Sachunterricht

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Sachunterricht
Hans-Werner Kuhn
Definitionsversuche
Beim Fach Sachunterricht handelt es sich um eines der jüngsten Schulfächer in der
Grundschule der Bundesrepublik Deutschland überhaupt. Astrid Kaiser (1996) kommt bei
ihrer Inhaltsbestimmung des Sachunterrichts zu einer negativen Abgrenzung: „Sachunterricht
ist das Fach der Grund- und Sonderschule, das die Inhalte der Welt zu vermitteln hat, es hat
dabei nicht die Sprache oder die numerischen und geometrischen Systeme im Zentrum wie
der Deutschunterricht oder der Mathematikunterricht, es ist nicht zentral auf visuelle oder
akustische ästhetische Wahrnehmungen ausgerichtet, wie die Fächer Kunst und Musik, es ist
aber nicht zentrale als Bewegungsförderung zu verstehen wie das Schulfach Sport. Prinzipiell
gehören alle restlichen Inhalte des Weltwissens in den Sachunterricht ...“(Kaiser 1996, 145).
Die Brockhaus-Enzyklopädie (1992) definiert den Sachunterricht als „Unterrichtsbereich der
Grundschule, der dem Schüler die von ihm erlebte Welt erschließen und in ihrer
Strukturiertheit verständlich machen soll. Als wenig differenzierter vorfachlicher Unterricht
knüpft er an die Lebens- und Erfahrungswelt des Kindes an, klärt und ordnet die
zusammengetragenen Beobachtungen und bereitet zugleich auf den Fachunterricht in der
Sekundarstufe vor. Der Sachunterricht wird in verschiedene Lernbereichen untergliedert
(sozialer, soziokultureller und wirtschaftlicher Bereich; Biologie und Sexualerziehung;
Geschichte, Erdkunde und Verkehrserziehung u.a.). Gegenüber der Heimatkunde, die der
Sachunterricht 1969 ablöste, bedeutet er eine Gewichtsverlagerung vor allem auf
naturwissenschaftlich-technische und sozialkundliche Themen. Die heimatliche Region ist
heute verstärkt wieder Bestandteil des Sachunterrichts, bei dem situative
Handlungsorientierung und Eingehen auf Probleme, Interessen, Bedürfnisse und die
unmittelbare Umwelt des Kindes bevorzugte didaktische Wege der Vermittlung darstellen“.
Der Plural bei den Fachwissenschaften ist für Sachunterricht konstitutiv. „Die Didaktik des
Sachunterrichts ist das extremste Beispiel für multivalente Bezüge zu Fachwissenschaften,
weil für sie prinzipiell alle Sachwissenschaften als Bezugswissenshaften von Bedeutung sind.
Hinzu kommen die Verbindungen zu den entsprechenden Fachdidaktiken ...“ (Köhnlein 1990,
47f., zitiert nach: Reinhoffer 2000, 25).
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Das Fach Sachunterricht unterscheidet sich von anderen Schulfächern. „Vermitteln die Fächer
Wissen in einem fachstrukturellen Zusammenhang, ist das Wissen im Sachunterricht nicht
fachlich verpackt. Der Sachunterricht organisiert Wissen nach thematischen Feldern und
fundiert damit Interessen, Lernwege und Wissensstrukturen, die in der Sekundarstufe I vom
Fachunterricht weiter organisiert werden können.“ (Reinhoffer 2000, 27)
Zur Geschichte des Sachunterrichts
Das Fach Sachunterricht entwickelte sich aus der Heimatkunde, die in den 1920er Jahren mit
der Weimarer Grundschulreform zu einem anerkannten Fach wurde.
Eduard Spranger definiert in einem Vortrag 1923 Heimat als „geistiges Wurzelgefühl“ und
greift damit eine Metapher auf, die die gesamte Diskussion um Heimaterziehung wie ein roter
Faden durchzieht. Das Bild der Wurzel wird zum Symbol des Heimatlichen schlechthin. In
ihm drückt sich aus, dass in der Heimat alle Entwicklungslinien, seinen es die der Person, des
Volkes oder der Nation, keimhaft grundgelegt sind, wie auch brennpunktartig
zusammenlaufen.
Im Nationalsozialismus wurde Heimatkunde dann endgültig missbraucht. In dieser
obrigkeitsstaatlichen Kontinuität befindet sich die Heimatkunde der 50er und 60er Jahre. Von
sozialen und politischen Zusammenhängen wird entweder überhaupt nicht gesprochen oder
sie werden als „kindgemäße“ Institutionenkunde „harmonisierend, personalisierend oder
bagatellisierend“ vermittelt: „Unser Rathaus“, „Der Bürgermeister“ usw.
Die massive Kritik der Heimatkunde erfolgt Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre.
Im Konzept der Heimatkunde würden Primärgruppen, wie z.B. Familie, den
Sekundärsystemen, wie Wirtschaft und Politik, gleichgesetzt. Daraus entstünden falsche
Analogien zwischen gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Sachverhalten.
Die Gemeinschaftsideologie verhindere die Einsicht in die Gesellschaft als einem
dynamischen Prozess von rivalisierenden und konkurrierenden, auf Macht bedachten Gruppen
und Kräften. Dieser Ansatz erweise sich letztlich als eine „Erziehung zur Anpassung“.
Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Frage, ob die Heimatkunde noch den politischen und
gesellschaftlichen Erfahrungshorizont der Kinder träfe. Damit wird die Lebenswelt der Kinder
als zentraler Bezugspunkt und Auswahlkriterium schulischen Lernens bestimmt.
Im „Strukturplan für das deutsche Bildungswesen“ (1970) taucht der Begriff „Sachunterricht“
zum erstenmal in einem wichtigen bildungspolitischen Dokument mit Geltungsanspruch im
gesamten Bundesgebiet auf und gewinnt sehr rasch an Verbreitung. Die Heimatkunde wird
damit durch Sachunterricht ersetzt. Die empirischen Untersuchungen zur politischen
2
Sozialisation zeigten, dass schon Kinder im Vorschulalter ihre politische Umwelt
wahrnehmen und politische Einstellungen ausbilden.
Didaktisch orientierte man sich bei sozialwissenschaftlichen Themen an den New Social
Studies aus den USA, die auf die Vermittlung sozialwissenschaftlicher Methoden und
Denkweisen im Unterricht abzielen. Dabei ergibt sich folgende Reihenfolge:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Problemwahrnehmung aufgrund vorliegender Daten
Formulieren von Hypothesen
Die logischen Zusammenhänge von Hypothesen erkennen
Sammeln zusätzlicher Daten
Analysieren, Bewerten und Interpretieren von Daten
Überprüfen der Hypothesen im Lichte der analysierten, bewerteten und interpretierten
neuen Daten (vgl. Ackermann 1973, 21).
Didaktische Konzepte
Verkürzt lässt sich die Didaktik des Sachunterrichts als Kombination der beiden Bereiche
„Elementary Science“ und „Elementary Social Studies“ kennzeichnen. In den meisten
Lehrbüchern für „Elementary Science“ werden die Rudimente der Bezugswissenschaften
Physik, Chemie, Technologie, Biologie, Geologie, Astronomie angesprochen, während
„Elementary Social Studies“ neben dem Verständnis für Geographie und Geschichte einer für
Inhalte und Vergehensweise von Anthropologie, Soziologie, Politologie, Ökonomie und
Psychologie versucht (vgl. Schreier 1994, 17).
„Dinge, Gegenstände stellen für unsere Didaktik so etwas wie die kleinsten, nicht weiter
reduzierbaren Teile dar. Die Atome des Sachunterrichts selber in ihrer eigenen didaktischen
Bedeutung zu untersuchen, ist ein Programm, das unserem Horizont neue Möglichkeiten
eröffnen kann.“ (Schreier 1994, 23)
Das didaktische Programm besteht darin, die Prozesse, die den Produkten zugrunde liegen,
wieder in den Erfahrungshorizont der Heranwachsenden hineinzuheben, sie mit den
Problemen wieder zu konfrontieren, deren sich frühere Generationen gegenübersahen, und
deren Lösungsversuche uns in verdinglichter Form entgegentreten. Es kommt darauf an, die
in den Dingen erstarrte Umwelt wieder zu verflüssigen, das Tote mit Leben zu füllen oder die
Vorgänge der Welt an ihren Dingen ablesen zu lernen (vgl. Schreier 1994, 35-36):
Dimensionen politischen Lernens im integrierten Sachunterricht
Eines der neueren didaktischen Konzepte zum Sachunterricht integriert verschiedene fachliche
Dimensionen. Im „Handbuch zur politischen Bildung in der Grundschule“ (George/Prote
1996, 7-11) wird der Versuch unternommen, die bislang vorherrschende Ansicht, politische
Bildung in der Grundschule sei integratives politisch-soziales Lernen, um weitere Lernebenen
3
zu erweitern. Insgesamt ergeben sich für den Sachunterricht sieben Lernebenen, die die
verschiedenen Dimensionen der Integration verdeutlichen: Soziales Lernen, moralisches
Lernen, ökonomisch-gesellschaftliches Lernen, politisches Lernen, historisches Lernen,
geographisches Lernen und naturwissenschaftlich-technisches Lernen.
Ein zentraler Aspekt der Integration dieser sieben Lernebenen liegt in der Aufgabe des
Sachunterrichts, eine Basis für politisches Denken und Handeln zu vermitteln. Schüler und
Schülerinnen können lernen, die Bedingungen ihres Lebens als Ergebnis menschlichen
Handelns zu verstehen. Dies bezieht sich sowohl auf Institutionen wie Familie, Schule,
Parlament wie auf die Produktion von Gütern. Institutionen, Fabriken und Kaufhäuser sind
von Menschen gemacht und können also verändert werden. Bereits jetzt kann die Erkenntnis
vermittelt werden, dass es in der Politik immer mehrere Wege gibt für Problemlösungen gibt.
Dies sollen Kinder wissen, und sie sollen auch wissen, dass sie die Entscheidungsträger von
morgen sind.
Allerdings scheint die Notwendigkeit politischer Bildung in der Grundschule nicht
unbestritten: „Gegen politisches Lernen in der Grundschule gibt es starke Vorbehalte. Dass
sich sechs- bis zehnjährige Kinder mit ‚großer Politik‘ beschäftigen, erscheint vielen
verfrüht.“ (Herdegen 1999, 6) Gegen diese Skepsis setzt der Autor eine Sollens-Forderung:
„Das Einüben demokratischer Fähigkeiten, Einstellungen und ‚Tugenden‘, die
Auseinandersetzung mit Grundproblemen der modernen Industriegesellschaften sollten aber
auch in der Grundschule ihren Platz haben.“ Die Begründung lautet: „Loyalität zur
Demokratie, die Akzeptanz demokratischer Grundsätze (z.B. Menschenrechte,
Mehrheitsregel, Minderheitenschutz) und ein Verständnis für ihren Sinn, soziale
Verantwortung, ein Problem- und Verantwortungsbewusstsein für die Risiken der Moderne,
dies alles entsteht eher dann, wenn Kinder Demokratie in der Schule erkennen und erleben
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können, wenn das Durchdenken von Problemen, die ‚alle‘ angehen, möglichst früh geübt
wird.“ (Herdegen 1999, 6)
Sozialwissenschaftlicher Sachunterricht konturiert sich durch die Aufnahme neuer
Erfahrungs- und Handlungsfelder wie Familie, Schule, Wohnen, Freiheit, Arbeit,
Dienstleistung, Verwaltung, Politik, Ökonomie, Massenmedien, Geld, Konsum, Werbung,
Macht ... in Richtlinien und Lehrbüchern. (vgl. Kiper/Paul 1995, 11)
Bildungsplan Grundschule: Heimat- und Sachunterricht
Ziele, Inhalte und Methoden des Sachunterrichts können exemplarisch anhand des
Bildungsplans aus Baden-Württemberg aufgezeigt werden (1994, 22-23). Das Fach trägt in
diesem Bundesland die Bezeichnung „Heimat- und Sachunterricht“ und verweist damit auf
eine doppelte didaktische Orientierung. Danach orientiert sich der Heimat- und Sachunterricht
an der Lebenswirklichkeit der Kinder. (...) Die Vielfältigkeit der Beziehungen zur
Lebenswirklichkeit erfordert eine Gliederung des Heimat- und Sachunterrichts in
Arbeitsbereiche, deren Inhalte für das Kind zugänglich, verstehbar, anwendbar und bedeutsam
sind. Neben fächerverbindenden Themen (wie z.B. Ich habe einen Namen, Ziffern und
Formen in unserer Umwelt, Gestalten eines Buches, Raumaktionen, Geld) existieren im
Heimat- und Sachunterricht folgende sechs Arbeitsbereiche: Heimat und Fremde, Leben und
Gesundheit, Raum und Zeit, Pflanzen und Tiere, Natur und Technik sowie Medien und
Konsum.
Im Unterschied zu anderen Unterrichtsfächern fehlt dem Sachunterricht die eindeutige
Bezugsdisziplin. Ihm steht gleich eine ganze Phalanx von wissenschaftlichen Ansprüchen
gegenüber, so dass die Didaktiker sich in der merkwürdigen Lage befinden, ausgerechnet
5
Kindern im Grundschulalter eine Übersicht und Einführung sämtlicher natur- und
sozialwissenschaftlicher Disziplinen vermitteln zu sollen (vgl. Schreier 1994, 11).
Einen zweiten didaktischen Bezugspunkt bilden die Lerninteressen der Kinder. Damit können
disziplinbezogene Fragen sekundär werden.
Unterrichtsforschung
Die Notwendigkeit von anwendungsorientierter Grundlagenforschung im Sachunterricht
ergibt sich nicht nur aus der Heterogenität der didaktischen Konzepte, sondern auch aus der
Diskrepanz zwischen dem hohen Anspruch des Faches und den Erfahrungen im alltäglichen
Unterricht. „Eine verworrene Vielfalt von Materialien und Vorschlägen, von Ansätzen und
Konzepten prägt gegenwärtig das Bild des Lernbereichs wie das seiner Didaktik. Darin liegt
ein Reichtum, den es zu erschließen gilt.“ (Schreier 1994, 9)
Hinzu kommt: Man muss davon ausgehen, dass wir viel zu wenig darüber wissen, welche
Fragen und vorläufigen Erklärungsmuster für naturwissenschaftliche und
sozialwissenschaftliche Probleme Kinder heute haben und welcher Zugang zu
wissenschaftsorientiertem Lernen möglich ist (vgl. zum sokratisch-exemplarisch-genetischen
Ansatz in der Physikdidaktik: Thiel 1973, 90ff.).
Nach Aussagen von Lehrkräften gilt Sachunterricht ebenso als Mitte des
Grundschulunterrichts wie aus ausgleichende „Bastelaufgabe“ zu den Lehrgängen des Lesen-,
Schreiben-, Rechnenlernens. Während diese Lehrgänge einen systematischen Aufbau
aufweisen, kann es als Besonderheit des Sachunterrichts angesehen werden, dass immer
wieder neue Gegenstände, Sachen, Phänomene und Erfahrungen thematisiert werden, die
jedem Schüler die Möglichkeit bieten, immer wieder neu in diese Lernprozesse einzusteigen.
Exemplarisch skizziere ich einen Forschungsansatz, der als „politikwissenschaftliche
Hermeneutik“ bezeichnet wird und der spezifisch den sozialwissenschaftlichen Sachunterricht
rekonstruieren soll. Als Ausbildungselement im Lehrerstudium wird dadurch die
„hermeneutische Kompetenz“ der zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer professionalisiert.
Beispiel: Im Tagespraktikum in einer 3. Klasse in Gundelfinden – der Johann-Peter-HebelGrundschule – wurde das Thema „Wasser“ behandelt. Immer wieder wurden dabei
Implikationen eines sozialwissenschaftlichen Denkens der Schülerinnen und Schüler deutlich:
-
beim Vergleich des Wasserverbrauchs früher und heute
-
bei einer Expertenbefragung zu einem Wasserprojekt in Indien
-
beim Besuch eines Hochbehälters der Gemeinde
-
beim Unterrichtsgespräch über den Zusammenhang von Wasser und Umwelt
6
-
bei der Konfrontation des eigenen Umgangs mit Wasser mit der Forderung nach
sparsamem Ressourcenverbrauch.
In der Auswahl der Teilthemen durch die Praktikantinnen, in der Zusammenstellung der
Materialien, in den Vorkenntnissen und Erfahrungen der Drittklässler markiert das
„Stutzigwerden“ den Beginn sozialwissenschaftlichen Denkens. Zunächst werden die
Phänomene darstellt, die mit Wasser zusammenhängen, erst die Frage nach Gründen und
Folgen stellt die Phänomene in einen gesellschaftlichen Kontext, der kategorial erste
Zuordnungen nach Verursachern und Betroffenen, nach Armut und Reichtum, nach
Lebensqualität und Überlebenskampf ermöglicht. Indem die Schülerinnen und Schüler an die
Grenzen der Phänomenbeschreibung stoßen, werfen sie sozialwissenschaftliche
Fragestellungen auf, die nach und nach geklärt werden können, um zu eigener Meinungs- und
Urteilsbildung zu gelangen.
Dieser qualitative Forschungsansatz basiert auf der These, dass jede Unterrichtsstunde unter
fachdidaktischer Fragestellung prinzipiell in drei Dimensionen untersucht werden kann:
 einer fachwissenschaftlichen Dimension
 einer fachdidaktischen Dimension und
 einer fachmethodischen Dimension.
Hinzu kommen die hermeneutische Stufen Verstehen, Auslegen und Anwenden. Auf den
ersten Blick scheint das Modell einfach strukturiert zu sein. Den drei Stufen der
hermeneutischen Rekonstruktion stehen drei Dimensionen der Fachdidaktik gegenüber. Das
ergibt 9 Felder, in denen 36 Verknüpfungen möglich sind. Damit wird die Komplexität von
Unterricht wieder hergestellt.
Wenn es kein Zufall ist und Bildungsprozesse immer dialektisch aufgebaut sind – Hegel
spricht „vom anderen zu sich selbst kommen“ – dann hat der Sachunterricht die Aufgabe, den
natur- und sozialwissenschaftlichen Zugang der Kinder zur Welt zu öffnen, indem vielfältige
Phänomene vorgestellt, in ihren spezifischen Kontext eingeordnet und auf Lebensbezüge hin
geprüft werden. Hegel spricht in seinen Nürnberger Schulreden davon, dass die Schule die
Kinder vom Elemente der Familie ins Element der Sache führe.
Heute kann man die „Sache“ nicht bloß setzen, vielmehr stellt sich die Frage, was heute z.B.
„Erfahrung von Kindern“ genannt werden kann, wie „Welt“ in ihren unterschiedlichen
Bezügen von Kindern wahrgenommen wird, wie sich gesellschaftliches und politisches
Denken von Kindern entwickelt (vgl. Moll 2001; Reeken 2001, 40-48).
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Fünf Perspektiven
Die Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts hat ein Papier vorgelegt, das in
der aktuellen bildungspolitischen Diskussion ein Kerncurriculum skizziert.
Abschließend soll wesentliche Passagen aus diesem Papier wiedergegeben
werden: „Die Aufgabenbereiche des Sachunterrichts, die im vorliegenden Papier
als Perspektiven bezeichnet werden, konstituieren sich in Bezug auf Inhalte und
Verfahren einerseits aus dem Blickwinkel des Kindes, wozu zum Beispiel Fragen,
Interessen und Lernbedürfnisse von Kindern im Hinblick auf den jeweiligen
Gegenstandsbereich gehören, andererseits als Perspektiven auf die
Wissenschaften und das kulturell bedeutsame Wissen, wozu zum Beispiel auch
die Vorbereitung späteren fachlichen Lernens durch die Erarbeitung
grundlegender Wissensbestände und elementarer Verfahren gehört. Ein
Kerncurriculum für den Sachunterricht muss - bei vorhandenen Freiräumen für
situatives und individuelles Lernen - in allen fünf Perspektiven des
Perspektivrahmens anschlussfähiges inhalts- wie methodenbezogenes Wissen
vermitteln. Damit ist Sachunterricht ein zugleich bildungs- als auch
übergangsrelevantes Fach. (...)
Die Aufgliederung des Perspektivrahmens in fünf Perspektivbereiche stellt sicher, dass alle
Wissenschaftsbereiche der späteren Sachfächer, die kulturell besonders bedeutsam sind,
angemessen berücksichtigt werden. (...)
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Fünf Perspektiven für den Sachunterricht
Sozial- und kulturwissenschaftliches Lernen
Im Spannungsfeld zwischen
der Erfahrung des Zusammenlebens
der Menschen, die Kindern zugänglich sind
den inhaltlichen und methodischen
Angeboten aus der Perspektive der
Sozial- und Kulturwissenschaften
Menschen leben in der Gesellschaft zusammen. Sie gestalten ihr Leben unter verschiedenen
politischen, sozialen, kulturellen, ökonomischen, physischen und ethnischen
Voraussetzungen. Dabei haben alle Menschen gemeinsame und auch unterschiedliche
Möglichkeiten und Interessen, Lebensstile und Deutungsmuster. Differenzen unter den
Menschen sind etwas Selbstverständliches. Mit solchen Unterschieden konstruktiv lernend
und verantwortlich umzugehen, ist eine Herausforderung zur Orientierung im Umgang mit
sich selbst und im Verhältnis zu anderen Menschen.
Um diese Zusammenhänge zu verstehen, richtet sich sinn- und lebensorientiertes Lernen der
Kinder auf
die Entwicklung einer sozialen Kultur des Lebens und Arbeitens;
die Wahrnehmung und Nutzung von Verschiedenheit;
das Erkennen von Interessenlagen und Vertreten eigener Interessen;
verantwortliches Handeln in sozialen und politischen Bezügen;
Erfassen kultureller (auch medialer) Rekonstruktion von Wirklichkeit.
Inhaltsbezogene Beispiele
Politisch-soziale Probleme, in die die Kinder selbst eingebunden sind (Rechte von
Kindern. Arbeit und Umwelt, Familie als Institution);
Menschenrechte;
Ökonomische, ökologische und soziale Grundlagen des Zusammenlebens (ethische,
demokratische Prinzipien wie Verantwortung, Gerechtigkeit);
Religionen. Bräuche, Lebensweisen;
Konflikte/Kompromisse (Krieg und Frieden, Arbeitslosigkeit, Ausländerfeindlichkeit,
Drogenmissbrauch -Folgewirkungen u.a.);
Institutionen und öffentliche Raume (gesellschaftliche Institution Schule
einschließlich ihrer ökologischen Aspekte u.a.);
"Eine Welt" - Weltbevölkerung;
Konsum;
Kulturelle und physische Verschiedenheit (auch der Geschlechter u.a.);
Raumbezogenes Lernen
im Spannungsfeld zwischen
den räumlichen Gegebenheiten,
die von Kindern erfahren werden
den inhaltlichen und methodischen
Angeboten der Raumwissenschaften
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Raum ist eine Grunddimension der Erfahrung. Menschen erfahren Räume zunächst als
Gegebenheiten. Sie erkunden Räume und orientieren sich in ihnen. Die
raumwissenschaftliche Perspektive trägt dazu bei, Räume als geschaffen, veränderbar,
gestaltbar und nutzbar zu verstehen und Verantwortung für die Erhaltung, Pflege und
Veränderung von Räumen anzubahnen.
Naturbezogenes Lernen
im Spannungsfeld zwischen
der Einsicht in Naturgegebenheiten,
die Kindern nahe liegt
den inhaltlichen und methodischen
Angeboten aus der Perspektive der
Naturwissenschaften
Die gegenwärtige Umwelt ist durch die Naturwissenschaften und ihre Erkenntnisweise
geprägt. Kinder erfahren Natur auf unterschiedliche Weise und nehmen Naturphänomene
wahr. Durch Naturerlebnisse und durch Erschließen einfacher biologischer, chemischer und
physikalischer Zusammenhänge können Naturphänomene gedeutet und kann Verantwortung
im Umgang mit der Natur angebahnt werden.
Technisches Lernen
im Spannungsfeld zwischen
der von Kindern erlebten Technik,
ihren Erfahrungen mit Technik, ihrem Interesse
an technischen Gegenständen und technischem
Handeln, aber auch ihren Ängsten
den technischen Produkten und Methoden
als Angeboten aus der Perspektive von
Technik und Technologie
Technik prägt alle Lebensbereiche. Sie dient der Sicherung unserer Existenz und unseres
Lebensstandards, stellt aber auch ein zerstörerisches Potential dar. Um eine humane und
zukunftsfähige Technik mitdenken, mitverantworten und mitgestalten zu können, braucht
jeder grundlegende Kenntnisse von Technik und ihren Wirkungs- und
Bedingungszusammenhängen. Kinder leben in dieser technisierten Welt; sie nutzen Technik
– zunehmend auch die medialen Techniken – und sind von Folgewirkungen betroffen. Der
Umgang mit Technik ist aber meist auf ein Bedienungs- und Umgangswissen reduziert;
zugrundeliegende Funktionszusammenhänge, Genese und Auswirkungen von Technik
bleiben häufig unbekannt. Demgegenüber steht das unmittelbare Interesse von Kindern,
hinter die Dinge zu schauen, ihre Funktions- und Wirkungsweise zu ergründen und zu
gestalten.
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Historisches Lernen
im Spannungsfeld zwischen
der Erfahrung des Wandels,
der Kindern zugänglich ist
den inhaltlichen und methodischen
Angeboten der Geschichtswissenschaft
Die durch erwünschte und unerwünschte Folgen menschlichen Handelns hervorgebrachten
materiellen und sozialen Bedingungen des Zusammenlebens erschließen sich Kinder
zunächst als Gegebenheiten. Die geschichtliche Perspektive auf ausgewählte Inhalte des
Sachunterrichts trägt dazu bei, Vorgefundenes (Wissen, technische Artefakte, Institutionen,
Normen, soziale Ordnungen, Gewohnheiten) als etwas zu verstehen, das geschaffen wurde,
verändert werden kann und verantwortet werden muss (in: Grundschule 2/2001, 9-14).
Literaturverzeichnis
Ackermann, Paul: Politisches Lernen in der Grundschule. Unterrichtsmodelle zur Friedenserziehung,
München 1973, 2. Aufl. 1975
Bildungsplan Baden-Württemberg Grundschule: Ministerium für Kultus und Sport, Stuttgart 1994
Fünf Perspektiven für den Sachunterricht. Ein Vorschlag der Gesellschaft für Didaktik des
Sachunterrichts, in: Grundschule 4/2001, 9-14
George, Siegfried/Ingrid Prote (Hrsg.): Handbuch zur politischen Bildung in der Grundschule,
Schwalbach 1996
Herdegen, Peter: Soziales und politisches Lernen in der Grundschule. Grundlagen - Ziele –
Handlungsfelder. Ein Lern- und Arbeitsbuch, Donauwörth 1999
Kaiser, Astrid: Einführung in die Didaktik des Sachunterrichts, Baltmannsweiler 1996
Kiper, Hanna/Annegret Paul: Kinder in der Konsum- und Arbeitswelt. Bausteine zum wirtschaftlichen
Lernen, Weinheim und Basel 1995
Moll, Andrea: Was Kinder denken. Zum Gesellschaftsverständnis von Grundschulkindern,
Schwalbach 2001
Reeken, Dietmar von: Politisches Lernen im Sachunterricht. Didaktische Grundlegungen und
unterrichtspraktische Hinweise, Hohengehren 2001
Reinhoffer, Bernd: Heimatkunde und Sachunterricht im Anfangsunterricht. Entwicklungen,
Stellenwert, Tendenzen, Bad Heilbrunn/Obb. 2000
Richter, Dagmar: Artikel: Sachunterricht, in: Dagmar Richter/Georg Weißeno (Hrsg.): Didaktik und
Schule, Bd. 1 des Lexikons der politischen Bildung, hrsg. v. Georg Weißeno, Schwalbach 1999, 224227
Schreier, Helmut: Der Gegenstand des Sachunterrichts, Bad Heilbrunn 1994
Thiel, Siegfried: Grundschulkinder zwischen Umgangserfahrung und Naturwissenschaft, in: Martin
Wagenschein, Agnes Banholzer, Siegfried Thiel: Kinder auf dem Wege zur Physik, Stuttgart 1973,
90-180
11
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