Lutz Ellrich - Informatik 5

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Latente Konflikte, Vertrauenskrisen und Misstrauensaggregationen in „strategischen
Netzwerken“
(Zusätze zum Netzwerk-Papier Martin Meisters)
Lutz Ellrich
I. Vorüberlegungen:
Netzwerke sind bestimmten Irritationen ausgesetzt. Man spricht in der einschlägigen Literatur
sogar von „Dauerirritationen“, mit denen z.B. „interorganisatorische Netzwerke als soziale
Systeme konfrontiert (sind)“ (Sydow/Windeler 1999, 8). Derartige Irritationen können sich zu
Konflikten auswachsen, die zur Auflösung der Netze führen. Sowohl in den
Selbstbeschreibungen der Netzakteure als auch in den ‚Fremdbeschreibungen‘ der
anerkannten Netztheoretiker wird der Begriff des Konfliktes auf diejenige Schwelle der
Irritation angewandt, deren Überschreiten meistens zur Zerstörung des Netzes führt.
Man könnte argumentieren, dass hier ein zu enger, nur auf pathologische Phänomene
bezogener Konfliktbegriff benutzt wird. Der durch soziologische Literatur seit Georg Simmel
(vgl. das Kapitel IV „Streit“ in seiner „Soziologie“ von 1908) vorbereitete Versuch, Konflikte
auch als produktive Ereignisse und Prozesse zu interpretieren, könnte hier zu alternativen
Modellen zur Beschreibung der notwendigen und unvermeidlichen Netzirritationen führen.
Ein solcher ‚Paradigmenwechsel‘ ist das langfristige Ziel unserer Analysen. Wir möchten
dieses Ziel freilich mit kleinen Schritten erreichen. Denn auf den ersten Blick lässt sich kaum
bestreiten, dass offene Konflikte in Netzwerken keinen anerkannten Ort haben. Offene
Konflikte führen fast immer zum Abbruch der netzwerk-typischen Kommunikation oder
Interaktion, sie erzeugen in dieser spezifischen Form sozialer Ordnung, der sich von Märkten
und Hierarchien abhebt, keine förderlichen (d.h. heißt die Fortsetzung des Systems
begünstigenden) Anschlüsse.
Wir nehmen an, dass darin nicht nur eine semantische Blindheit der am Netzwerk beteiligten
Akteure und ihrer wissenschaftlichen Beobachter liegt. Wir vermuten, dass latente Konflikte
bzw. (künstlich) latent gehaltene (!) Konflikte in Netzwerken eine bedeutende Rolle spielen.
Gewöhnlich wird der Konfliktbegriff nur für manifeste Formen der Auseinandersetzung, des
Streites, des Kampfes benutzt. Der eigentliche Konflikt beginnt mit dem notorischen
„doppelten Nein“. Wir schlagen einen breiter angelegten Konfliktbegriff vor (vgl. Beitrag zur
Sozionik-Tagung in Hamburg, Jan. 2000).
Wir haben vorgeschlagen, vier Stufen oder Phasen des Konflikt-Prozesses zu unterscheiden:
1. Phase: Verteilung transparenter und opaker Zone
2. Phase: Formierung eines schwelenden Konflikts
3. Phase: Manifester Konflikt (Polarisierung der Akteure, Bildung sog. ‚neutraler Dritter’)
4. Phase: Entscheidung (Kompromiss, Sieg/Niederlage, Auflösung der bestehenden Struktur)
Die ersten beiden Phasen lassen sich als ‚Latenzphasen‘ bezeichnen.
Wie kann nun dieser Begriff für die Netzwerk-Analyse produktiv gemacht und
operationalisiert werden? Dies ist nur möglich, wenn der LATENZ-Begriff zu den Leitbegriff
der Netzwerktheorie –Vertrauen – in Relation gesetzt wird.
VERTRAUEN ermöglicht – so lautet eine der Kernthesen der Netzwerktheorie – den Aufbau
von Beziehungen, die unter Markt- oder Hierarchie-Bedingungen weit weniger produktiv
anlaufen würden.
Vertrauen, so wird immer wieder betont, ist ein sozialer Ordnungsfaktor, der folgende
vorteilhafte Funtionen hat: er lässt Beziehungen anlaufen, schafft Anschlussmöglichkeiten für
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Handlungen/Tauschakte, er bindet Alter durch Egos selbsterzeugte Verwundbarkeit (siehe
unten), er entlastet von hohen Kontrollkosten (z.B. Recht).
Vertrauen ist aber eine Ressource, die hochempfindlich ist gegen Enttäuschungen. Wird
nämlich das Vertrauen gebrochen, so kommt es zu einer vergleichsweise radikalen Änderung
der Beziehung. D.h. die Inklusions- bzw. Exklusionskriterien für Netzteilnahme sind extrem
‚hart‘. Durch eine derartig niedrige ‚Schwelle‘ – so ließe sich vermuten – kompensieren Netze
den Umstand, dass sie in vieler Hinsicht deutlich ‚weichere‘ Strukturen haben als Märkte oder
Hierarchien (bürokratische Systeme).
Zu untersuchen wäre, ob Mischkalkulationen aus Vertrauen und einer Gegenstrategie (z.B.
Misstrauen) in Netzwerken vorkommen und ob solche Konzepte den markanten
Schwellenwert erlittener Enttäuschungen anheben bzw. einen elastischeren Umgang mit
Enttäuschungen ermöglichen.
Liegt im Misstrauen tendenziell schon ein Bruch des obligatorischen Vertrauensgebotes?
Da Netze durchaus komplexe Sozialgewebe sind, dürfte die Annahme realistisch sein, dass
man hier verschiedenen Personen und Geschäftsabläufen trauen, zugleich aber auch
verschiedenen anderen Personen und Abläufen gegenüber Misstrauen hegen kann, ohne durch
eine solche Doppelstrategie das Netz schon per se zu schädigen oder dysfunktionale Effekte
auszulösen.
II. Vertrauen in Netzwerken
Wir wollen auf der Basis der These, Vertrauen sei das Konstituens von Netzwerken (siehe das
Papier von M. M.) operieren.
Welches Konzept von Vertrauen ist für die Netzwerkanalyse geeignet?
Wir nehmen an, dass es sinnvoll ist mit dem Rational-Choice-Konzept des Vertrauens zu
arbeiten, das Coleman ausgearbeitet hat. Es ist das derzeit präziseste Instrumentarium, das die
Soziologie zu bieten hat, weist aber einige offensichtliche Schwächen auf (vgl. u.a.
Preisendörfer 1995, Kern 1997, Junge 1998). Als allgemeine Theorie des sozialen Phänomens
Vertrauen ist die Colemansche Theorie wohl nicht geeignet, sie kann aber auf „strategische
Netzwerke“ in dem von uns definierten Sinne (siehe das Papier von M.M.) angewandt
werden. Das Konzept sollte gleichwohl verbessert werden. Coleman berücksichtigt nicht
hinreichend, dass die Umwelt auf das (erwartete oder unerwartete) Verhalten des Akteurs (der
Vertrauen erweist) reagiert. Er operiert mit einem Modell einfacher Kontingenz.
Wünschenswert wäre eine Transformation des Colemanschen Vertrauenskalküls in ein
Modell zur Handhabung doppelter Kontingenz (vgl. Junge 1998). Angestrebt wird also eine
Verbindung von RC und Systemtheorie. (Diese Theorie-Verknüpfung wurde bereits zur
Explikation für den den VKI-relevanten Emergenzbegriff vorgeschlagen. Vgl. Ellrich/Funken
1998).
Wir wollen Vertrauen als „riskante Vorleistung“ betrachten, die die Komplexität der sozialen
Welt reduziert. Diese Bestimmung hat Luhmann (1968, 1989³) gegeben. Wir gehen ferner
(mit der einschlägigen Literatur) davon aus, dass Vertrauen zwei für soziale Beziehungen
zwischen verschiedenen Akteuren charakteristische Probleme zwar nicht löst, aber zumindest
entdramatisiert und so zuschneidet, dass man mit ihnen umgehen kann:
das Zeitproblem (Leistungen in sozialen Beziehungen werden zeitlich verzögert und
sequentiell ausgetauscht)
das Informationsproblem (es besteht ein Risiko, ob sich der Interaktionspartner an die die
explizit oder implizit getroffene Vereinbarung hält)
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Vertrauen nimmt Zukunft vorweg, ist in die Zukunft gerichtet und riskiert eine Bestimmung
der Zukunft. Der vertrauende Akteur steigert seine Verwundbarkeit mit dem Ziel, eine
dauerhafte und wechselseitig ertragreiche Kooperationsbeziehung in Gang zu bringen
(Luhmann, Deutsch).
Vertrauen ist eine einseitige Übertragung von Kontrolle über Ressourcen auf einen (oder
mehrere) andere(n), in der Hoffnung bzw. Erwartung, dass diese(r) die eigenen Interessen
besser vertreten/wahrnehmen kann (Coleman).
Möchte man Luhmann mit Coleman unter Rekurs auf bestimmte Thesen von Deutsch
kombinieren, so ergeben sich zwei kritische Fragen:
Ist die Unterscheidung von trust und confidence, Vertrauen und Zutrauen (Luhmann) im
Bereich der Netzwerke sinnvoll?
Soll für die Netzwerk-Analyse ein enger (Luhmann, Deutsch) oder ein weiter (Coleman)
Vertrauensbegriff gewählt werden?
Ad a) Luhmanns und Colemans Vertrauenkonzepte unterscheiden sich in vielen Hinsichten
(vgl. Junge 1999). Sie stimmen jedoch darin überein, dass der „Begriff des Vertrauens mit den
spezifischen Umständen (verknüpft wird), unter denen die Individuen bewußt über alternative
Handlungsweisen nachsinnen“. Giddens hält diese Verknüpfung für „nicht hilfreich“, denn sie
passt nicht zu der Tatsache, dass „das Vertrauen im Regelfall in weit höherem Maße ein
kontinuierlicher Zustand (ist), als mit dieser Verknüpfung unterstellt wird“. Für Giddens ist
das Vertrauen nicht „wirklich vom Zutrauen zu trennen“, sondern es ist „eine bestimmte Art
von Zutrauen“ (Giddens 1991, 47). Der Einwand von Giddens ist mit Blick auf
‚lebensweltliches‘ Vertrauen wohl gerechtfertigt. Das netzwerk-spezifische Vertrauen
hingegen darf als Kalkül rekonstruiert werden, als Wahl zwischen Alternativen, vor die
interessenorientierte Akteure sich gestellt sehen.
Grundsätzlich stimmen wir also weitgehend der Kritik am Vertrauens-Konzept Colemans, wie
sie von Giddens und Junge formuliert wird, zu. Wir vermuten freilich, dass gerade in den von
uns behandelten Netzwerken die system-konstitutiven Vertrauensinvestitionen, die die
Beteiligten in das Netz einspeisen – und zwar sowohl in die einzelnen Mit-Akteure als auch in
den ganzen „Beziehungszusammenhang“ (Sydow/Windeler 1999, 3) – rational erwogen sind
und mithin auf einer risikobewußen Entscheidung zur Vorleistung beruhen.
Dabei wäre es sicher zu einfach, nur zu behaupten, Netzwerke seien das mehr oder minder
zufällige Ergebnis ‚verteilter‘ Vertrauensinvestitionen. Netze bilden sich unter bestimmten
Startbedingungen: zumeist macht ein fokaler Akteur ein Strukturangebot. Diese Initialleistung
kann sich im Zuge der Netzentfaltung abschleifen, kann aber auch fortbestehen. Netze sind
jedenfalls immer auch Strukturen, die eine vertrauens-affine Investitions-Umgebung schaffen.
Man muss die Theorie der Netzwerke also zirkulär anlegen:
Einerseits: riskante Vorleistungen einzelner Akteure (also Vertrauensinvestitioen) lassen das
Netzwerk anlaufen.
Andererseits: die Netzwerkstruktur reduziert genau das Risiko einer Vertrauensinvestition.
Der Akteur benötigt gute Gründe, um ein hohes Risiko einzugehen. Neben besonders
reizvollen Gewinnchancen, kann das auch eine attraktive Form der Risikominimierung sein.
Bachmann hat auf diesen Punkt insistiert: „Innerhalb von Netzwerken ... existieren offenbar
Strukturen, die den einzelnen Netzwerkpartnern genau diese guten Gründe [dafür, „dass das
Risiko ... sich in gewissen Grenzen halten wird“] systematisch liefern, denn das ist
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gewissermaßen die Bedingung der Möglichkeit, daß das in Netzwerkbeziehungen typischer
Weise hohe Maß an Vertrauen generiert wird. Die entscheidenden Fragen, die sich an diese
Vermutung anschließen, laufen dann auf die Identifizierung [!] der Strukturen hinaus, die
dies zu leisten imstande sind“ (Bachmann 1999, 112f.).
Eine zirkulär angelegte Theorie berücksichtigt 1. die besonderen Starbedingungen für Netze
und 2. behandelt sie das Risiko-Problem des Vertrauens, sie behandelt nämlich die Leistung
sozialer Institutionen für die Bildung und Steigerung von Vertrauensinvestitionen (dazu
gehört auch die Möglichkeit, dass stabile Vertrauensstrukturen Innovationen blockieren
können, vgl dazu die Bemerkungen im Text unten). Neben der strukturellen Absicherung der
Vertrauensinvestition gibt es auch drei individuelle Handlungsstrategien, die dies leisten
können: 1. der Akteur verzichtet angesichts des Risikos auf die Investition und verlegt sich
(wenn er trotzdem dem Netz beitritt) ggf. auf opportunistische Aktivitäten; 2. der Akteur
streut das Risiko; 3. der Akteur versucht die Beziehung zu anderen Akteuren zu
personalisieren oder schenkt nur dann Vertrauen, wenn persönliche Beziehungen schon
bestehen und auf diese Weise die riskante ‚Geschäftsbeziehung‘ absichern.
Ad b) Eine Vertrauensinvestition lässt sich mit Coleman als „Wette“ verstehen. Der Akteur
handelt nicht primär
unter Bedingungen von Unsicherheit [dieser Fall ist spieltheoretisch zu erfassen und ergibt
zwei günstige Bedingungen für die Vertrauensvergabe: 1. Dauerhaftigkeit der Beziehung,
„Gesetz des Wiedersehens“ (Luhmann), 2. Reputation im sozialen Umfeld, Dichte der
sozialen Zusatzbeziehungen]
sondern er kalkuliert sein Risiko, d.h. er operiert mit Wahrscheinlichkeitswerten für die
Vertrauenswürdigkeit des jeweiligen Vertrauensnehmers.
Während Deutsch und Luhmann die besondere Bindungskraft des Vertrauens u.a. dadurch
erklären, dass der Vertrauensgeber ein hohes Verlustrisiko eingeht, wählt Coleman ein
‚ausgewogenes‘ Konzept. Coleman nimmt auf Deutsch kritisch Bezug: „Deutsch definiert
vertrauensvolles Verhalten als Handlung, die die eigene Verwundbarkeit einer anderen Person
gegenüber verstärken, deren Verhalten man in einer bestimmten Art von Situation nicht
kontrolliert; diese Situation beinhaltet, daß der Verlust, den man erleidet, falls der andere (der
Treuhänder) die Verwundbarkeit mißbraucht, größer ist als der Gewinn, den man erzielt,
wenn der andere die Verwundbarkeit nicht mißbraucht“ (1991, 126). Luhmann hat den
Definitionsvorschlag von Deutsch übernommen, der dem alltäglichen Sprachgebrauch eher
entspricht als Colemans Konstrukt. (Vgl. zur Diskussion der Einwände gegen Coleman: Junge
1998, 51). Coleman widerspricht dieser definitorischen Verengung mit Argumenten, die das
Hochstapler-Beispiel ausreizen.
Wir wollen nicht bestreiten, dass ostentative Akte, die eine Person besonders verwundbar
machen, eine Logik der Gabe (Mauss 1925) in Gang setzen können, halten aber Colemans
neutrales Gewinn/Verlust-Design für netzwerk-adäquater als die Differenzierungsangebote
von Deutsch und Luhmann.
Dies ist aber auch eine empirische Frage. Wie verstehen die realen Netzwerkakteure ihre
eigenen Vertrauensinvestitionen?
Colemans Formel für die Vertrauenskalkulation lautet folgendermaßen:
Vertrauen wird erwiesen, wenn p/1-p größer als L/G und es wird nicht erwiesen, wenn p/1-p
kleiner als L/G.
P = Gewinnchance (die Wahrscheinlichkeit der Vertrauenswürdigkeit des Treuhänders/
Vertauensnehmers)
L = möglicher Verlust (falls Treuhänder nicht vertrauenswürdig ist)
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G = möglicher Gewinn (falls Treuhänder vertrauenswürdig ist)
(Coleman 1990, 100; dt. 1991, 126)
Zu überlegen wäre, ob man zur Verfeinerung oder Trivialisierung dieses Kalküls auf folgende
Beschreibung zurückgreift:
Bachmann hat im Anschluss an Timbley (1994) ein (Rational-Choice-nahes) set von Regeln
angegeben, nach denen sich ein Agent vorgehen könnte, der mit der Unterscheidung
Vertrauen/Misstrauen operiert und die Seite des Vertrauens als sinnvollere Konzeption wählt:
„1. Gib stets eine Selbstbeschreibung deines Handelns, in der Du deine Motive offenlegst.
2. Formuliere positive Erwartungen in bezug auf das künftige Verhalten deines Gegenübers.
3. Formuliere Erwartungen über die Erwartungen, die dein Gegenüber in bezug auf dich selbst
entwickelt.
4. Überprüfe die Häufigkeit deiner richtigen und deiner unrichtigen Erwartungen, indem du
das Verhalten denes Interaktionspartners in gewissen zeitlichen Abständen auswertest.
5. Wenn sich eine Tendenz erkennen lässt, dass die Richtigkeit deiner gemachten
Erwartungen zunimmt, dann idiziere dein Gegenüber mit einem Wert für X (=
‚Vertrauenswürdigkeit‘). Dieser Wert soll nach einer bestimmten Anzahl weiterer
enttäuschungsfreier Interaktionen graduell erhöht werden.
6. Umgekehrt: Jede Interaktion, die mit einer Erwartungsenttäuschung endet, soll je nach der
vorherrschenden Anzahl von enttäuschungsfreien Interaktionen mit dem jeweiligen Agenten
mit einem Wert für Y (= ‚Vertrauensunwürdigkeit‘) belegt werden.
7. Verrechne den Vertrauenswürdigkeitswert mit dem Vertrauensunwürdigkeitswert des
jeweiligen Agenten nach einem näher zu spezifizierenden Algorithmus, der nach einer
besonders hohen Zahl von enttäuschungsfreien Interaktionen einen ‚no claim bonus‘ vergibt,
also einen Enttäuschungsfall unbewertet lässt, und bei Enttäuschungen, die in kürzeren
Zeitabständen erfolgt sind, den maximalen Vertrauensunwürdigkeitswert (bzw. minimalen
Vertrauenswürdigkeitswert) einsetzt.
8. Kooperiere stets zuerst mit denjenigen unter den für deinen Zeck in Frage kommenden
Mitagenten, denen du den höchsten Wert für ‚Vertrauenswürdigkeit (bzw. niedrigsten Wert
für Vertrauensunwürdigkeit) zugerechnet hast.
9. Wäge das Risiko, betrogen zu werden, mit dem möglichen Nutzen ab, der für dich mit einer
enttäuschungsfreien Interaktion verbunden sein kann, soweit du das im Voraus abschätzen
kannst.“ (Bachmann 1998, 226f.).
III. Misstrauen in Netzwerken
Jeder Teilnehmer an einer Netzwerk-Kooperation, der (aus welchen Gründen auch immer)
unzufrieden ist, hat die Wahl zwischen zwei basalen Reaktionen: Abwandern und
Widerspruch („exit and voice“, vgl. Hirschmann 1970). Zur Beschreibung der Genese von
‚Unzufriedenheit‘ möchten wir den Begriff des Misstrauens verwenden. Unsere These ist:
Erst wenn ein bestimmter Schwellenwert des Misstrauens erreicht ist, kommt es zum Ausstieg
oder zum offenen Protest, der dann ggf. einen manifesten Konflikt heraufbeschwört (soweit
das ‚Nein‘ des Protestes nicht durch die Nachgiebigkeit, sondern durch ein ‚Nein‘ des
kritisierten Adressaten beantwortet wird).
Misstrauen (in NW) setzt natürlich Risikobewusstsein voraus; mithin die ganz normale
Vermutung, dass
auch in vertrauensbasierten Netzwerken mit opportunistischem Verhalten einzelner Akteure
gerechnet werden muss
und dass
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der Nutzen des Gesamtnetzes durch ‚free rider‘, Trittbrettfahrer und Ideenabstauber abnimmt.
Diese normale Gefahr (Opportunisten treten in Netzen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit
auf) versucht man in Netzwerken durch ‚weiche' Regeln zu mindern. Ein solches Regelwerk,
das das Netz nicht lähmen und damit die spezifischen Vorteile der netz-förmigen Kooperation
verschenken darf, weckt und steigert die Bereitschaft der Akteure, Vertrauen zu investieren.
In welchem Sinne geht Misstrauen über das generelle Risikobewusstsein hinaus:
Unsere These lautet: Misstrauen erschöpft sich nicht in der Vermutung, dass Fälle von
Opportunismus auftreten können, die die Erfolgs-Chancen des Netztes insgesamt reduzieren,
sondern das Misstrauen, das ein bestimmter Akteur hegt, beruht auf der Annahme, das er in
besonderem Maße von relativen Nutzeneinbußen (im Vergleich zu anderen NetzNutznießern) oder gar von absoluten Verlusten bedroht ist.
Wir interessieren uns demnach für eine Form (oder einen Grad) des Misstrauens, das bei der
Gründung des Netzwerkes (bzw. in der Sondierungsphase, die mit der Gründung des
Netzwerkes endet) noch nicht besteht oder nur in einem Maße vorliegt, das den Eintritt ins
Netzwerk nicht verhindert (also die Vergabe von Vertrauen als riskante Vorleistung nicht
unterbindet).
Risikobewusstsein wollen wir also nicht als das eigentlich netzwerk-relevante Misstrauen
verstehen, sondern – wie schon gesagt – nur als eine notwendige Voraussetzung für
Misstrauen.
Misstrauen hat nicht per se die Unterlassung von Vertrauensinvestitionen zur Folge.
(Selbstverständlich kann die Vertrauensinvestition unterbleiben oder zurückgenommen
werden, weil Misstrauen besteht oder aufkommt. Aber dieser Fall ist für uns zunächst nicht
wichtig.) Wir nehmen ein Misstrauen in den Blick, das sich entwickelt unter Bedingungen,
die durch das offizielle/explizite Ausflaggen vertrauensvoller Kooperationsbereitschaft
gestiftet werden. Darüber hinaus interessiert uns die sog. Latenzphase, d.h. der Zeitraum, in
dem das Misstrauen ansteigt und schließlich zum Ausbruch eines manifesten Konflikts führt.
Der manifeste Konflikt [wir vernachlässigen jetzt das oben gegebene Ablaufsmuster] hat dann
(zumeist)
den Ausstieg des misstrauischen Akteurs oder
den Ausschluss des mit Misstrauen belegten Akteurs aus dem Netz
oder gar die Zerstörung des ganzen Netzes zur Folge.
Diese Ergebnisse sind hochgradig wahrscheinlich, weil Netze – allem Anschein nach –
Ordnungsformen sind, die das produktive Konfliktmanagement (noch) nicht oder nicht gut
beherrschen. (Die Computerunterstützung könnte dazu dienen, latente Konflikte bewußt zu
machen und produktiv zu bearbeiten).
Wie lässt sich Misstrauen definieren?
Der misstrauische Akteur hegt (aufgrund verschiedener Anzeichen) den Verdacht, dass die
Netzteilnahme ihm zwar Nutzen bringt, dass der Gewinn der anderen (einiger/vieler/aller)
aber höher als sein eigener Gewinn ist (vgl. Gerechtigkeitsproblem).
Das Misstrauen ist ein Suchprogramm, das Informationen finden soll, die diesen Verdacht
belegen oder widerlegen sollen. Die Präferenz liegt eindeutig bei den ‚belegenden’
Informationen. Daher lassen sich die folgende Fragen auch klar beantworten:
Ist Misstrauen ein Mechanismus der Selbstverstärkung? Ist eine Aggregation von Misstrauen
in der Latenzphase wahrscheinlich?:
Obschon die gewonnenen Informationen den Verdacht sowohl belegen als auch beseitigen
können, ist es wahrscheinlich, dass die ermittelten Informationen auf eine bestimmte
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(negative) Weise interpretiert werden. Die misstrauische Suche fördert durch das nun
(unbewußt) etablierte Deutungsmuster eher Informationen zutage, die den gehegten Verdacht
erhärten.
„Mißtrauen hat“ – so schreibt Luhmann – „eine inhärente Tendenz, sich im sozialen Verkehr
zu bestätigen und zu verstärken“ (1989³, 82). Ein solcher Verstärkungseffekt ist durch
vielfältige Beobachtungen, namentlich im Organisationsmilieu, belegt“ (ebd., 82f.).
Offenheit/Latenz
Vertrauen ändert den Handlungsspielraum des/der Anderen. Es ist stets bekundetes Vertrauen,
wenn es relevant sein soll. Dies ist beim Misstrauen nicht so. Hier ist es sinnvoll, zwischen
einem heimlichen und einem artikulierten Misstrauen zu differenzieren. Das geäußerte
Misstrauen kann diverse Sprechakte umfassen: die Kommunikation von Forderungen,
Mahnungen, Warnungen, Drohungen.
Das heimliche Misstrauen bindet die Aufmerksamkeit des verschwiegenen Akteurs und
erzeugt allein dadurch bereits Kosten für den misstrauischen Akteur, die er gegen den
potentiellen Gewinn einer sicheren Information über den Vertrauensbruch durch andere
aufrechnen muss.
Luhmann behauptet, dass heimliches Misstrauen kaum durchgehalten werden kann: „Das
Mißtrauen wird im mißtrauischen verhalten mitdargestellt. ... Der Mißtrauische (kann), ob er
will oder nicht, kaum vermeiden, daß sein Mißtrauen ihm angesheen und zugerechnet wird.
Feindselige Gefühle lassen sich schwer im Verborgenen bändigen, die Barrieren der Vorsicht,
die nun nötig zu sein scheint, verraten die Absicht“ (1989³, 82). Diese These möchten wir in
Zweifel ziehen.
Wir vermuten eher etwas anderes: der schweigende misstrauische Akteur, der Opportunismus
bei anderen oder Sonder-Netze im Netz wittert, verwandelt sich selbt in einen potentiellen
Opportunisten. Er sucht seine Chance, um unter günstigen Umständen auszusteigen. Derartige
Netz-Mitglieder sind wahrscheinlich für das Netz destruktiver als diejenigen, die von Anfang
an opportunistsich gesonnen waren.
(An einer technisch artikulierten Form des Misstrauens könnte das Netz als Ganzes daher ein
Interesse haben.)
Ist Misstrauen eine Gefahr für Netzwerke?
Vertrauen – so wurde gesagt – ist eine riskante Vorleistung. Die Bereitschaft zu solch einer
(zunächst disparitätischen) Vorleistung steigt, wenn Vertrautheit zwischen den Akteuren
besteht oder wenn ein kultureller Rahmen, ein (rechtliche) Regelwerk existiert. Fremdheit
(der Akteure) erschwert die Kooperation, schließt sie aber nicht aus (Axelrod 1984; Kern
1997). Es gibt zahlreiche Fälle gelungener Koperationen zwischen Fremden (Saxenian 1994,
Kern 1997). Hier beruht das gespendete oder gewährte Vertrauen auf einem besonders hohen
Risikobewusstsein. Kern weist darauf hin, dass gerade die Kooperation unter Fremden bei den
heute existierenden wirtschaftlichen Verhältnissen besonders erfolgreich und daher auch
gewinnversprechend ist. „Basisinnovationen gelingen ceteris paribus umso besser, je leichter
Wissen, welches bisher an verschiedenen Stellen – in separaten Fächern oder Firmen –
lokalisiert war, miteinander verflochten werden kann“ (Kern 1997, 277).
Damit es zur Gründung dieser innovativen Netzwerke kommt, müssen zunächst bestehende
Beziehungen gelockert werden. „Tradierte Milieus“ besitzen eine „hemmende Wirkung“
(ebd., 278). [Bekanntlich sind Vertrauensnetze für die Gesamtgesellschaft keineswegs immer
günstig. Man denke nur an die Kartell-Bildung oder Kriminelle Vereinigungen].
Kern plädiert daher für das „Aufbrechen von Vertrauenstrukturen“ und für die „Injektion von
Mißtrauen“ (ebd.). Freilich gibt er zu Bedenken: „“ein solches Plädoyer für Mißtrauen (ist)
zweischneidig, zumal bei Innovationen. Mißtrauen induzierende Eingriff kippen leicht in
totale Verunsicherung um, die dann ihrerseits – und zwar über Risikoaversionen –
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kontrainnovativ wirkt. Das Kunststück, das zu bewältigen wäre, bestünde also darin, gezielt
zu verunsichern, die Schnitte dosiert zu setzen, den Vertrauensabbau an der einen Stelle mit
vertrauensbildenden Maßnahmen an der anderen abzufedern“ (ebd., 278). Etwas später heisst
es: „Nun wird niemand vernünftigerweise behaupten, daß Humankapital-Entwicklung, Lernen
oder Innovation in einem Klima des Mißtrauens gelingen können. Das Experimentieren, das
für solche Prozesse konstitutiv ist, setzt die subjektive Gewißheit voraus, daß Fehlern und
Irrtümern, die dem Experiment dienen, applaudiert wird, statt daß sie sich in Instrumente des
‚Opportunismus‘ verkehren. In einer Sozialordnung, deren Institutionen eine generelle
Vertrauensvermutung herstellen, ist diese Gewißheit wie von selbst gegeben. Mit diesem
Vertrauen im Hintergrund, können ihre Mitglieder das Wagnis der Exploration eingehen Zur
Exploration selbst stimuliert aber nicht der selbstverständliche Glaube an diese Ordnung,
sondern der Sinn für ihre Beschränktheit oder Fehler – also ein gewisses Mißtrauen gegenüber
ihren konkreten Leistungen“ (Kern 1997, 281).
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