75897118 Seite 1 von 17 Depression und Suizidalität – Erkennung und Behandlung in der hausärztlichen Praxis Konsensuspapier Stand: April 2003 Der Autor: Dr. Harald Berger, Allgemeinmedizin, Präsident der OBGAM; Mitglieder des Redaktionsteams: Prim. Dr. Felix Fischer, Psychiatrie; MR. Dr. Oskar Schweninger, Allgemeinmedizin, Obmann der Kurie der niedergelassenen Ärzte OÖ; Dr. Wolfgang Hockl, Allgemeinmedizin, OBGAM Vorstand; Dr. Erwin Kepplinger, Allgemeinmedizin, Vizepräsident der OBGAM; Dr. Wolfgang Zillig, Allgemeinmedizin, OBGAM Vorstand und Vorstand der Medizinische Gesellschaft OÖ Mitarbeit: Fachärztliche Beratung: Univ.-Doz. Prim. Dr. Werner Schöny, OÖ Landes-Nervenklinik Wagner Jauregg in Linz, Präsident der Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie; Dr. Egon Haberfellner, Fachgruppenobmann Psychiatrie OÖ; Prim. Dr. Felix Fischer, Psychiatrie; Soweit nicht komplizierende Faktoren vorliegen, kann die Behandlung depressiver Patienten in den Händen des Hausarztes verbleiben. Depressive Kranke haben eine hohes Suizidrisiko – dieses anzusprechen und die Abklärung zu dokumentieren, ist medizinisch und haftungsrechtlich notwendig. Mit den “guide-lines” und Konsensuspapieren der Ärztekammer für Oberösterreich werden im Sinne von Handlungs- und Entscheidungskorridoren Orientierungshilfen für Diagnose und Therapie bei speziellen gesundheitlichen Problemen geboten. In begründeten Fällen kann oder muss von diesen Leitlinien abgewichen werden. 75897118 Seite 2 von 17 INHALT: Depression in der hausärztlichen Praxis .............................................................................. 3 Epidemiologie und Klassifizierung......................................................................................... 3 Depression in verschiedenen Lebensphasen [9] ............................................................... 3 Gründe, die Patienten davon abhalten, einen Arzt aufzusuchen [2] ............................. 5 Screening in der Allgemeinpraxis [3] ..................................................................................... 5 5.1 Arztfragen beim Patientenkontakt: ............................................................................................ 5 5.2 Fragebogen ............................................................................................................................... 5 6 Diagnostik ..................................................................................................................................... 5 7 Die hausärztliche Therapie – Krankheitsmanagement ..................................................... 8 7.1 Einsicht und Akzeptanz des Patienten zur Diagnose schaffen [13], [14] ................................. 8 7.2 Anlaufstelle und Zusammenarbeit ............................................................................................ 8 7.3 Kontrolltermine .......................................................................................................................... 8 7.4 Therapiewege ........................................................................................................................... 8 7.4.1 Medikamentöse Therapie .................................................................................................. 8 7.4.2 Psychotherapie [7] ............................................................................................................. 9 7.4.3 Biologische / physikalische Verfahren ............................................................................. 10 8 Überweisung zum Facharzt .................................................................................................... 10 9 Abwendbar gefährlicher Verlauf: Suizid [17], [18] ............................................................ 10 10 weiterführende Hinweise ......................................................................................................... 12 11 Literatur / Quellenangaben ..................................................................................................... 12 12 Anhang ......................................................................................................................................... 14 Beurteilung der Suizidalität -modifiziert nach [8] ............................................................................ 15 Algorithmus - modifiziert nach [23] ................................................................................................. 16 1 2 3 4 5 75897118 1 Seite 3 von 17 Depression in der hausärztlichen Praxis In der neuesten Agenda der WHO kommt der Depression ein sehr hoher Stellenwert zu, da einerseits neuere Untersuchungen die herausragende medizinische und gesundheitspolitische Bedeutung dieser Erkrankung belegt haben, andererseits aber auch in den entwickelten Ländern die Mehrzahl der depressiven Patienten nicht adäquat versorgt wird. Bei der Optimierung der Versorgung depressiver Patienten kommt den Hausärzten eine besondere Verantwortung zu, da sie die meisten depressiven Patienten betreuen. Soweit nicht komplizierende Faktoren wie das Vorliegen einer bipolaren affektiven Störung, akute Suizidalität, Co-Morbidität und Multimedikation, wahnhafte Depression und Therapieresistenz vorliegen kann die Behandlung in den Händen des Hausarztes verbleiben. Für die Prognose der Patienten ist entscheidend, dass die zuverlässige Mitarbeit des Patienten nicht nur für die akute symptomsupressive Behandlung, sondern auch für die mehrmonatige Fortführung der Antidepressiv-Gabe nach Symptomremission und gegebenenfalls für die längerfristige rückfallverhütende Behandlung gewonnen wird. Zu überlegen ist bei allen Patienten ob die Einleitung einer Psychotherapie, z.B. einer kognitiven Verhaltenstherapie indiziert ist. 2 Epidemiologie und Klassifizierung Laut Gesundheitsbericht Oberösterreich (2000) [1] „erfüllen derzeit ca. 5 % der Bevölkerung die Kriterien einer depressiven Störung. Frauen erkranken 2 bis 3 mal so oft an einer Depression wie Männer, erstmalige Krankheitsausbrüche häufen sich zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr. Im höheren Lebensalter gibt es eine Reihe von prädisponierenden Faktoren, belastenden Lebensereignissen die als Auslösefaktoren zu werten sind. Man geht davon aus, dass etwa 11 bis 18 % der über 60-jährigen Depressionen entwickeln. Der Verlauf ist häufig episodenhaft und unbehandelt meist recidivierend oder chronisch. In der Gruppe von Patienten mit schweren depressiven Störungen liegt die Lebenszeit-Suizidalität bei 15 %. Bis zu 56 % der Patienten mit depressiven Störungen begehen in ihrem Leben einen Selbstmordversuch. Für das Jahr 1998 registrierte die Todesursachenstatistik für OÖ 268 Suizide; damit sterben deutlich mehr Menschen an den Folgen eines Suizides als an den Auswirkungen von Verkehrsunfällen.“ 3 Depression in verschiedenen Lebensphasen [9] Säuglingsalter: Reaktive Bindungsstörung des Säuglings und Kleinkindes durch Mangel an Betreuung. (Rene Spitz) Das Fehlen einer Gesichtsstimulation löst für das Kind einen Mangel aus. Kleinkindalter: [10] Inappetenz, Lustlosigkeit, Schlafstörungen, Aufmerksamkeitsstörungen, Ängste. Schulkind: z.B. Schulangst: Kind getraut sich nicht in die Schule zu gehen, fürchten sich, gehänselt, beschimpft oder geschlagen zu werden und zum Blitzableiter der Klassengemeinschaft zu werden. Jugendliche: Anhaltende Traurigkeit, Reizbarkeit, erstes Manifestationsalter des Selbstmordes, die Jugendlichen sind bei der Untersuchung gut bezüglich ihrer Selbstmordideen explorierbar. „Post Partum, Baby Blues“: [19] in 50-85 % Stimmungsschwankungen, unerwartete Tränenausbrüche, ängstliche Besorgnis, Schlaf- u. Konzentrationsstörungen innerhalb der ersten 10 Tage, 75897118 Seite 4 von 17 Postpartal-Depression: hat eine Prävalenz von 10-15 %, d.h. der Häufigkeit in anderen Lebensabschnitten entsprechend, Gipfel 1.- 3.Monat, bei belastenden Lebensumständen, bes. häufig bei Erstgebärenden u. Adoleszenten. Erkennung und Behandlung sind wichtig, da betroffene Frauen keine Liebe für ihr Kind empfinden können und ihr Kind meiden aus Angst, ihm Schaden zuzufügen. Saisonal abhängige Depression (SAD): Müdigkeit und Niedergeschlagenheit, Energie- und Interesselosigkeit, Heißhunger auf Kohlenhydrate, dadurch Gewichtszunahme, erhöhtes Schlafbedürfnis, Tagesmüdigkeit- tritt jedes Jahr in der dunklen Jahreszeit zwischen Oktober/November und Februar/März auf. Depression in Zusammenhang mit prämenstruellem Syndrom = prämenstruell dysphorische Störung (PMDS): Schmerzen im Kopf-, Brust- und Bauchbereich, Schwellungen in Gesicht, an Händen, Nervosität, Reizbarkeit, Dysphorie bei 3-5%. Therapie: kleine kohlenhydratreiche Mahlzeiten, Stressmanagement, SSRI (keine Wirklatenz) Männerdepression: [11] Beim Zusammenbruch des erlernten Verhaltensrepertoires unter für das Individuum unkontrollierbaren Belastungen sind zwei prototypische Reaktionsmuster bekannt: Es spricht einiges dafür, dass der Totstell-Reflex in gewisser Weise der typisch weiblichen, das Kampfund Fluchtverhalten der typisch männlichen depressiven Reaktionsweise zugeordnet werden können. Symptomatik: Tiefe Traurigkeit, Einschlafstörungen, kein Interesse am Essen, Sexualität und Arbeit, Gefühl der Wertlosigkeit, Verlust von Selbstsicherheit, Schwierigkeiten Entscheidungen zu treffen, geringe Stresstoleranz, verminderte Selbstkontrolle, aggressives unsoziales Verhalten, Alkoholmissbrauch. Begleitdepression durch chronifizierte Erkrankungen: Erscheinungsbild: vordergründig körperliche Erkrankung/Leiden depressive Faktoren, „leichte“ Ausprägung der Symptomatik. rascheres Ansprechen auf Antidepressiva plus „begleitende“ Depression des älteren Menschen: [12] Reizbarkeit, Misstrauen, hypochondrische Züge, stumme Symptome wie Resignation, Apathie und Müdigkeit, depressiver Wahn. Biologische Beeinträchtigung durch Multimorbidität. Apathie, Schwierigkeiten den Alltag zu meistern, meistens morgendliche Traurigkeit, Furchtsamkeit, Abhängigkeit von anderen Leuten. Beachte: Mangelnde Akzeptanz einer psychischen Störung, auch von Seiten des Patienten (z.B. erklärt als „verständliche“ Reaktion auf Verlusterlebnis durch Tod des Partners, soziale Isolierung, Aufnahme in eine Institution). Zusätzliche biologische Komponente: minimiertes Neurotransmitterangebot Trauer Unterscheidung zwischen Trauer und Depression: Trauer ist eine normale Reaktion auf einen schwerwiegenden Verlust oder Schicksalsschlag (z.B. der Tod eines geliebten Menschen). Der Betroffene hält seine Gefühlsregungen, seine Gefühlsausbrüche noch für normal. 75897118 4 Seite 5 von 17 Gründe, die Patienten davon abhalten, einen Arzt aufzusuchen [2] In einer großen gesamteuropäischen Untersuchung (Studie DEPRES I) wurden über 78000 Einwohner befragt. 50 % glauben an Spontanbesserung /Selbstheilung 20 % lehnen ärztliche Behandlung ab, wegen Aversion gegen Medikamente oder Misstrauen gegenüber dem Arzt 10-15 % nannten Angst vor dem Arztbesuch bzw. bewerten ihren Zustand moralisch. Gesamtbewertung: Insgesamt ist festzuhalten, dass die Gründe für die häufige Nichtbehandlung zu einem Großteil bei mangelnder Information über die Erkrankung und ihre Behandelbarkeit und nur zu einem kleineren Teil in Vorbehalten gegenüber der Medizin allgemein liegen. Es besteht erheblicher Aufklärungs-, Diagnostik- und Therapiebedarf. 5 Screening in der Allgemeinpraxis [3] 5.1 Arztfragen beim Patientenkontakt: Aufgrund der Praktikabilität sind 2 direkte Fragen des Arztes hilfreich und ausreichend, ein Screening auf Depression durchzuführen [6]: “Haben Sie sich während des letzten Monats häufig niedergeschlagen oder hoffnungslos gefühlt?“ „Haben Sie während des letzten Monats häufig wenig Interesse und Freude an Aktivitäten gefunden?“ Jeder Patient, der eine Frage bejaht, muss diagnostisch auf eine Depression abgeklärt werden! 5.2 Fragebogen WHO - Well-Being Five [4]: Indikator für das Wohlbefinden: Die Wellbeing Five der WHO sind krankheitsunabhängige Daten, die sich ausschließlich auf das allgemeine Wohlbefinden und persönliche Lebensgefühl jedes einzelnen Patienten beziehen. Fragebogen s. im Anhang; Fragebögen zur Verwendung in Ihrer Ordination erhalten Sie im Institut für medizinische Qualitätssicherung, Tel. 0732 / 77 83 71 / 245; email: [email protected] und im Internet: http://www.aekooe.or.at/arzt/dhtml/vereine/qualitaetssicherung/guidelines/site_index.php? Je nachdem in welchem Kästchen das Kreuz gesetzt wird, werden Punkte vergeben. z.B. "...fühlte ich mich fröhlich und gut gelaunt" in Kombination mit "Meistens" gibt 4 Punkte. Die Punkte werden addiert und die Gesamtpunkteanzahl, die zwischen 0 und 25 liegen muss, entsprechend interpretiert: Ein Score unter 13 Punkte oder bei mind. 1 Antwort mit „0“ oder „1“ indiziert eine Depressionsdiagnostik. 6 Diagnostik Typische Symptome: Verlust der Fähigkeit Freude zu empfinden, Gefühl der Schwermut, in vielen Fällen jedoch auch eine vorherrschende Gefühllosigkeit. Spannungsangst, Gefühl oder Hilflosigkeit, Tätigkeiten, die früher Spaß gemacht haben, werden deutlich vernachlässigt, verminderte 75897118 Seite 6 von 17 Konzentrationsfähigkeit, fehlendes Selbstwertgefühl, unbegründete Schuldgefühle, verminderte Aktivität, Unruhe und Rastlosigkeit, Grübelzwang, deutliche Gewichtszu- oder -abnahme, Schlafstörungen, öfter übermäßiges Schlafbedürfnis. Äußere Aspekte eines depressiven Menschen Dem Menschen ist die Schwermut anzusehen, sie wirken niedergeschlagen, mutlos, verzweifelt, ängstlich getrieben oder psychomotorisch gehemmt, umständlich, konzentrationsschwach, Initiativen aus Furcht, sind vor allem ratlos, was die Vielfalt seelischer, körperlicher und psychosozialer Probleme der letzten Zeit anbelangt. In körperlicher Hinsicht wirken Depressive manchmal vorgealtert, von gebeugter Haltung, schwerem Gang, verarmter Mimik, matter oder fahriger Gestik, blasser, schlaffer und welker Haut, müdem Gesichtsausdruck, verschleiertem Blick, leiser und monotoner Stimme. Manche Kranke wirken ungepflegt, in zwischenmenschlicher Hinsicht scheinbar gleichgültig, teilnahmslos, mitunter missgestimmt, gereizt oder geradezu feindlich eingestellt. Gesprächsführung: Ruhiges Zuhören und Verstehen des Patienten; alles was der Arzt im Gespräch mit einem depressiven Patienten äußert, muss so verpackt sein, dass der Patient es nicht als negative Wertung verstehen kann. Der Patient soll sich verstanden fühlen, auf der anderen Seite sollten ihm in verständlicher Weise Erklärungen zur Erkrankung gegeben werden. Selbst bei krassen Fehleinschätzungen durch den Patienten soll nicht sofort eine Entkräftigung vorgenommen werden. Alle Argumente des Patienten werden gesammelt, bevor die aus wissenschaftlicher Sicht berechtigte Hoffnung vermittelt wird, dass die meisten Depressionen geheilt oder zumindest entscheidend gebessert werden können bzw. bevor aus der Vorgeschichte des Patienten erarbeitet werden kann, dass nach depressiven Episoden auch wieder ausgeglichenere Zeiten folgen. Falsche Ratschläge an Patienten und Angehörige: Appelle wie: sich zusammenreißen, sich nicht gehen lassen, sich beherrschen, sich durchbeißen, Ablenkung, Urlaub: Depressive finden sich in fremder Umgebung noch weniger zurecht als zu Hause, sie engen sich in ihren Gedanken immer mehr auf die depressive Symptomatik ein. Durch die in fremder Umgebung öfter zu erwartenden neuen oder ungewohnten Situationen rasche Überforderung mit angst- und panikartigen Reaktionen. Kuraufenthalte nur unter günstigen familiären, medikamentösen, ärztlichen und psychosozialen Voraussetzungen, z. B. bei Erschöpfungsdepression. Es ist falsch, mögliche Wahnideen ausreden zu wollen. Entscheidungen: es ist falsch während einer Depression wichtige Entscheidungen treffen zu lassen. Beruflich: es ist falsch, berufliche Veränderungen zuzulassen, es sei denn sie dienen dem eindeutigen Vorteil des Betroffenen. Anamnese: Auslösendes Ereignis von subjektiver Bedeutung wie Jahrestagreaktion oder chronische Belastungen, organische oder medikamentöse Ursachen, körperlich begründbare Depressionen, reaktive Faktoren, Ereignisse welche den Patienten seelisch und/oder psychosozial belasten und ihn im Grunde nicht mehr loslassen, Erschöpfungszustand, gefühllose Dauerbelastung oder entlastungslose Stresssituation, Psychische Störungen oder Erkrankungen seitens der Vorfahren und Verwandten. Für ein strukturiertes Vorgehen eignet sich „TRIPS“ [22] 75897118 Seite 7 von 17 Allgemeine somatische Basisdiagnostik: Eingehende körperliche und grob neurologische Untersuchung, Labordiagnostik: Entzündung, Leber, Niere, Schilddrüse CAVE: Mögliche organische Ursachen: Zerebrale vasculäre Erkrankung, beginnende dementielle Erkrankung, Hirntumor, traumatische Hirnschädigung, Parkinsonsche Erkrankung, Rekonvaleszenzphase von Viruserkrankungen, chronische Intoxikation (Alkohol, Schlafmittel, Schmerzmittel), Medikamentennebenwirkung von Antikonvulsiva, reserpinhaltigen Antihypertensiva, BetaBlocker, Antiparkinsonmittel, Tuberkulostatika, Barbiturate, Benzodiazepine, Cimetidin und Ranitidin, orale Kontrazeptive, Korticosteroide. 75897118 7 Seite 8 von 17 Die hausärztliche Therapie – Krankheitsmanagement 7.1 Einsicht und Akzeptanz des Patienten zur Diagnose schaffen [13], [14] Akzeptieren des depressiven Zustandes durch den Betroffenen und den Therapeuten als Entlastung Information über Depressionserkrankung inkl. Prognose u. wahrscheinlichen Verlauf: Depression als Ungleichgewicht zwischen Belastungen und Belastbarkeit benennen. Veranlagungen und Verletzlichkeit des Menschen spielen eine Rolle. Akute psychosoziale Belastungen können für den Zeitpunkt der Auslösung einer Depression verantwortlich sein. Information über Somatisierungen, Medikamentenwirkungen (Wirkungseintritt nach 2 Wochen) u. –nebenwirkungen (treten gleich zu Beginn auf) 7.2 Anlaufstelle und Zusammenarbeit Es soll eine professionelle therapeutische Anlaufstelle vereinbart und die Zusammenarbeit von Hausarzt, Facharzt u. Psychotherapeut organisiert werden 7.3 Kontrolltermine Nach 1 Woche: Verbesserung der Compliance, Erkennen und Besprechen der Nebenwirkungen Nach 3-4 Wochen: Beurteilung der Wirksamkeit, ev. Dosisanpassung Monatlich: Verlaufsbeobachtung mittels Fragebogen 7.4 Therapiewege 7.4.1 Medikamentöse Therapie Hyperikumextrat-Präparate haben ihre Wirksamkeit in placebokontrollierten Doppelblinduntersuchungen nur bei leichten bis mittelschweren Depressionen bewiesen. Wirksamkeit besteht auch gegenüber Angstsymptomatik. Nebenwirkungen: nicht gemeinsam mit Lichttherapie, Photosensibilisierung, Medikamenteninteraktionen (Cytochrom P 450). Trizyklische Antidepressiva: Vorteile: initial gute sedierende Wirkung, etablierte, gut überprüfte antidepressive Wirkung. Anticholinerge Nebenwirkungen: Akkomodationsstörungen, Mundtrockenheit, Harnverhaltung, Obstipation, Erregungsleitungsstörungen am Herz, delirante Symptome; EKG vor Therapiebeginn und während der Behandlung, Laborkontrollen Auf das Serotoninsystem wirkende AD: Günstigeres Nebenwirkungsprofil Nebenwirkungen: 10-30 % gastrointestinal (Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen), 10-15 % Schlafstörungen, innere Unruhe, Agitiertheit, sexuelle Funktionsstörungen (verzögerter Orgasmus) 75897118 Seite 9 von 17 Dosierung der Antidepressiva [21] Wirkstoff Handelsname Dosisbereich mg/Tag Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Inhibitoren (SSRI) Citalopram Seropram 20-60 Fluoxetin Fluctine, Generika 20-60 Fluvoxamin Floxyfral 100-300 Paroxetin Seroxat 20-50 Sertralin Tresleen, Gladem 50-200 Serotonin- u. Noradrenalin-Wiederaufnahme-Inhibitoren (SNRI) Milnacipran Dalcipran, Ixel 100 Venlafaxin Efectin 75-350 Serotonin-Wiederaufnahme-Enhancer (SRE) Tlaneptin Stablon 37,5 Noradrenalin- und serotoninspezifische AD (NassA) Mirtazapin Remeron 15-45 Noradrenalin–Wiederaufnahme-Inhibitoren (NARI) Reboxetin Edronax 4-10 Dual-Serotonerge AD (DAS) Nafazodon Dutonin 200-600 Monoamin-Oxidase-A Hemmer /MAO-A-Hemmer Moclobemid Aurorix 300-600 Phytopharmaka Johanniskraut Jarsin 900 Trizyklische Antidepressive Amitriptylin Saroten, Tryptizol 50-150 Clomipramin Anafranil 50-150 Dexepin Sinequan 50-150 Diverse andere Antidepressiva Trazodon Trittico 75-450 Mianserin Tolvon 30-90 Maprotilin Ludiomil 25-150 Erhaltungstherapie: Nach Erreichen einer vollständigen Remission, in gleicher Dosierung, Dauer: 6-12 Monate Bei rezidivierenden Depressionen langfristige, u.U. lebenslange prophylaktische Therapie mit Antidepressiva, Lithium oder Carbamazepin. 7.4.2 Psychotherapie [7] In Absprache mit dem Facharzt, z.B. Kognitive Verhaltenstherapie: Indikation: Patient sucht nach einer strukturellen Führung durch einen Therapeuten Einüben regelmäßiger täglicher Aktivitäten, Bearbeitung unrealistischer negativer Kognitionen über das Selbst, die Welt und die Zukunft, Erkennen und positive Bewertung von Erfolgserlebnissen, Aufbau sozialer Kompetenz in strukturierten Übungen. 75897118 7.4.3 Seite 10 von 17 Biologische / physikalische Verfahren Lichttherapie: [16] günstig bei saisonal abhängigen Depressionen, Lichtstärke: mindestens 2500 Lux, der Effekt wird über die Augen vermittelt, Behandlungsdauer mind. 30 Minuten, höchste Effizienz am Morgen, die Augen sollen mindestens 1 Meter, je nach Gerät unterschiedlich, von der Lichtquelle entfernt sein, nach 3-7 Tagen antidepressiver Effekt. 8 9 Überweisung zum Facharzt Unklare psychiatrische Diagnose Suizidgefährdung Kombinationstherapie Depressive Syndrome im Alter Weitere psychische Auffälligkeiten: Psychiatrische Komorbidität und Substanzabhängigkeit bzw. – missbrauch. Rezidiv. depressive Episoden, bipolare Störungen Wenn binnen 6-8 Wochen kein zufriedenstellendes Behandlungsergebnis erreicht wird. Abklärung organisch bedingter Depression Frage nach ausreichend langer (mindestens 3 Jahre) und ausreichend hoch dosierter Rückfallprophylaxe mit Antidepressiva oder Lithium. Abwendbar gefährlicher Verlauf: Suizid [17], [18] Vorkommen von Suizidalität: Depression, daneben bei Suchtkrankheiten, Schizophrenie / Schizoaffektive Psychose, Persönlichkeitsstörung, Krisensituation, Lebensbilanz, Schockreaktion Risikofaktoren für Suizidalität: Gefühl der Ausweglosigkeit bei Lebenskrisen, Fehlen sozialer Unterstützung: Einsamkeit/Isolation, Alter über 45, vor allem Männer über 70, Männliches Geschlecht, Alkoholisierung, chronischen z.B. malignen Krankheiten, früheren Selbstmordversuchen, suizidalem Kommunizieren, Suiziden in der Umgebung, psychosozialen Belastungen, psychiatrischen stationären Wiederaufnahmen innerhalb kurzer Zeit. Warnzeichen bei Jugendlichen: [20] Schulleistungen werden schlechter, feindseliges Verhalten, Reizbarkeit, Konzentrationsschwächen, Gefühl der Hilflosigkeit, veränderte Essensund Schlafgewohnheiten, Ruhelosigkeit, Entfernen von Freunden und Aktivitäten, Weinen, Traurigkeit, Weggeben besonders geschätzter Besitztümer, Gespräch über Tod und Selbstmord Autoaggressiver Lebensstil: Chronische Überarbeitung; übermäßiges Essen, Alkohol, Nikotin oder Medikamente; mangelnde Bewegung, Entspannung, Schlaf, Regeneration; Unzufriedenheit in Arbeit, Beruf, Beziehungen 75897118 Seite 11 von 17 Psycho-sozio-somatische Dekompensation: Zusammenbrüche auf körperlicher und psychischer Ebene Präsuizidales Syndrom: zunehmende Einengung: Situative Einengung: betrifft persönliche Situation und Möglichkeiten Dynamische Einengung: betrifft Wahrnehmung, Assoziationen, Affekte und Verhaltensmuster, auffällige Ruhe Einengung der zwischenmenschlichen Beziehungen und der Wertewelt, Verzicht auf frühere Interessen und Tätigkeiten. Aggressionsstauung und Wendung der Aggressivität gegen die eigene Person Selbstmordphantasien: vorerst aktiv intendiert, anschließend sich passiv aufdrängend, Vorbereitungshandlungen, fehlende affektive Resonanz: Wurstigkeit Klärung des Suizidrisikos: Achten auf ängstlich agitiertes Verhalten, Schuldgefühle, langdauernde Schlafstörungen, ausgeprägte Selbstwertproblematik, Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, fehlende Zukunftsperspektiven Fragen nach Überdrussgefühlen und Selbstmordgedanken: Denken Sie manchmal ans Sterben? Selbstmordgedanken: wie oft, wie lange, wie aufdrängend? Selbstmordpläne: wie konkret sind Selbstmordpläne Ausweg: was hält zurück, was hält am Leben: Kinder, Partner, Perspektiven, Aufgaben, Religiosität, (oder Feigheit)? Frageleitfaden zur Beurteilung des Suizidrisikos [8] s. Anhang 10.3. FEHLER: Nicht nach Suizidalität fragen, nicht dokumentieren Therapeutische Interventionen: Betreuung, Behandlung, professionelle Bewachung als Maximalvariante stationäre Aufnahme auch gegen den Willen (UBG). Antisuizidversprechen oder Pakt in besonderen Situationen, konkrete und kurzfristige eindeutige Vereinbarungen, Tagesstruktur, unter Umständen in Beratungsstellen. Behandlungsablauf: 8-12 Tage: Medikation für Schlaf, Befindlichkeit, Besserung vegetativer Symptome, als Medikation Tranquilizer und wenig toxische Antidepressiva anschl. 1-4 Monate: Entspannungs-, Bewegungstherapie, Beginn einer Psychotherapie, v.a. Verhaltenstherapie nach 6-12 Monaten: langsame Reduktion der Pharmakotherapie, Suchen der positiven Absicht der Erkrankung, Veränderung des Lebensstils 75897118 Seite 12 von 17 10 weiterführende Hinweise Organisationen Kriseninterventionszentrum Promente Oberösterreich, Linz, Hessenplatz 9, Tel. 0732 / 21 77; Fax: 0732/ 2178-20; Öffnungszeiten: Mo-Fr 7:30-19:30 Psychosozialer Notdienst, Linz, Figulystr. 34, Tel. 0732 / 65 10 15; telefonische Soforthilfe rund um die Uhr; Broschüren für Patienten: Promente Oberösterreich, Wenn die Seele das Gleichgewicht verliert, 4020 Linz, Figulystraße 32, Tel. 0732 /651355; email: [email protected] Österreichische Gesellschaft für depressive Erkrankungen, Depressionen, ein Leitfaden für Angehörige, Fax 02254 729 65, e-mail: [email protected] 11 Literatur / Quellenangaben [1] Gesundheitsbericht Oberösterreich 2000, (Hrsg.)Amt d. oö. Landesregierung, Magistrat der Landeshauptstadt Linz, oö. Gebietskrankenkasse [2] DEPRES 1: Erkennen und Behandeln der Depression, Prof. Dr. M. Gastpar, Der Hausarzt, 20/01, Seite 42-47 [3] Routinely administered questionnaires for depression and anxiety: systematic review. Simon M Gilbody, Allan O House, and Trevor A Sheldon; BMJ 2001 322: 406[4] WHO: Info Package “mastering depression in primary care” http://qct.who.dk/DepCare/InfoPack.htm [5] BDA – Berufsverband der Allgemeinärzte Deutschlands – Therapiemanual „Depression“ – 2000: http://www.ifap-index.de/bda-manuale/depressionen/index.html [6] Bruce Arroll: Two screening questions may be helpful, BMJ 2001;323:167 ( 21 July ): [Volltext], Whooley, Avins, Miranda, Browner, J Gen Intern Med. 1997 Jul;12:439-45 [7] Leitfaden Qualitätszirkel in Psychiatrie und Psychotherapie, Härter, Groß-Hardt, Berger, Hogrefe [8] Fragebogen zur Beurteilung des Suizidrisikos, www.depression.ch [9] Depression aus Sicht des Allgemeinmediziner, Rolf Jens, Hausarzt 10/2001 [10] Depression und Depressionsäquivalente im Kindes- und Jugendalter, Scheer, Dunitz, Trojovsky, Kaschnitz, Der Mediziner, 5/1993 [11] Depression beim Mann, DPP, Ärztemagazin 7/2001 [12] Begleitdepression, Barolin, Jatros Neurologie/Psychiatrie 7/2001 [13] Compliance bei Antidepressiva, Hofmann, Jatros Neurologie/Psychiatrie, 2/2001 [14] Arzneidialog Oberösterreich, Antidepressiva, Jänner 2000 75897118 Seite 13 von 17 [15] Neue Antidepressiva, Mirzaian, Gastpar, ZFA-MediCData 2000 [16] Licht in das winterliche Depressions-Dunkel, Kasper, Jatros Neurologie/Psychiatrie, 7/2001 [17] Qualitätszirkel “Suizidrisiko”, Haberfellner, 2001/02 [18] Suizidalität in der Praxis, Gathmann, Promed 2/95 [19] Kaspar, „Frauenspezifische Ausprägungsformen der Depression“, Forum dr.med, Mai 2002 [20] Leixnering, FORUM Gesundheit [21] Dantendorfer, Hausarzt 10/2001 [22] TRIPS, Katschnig, Gföllner, Universitätsklinik für Psychiatrie, Wien, o.J. [23] Hegerl, http://www.kompetenznetz-depression.de 75897118 Seite 14 von 17 12 Anhang WHO- Fragebogen für das Wohlbefinden [4] Sehr geehrte Patientin, sehr geehrter Patient! Im Folgenden finden Sie einige Fragen zu Ihrem persönlichen Wohlbefinden. Überlegen Sie bitte nicht erst, welche Antwort den besten Eindruck machen könnte, sondern antworten Sie so, wie es für Sie persönlich zutrifft. Bitte markieren sie bei jeder Aussage die Rubrik, die Ihrer Meinung nach am besten beschreibt, wie Sie sich in den letzten zwei Wochen gefühlt haben. Bitte beantworten Sie jede Frage und bringen Sie den Fragebogen zum Gespräch mit Ihrem Arzt mit! Etwas Etwas weniger mehr als als die die Hälfte Hälfte der der Zeit Zeit Ab und zu Zu keinem Zeitpunkt (2) (1) (0) beim und ...war mein Alltag voller Dinge, die mich interessieren. Die ganze Zeit Meistens (5) (4) (3) ...war ich froh und guter Laune. ...habe ich mich ruhig und entspannt gefühlt. ...habe ich mich energisch und aktiv gefühlt. ...habe ich mich Aufwachen frisch ausgeruht gefühlt. In den letzten 2 Wochen... Eine Kopiervorlage dieses Fragebogens erhalten Sie im Institut für medizinische Qualitätssicherung bzw. auf der Homepage des Instituts / Ärztekammer OÖ http://www.aekooe.or.at (Rubrik Vereine/Institut Qualitätssicherung/guidelines) 75897118 Seite 15 von 17 Beurteilung der Suizidalität -modifiziert nach [8] Diese Fragen dienen dazu, in unklaren Fällen das Suizidrisiko einzuschätzen. Die Fragen sollten durch den Arzt gestellt werden. Je mehr Fragen mit den vorgegebenen Antworten übereinstimmen, desto größer ist das Risiko. 1. Haben Sie schon einmal daran gedacht, sich das Leben zu nehmen ? (Ja) 2. In der letzten Zeit häufiger ? (ja) 3. Haben sich Ihnen Selbstmordgedanken, ohne dass Sie es wollten, aufgedrängt ? (ja) 4. Haben Sie konkrete Ideen, wie Sie es machen würden ? (ja) 5. Haben Sie dafür schon Vorbereitungen getroffen ? (ja) 6. Haben Sie schon mit jemanden über Ihre Selbstmordabsichten gesprochen ? (ja) 7. Haben Sie schon einmal einen Selbstmordversuch unternommen ? (ja) 8. Hat sich in Ihrer Familie oder im Freundeskreis jemand das Leben genommen ? (ja) 9. Halten Sie Ihre Situation für aussichts- und hoffnungslos ? (ja) 10. Fällt es Ihnen schwer, an etwas anderes als Ihre Probleme zu denken ? (ja) 11. Haben Sie in letzter Zeit weniger Kontakt mit Menschen, die Ihnen bisher nahe standen ? (ja) 12. Haben Sie immer weniger Interesse an Ihrem Beruf oder Ihren Hobbies ? (ja) 13. Haben Sie jemanden, mit dem Sie offen und vertraulich über Ihre Probleme sprechen können ? (nein) 14. Wohnen Sie alleine ? (ja) 15. Fühlen Sie sich unter starken familiären oder beruflichen Verpflichtungen stehend ? (nein) 16. Glauben Sie an Gott oder haben Sie religiöse Bindungen ? (Nein) 17. Was wären die Folgen Ihres Suizides für Ihre Angehörigen und Freunde? Wer würde am meisten, wer am wenigsten darunter leiden, wenn Sie sich töten würden? 75897118 Algorithmus - modifiziert nach [23] Seite 16 von 17 75897118 Seite 17 von 17 Korrespondenzadresse: Dr. Harald Berger Rennerstrasse 25 4614 Marchtrenk Tel.: 07243-52006 Fax.: 07243-51690 Email: [email protected] Impressum: Medieninhaber, Herausgeber, Verleger: Ärztekammer für Oberösterreich, Dinghoferstraße 4, 4010 Linz, Tel. 0043 / 70 / 77 83 71 / 243, Fax 070 / 783660 / 243, Email: [email protected] Wissenschaftliche Redaktion: Prim. Dr. Felix Fischer; Organisation: Mag. Alois Alkin, Institut für medizinische Qualitätssicherung, c/o Ärztekammer für OÖ Grundlayout: Media Design Werbeagentur, Linz Satz, Bild und Gestaltung: Medientechnik OEG Mayrhofer & Partner, Linz Druck: Pecho-Druck, Linz Grundlegende Richtung: Guide-lines ist ein Magazin der Ärztekammer für Oberösterreich zur Information aller oö. 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