Kinder aus Problemfamilien

Werbung
Kinder aus Problemfamilien
Als Problemfamilien bezeichnen wir Familien, die einerseits besonderen äußeren
Belastungsfaktoren, wie Arbeitslosigkeit, Armut, Krankheit, Trennung usw. ausgesetzt sind
und die andererseits über mangelnde Bewältigungsmittel und
-kompetenzen verfügen. Die moderne Armutsforschung erfasst im „Lebenslagenansatz“
neben dem Einkommen der Eltern auch Bildung, Wohnung, Gesundheit und die Fähigkeit
der Betroffenen Notlagen realitätsgerecht wahrnehmen, verarbeiten und bewältigen zu
können. (s. Altgeld, T. / Hofrichter, P. (Hrsg.) Reiches Land- Kranke Kinder? Gesundheitliche Folgen von
Armut bei Kindern und Jugendlichen. Ffm 2000 )
Die Problematik lässt sich als ein Zusammenspiel
zwischen äußeren Faktoren und individuellen, familienspezifischen Kompetenzen und
Inkompetenzen beschreiben. Eltern, die für sich und ihre Familie keinen Weg aus der Notlage
finden, leiden unter starken Minderwertigkeits- und Schamgefühlen und verlieren den Blick
für die Bedürfnisse ihrer Kinder.
Kinder aus benachteiligten Familien haben das höchste Erkrankungsrisiko, für körperliche
und seelische Krankheiten und soziale und seelische Entwicklungsstörungen. Unter seelischer
Krankheit ist nicht das subjektive Leiden der Kinder an einer objektiv belastenden Situation
zu verstehen, „Krankheit“ bezeichnet den Verlust oder die schwerwiegende Einschränkung
der Fähigkeit, günstige Bedingungen und Hilfesysteme und –angebote zu nutzen.
Eine Untersuchung des Zentralinstitutes für seelische Gesundheit in Mannheim, die die
Entwicklung von Kindern mit Schwangerschaft- und Geburtsrisiken über viele Jahre verfolgt,
kommt zu dem Ergebnis, dass Kinder aus benachteiligten Familien „in allen
Entwicklungsbereichen ungünstigere Kennwerte“ ausweisen, als unbelastete Kinder.( Laucht,
M., u.a., Viereinhalb Jahre danach: Mannheimer Risikokinder im Vorschulalter. Zeitschrift für Kinder- und
Jugendpsychiatrie, 24. Jg., 1996, S. 67 ):
Wissen und Lernfähigkeit von Kindern aus benachteiligten Familien sind bereits im
Vorschulalter geringer entwickelt und ihre Bildungschancen verschlechtern sich im Laufe der
Schulzeit weiter.
Wahrnehmung und Umgang mit eigenen Gefühlen, Impulsen und Motiven befinden sich auf
einem niedrigen Entwicklungsniveau.
Soziale Kompetenz und Beziehungsfähigkeit sind gekennzeichnet durch eingeschränkte
Konfliktfähigkeit, mangelndes Selbstwertgefühl, Rückzugstendenzen, Ohnmachtsgefühle
und wenig ausgebildete Vorstellung von Wirkmächtigkeit.
Der Wunsch nach Hilfe steht im Konflikt mit Scham und Wut über die Benachteiligung und
der Sehnsucht sich aus eigener Kraft befreien zu können. Depressive Abhängigkeit mit
übermäßiger Anspruchshaltung und/oder Aggressivität, Destruktivität, dissoziales Verhalten
1
usw. sind pathologische Versuche unerträglich erlebte Ausweglosigkeit und Abhängigkeit ins
Gegenteil zu verkehren und zum Handelnden zu werden.
Die Entwicklungsdefizite von Kindern aus Problemfamilien verstehen wir auf dem
Hintergrund der chronischen Überforderung ihrer Eltern. Kleine Kinder bedürfen für ihre
Entwicklung der zuverlässigen Verfügbarkeit von Erwachsenen. Erst durch die Erfahrung,
dass ängstigende Situationen durch Schutz, Führsorge und Unterstützung gut ausgehen,
erwerben Kinder die Sicherheit, Anforderungen und unbekannte Situationen als bewältigbare
Herausforderung und nicht als lebensbedrohliche Gefahr wahrzunehmen. Die Bewältigung
von Neuanforderungen stärkt das Vertrauen in die eigene Kompetenz und die Sicherheit von
Beziehungen. Ergebnisse der Hirnforschung zeigen, dass die Reifung des kindlichen Gehirns,
die zunächst einem genetischen Programm folgt, im Verlauf der kindlichen Entwicklung in
hohem Maße abhängig von der Erfahrung des Kindes ist, in der Auseinandersetzung mit
seiner sozialen Umwelt funktionstüchtig zu sein.
Chronisch überforderten Eltern, die sich in ihrer Lebensbewältigung als unzulänglich und als
Verlierer der Gesellschaft erleben, kann es nur schwer gelingen, ihren Kindern ausreichend
Orientierung und Sicherheit zu signalisieren. Im Gegenteil wünschen sie sich von ihren
Kindern die Bestätigung und Anerkennung, die sie sonst vermissen.
Ausreichend gute Bedingungen für die frühe Entwicklung
Die ersten sechs Monate
Vorstellungen über optimale Entwicklungsbedingungen und Anforderungen an das elterliche
Verhalten werden polarisierend diskutiert, das tatsächliche Verhalten der Eltern gegenüber
ihren Kindern verändert sich dagegen wenig. Uns geht es nicht darum, die Vorraussetzungen
für eine gute kindliche Entwicklung umfassend zu beschreiben. Wir beschäftigen uns mit
einzelnen Aspekten der gelingenden und misslingenden Beziehung zwischen Eltern und
Kind, um besser zu verstehen, wie Kindern, die offensichtlich ungenügende Bedingungen für
ihre gute Entwicklung hatten, geholfen werden kann. Es überrascht uns immer wieder, wie
gut sich manche Kinder unter schlechten Bedingungen entwickeln und andere trotz relativ
guter Vorraussetzungen große Probleme haben.
Jahrtausende menschlicher Entwicklung zeigen, dass wir eine robuste, anpassungsfähige
Gattung sind, trotz bzw. wegen unserer besonderen Hilflosigkeit am Anfang unseres Lebens
Die frühe Geburt des Menschen ermöglicht ihm eine besonders gute Anpassung an die
bestehenden Lebensverhältnisse, macht ihn aber auch extrem abhängig davon, dass sich
jemand seiner absoluten Abhängigkeit entsprechend verhält.
2
Das menschliche Neugeborene ist während seiner ersten Lebensmonate wegen seiner
physiologischen Unreife auf eine umfassende Versorgung und die nahezu uneingeschränkte
Verfügbarkeit eines verlässlichen anderen, z.B. die Mutter, angewiesen. Es hat keine
Vorstellung davon, was es braucht und was zur Befriedigung seiner Bedürfnisse notwendig
ist. Wir verstehen seinen Zustand als „absolute“ oder „doppelte Abhängigkeit“.
Seine körperlichen Bedürfnisse lösen ängstliche Erregtheit aus, die der Säugling zunächst
durch sofortiges, lautes Schreien, so als ginge es um sein Leben, zum Ausdruck bringt. Erst
die schnelle Reaktion der Mutter, ihr Wissen, was dem Säugling fehlt und ihre
Entschlossenheit, dafür zu sorgen, dass er bekommt, was er braucht, auch gegen seinen
eventuellen Widerstand führen dazu, dass sich ein sehr unangenehmer Zustand in einen sehr
angenehmen verwandelt, wütendes Gebrüll weicht wohligem Glucksen.
Nähe, Aufmerksamkeit und Handlungsfähigkeit der Mutter geben dem Säugling Sicherheit
bzw. signalisieren, „dass alles gut wird“ eine wichtige regulierende Funktion, die das Kind
nur schrittweise selbst übernehmen kann.
Das Gelingen der frühen Interaktion zwischen Mutter und Kind ist vorgebahnt durch
biologisch-genetische Vorraussetzungen der beiden, der gesunde Säugling ist von Anfang an
auf seine Mutter ausgerichtet, diese verfügt über korrespondierende Reflexe, um ihr Kind zu
verstehen und entsprechend seiner Bedürfnisse zu versorgen. Störungen werden in der Regel
gut bewältigt und tragen zu einer Entwicklung der Beziehung bei. Ein Misslingen der frühen
Interaktion beruht auf verschiedenen, sich negativ verstärkender Faktoren. Die mütterliche
Kompetenz kann durch traumatisierende Erfahrungen, Krankheit, schwerwiegende äußere
Umstände geschwächt sein. Krankheit, Entwicklungsverzögerungen, Anpassungsstörungen,
schwieriges Temperament des Kindes erschweren den Verständigungsprozess.
Gelingt die Verständigung, entwickelt der Säugling schon nach kurzer Zeit so etwas wie
Vertrauen, dass sich Unbehagen in Behagen verwandeln wird. Die Eltern beobachten, dass
ihr Kind nicht mehr sofort aus vollem Halse brüllt, wenn etwas nicht in Ordnung ist, sondern
vorher eine Weile durch Unruhe und Unlustgeräusche auf sich aufmerksam macht, erst wenn
nicht die entsprechende Wirkung folgt, beginnt es mit dem Gebrüll.
Zuverlässige Versorgung, bestätigendes, beruhigendes oder aufmunterndes Eingehen auf das
Kind, regelmäßige, vorhersehbare Abläufe… führen dazu, dass das Kind sich geborgen
fühlen kann, so als lebte es in einer Welt die ganz seinen Bedürfnissen angepasst ist. Trotz
seiner absoluten Abhängigkeit braucht es sich nicht ausgesetzt und bedroht zu fühlen. Eine
Illusion, die durch die Bereitschaft der Eltern, sich für eine kurze Zeit ganz auf die
Bedürfnisse ihres Kindes einzustellen zur Realität wird und zu dem führt, was wir
3
„Urvertrauen“ nennen, ein Vertrauen in sich und die Welt, bzw. eine Gewissheit des Kindes,
dass es selbst und die Welt gut zusammen passen.
Auf diesem Hintergrund entwickelt sich der Säugling rasant, nimmt sich als Ganzes innerhalb
seiner Körpergrenzen wahr, unterscheidet innen und außen, sich und den anderen , erlebt
Impulse und Gefühle von sich ausgehend, sich in seinen unterschiedlichen Verfassungen als
derselbe und als jemand, der etwas bewirken kann. Entsprechend der Differenzierung seiner
Selbst-Wahrnehmung nimmt er seine Umgebung, Handlungsabläufe und Zusammenhänge
wahr und entsprechend differenziert sich auch die Vorstellung von der Mutter als erstem
bedeutenden Anderen..
Am Anfang ist das Paar.
„So etwas wie ein Baby gibt es nicht“ schreibt der englische Kinderarzt und Psychoanalytiker
D.W. Winnicott provozierend, weil ein Baby, ohne eine versorgende Person, die sich seiner
Bedürftigkeit annimmt nicht überleben kann und weil die weitere Entwicklung des Kindes
elementar davon abhängt, ob das Baby ausreichend gut versorgt wurde.
Die Ergebnisse der Säuglingsforschung haben gezeigt, wie aktiv der Säugling von Anfang an
ist und wie er die Kommunikation mit den Eltern aktiv mitgestaltet, wie er vehement darauf
besteht, selbst etwas bewirken zu können. Gibt man z.B. dem Säugling durch eine
Versuchsanordnung die Möglichkeit ein Klangmobile in Bewegung zu setzen, hält sein
Interesse an dem Mobile dreißig mal länger an, als wenn er passiv verfolgt, wie jemand
anderes an- und ausschaltet. (Vergl. Dornes, Der kompetente Säugling, die präverbale Entwicklung des
Menschen,Ffnm 1993).
Die Aktivität schon des jungen Säuglings im Kontakt mit seiner Umwelt, seine
offensichtliche Lust am Spiel mit einem vertrauten Gegenüber, seine vielfältigen
Kompetenzen Beziehung aufzunehmen und zu gestalten usw. machen sein angewiesen sein
auf ein Gegenüber deutlich, dass versteht, antwortet und reagiert, als könne er sich schon
differenziert ausdrücken. Paradox ist, dass der Säugling meistens noch nicht weiß, was er
sucht, was ihm fehlt usw., erst die richtige Reaktion erzeugt das Gefühl, genau das gefunden
zu haben, was er gesucht hat. Eine hohe Anforderung an die Souveränität der Mutter, so muss
sie einerseits fähig sein sich emotional ganz auf den Säugling einzustellen und andererseits
ganz bei sich und der Gewissheit bleiben, dass nur sie wissen kann, was zu tun ist und dass
sie schon das richtige tun oder haben wird. Diese schwere Aufgabe könnte nicht gelingen,
wenn wir Menschen keine genetischen Vorraussetzungen dafür mitbringen würden. Doch
biologische Anlagen brauchen äußere Bedingungen um sich entfalten zu können, bzw. sind
durch schlechte Bedingungen (zer)störbar. Gerade Menschen, die wenig gute Erfahrungen
4
während ihrer Kindheit gemacht haben, wünschen sich oft besonders sehnlich durch eigene
Kinder endlich Geborgenheit, Sicherheit und bedingungslose Liebe zu finden.
Bedürftigkeit in diesem Sinne ist eine schlechte Vorraussetzung für den guten Umgang mit
einem Neugeborenen.
„ Er konnte mich von Anfang an nicht leiden!“, antwortet eine Mutter, die wegen der
Schwierigkeiten mit ihrem acht jährigen Sohn in meine Sprechstunde kam, auf die Frage,
wann die Probleme angefangen hätten. Kurz nach der Geburt in einem Krankenhaus war ihr
Sohn auf die Säuglingsstation verlegt worden, weil es Hinweise auf eine Infektion gab. Als er
ihr am Abend des nächsten Tages wiedergebracht wurde, habe er sofort beim Anblick der
Mutter angefangen zu schreien. Zwar hätten die Pflegerinnen beteuert, dass ihr Sohn sie liebe,
aber sie habe ja gemerkt, dass das nicht stimmen könne und so sei es bis heute geblieben.
Gegenüber anderen verhalte er sich ängstlich, schüchtern und sehr angepasst, zur Mutter sei er
frech, habe schlimme Wutanfälle, beschimpfe sie, trete nach ihr, lüge und stehle ihr Geld aus
dem Portemonnaie. Der Vater bestätigt, dass in den Wutanfällen des Sohnes ein Hass auf die
Mutter zum Ausdruck komme, der ihn erschrecke.
Diese Mutter hatte sich auf dem Hintergrund ihrer eigenen schlimmen Geschichte nichts
sehnlicher gewünscht, als ein Kind, das sie so lieben und versorgen wollte, wie sie es selbst
gebraucht hätte und durch das sie endlich die Bestätigung und Liebe erfahren würde, nach der
sie sich schon so lange sehnte. Statt mit einem niedlichen Baby beglückt, wurde die Mutter
mit einem wütend schreienden Etwas konfrontiert, sofort, ohne dass sie etwas dagegen tun
konnte, wurde sie von schlechten Gefühlen aus ihrer Vergangenheit überschwemmt.
Selbstunsicher, verletzt und enttäuscht konnte sie ihr Kind nicht mehr als hilfloses
Neugeborenes erkennen sondern fühlte sich unterlegen und abhängig von dessen Gunst und
Anerkennung. Es entwickelte sich eine angespannte, schwierige Mutter-Kind-Beziehung.
Aversive Gefühle der Mutter gegenüber dem Neugeborenen, anhaltender Schrecken darüber,
dass es statt lieb und niedlich, schwierig, wütend, gierig usw. ist, verstärken Ängste und
Spannungen des Kindes. Statt des Gefühls selbstverständlich in der Welt aufgehoben zu sein,
entwickelt das Kind korrespondierend eine angestrengt defensive Haltung, die einen
unbeschwerten, spontanen Zugang zur Welt verhindert und eine korrigierende
Beziehungserfahrungen fast unmöglich macht. In ungezügelten Wutdurchbrüchen entladen
sich Anspannung und aufgestaute Angst und Verzweiflung rauschhaft, letztlich bestätigen die
Durchbrüche aber nur die Gewissheit von Ausweglosigkeit.
5
Das zweite Halbjahr
Zurück zu der Entwicklung auf dem Hintergrund ausreichend guter Bedingungen,
Im sechsten Lebensmonat ist die psychische Entwicklung des Kindes unter guten
Bedingungen soweit fortgeschritten, dass es die Getrenntheit von sich und der Mutter/dem
Vater realisiert, d. h. eine Trennung von Ich und Du vollzieht, lange bevor es dafür einen
symbolischen/sprachlichen Ausdruck gibt. Hinweise für diese „Erkenntnis“ des Babys finden
wir in seinem Verhalten: Bis jetzt hatte es jeden Gegenstand in seiner Nähe, der sein Interesse
fand, gegriffen, mit sichtlicher Lust in den Mund gesteckt, darauf rumgekaut, damit hantiert
und ihn nach einiger Zeit fallengelassen. Irgendwann im sechsten Monat können wir
beobachten, dass sich das Verhalten des Kindes um eine bedeutungsvolle Komponente
erweitert. Bevor es sich in einer fremden Umgebung Gegenstände, die sein lustvolles
Interesse finden, greift, nimmt es jetzt Kontakt zu seiner Mutter/seinem Vater auf, erst wenn
diese/r keine Bedenken signalisiert, greift es zu. Diese Verhaltensveränderung weist
daraufhin,
-
dass das Kind begonnen hat, die Eltern als „Instanz“ wahrzunehmen, zu der es
Kontakt aufnehmen kann bei der Erkundung einer Welt, die es noch nicht kennt;
-
dass es sich selbst als jemand wahrnimmt, der etwas vorhat
-
und dass es in seiner Vorstellung eine Welt gibt, außerhalb der Beziehung zwischen
sich und der Mutter/dem Vater.
Die Interaktion zwischen Eltern und Kind: ich habe etwas interessantes entdeckt, darf ich
mich nähern, es greifen, aufessen, umwerfen, mich rein oder raufsetzen….. wiederholt sich in
den folgenden Monaten entsprechend der motorischen Entwicklung des Kindes unzählige
Male, von den Eltern meistens unbemerkt. Videoaufzeichnungen von Eltern und Kindern in
gemeinsamen Situationen zeigen, dass fragende Impulse vom Kind und antwortende
Reaktionen der Eltern in dieser Zeit mehrmals in einer Minute ausgetauscht werden, ohne
dass die Eltern sich dessen bewusst sind.
Mit seinen Eltern über ein sicheres „Navigationssystem“ verbunden lernt das Kind seine
Umwelt kennen, den Umgang damit und traut sich, sich immer weiter von seinen Eltern zu
entfernen. Durch die sichere “Navigation“ erscheint ihm einerseits die Welt regelhaft und
verstehbar, andererseits bildet sich eine innere Sicherheit aus, dass es in verwirrenden,
gefährlichen Situationen eine Sicherheit spendende Instanz gibt.
Ob die Eltern ängstlich oder draufgängerisch sind spielt für das Sicherheitsgefühl des Kindes
keine Rolle, wichtig ist, dass es ihre Signale als zuverlässig erlebt. Auch große Unterschiede
in der Weltwahrnehmung der Eltern verunsichern es in der Regel nicht. Wir können
6
beobachten, dass das Kind sich in Gegenwart des Vaters entsprechend seiner Signale und in
Gegenwart der Mutter entsprechend derer verhält, es lernt so zwei Möglichkeiten des
Herangehens und Umgehens.
Problematisch sind unzuverlässige Signale der Eltern, d.h. wenn das Kind sich nicht darauf
verlassen kann, dass das wahrgenommene Signal, „mach nur“ in der Regel einen guten
Ausgang der Aktion sichert. Z.B. wenn Eltern den Kontakt zu dem sich entfernenden Kind
nicht gut aufrechterhalten können; seine Fähigkeiten über- oder unterschätzen; ihre Wünsche,
wie das Kind sich verhalten soll, in krassem Wiederspruch zu ihren eigenen Möglichkeiten
stehen.
Eine ängstliche, sehr schüchterne Mutter z.B., die sich durch ihre Schüchternheit immer
benachteiligt gefühlt und selbstbewusstere Menschen bewundert und beneidet hat, will auf
jeden Fall verhindern, dass ihr Sohn, Kevin, genauso ängstlich wird, wie sie. Sie bestärkt ihn
in seinem expansiven Verhalten, ist stolz, wenn er sich fordernd und draufgängerisch verhält,
setzt ihm wenig Grenzen usw. Diese Mutter besucht nun, als Kevin Monate alt ist, mit ihm
eine Krabbelgruppe. Die Kinder spielen auf einem Teppich mit Klötzen und Autos, die
Mütter unterhalten sich. Plötzlich werden sie durch lautes Gebrüll unterbrochen. Kevin zerrt
an einem Bagger, den ein anderes Kind festhält. Beide schreien. Kevin holt aus und haut dem
anderen mit einem langen Klotz kräftig auf den Kopf. Dessen Mutter springt auf und trägt ihr
weinendes Kind tröstend weg. Entsetzt blicken die anderen Mütter auf Kevins Mutter….
Kevins Mutter fühlt sich angegriffen, durch Kevins Verhalten bloßgestellt und beschämt.
Wütend mit Kevin schimpfend und Strafe androhend verlässt sie die Krabbelgruppe.
Eine Situation, die so oder ähnlich jeder Mutter, jedem Vater sich schon öfter passiert ist. Die
Impulsivität ihrer Kinder bringt Erwachsene leicht in heikle Situationen, in denen sie
überreagieren, danach tut es ihnen leid. Wenn das Kind regelhaft die Erfahrung macht, dass es
dann, wenn es sich so verhält, wie die Eltern es wünschen, diese in Verlegenheit bringt und
z.B. großer Ärger die Folge ist, bleibt es in sozialen Situation unsicher und orientierungslos.
Kinder die keine sicheren Signale bekommen erleben einerseits eine verwirrende, wenig
einschätzbare Welt ohne sichere Regeln und andererseits, dass es in gefährlichen Situationen
keine sichernde Instanz gibt. Ihre Fähigkeit diese Funktion für sich selbst zu übernehmen,
kann sich nur unzulänglich entwickeln, sie können lebenslang von äußerer Regulation
abhängig bleiben.
Bedeutung der Aggression für die kindliche Entwicklung
7
Ein gesundes, lebensfrisches Neugeborenes kaum auf der Welt, verhält sich hemmungslos
aggressiv, es schreit, tritt, boxt, saugt, beißt und spuckt… rücksichtslos und absichtslos.
Die Eltern reagieren beglückt, sie erleben das energievolle Agieren ihres Kindes als Ausdruck
seiner Vitalität und Gesundheit, sein wütendes Gebrüll als Hinweis darauf, dass seine
Bedürfnisse sofort befriedigt werden müssen. Bereitwillig lassen sie sich bei jeder Tätigkeit
zu jeder Tageszeit unterbrechen und beugen sich dem Diktat der absoluten Bedürftigkeit.
Sie können das, weil sie wissen (normalerweise), dass dieser Zustand vorübergeht. Vermittelt
durch das Verhalten der Eltern erlebt der Säugling eine Welt, die ganz seinen Bedürfnissen
entspricht, bzw. erlebt er eine Welt, in der seine Bedürfnisse deren Befriedigung erzeugen.
Objektiv abhängig und ohnmächtig erlebt sich der Säugling wirkmächtig und stark.
Kraftvolle Motorik signalisiert den Eltern Gesundheit und gutes Gedeihen, die sie freudig und
stolz begleiten, so dass sich lustvolle Interaktionen ergeben, in denen der Säugling in seiner
ganzen Lebendigkeit bestätigt wird. In diesem Sinne ist Aggressivität am Anfang des Lebens
nichts anderes als Vitalität und deren lustvolles Erleben.
Im sechsten Lebensmonat ist die psychische Entwicklung des Säuglings normalerweise
soweit fortgeschritten, dass er sich, wie oben beschrieben, innerhalb seiner Körpergrenzen als
Einheit erlebt, innen und außen unterscheidet, sich und andere als getrennt voneinander
wahrnimmt, sich als Initiator seines Handelns und seine Impulse aus seinem Inneren
kommend empfindet. Entsprechend seiner Vorstellungen von sich, entwickelt sich die
Vorstellung des Säuglings von seiner Mutter als einer endlichen Person. Diese „Erkenntnis“
konfrontiert ihn mit seiner Abhängigkeit von der Mutter, von ihrem Funktionieren, von ihrer
Anwesenheit und damit, dass seine Impulsivität und wilde Bedürftigkeit ihr möglicherweise
schaden könnten. Die Vorstellung, dass ein sechs Monate altes Kind seiner Mutter schaden
könnte ist angesichts der objektiven Größen- und Kraftverhältnisse nur schwer
nachvollziehbar. Sie entspricht der Heftigkeit von Gefühlsstürmen, denen sich das kleine
Kind ausgesetzt fühlt, die es als gewaltig, explosiv o.ä. erlebt und die es selbst noch nicht
kontrollieren kann. Die erlebte Mächtigkeit löst, wenn sich das Kind wieder beruhigt hat, die
Sorge aus, „der Anfall“ könnte einen entsprechend großen Schaden angerichtet haben. Im
Ungang mit Kindern in diesem Alter kann man beobachten, dass sie , wenn sie sich wieder
beruhigt haben, nach der Mutter sehen, Kontakt aufnehmen, eine freundliche Geste machen,
ihr einen Gegenstand hinhalten o.ä. Diese Gesten haben Ähnlichkeit mit
Entschuldigungsritualen von Erwachsenen, von denen das nicht mal einjährige Kind ja noch
nichts wissen kann. Entsprechend bezeichnet Winnicott ( D.W. Winnicott, Die Entwicklung der
Fähigkeit der Besorgnis (Concern) 1962, in: Reifungsprozesse und fördernde Umwelt, Gießen 2001 ) der das
8
Verhalten der Kinder als „Wiedergutmachungsgeste“ und versteht sie als Ausdruck der
Besorgnis des Kindes, die Personen, von denen es sich ganz abhängig fühlt, könnten
beschädigt worden sein oder sich von ihm abwenden, weil es so schlimm war. Die
„Besorgnis“ des Kindes hat also zwei Komponenten, das Erschrecken über das, was in ihm
steckt, was es damit anrichten könnte und das Wohlergehen der für ihn wichtigsten
Menschen.
In der Zeit der absoluten Abhängigkeit von der Fürsorge der Eltern nimmt das Kind seine
Abhängigkeit nicht wahr, es fühlt sich nur gut oder schlecht und weiß nicht, welcher Aufwand
notwendig ist, damit es ihm gut geht. Unter normalen Umständen empfindet es eine
selbstverständliche Verbundenheit in dieser Zeit. Schwerwiegende Mangelerfahrungen in
dieser ersten Zeit werden entsprechend auch nicht als ein Versagen der Umwelt
wahrgenommen, sondern als ein furchtbares Selbsterleben.
Erst die Vorstellung von sich als einer Person ermöglicht die Vorstellung eines abgegrenzten
anderen, von Abhängigkeit und Beziehung und löst die Angst aus, den anderen verlieren zu
können. Während der folgenden Monate ist das Kind darauf angewiesen, dass seine Eltern
haltbarer und robuster sind, als es befürchtet. Heftige Wut Attacken mit entsprechenden
grandiosen Vorstellungen des Kindes werden dadurch relativiert, dass die Welt nach dem
Wutanfall nicht anders aussieht als vorher, dass seine Eltern den Ausbruch unbeschadet
überlebt haben. Ihr reales Überleben ermöglicht dem Kind Realität und Phantasie zu
unterscheiden und die reale Welt, entgegen den Turbulenzen in seinem Inneren als
zuverlässig und beständig zu erleben. In diesem Zusammenhang haben Zusammenstöße mit
der Realität eine heilsame, beruhigende Wirkung. Erleichtert nimmt das Kind nach einem
heftigen Wutanfall wahr, dass das Leben einfach weitergeht und dass es sich um seine
Existenz keine Sorgen machen muss, weil seine Eltern auch weiterhin für es sorgen. Das Kind
lernt, dass extreme Gefühle und monströse Phantasien die Beziehung nicht zerstören. Durch
einen angemessenen, dem Alter des Kindes entsprechenden Umgang der Eltern, kann das
Kind aggressive Gefühle und destruktive Phantasien als Teil von sich annehmen und einen
angemessenen Umgang damit lernen. Entsprechend der Zuverlässigkeit und Haltbarkeit der
Eltern bilden sich innere Strukturen, die im weitern Verlauf Schritt für Schritt die
regulierende Aufgabe der Eltern übernehmen und dem Kind Halt und Selbstsicherheit geben.
Am Ende des zweiten Lebensjahres hat das Kind dann eine relativ stabile psychische Struktur
erworben.
Kinder, die obwohl sie in ihrer ersten Lebensphase gut versorgt wurden, deren Eltern sich in
der beschriebenen zweiten Phase jedoch nicht als haltbar erweisen, verlieren das primär
9
erworbene Vertrauen in eine sichere, bergende Umwelt, so als hätte es sie nicht gegeben.
Resultierende strukturelle Defizite stellen ein erhöhtes Erkrankungsrisiko für psychische
Erkrankungen, Verhaltensauffälligkeiten, Beziehungsstörungen und psychosomatische
Krankheiten dar.
Vor dem Ende des zweiten Lebensjahres kann das Kind das „Versagen“ seiner Eltern noch
nicht unabhängig von sich begreifen, bzw. von sich unabhängige Faktoren als Ursache ihres
Ausfallens annehmen. Egal ob Mutter/Vater sterben, krank werden, das Kind verlassen, auf
Grund eigener Belastungen dem Kind nicht gerecht werden können usw. das Kind erlebt sich,
bzw. seine aggressiven und destruktiven Anteile als einzige Ursache. Entsprechend der jetzt
wahrgenommenen eigenen Abhängigkeit, kann es sich seine Eltern nicht unabhängig von sich
vorstellen, wie es sich überhaupt die Welt nicht unabhängig von sich selbst vorstellen kann.
Gesunde Kinder in diesem Alter können die Trennung von ihrer Mutter für eine bestimmte
Zeit gut überbrücken, ohne die innere Verbindung zu ihr zu verlieren. Im Spiel beschäftigen
sie sich mit dem Erlebten, wiederholen Trennungssituationen und inszenieren Rückkehr und
Wiedersehen, spielerisch geben sie den ausgelösten Gefühlen Ausdruck, in dem sie z.B. eine
Puppe trösten, wegwerfen oder freudig begrüßen. Kehrt die Mutter zurück wird sie freudig
begrüßt. Dauert die Trennung so lange, dass das Kind Angst bekommt, sie komme nicht
wieder, kann es die ausgelösten Gefühle nicht mehr ausschließlich spielerisch bewältigen. Die
Mutter wird bei ihrer Rückkehr mit Schmerz, Wut und Ablehnung konfrontiert, d.h. das Kind
braucht die reale Anwesenheit und Unterstützung der Mutter, um ausgelöste Ängste
verarbeiten zu können und sich innerhalb der Beziehung wieder sicher zu fühlen. Bleibt die
Mutter noch länger weg, so dass die ausgelöste Wut nicht mehr bei ihr untergebracht und von
ihr gehalten werden kann, verblasst das innere Bild der Mutter. Das Kind glaubt, den Verlust
der Mutter verschuldet, verursacht zu haben. Es ist sich gewiss, dass es für die Menschen, die
es braucht, gefährlich oder nicht auszuhalten ist. Ängstlich stellt es sich auf die neue
Situation ein, orientiert sich an äußeren Bedingungen und vermeidet den Kontakt zu seinen
Gefühlen, es wirkt gehemmt, unlebendig und übermäßig angepasst.
Kommt die Mutter zurück oder nimmt sich eine andere Person zuverlässig des Kindes an,
verharrt es lange Zeit in dieser eingefrorenen, defensiven, hoffnungslosen Haltung. Es verhält
sich zurückhaltend, umgänglich und nimmt nur zögerlich freundliche Beziehungsangebote an.
Erst wenn sich die Bemühungen um das Kind als dauerhaft erweisen, schöpft es Hoffnung,
doch noch jemand gefunden zu haben, der die Wucht seiner Gefühle aushalten kann. Die
aufkeimende Hoffnung bringt das Kind in Kontakt mit alten Sehnsüchten und schmerzlichen
Erinnerungen und vor allem mit der Wut über die traumatisch erlebte Trennung. Plötzliche
10
Angriffe, Destruktivität und dissoziales Verhalten sind einerseits Ausdruck der
ursprünglichen Wut über das Verlassen werden, andererseits Ausdruck der Hoffnung, jemand
gefunden zu haben, der der erlebten Unbändigkeit standhalten kann.
Nicht immer ist eine zu lange Trennung von der Mutter die Ursache für die beschriebenen
Verhaltensauffälligkeiten, ähnlich reagieren Kinder, deren Eltern in dieser entscheidenden
Entwicklungsphase krank oder aus anderen Gründen nicht belastbar waren, so dass sie ihren
Kindern nicht ausreichend vermitteln konnten, dass sie deren Aggression und Wildheit
gewachsen sind. Ob Kinder ihre Eltern als ausreichend haltbar erleben hängt nicht nur von
deren objektiver Stärke ab, sondern auch von Temperament und Persönlichkeit des Kindes,
z.B. sind ruhige, zarte Kinder leichter zu halten, als wilde, aufgeregte; freundliche Kinder, die
vorsichtig Kontakt aufnehmen und sich gut auf ihr Gegenüber einstellen können werden
besser behandelt, auch von ihren Eltern, als unfreundliche, abweisende Kinder usw. „Der
kam schon mit schlechter Laune auf die Welt,“ sagt eine Mutter über ihren Sohn, mit dem sie
nicht zurecht kommt, während sie mit seiner kleinen Schwester keine Probleme hat.
Ab dem sechsten Lebensmonat, in dem das Kind begonnen hat, seine Eltern getrennt von sich
zu sehen, überträgt es die Phantasie, selbst allmächtig zu sein, auf die idealisierten Eltern, die
dann für alles verantwortlich sind. Auch Unfälle oder schwere Krankheiten der Kinder
werden vom Kind als ein Versagen der Eltern erlebt, da sie ihre Eltern für omnipotent halten,
bzw. keine Vorstellung davon haben, dass es Mächte außerhalb des Einflusses ihrer Eltern
gibt.
Wie können Kindergarten und Schule diesen Kindern helfen?
Kinder, die zu früh gezwungen waren ihre vitalen Bedürfnisse zu unterdrücken, leben mit der
Vorstellung, dass sie für andere und sich selbst gefährlich sind. Sie benehmen sich angepasst,
wirken flach, unlebendig motivationslos und unkreativ. Wenn sie jedoch Vertrauen in eine
Beziehung oder ein soziales Gefüge entwickelt haben, wird in ihnen die verborgene
Hoffnung wach, diese Menschen, diese Gruppe könnte stark genug sein, ihre Aggressivität,
Stärke, Energie usw. auszuhalten. Gesunde Kinder überschreiten Regeln und Grenzen, weil
sie sie erkunden und überprüfen wollen, weil sie wissen möchten, wie groß der Spielraum ist,
wann es ernst wird. Sie lernen dadurch, wie man sich in komplizierten, sozialen Systemen mit
offiziellen und inoffiziellen Regeln zurechtfindet. Sie lernen, die Erwachsenen einzuschätzen;
verstehen, dass deren Konsequenz auch von der aktuellen Befindlichkeit abhängt usw. All
dies sind wichtige Aspekte des sozialen Lernens.
11
Kinder mit struktureller Schwäche greifen Regeln und Grenzen an mit der Hoffnung gehalten
zu werden, sie suchen jemand, der sie aushält, der vor Konfrontation nicht zurückschreckt,
nicht zurückweicht und nicht zurück schlägt. Sie brauchen ein soziales Gefüge, das ihrer Wut
und Destruktivität standhält. Sie brauchen Erwachsene, die sich ihrer eigenen Grenzen sicher
sind, zu ihren Ansprüchen und Wünschen stehen, bereit sind sich durchzusetzen und nicht
vorschnell resignieren. Sie brauchen Erwachsene, die die Rahmenbedingungen unter denen
sie mit den Kindern arbeiten kennen und anerkennen, die merken, wenn ein Kind mit den
gegebenen Bedingungen überfordert ist, die entsprechende Entscheidungen treffen können.
Grenzüberschreitung ist Selbst- und Objektsuche, wo pathologische Mechanismen beteiligt
sind, hat Strafe für das entsprechende Kind keinen pädagogischen Effekt. Sie entlastet, weil
die „Strafe“, die das Kind auf Grund seiner verletzenden Erfahrungen erwartet, immer
drastischer ist, nämlich zerstörerisch, als das, was dann passiert. Strafe ist wichtig für
diejenigen, die unter den Angriffen leiden, weil sie einen Ausgleich schafft, für das was sie
erlitten haben und es ihnen dadurch leichter fällt, sich dem Kind wieder zuzuwenden.
Ebenso wenig nützt bei diesen Kindern im Zusammenhang mit Angriffen auf Regeln und
Grenzen positive Verstärkung, da die herausbrechende Aggression vom Kind nicht
kontrollierbar ist, sie muss von außen begrenzt werden. Offene, unstrukturierte Situationen
überfordern diese Kinder, sie wirken wie Verführungen. Das Kind braucht Erwachsene, die
dafür sorgen, dass es keinen Schaden anrichtet, die es vor ihm selbst bewahren, damit es nicht
aus der Gruppe ausgeschlossen wird. Bin ich auszuhalten und seid ihr stark genug mich
auszuhalten ist die Frage die das Handeln dieser Kinder immer wieder bestimmt und sie
können keine Ruhe geben, bevor sie nicht wirklich angekommen ist, bzw. ernst genommen
wird. Erst wenn die Wut den anderen im Kern getroffen hat, kann sie beantwortet werden.
Grundlage für die Antwort muss eine nüchterne Prüfung der realen Situation sein: wie schwer
ist die Störung des Kindes? Kann in der gegebenen Situation so auf das Kind aufgepasst
werden, dass kein Schaden entsteht? Fühlen sich die ErzieherInnen z.Zt. in der Lage, sich mit
diesem Kind auseinander zu setzen?
Hilfe für dieses Kind besteht darin, dass es die Erfahrung macht, dass es das Gute nicht
zerstören kann. Auch wenn das bedeutet, dass es die Einrichtung verlassen muss und ein
anderer Ort gefunden wird, an dem es vor seiner Destruktivität besser geschützt ist. Bevor
diese Frage nicht aufgeworfen und anerkannt ist, kann das Kind mit seinem antisozialen
Verhalten nicht aufhören. Eine schwerwiegende Komplikation besteht darin, dass seine
frühkindliche Wut in ihrer ursprünglichen Wucht, nicht mehr von einem kleinen Kind agiert
wird, sondern dass es dafür Kraft und Intelligenz seines jetzigen Alterns nutzt. Aus diesem
12
Grund ist es von großer Bedeutung die Störung frühzeitig ernst zu nehmen und entsprechend
zu reagieren.
Die Bedeutung von Regeln und festen Strukturen. Der Rahmen
Eine pädagogische Einrichtung, Kindergarten, Hort o.ä. in der die Mitarbeiter und
Mitarbeiterinnen kein Interesse an der Entwicklung der Persönlichkeit der Kinder haben, die
in ihrem pädagogischen Konzept sich nicht die Förderung von Selbstbewusstsein, Kreativität
und soziale Kompetenz zum Ziel gesetzt hat, sondern die Kinder nur verwahrt, wird mit
diesen Problemen nicht konfrontiert. In einem starren, autoritären System wird nicht die
Hoffnung des Kindes auf Heilung geweckt. Das destruktive Potential bleibt verborgen. Die
Symptomatik bleibt latent und entlädt sich andernorts.
Ist die Zuwendung ernst gemeint, schöpft das Kind Hoffnung und die Problematik entfaltet
sich. Es ist schwer, zu verkraften, wenn die Antwort auf Freundlichkeit und Engagement,
Angriffe sind, die wirklich verletzten. Die Betroffenen schwanken in ihren emotionalen
Reaktionen zwischen heftiger, oft übermäßiger Wut und Verharmlosung. Oft bilden sich auch
zwei Lager, während die einen das Verhalten des Kindes verharmlosen „er will doch nur
Aufmerksamkeit…“ reagieren die anderen mit übermäßiger Härte und wollen einen
„Präzedenzfall“ schaffen. Der Streit zwischen den beiden Lagern lähmt die Arbeit, schwächt
und zermürbt die einzelnen BetreuerInnen. Die Lösung liegt nicht im entweder oder, sondern
darin, Verständnis und Anforderung in Einklang zu bringen, die ganze Situation und das
einzelne Kind im Zusammenhang zu sehen. Um angemessen mit der Not des Kindes umgehen
zu können, brauchen die betreuenden Erwachsenen einen Rahmen, der ihnen Sicherheit gibt,
der sie schützt, auf den sie sich beziehen können und der es ihnen erlaubt, sich von der
direkten, persönlichen Auseinandersetzung zu distanzieren. Nur so können sie das Verhalten
des Kindes auf dem Hintergrund seiner Geschichte verstehen und eigene Reaktionen,
Verletzungen, Kränkung usw. relativieren und professionell mit der Situation umgehen.
Der Rahmen schützt auch vor einem sentimentalen Blick auf die Kinder. Sentimental heißt,
die Wirkung der ursprünglichen Verletzung und die daraus resultierende berechtigte Wut
nicht anzuerkennen. Bevor das Kind sehen und annehmen kann, was die neue Umwelt an
gutem zu bieten hat, muss sich seine Wut auf die Welt zeigen dürfen, ohne dass sie zerstört
und das Kind fallengelassen wird.
Ein verbindlicher Rahmen, auf den sich die verantwortlichen Erwachsenen diskursiv
verständigt haben symbolisiert eine zuverlässige Struktur, er schützt nach innen und außen,
durch ihn wird ein Raum eröffnet, in dem spielerisch Impulse und Phantasien aus der inneren
13
Welt ausgedrückt und entfaltet werden können, ohne gefährliche Konsequenzen. Er
ermöglicht Trennung und Wiederkehr, Erfahrung mit sich und anderen und konfrontiert mit
angemessener Frustration. Regeln und Strukturen werden persönlich und einfühlsam vertreten
und damit als menschlich und angreifbar erfahren.
14
Herunterladen