dauerhaftem Alkoholismus kommt es zum Absterben ganzer Hirnregionen. Charakteristisch sind drei Symptome: (1) Verlust des Kurzzeitgedächtnisses. Betroffene Patienten können sich keine neuen Informationen mehr merken, sie vergessen alles. Hingegen ist das Altgedächtnis weniger stark betroffen. (2) Desorientiertheit und (3) Konfabulation: Verloren gegangene Erinnerungen werden durch frei assoziierte und erfundene sprachliche Produktionen ersetzt. Folie 10 Schemata und Scripte Probleme bei „Nicht-Routine-Handlungen“ Inadäquate Spontanhandlungen, die weder inhaltlich noch zeitlich angemessen sind. Impulsives, vorschnelles Handeln Eingeschränkte Produktion von (Teil-) Lösungen • kein zielgerichtetes Handeln • unzureichende Extraktion der relevanten Informationen • Extraktion der relevanten Merkmale / Teilpläne ohne nachfolgende Handlungskonsequenzen • "Haften" an (irrelevanten) Details • mangelhafte Umstellungsfähigkeit bzw. Perseveration vorausgegangener Handlungsschritte • "Rationalisierungen" beim Auftreten von Schwierigkeiten mit der Testdurchführung • mangelhaftes Lernen aus Fehlern • mangelhafte Entwicklung von Alternativplänen • Regelverstöße • mangelhafte Koordination von Teilplänen • zunehmende Ungenauigkeit der Planung im Testverlauf • Einsatz von planungsirrelevanten Routinehandlungen Schemata und Skripte Nach Shallice (1982) und Grafman (1989) sind bei Frontal-hirnschädigung Wissenseinheiten betroffen, die Nicht-Rou-tine-Handlungen betreffen. Dadurch kommt es zu inadä-quaten Spontanhandlungen, die weder inhaltlich noch zeitlich angemessen sind. Von Cramon (1988) gibt eine Zusammenstellung typischer kognitiver "Fehler" von Patienten mit frontalen Hirnschädi-gungen bei neuropsychologischen Untersuchungen: • impulsives, vorschnelles Handeln • eingeschränkte Produktion von (Teil-) Lösungen • kein zielgerichtetes Handeln • unzureichende Extraktion der relevanten Informationen • Extraktion der relevanten Merkmale / Teilpläne ohne nachfolgende Handlungskonsequenzen • "Haften" an (irrelevanten) Details • mangelhafte Umstellungsfähigkeit bzw. Perseveration vorausgegangener Handlungsschritte • "Rationalisierungen" beim Auftreten von Schwierigkeiten mit der Testdurchführung • mangelhaftes Lernen aus Fehlern • mangelhafte Entwicklung von Alternativplänen • Regelverstöße • mangelhafte Koordination von Teilplänen • zunehmende Ungenauigkeit der Planung im Testverlauf • Einsatz von planungsirrelevanten Routinehandlungen Diese Art von für Patienten mit Frontallappenschädigung typischen Fehlern lassen nach Milner (1963) auf eine Störung des abstrakten und problemlösenden Denkens, fehlende Planung, unzulängliche Strategiebildung, mangeln-de Flexibilität und Rigidität schließen, ohne daß daraus notwendigerweise reduzierte Leistungen bei konventionel- len Intelligenztests (Kolb u. Whishaw, 1993) resultieren. Folie 11 Planen und Problemlösen Aus Vergangenem lernen und für die Zukunft antizipieren. Anpassungen an wechselnde Umweltbedingungen steuern und obtimierung. Planen und Problemlösen Um seine Existenz meistern zu können, ist die Fähigkeit zum Planen und Problemlösen für den Menschen als "instinktre- duziertes Wesen" (Gehlen,1974) zu einer überlebenswichtigen Notwendigkeit geworden. Seine Anpassungsmechanis - men an die Umwelt sind nicht mehr bloße automatische Reiz-Reaktions-Kopplungen (wie im Tierreich), sondern durch "Geist" oder "Intellekt" gekennzeichnet, die den Menschen erst zu einem homo sapiens machen. Als solcher ist er aktiv in der Lage, aus Vergangenem zu lernen und Zukünftiges zu antizipieren. Er kann selbständig die Anpas-sung an wechselnde Umweltbedingungen steuern und opti-mieren. Er ist frei zu wählen. Ein alltägliches Beispiel: Was denken Sie etwa, wenn Sie feststellen, daß Ihr Kühl- schrank leerer geworden ist? Vermutlich, daß Sie einkaufengehen sollten. Sie stellen eine Liste auf, was fehlt und was Sie benötigen, nehmen Ihren Einkaufskorb, Ihr Portemon-naie und gehen los. Über das weitere Vorgehen machen Sie sich wahrscheinlich keine großartigen Gedanken: Sie haben schon häufig eingekauft und derartig alltägliche Dinge wie Lebensmittel - das können Sie im Schlaf. Tatsächlich sind Sie, auch wenn es Ihnen nicht bewußt ist, auf "höhere" kognitive Funktionen angewiesen: Sie müssen den Einkauf planen. Da Sie schon sehr oft einkauft haben, verfügen Sie über ein Muster oder besser ein Skript zu die- ser Tätigkeit in ihrem Gedächtnis. Sie wissen, wie Sie vor- gehen und müssen nicht - wie es Vaterrodt (1992) z. B. beim Kauf einer Hose darstellt - den gesamten Vorgang in 31 Einzelschritte zerlegen. Aber auch wenn es hier um ei- ne alltägliche Handlung geht, die Sie nach einem bestimm- ten Skript (jedesmal) durchführen, müssen Sie bei der ge- ringsten Abweichung Ihren viel globaleren Plan vom "Einkauf als solchem" in Ihr Gedächtnis rufen. Sie vollziehen nicht nur Ihr Skript, das prinzipiell keine höheren kogniti- ven Funktionen benötigt, sondern Sie handeln zielbewußt: Einkaufen ist kein Selbstzweck. Um Ihr Ziel zu erreichen -den Kühlschrank zu füllen müssen Sie planen. Ein Plan darf aber nicht nur diesen einen Aspekt berücksichtigen, er muß auch Eventualitäten einbauen können. Es könnte etwa zufällig ein Nachbar am gleichen Regal vorbeikommen, Sie in ein Gespräch verwickeln und vom Einkaufen ablenken. Das zeigt sowohl die Dynamik eines Plans, als auch die so- ziale Komponente. Das Beispiel Einkauf läßt sich auf weite- re Determinanten eines Plans ausbauen: u. a. auf die Moti- vstruktur (Kaufen Sie mehr und/oder schneller ein, wenn Sie Hunger haben?), die Emotionen (Fühlen Sie sich nach ei- nem Lächeln der gutaussehenden Obstverkäuferin oder ih-res männlichen Kollegen beschwingter und ausgabefreudi- ger?) und auf die Motivation (Gehen Sie gerne samstags vormittags einkaufen, wenn die Schlange an der Kasse be- sonders lang ist?). So anschaulich ein Einkauf auch für alltägliche Handlungen sein mag, wir planen durchaus auch Dinge von größerem Umfang: Wir planen z.B. einen Umzug, eine Hochzeit, die berufliche Laufbahn usw. Das heißt, die Bandbreite des Planens reicht von "Daseinsthemen" (Thomae 1968), über aktuelle Anlie- gen ("Current Concerns" gemäß Klinger, 1981, 1987) bis zu den "Scripts" (vgl. Schank u. Abelson, 1977), den "Drehbü- chern" für alltägliche Handlungen.Planen wird, wie bereits dargestellt, als eine Funktion des Frontalhirns angesehen und dieses kann nach langjährigem Alkoholabusus stark geschädigt sein. Planen Alkoholiker al- so schlechter? Stehen ihnen weniger Skripte zur Verfü- gung? Und, wenn dem so ist, wäre dann ein Training hilf-reich? Folie 12 Ist Planen trainierbar? Ist Planen und Problemlösen bei chronisch Alkoholabhängigen trainierbar ? In einer Studie an einer Klientenstichprobe von 29 Männern und 12 Frauen des soziotherapeutischen Heimes Haus Eller und des Therapiezentrums für psychosoziale Rehabilitation (TPR) Köln wurde untersucht. • die Planungs- und Problemlösekompetenz chronisch Alkoholabhängiger und • die Frage, ob diese, durch Alkoholmißbrauch beeinträchtigten kognitiven Funktionen durch gezielte therapeutische Interventionen verbessert werden können, Eingesetzt wurden drei verschiedene intelligenzdiagnosti- sche Verfahren sowie der Syndromkurztest. Neben einem klassischen Frontalhirntest wurden zwei weitere Planungstests durchgeführt, von denen der eine das abstrakte Planungsvermögen messen sollte während der andere sich ganz konkret auf Alltagssituationen bezieht, die dem realen Lebenskontext der Klienten entsprechen. Die Klienten waren zum Zeitpunkt der Untersuchung bereits seit mehreren Monaten abstinent. Von den 41 ausgewählten Probanden erhielten 21 nach dem Zufallsprinzip ausgesuchte Klienten ein vierwöchiges Training. Die Kontrollgruppe blieb ohne Training. Um die möglichen Effekte des Training überprüfen zu können, wurde eine abschließende Erhebung mit allen 41 Klienten durchgeführt. Verwendete Testverfahren Intelligenztests Da chronisch Alkoholabhängige im Hinblick auf Intelligenzleistungen in der Regel ein asymmetrisches Bild zeigen, wurden drei Intelligenztests verwendet: Der WIP (Reduzierter Wechsler-Intelligenztest) ist eine verkürzte Fassung des Hamburg Wechsler Intelligenz Tests (HAWIE). Der auch auf die aktuelle und allgemeine Intelligenz ausgerichtete WIP (Dahl, 1986) besteht aus einem Subtest "Allgemeinen Wissen", der Bildungseinflüssen unterliegt, desweiteren zwei räumlich-visuellen Tests sowie einem weiteren, der organisatorische und synthetische Fähigkeiten überprüft. Im WIP findet sich ein Verbal- und ein Handlungsteil. Besteht zwischen diesen Teilen eine deutliche Diskrepanz, so kann dies als vorsichtiger Hinweis auf das Vorliegen eines hirnorganischen Psychosyndroms interpretiert werden. Der MWT-B (Mehrfachwahl-Wortschatz-Test), entwickelt von Lehrl u.a. (1971) ist ein rein sprachlicher Intelligenztest. Da sprachliche Fähigkeiten bei Alkoholabhängigen relativ resistent gegenüber hirnorganischen Veränderungen sind, wird der MWT-B häufig auch zur Bestimmung der prämorbiden Intelligenz verwendet. Ravenís SPM (Standard Progressive Matrizen) gelten als sprach-, bildungs- und kulturunabhängiges Diagnoseinstrument zur Erfassung des generellen intellektuellen Leistungsniveaus. Sie haben jedoch den Nachteil, daß sie neben Arbeitsgedächtnis und Problemlösekompetenzen sehr stark das räumlich-visuelle Vorstellungsvermögen ansprechen, die bei Alkoholabhängigen oft in stärkerem Umfang beeinträchtigt sind als etwa sprachliche. Insofern sind Alkoholabhängige bei der Anwendung dieses Verfahrens "benachteiligt" Screening Test für hirnorganische Veränderungen Der SKT (Syndromkurztest) von Erzigkeit (1977, 1986) ist als schnelle Diagnosehilfe bei Durchgangssyndromen gedacht, um innerhalb von ca. zehn Minuten den Schweregrad des Krankheitsbildes bestimmen zu können. Das Verfahren eignet sich insbesondere für Verlaufsuntersuchung und zur Kontrolle hirnorganischer Psychosyndrome und dementieller Erkrankungen. Planungstests Der Wisconsin-Card-Sorting-Test (WCST) wurde ursprünglich (Berg, 1948) als Test zur Erfassung des abstrakten Denkens und der Flexibilität des Denkprozesses bei hirngesunden Erwachsenen konzipiert. Er findet heute weltweiten Einsatz in der Entwicklungspsychologie, in der klinischen Neuropsychologie und Psychiatrie. Der WCST gilt als besonders sensitives Verfahren zur Diagnose von Stirnhirnfunktionen. In unserer Untersuchung wurde die Computerversion eingesetzt. Der Turm von Hanoi (TvH) erfaßt komplexe Planungsprozesse, bei der verschiedene mögliche Handlungsoptionen erkannt und auf Brauchbarkeit hinsichtlich zu erreichender Zwischenziele und eines anzustrebenden Zielzustandes überprüft werden müssen. Hier wurde ebenfalls die Computerversion verwendet. Der Skript-Monitoring-Test (SMT) von Funke und Grube-Unglaub (1992) ist ein videogestütztes Verfahren zur Erfassung der drei planerischen Teilleistungen "Planüberwachung", "Fehlerdiagnostik" und "Abfolgen erkennen". Der Vorteil gegenüber anderen planungsdiagnostischen Verfahren ist seine Alltagsorientierung und Alltagsnähe. Wesentliche und zentrale Elemente des SMT sind die sog. "Skripts", kognitive Repräsentationen, "Drehbücher" oder Aktionspläne für Situationen wie Einkaufen, Restaurantbesuche, Kaffeekochen oder Sex, die bei gesunden Personen quasi-automatisch ablaufen. Die Aufgabe der Probanden besteht darin, einzelnen filmische Sequenzen, etwa der Alltagshandlung "Kaffeekochen", in denen der Protagonist fehlerhafte oder fehlerfreie Handlungen durchführt, innerhalb der drei genannten Dimensionen zu beurteilen. Der Proband soll dem Versuchsleiter anzeigen, wenn ihm ein Fehler im Handlungsablauf auffällt (Planüberwachung), im Anschluß an die Darbietung ein Urteil darüber abzugeben, ob die dargestellte Handlung korrekt oder fehlerhaft war (Fehlerdiagnostik) und die Einschätzung darüber, wie es im Anschluß an die zuletzt dargebotene Szene weitergehen könnte (Abfolgen erkennen). Dieses Verfahren bildete das Kernstück der Untersuchung, weil er sowohl zu diagnostischen, als auch zu Trainingszwecken eingesetzt wurde. Durchführung der Untersuchung Zunächst wurde bei allen Probanden die Basiserhebung mit den genannten diagnostischen Verfahren durchgeführt, die den aktuellen Leistungsstand der 41 VPn feststellen sollte. Sodann erfolgte mit einem Teil der Versuchspersonen (21 VP als Experimentalgruppe) ein vierwöchiges Training. In einer anschließenden, dem Vortest vergleichbaren Testserie wurde überprüft, ob sich signifikante Unterschiede zwischen Experimental- und Kontrollgruppe zeigen. Dies würde bedeuten, daß evtl. bestehende Defizite im Planungsverhalten Alkoholabhängiger durch gezieltes Training gemildert werden könnten. In diesem Falle könnten Klienten in Teilbereichen verlorengegangene Selbständigkeit, Unabhängigkeit und Autonomie wiedererwerben. Erste Ergebnisse Es wurden 29 Männer und 12 Frauen mit einem Durchschnittsalter von 46.05 Jahren untersucht. Intelligenztests Die Klienten verfügten bei der Untersuchung mit dem WIP über einen durchschnittlichen Intelligenzquotienten. Der durchschnittliche WIP-IQ Wert betrug 96.79, es zeigten sich keine signifikanten Unterschiede zwischen Experimental- und Kontrollgruppe. Nur in wenigen Fällen zeigte sich eine Minder- bzw. Hochbegabung (79-129). Der Mittelwert des rein sprachlichen MWT-B lag mit 103.48 erwartungsgemäß höher als der WIP-Wert. Auch hier zeigten sich keine Unterschiede in den Gruppen. Da der RavenTest räumlich-visuelle Leistungen voraussetzt, schnitten die Probanden hier erwartungsgemäß schlechter ab als im MWT-B und im WIP. Die transformierten IQ-Werte ergaben ein Mittel von 92.55. Frontalhirntests Im Wisconsin-Card-Sorting-Test zeigten sich nach den von Canavan et al. (1989) formulierten Kriterien bei etwa einem Drittel der Klienten Hinweise auf das Vorliegen einer Frontalhirnbeeinträchtigung. Den meisten gelang es nicht, ein einmal gewähltes Antwortverhalten aufzugeben, Kategorien zu wechseln und Fehlerrückmeldungen für ihr weiteres Verhalten zu nutzen. Syndrom-Kurztest Im SKT zeigten sich besonders im unmittelbaren Reproduzieren schwache Leistungen, die oft kaum 50% der Items der Stimulusserie erreichten; das mittelbare Reproduzieren war nur wenig besser, die Wiedererkennensleistung erwartungsgemäß höher als die Reproduktionsleistung. In der Subskala "Interferenz" waren die Leistungen besonders schlecht, was den Erwartungen entspricht, da Alkoholabhängige als besonders interferenzanfällig gelten. Der SKTMittelwert betrug 9.525, was nach den Klassifikationskriterien von Erzigkeit (1986) einem leichten hirnorganischem Psychosyndrom entspricht. Lediglich bei 5 Patienten (12,2%) kann nach diesen Kriterien ein hirnorganisches Psychosyndrom ausgeschlossen werden, 5 (12,2%) weisen ein fragliches oder leichtes, 13 (31,7%) ein leichtes, 16 (39,0%) ein mittelschweres und 2 (4,9%) ein schweres hirnorganisches Psychosyndrom auf. Planungstests Die Probanden erreichten im Turm von Hanoi Test einen Wert von durchschnittlich 37,6 Damit liegen sie nach den von Matthes (1988) und von Cramon & Matthes-von Cramon (1993) vorgeschlagenen Auswertungskriterien im Grenzbereich zwischen guten und schlechten "Problemlösern". Im Unterschied zu der Studie von Matthes hatten die Patienten in unserer Untersuchung jedoch die Gelegenheit, fünf zusätzliche Übungsdurchgänge mit geringeren Anforderungen vor dem eigentlichen Test zu machen. In einem Pilottest hatte sich gezeigt, daß Probanden ohne Übung mit der leichteren Version kaum in der Lage waren, den Test durchzuführen. Insofern waren die Probanden in der vorliegenden Untersuchung zusätzlich "begünstigt". Skript-Monitoring-Test (SMT): Beim Kriterium "Planüberwachung" zeigten die Klienten im Vergleich zu den übrigen Skalen gute Leistungen, jedoch hingen die Antworten vom Schwierigkeitsgrad der gezeigten Hinweisreize im Skript ab: Je offensichtlicher und eindeutiger eine Handlung war, desto schneller und besser gelang die Plankontrolle. Das Kriterium "Fehlerdiagnostik" ergab ein ähnliches Antwortmuster. Nicht so die Skala "Abfolgen erkennen": Hier zeigten sich, auch bei sonst guter/sehr guter Leistung in den anderen beiden Dimensionen enorme Schwierigkeiten, da teilweise nur bis zu einem Fünftel (!) der geforderten Antworten gegeben werden konnten. Training Im Training mit dem Skript-Monitoring-Test (SMT) wurden zu jeder Sitzung verschiedene Szenen dargeboten, um einen Lerneffekt in bezug auf eine bestimmte Sequenz zu vermeiden. Ebenso wurden andere Sequenzen verwendet als in den Vor- und Nachuntersuchungen. So wurden die Probanden jedesmal mit für sie neuen Handlungssequenzen konfrontiert, die hinsichtlich der drei planerischen Teilleistungen "Planüberwachung", "Fehlerdiagnostik" und "Abfolgen erkennen". zu bearbeiten hatten. Es zeigte sich im Laufe des Trainings eine Verbesserung in der Handhabung der Aufgabe: Ab der dritten Sitzung brauchten die Instruktionen nicht mehr gegeben werden, die Probanden wußten bereits, um was es ging. Es stellte sich jedoch insgesamt kein linearer Leistungszuwachs ein: Die Klienten zeigten ein ähnliches Muster wie in der Pre-Test-Phase. Nur in der Skala "Abfolgen erkennen" waren bis zum Ende des Trainings leichte Verbesserungen zu verzeichnen. Post-Testung In der Nachuntersuchung wurden bis auf die Intelligenztests die gleichen Verfahren eingesetzt wie im Pretest. Gedächtnis und Interferenz In den Leistungen des Syndrom-Kurztestes ergaben sich zwischen Pre- und Posterhebung keine nennenswerte Unterschiede: Unmittelbare und mittelbare Gedächtnis- sowie Wiedererkennensleistung und Interferenzneigung blieben relativ konstant. Es zeigten sich keine Unterschiede zwischen Experimentalgruppe und Kontrollgruppe. Das Training hatte keinen Effekt auf die hier erfaßten Leistungsbereiche. Frontalhirntest Das Lösungsmuster der Pre-Testung wurde im wesentlichen auch in der Post-Testung aufrechterhalten. Die Anzahl der korrekten Lösungen, perseverativer und nichtperseverativer Fehler sowie die Anzahl der vollendeten Kategorien unterschieden sich nicht signifikant von den Werten im Vortest. Es zeigt sich kein Trainingseffekt auf die hier untersuchten Leistungen. Planungstests (Turm von Hanoi): Hier zeigte sich ebenfalls kein Trainingstransfer; die Lösungsmuster der Pre- und Posttestung waren einander sehr ähnlich. Nur innerhalb einer Testsitzung waren qualitative Verbesserungen und Zeitersparnis zu verzeichnen. Skript-Monitoring-Test (SMT): Hier zeigten sich Trainingseffekte : die trainierten Klienten verbesserten sowohl ihre Leistungen in den Kategorien "Planüberwachung" und "Fehlerdiagnostik", aber ganz besonders in der Kategorie "Abfolgen erkennen". Die Kontrollgruppe zeigte keine signifi- kanten Verbesserungen. Diskussion und Ausblick Bei den Planungstests zeigt sich eine Abhängigkeit der Leistungen vom zeitlichen Umfang und Komplexitätsgrad der Aufgabe. Bei einfachen und zeitlich wie inhaltlich überschaubaren Aufgaben ist Strategiebildung möglich. Bei Aufgabenwechsel und Erhöhung des Schwierigkeitsgrades zeigt sich eine deutliche Perseverationsneigung, d.h. die Probanden bleiben auch dann bei ihrer einmal gewählten und "erfolgreichen" Lösungsstrategie, wenn sie nicht mehr "paßt", sie kleben an dem, was sie können und sind nicht in der Lage, ihr Verhalten einer geänderten Situation anzupassen. Die besseren Ergebnisse der Experimentalgruppe im Skript-Monitoring-Test (SMT) zeigen, daß eine Verbesserung von Teilleistungen, die für effektivere Handlungsplanung und effektives Problemlöseverhalten Voraussetzungen sind, durch gezielte therapeutische Interventionen erreicht werden kann. Es wird aber auch deutlich, daß diese Verbesserungen sehr "domänenspezifisch" sind. Sie beschränken sich im wesentlichen genau auf die trainierten Fähigkeiten und Fertigkeiten, eine Generalisierung auf vergleichbare Planungskompetenzen zeigt sich kaum. Insofern ist auch kein bedeutsamer Transfer auf das "wirkliche Leben" zu erwarten. Die Ergebnisse der Studie sprechen unseren Erachtens für noch mehr Alltagsnähe der Methoden zur kognitiven Rehabilitation unserer Patienten. Sie zeigen, daß bei den von uns untersuchten Probanden durch gezielte Maßnahmen Lernprozesse initiiert werden konnten. Da aber offensichtlich keine globale Generalisierung stattfindet, sollte die Konsequenz für die Arbeit mit den Klienten sein, daß bei jedem einzelnen festgestellt wird, welche Fähigkeiten er wirklich und am dringendsten braucht. Für verschiedene unserer amnestischen und desorientierten Bewohner wäre es schon eine erhebliche Erweiterung ihres Handlungsspielraumes und ihrer Autonomie, wenn sie sich im Haus besser zurechtfinden würden und den Weg zum nächsten Aldi- Geschäft alleine finden und gehen könnten. Genau auf solche wesentlichen alltagsrelevanten Kompetenzen sollten wir dann auch angesichts knapper Ressourcen unsere therapeutischen Bemühungen konzentrieren. Dabei scheint keine Methode effektiver zu sein als "learning by doing". Leider findet ein Klient, der auf dem Computerbildschirm den Weg in einem Labyrinth meistert, noch lange nicht den Weg von Haus Remscheid zum nächsten Supermarkt ("the map is not the territory"). Hier scheint es erfolgversprechend, Verfahren zu entwickeln und anzuwenden, die effektiveres Lernen und Lernen ohne Fehler ermöglichen. Zur Zeit werden im Rahmen einer kontrollierten Studie die Effekte der "errorless learning" Methode bei Alkoholabhängigen untersucht. Es handelt sich um eine Verfahrensweise, die Mißerfolge und Frustrationen weitgehend vermeidet, die Motivation des Patienten erhöht und dadurch zu besseren Lernergebnissen kommt. Erste Erfahrungen mit diesem Ansatz sind ermutigend und vielversprechend. Folie 13 Frontalhirnsyndrom – FASD? Durch Alkohol und andere psychotrope Substanzen verursachte Störungen der Hirnfunktion, die dem Wesen nach zu dieser Gruppe gehören, werden an anderer Stelle klassifiziert (F10 - F19). Interventionen und Behandlung können aber weitgehend den weiter unten aufgeführten Leitlinien entsprechen. 1.1 Definition Das Krankheitsbild umfasst psychische Krankheiten mit nachweisbarer Ätiologie in einer zerebralen Krankheit, einer Hirnverletzung oder einer anderen Schädigung, die zu einer Hirnfunktionsstörung führt. Die Funktionsstörung kann primär sein, bei Krankheiten, Verletzungen oder Störungen, die das Hirn direkt oder in besonderem Maße betreffen; oder sekundär, z.B. bei Systemerkrankungen oder Störungen, die auf das Gehirn nur als eines von vielen anderen Organen oder Körpersystemen übergreifen. Wesentliches Merkmal der Störung sind auffällige und tiefgreifende Veränderungen gegenüber dem prämorbiden Verhalten, die sich auf kognitive Fähigkeiten, Affektlage, Bedürfnisse und Handlungen beziehen. Die Veränderungen können sich stärker auf den kognitiven Bereich erstrecken und äußern sich dann in einer Unfähigkeit oder reduzierten Fähigkeit, eigene Handlungen zu planen und ihre wahrscheinlichen Konsequenzen vorauszusehen, wie beim sog. Frontalhirnsyndrom. Sie können sich aber auch überwiegend im emotionalen Bereich manifestieren, wobei emotionale Labilität, Stimmungsumschwünge, Reizbarkeit, Wut und Aggressionszustände oder auch Apathie im Vordergrund stehen. Durch Alkohol und andere psychotrope Substanzen verursachte Störungen der Hirnfunktion, die dem Wesen nach zu dieser Gruppe gehören, werden an anderer Stelle klassifiziert (F10 - F19). Interventionen und Behandlung können aber weitgehend den weiter unten aufgeführten Leitlinien entsprechen. Folie 14 Leitsymptome Mangelndes Durchhaltevermögen Verändertes emotionales Verhalten – Labilität sofortige Bedürfnisbefriedigung Kognitive Störungen wie z.B. Mißtrauen, paranoides Denken Veränderung in der Sprachproduktion Sexualverhalten 1.2 Leitsymptome Organische Persönlichkeitsstörungen. Der zeitliche Zusammenhang der Persönlichkeitsveränderung mit einer Hirnerkrankung, Hirnschädigung oder Hirnfunktionsstörung muss gegeben sein oder wahrscheinlich gemacht werden können. Darüber hinaus gründet sich die Diagnose auf mindestens zwei der folgenden Merkmale: Andauernd reduzierte Fähigkeit, zielgerichtete Aktivitäten über längere Zeiträume durchzuhalten und Befriedigungen aufzuschieben Verändertes emotionales Verhalten, das durch emotionale Labilität, flache und ungerechtfertigte Fröhlichkeit (Euphorie, inadäquate Witzelsucht) und leichten Wechsel zu Reizbarkeit oder kurz andauernden Ausbrüchen von Wut und Aggression charakterisiert ist; in manchen Fällen kann Apathie mehr im Vordergrund stehen Äußerungen von Bedürfnissen und Impulsen meist ohne Berücksichtigung von Konsequenzen oder sozialen Konventionen (der Patient kann unsoziale Handlungen begehen wie Stehlen, unangemessene sexuelle Annäherungsversuche, gieriges Essen oder die Körperpflege vernachlässigen) Kognitive Störungen in Form von Misstrauen oder paranoidem Denken und/oder exzessiver Beschäftigung mit einem einzigen, meist abstrakten Thema (z.B. Religion, Recht und Unrecht) Auffällige Veränderungen in der Sprachproduktion und des Redeflusses, Umständlichkeit, Begriffsunschärfe, zähflüssiges Denken und Schreibsucht Verändertes Sexualverhalten (verminderte Sexualität oder Wechsel in der sexuellen Präferenz). Dazugehörige Begriffe sind: Frontalhirnsyndrom, Leukotomiesyndrom, Lobotomiesyndrom, organische Pseudopsychopathie, organische pseudoretardierte Persönlichkeit, Persönlichkeitsstörung bei limbischer Epilepsie. Postenzephalitisches Syndrom (F07.1). Führendes Merkmal ist eine häufig bleibende Verhaltensänderung nach einer viralen oder bakteriellen Enzephalitis, die, je nach Alter und Entwicklungsstand, interindividuell variabel ist und, je nach Erreger, auch unterschiedlich verlaufen kann. In manchen Fällen ist die Symptomatik auch teilweise oder ganz reversibel, was einen Unterschied zur organischen Persönlichkeitsstörung darstellt. Im Einzelnen sind folgende Symptome für die Störung charakteristisch: Allgemeines Unwohlsein, Apathie oder Reizbarkeit Einschränkung kognitiver Funktionen, die sich als Tempoverlangsamung und Lernstörung bemerkbar macht Veränderung vegetativer Funktionen (Ess-, Schlaf- und Sexualverhalten) Deutliche Einschränkung der sozialen Anpassung und der sozialen Urteilsfähigkeit Bleibende neurologische Funktionsstörung wie Lähmung, Taubheit, Aphasie, Apraxie oder Akalkulie Folie 15 Diagnosen Folie 16 Frontalhirnsyndrom, Leukotomiesyndrom, Lobotomiesyndrom, organische Pseudopsychopathie, organische pseudoretardierte Persönlichkeit, Persönlichkeitsstörung bei limbischer Epilepsie. Frontalhirnsyndrom: oft psychische Auffälligkeiten, Hyper- oder Hypoaktivität Hirnorganisches Psychosyndrom: psychische Störung aufgrund körperlicher Veränderungen im Gehirn. Folie 17 Auswahl des InterventionsSettings 4.1 Auswahl des Interventions-Settings Die Auswahl des Interventions-Settings ist abhängig von den zu erwartenden zeitlichen Rahmenbedingungen (Krisenintervention oder langfristige Behandlung) dem Schweregrad der Störung (bestimmt durch das Vorliegen neurologischer Ausfallserscheinungen, das kognitive Leistungsniveau und das Niveau der psychosozialen Anpassung an die jeweilige Lebenssituation) dem Alter und Entwicklungsstand des Patienten den vorhandenen familiären Ressourcen. Ein höherer Schweregrad der Störung bedingt in der Regel auch intensivere therapeutische Maßnahmen, die oft nur in teil- oder vollstationären Einrichtungen erbracht werden können. Die Entscheidung zwischen Klinik und Rehabilitationseinrichtung ist in Abhängigkeit von zeitlicher Perspektive und erforderlicher Behandlungsintensität zu treffen. Indikationen für eine stationäre kinder- und jugendpsychiatrische Aufnahme Diagnostische Abklärung mit Einleitung weitergehender Behandlungsmaßnahmen Krisenintervention bei akuter Fremd- oder Selbstgefährdung Intensive Behandlung definierter Symp-tombereiche, die in vertretbarer Zeit Erfolg versprechend durchgeführt werden kann. Folie 18 Intervention Je nach Auffälligkeitsart und Zielsymptomatik empfiehlt sich ein multimodales Vorgehen. Zielbereiche: Kognitiver Bereich Emotionaler Bereich Sozialverhalten Impulskontrolle Vegetative Symptome Neurobiologische ausfallserscheinungen und neuropsychologische Syndrome Psychotherapie 4.2 Hierarchie der Behandlungsentscheidung und Beratung Je nach Auffälligkeitsart und Zielsymptomatik empfiehlt sich ein multimodales Vorgehen. Das übergeordnete Ziel aller Maßnahmen ist, die jeweiligen Patientinnen und Patienten in die Lage zu versetzen, ihren alterstypischen Aufgaben gerecht zu werden. Im Einzelnen geht es dabei um die Förderung in folgenden Zielbereichen: Kognitiver Bereich. Bei im Vordergrund stehenden Störungen in diesem Bereich können, je nach Alter, Entwicklungsstand und Schweregrad Übungsprogramme angewandt werden, die sich an entsprechende diagnostische Maßnahmen anschließen und die zur Verbesserung von Einschränkungen in der Konzentrationsfähigkeit, im Gedächtnisbereich, im Lernverhalten, im Denken und im Problemlösen geeignet sind. Entscheidend ist, dass es nicht beim Üben in einer Einzelsituation bleibt, sondern dass der Transfer in eine Gruppensituation oder eine Realsituation mit praktischen Anforderungen gelingt. Letzteres geschieht z.B. bei Jugendlichen im Rahmen einer Berufsfelderprobung mit kontinuierlich steigenden Leistungsanforderungen Emotionaler Bereich. Bei ausgeprägter Affektlabilität und starker depressiver Verstimmung empfiehlt sich ein Behandlungsversuch mit Antidepressiva. Ängste und Zwangssymptome lassen sich in der Regel durch Verhaltenstherapie positiv beeinflussen. Sozialverhalten. Störungen im Sozialverhalten lassen sich erfahrungsgemäß am schwersten beeinflussen. Es lohnt sich jedoch der Versuch, dem Patienten Einsicht in soziale Problemlagen und in die Konsequenzen von Handlungen zu vermitteln. Hierfür existieren soziale Trainingsprogramme, die auf den Abbau unangemessener Verhaltensweisen und den Aufbau von sozialer Kompetenz abzielen. Bei ausgeprägter Aggressivität kann eine medikamentöse Behandlung indiziert sein, insbesondere wenn diese mit fremd- oder selbstgefährdendem Verhalten einhergeht. Impulskontrolle. Bei Patienten, die ihre Handlungsimpulse unzureichend kontrollieren können, sind Übungen bzw. Behandlungsprogramme empfehlenswert, die auch bei hyperkinetischen Kindern angewandt werden und zum Ziel haben, zwischen Handlungsimpuls und Handlungsausführung eine reflexive Zäsur einzubauen nach dem Motto: "Erst denken, dann handeln". Zusätzlich kann eine medikamentöse Behandlung indiziert sein. Vegetative Symptome. Vegetative Symp-tome wie Schlafstörungen oder Essstörungen können, je nach Schwere und Ausmaß, verhaltenstherapeutisch und/oder medikamentös behandelt werden. Neurologische Ausfallserscheinungen und neuropsychologische Syndrome. Bei neurologischen Ausfallserscheinungen (z.B. Lähmungen) sind, wie auch bei autochthonen neurologischen Erkrankungen, Krankengymnastik und Rehabilitationsmaßnahmen angezeigt. Bei neuropsychologischen Syndromen (Aphasie, Apraxie, Akalkulie) müssen gezielte Übungsprogramme, die den jeweiligen Störungsbereich zum Fokus haben, durchgeführt werden. Bei Vorliegen epileptischer Anfälle ist eine entsprechende antiepileptische Behandlung einzuleiten. Psychotherapie. Bewährt hat sich hier ein verhaltenstherapeutischer Ansatz mit dem Ziel, möglichst viel Alltagsnähe zu vermitteln und gezielte, symptombezogene Verbesserungen zu erreichen. Ein tiefenpsychologisch fundierter Therapiezugang ist nur in seltenen Fällen gegeben und aussichtsreich. Medikamentöse Behandlung. Hier ist aufgrund der vorbestehenden oder anzunehmenden Hirnschädigung besondere Vorsicht geboten (z.B. Senkung der Krampfschwelle, paradoxe Wirkungen, Zunahme kognitiver Defizite). Je nach Auffälligkeiten des Patienten kann aber eine Indikation für eine medikamentöse Behandlung gegeben sein. Folie 19 Ambulante Betreuung Ambulant – Psychotherapie Medikamentöse Behandlung Förder- und Trainingsprogramme Einbeziehung der unmittelbaren Bezugspersonden Koordination zusätzlicher Maßnahmen Beratung über Fördermöglichkeiten (z.B. durch Schule, Jugendamt, Arbeitsamt) Bereitschaft zu langfristiger Betreuung. Besonderheiten bei ambulanter Behandlung Bei leichtem Schweregrad der Störung ist, wo immer möglich, eine ambulante Behandlung durchzuführen. Der Schweregrad kann nach der Symptomatik und der Globalbeurteilung der psychosozialen Anpassung (Achse VI) eingeschätzt werden. Ambulante Behandlung beinhaltet: Psychotherapeutische und/oder medikamentöse Beeinflussung von Problemverhalten und Symptomen Durchführung von Förder- und Trainingsprogrammen Einbeziehung der unmittelbaren Bezugspersonen in den Behandlungsplan Koordination und Verordnung zusätzlicher Maßnahmen (z.B. Krankengymnas-tik, Logopädie) Beratung über weitere Fördermöglichkeiten (z.B. durch Schule, Jugendamt, Arbeitsamt) Aufgrund des oft chronischen Verlaufs Bereitschaft zu langfristiger Betreuung. Folie 20 Teil- und Vollstationäre Betreuung Vorteil der Durchführung hochstrukturierter Behandlungsprogramme Beobachtung des Transfer ins häusliche Milieu Probleme durch Milieuwechsel Herausnahme aus Schule oder beruflichem Umfeld Vollstationäre Behandlung nur für schwere Fälle 4.4 Besonderheiten bei teilstationärer Behandlung Die teilstationäre Behandlung hat den Vorteil, über einen längeren Zeitraum hochstrukturierte Behandlungsprogramme zu ermöglichen, wobei der Transfer in das häusliche Milieu unmittelbar beobachtet und beurteilt werden kann. Dem stehen folgende Nachteile gegenüber: Aufgrund der Grunderkrankung bestehen evtl. größere Schwierigkeiten, den täglichen Milieuwechsel von Familie und Tagesklinik zu verkraften Die Patienten sind für längere Zeit aus dem schulischen bzw. beruflichen Umfeld herausgenommen Die Patienten profitieren evtl. weniger von den in Tageskliniken üblichen Gruppenstrukturen Zeitlich begrenzte Behandlung. 4.5 Besonderheiten bei stationärer Behandlung Die stationäre Behandlung bleibt, wenn man von Kriseninterventionen kürzerer Dauer absieht, schweren Fällen mit sehr ausgeprägten neurologischen Ausfallserscheinungen und erheblichen Verhaltensauffälligkeiten vorbehalten, die häufig anschließend einer Rehabilitationsbehandlung bedürfen. Folie 21 Jugendhilfe- und Rehamaßnahmen Bei chronischen neurologischen oder neuropsychologischen Folgezuständen Extremen kognitiven und/oder emotionalen Auffälligkeiten Wichtig zur Reintegration Bei chronischen Störungen ist die Zuständigkeit des BSHG gegeben. 4.6 Jugendhilfe- und Rehabilitationsmaßnahmen Sie sind immer dann erforderlich, wenn aufgrund von chronischen neurologischen oder neuropsychologischen Folgezuständen, extremen kognitiven und/oder emotionalen Auffälligkeiten eine ambulante und teilstationäre Behandlung nicht hinreichend ist, um eine Reintegration in das jeweilige Lebensumfeld zu ermöglichen. Ist zu erwarten, dass durch eine kurzfristige Rehabilitation (bis 6 Monate) eine akzeptable Reintegration in den alterstypischen Lebensbereich erwartet werden kann, so kann Jugendhilfe in Anspruch genommen werden (KJHG); bei chronifizierten Störungen ist die Zuständigkeit des BSHG gegeben. Ppt www.faskinder.de