Auszug aus dem Projektbericht der DVfR

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Deutsche Vereinigung für die Rehabilitation Behinderter
– DVfR –
Auszug aus Projektbericht
Rehabilitation vor Pflege – Lösungshilfen für ein Strukturproblem in
Deutschland
Deutsche Vereinigung für die Rehabilitation Behinderter e. V., Oktober 2002
(Seite 67-76)
5.2
Modellprojekte im Bereich der mobilen Rehabilitation
Das Handlungsfeld der mobilen, ambulanten, mit Rehabilitationspflege verbundenen
Rehabilitation ist ein Entwicklungsbereich1, für den in den nächsten Jahren eine wachsende
Nachfrage erwartet wird. Neben dem Anstieg des älteren Bevölkerungsanteils wird die mit
der Einführung von Fallpauschalen erwartete kürzere Liegezeit bei akutmedizinischer
Versorgung das Anforderungsprofil an ambulante Hilfen verändern2. Schon derzeit wird der
Feckler, K., Düsseldorf 2001 (2002), S. 283 f.: „Aufbauarbeit galt es insbesondere im Bereich der
Tages- und Nachtpflege sowie bei der Kurzzeitpflege zu leisten. Die aktuelle Pflegesituation in
Deutschland wurde durch das klassische, zweigeteilte Pflegeangebot in Form der stationären
Versorgung durch Pflegeheime auf der einen und der ambulanten Versorgung durch Sozialstationen
auf der anderen Seite geprägt. Es herrschte dagegen ein fühlbarer Mangel an wohnortnahen und
finanzierbaren Angeboten im ergänzenden Bereich der teilstationären Pflegeleistungen. Bei den
wenigen Einrichtungen, in denen auch aktivierende Pflege unter Einsatz anerkannter rehabilitativer
Hilfen und Techniken eingesetzt wird, fehlt es zudem an der erwünschten, ja geradezu notwendigen
Verzahnung der ambulanten und stationären Versorgung mit dem Ziel, eine gestufte und durchlässige
Pflege im Sinne des PflegeVG zu realisieren. Es soll daher durch Modelle in unterschiedlich sozial und
demographisch strukturierten Regionen gezeigt werden, dass Lösungsmöglichkeiten für alle
Pflegebedürftigen auf den unterschiedlichen Pflegestufen existieren, um die hier vorhandenen Defizite
beseitigen zu helfen.
Mit dem Modellprogramm wollen wir daher dazu beitragen:
–
Lücken in der pflegerischen Versorgung durch den gezielten Aufbau moderner teilstationärer
Pflegeangebote wie Kurzzeit- und Tagespflege zu schließen,
–
die Versorgung im häuslichen Umfeld durch das Angebot strukturierter Tagespflege und
Nachtpflege zu verbessern,
–
Möglichkeiten für den Einsatz aktivierender und rehabilitativer Hilfen möglichst wohnortnah und
bei allen teilstationären Pflegeangeboten frühzeitig und im ausreichenden Maße sicherzustellen,
–
neue Pflegeangebote zu erproben; hierzu gehören Modelle des betreuten Wohnens bei psychisch
Kranken oder Hospize für schwerstpflegebedürftige und sterbende Menschen,
–
die durchgängige Nutzung aller Pflegeeinrichtungen der ambulanten, teilstationären und
stationären Versorgung für alle Pflegebedürftigen vor Ort mit dem Ziel des Vorranges der
Rehabilitation vor Pflege zu verbessern.“
2 Neubauer, G., 2001, S. 7 f.
1
68
Anteil der in ihrem häuslichen Umfeld lebenden Pflegebedürftigen auf ca. 80 % geschätzt3.
Auch die Frage der Klärung von Reha-Möglichkeiten und Reha-Potenzialen verlagert sich
schwerpunktmäßig zunehmend auf den ambulanten Bereich4. Eine aufsuchende Versorgung
von pflegebedürftigen und von Pflegebedürftigkeit bedrohten Menschen ist sowohl zur
Steigerung von deren Wohlbefinden und sozialer Integration geeignet als auch zur Senkung
ihres Gesamtbedarfs an gesundheitsbezogenen Leistungen5.
5.2.1 Ziele, Zielgruppen und Charakteristika der einzelnen Projekte
Im Unterschied zur ortsgebundenen ambulanten Rehabilitation, bei welcher der Betroffene
eine Einrichtung oder ein ambulantes Therapiezentrum aufsucht, wird er bei der mobilen
Rehabilitation in seiner Wohnung behandelt. Das therapeutische Team, das sich aus
mehreren Berufsgruppen zusammensetzt, kommt zum Rehabilitanden in die Wohnung und
bezieht das gesamte soziale Umfeld – Angehörige, Nachbarn, Freunde – und die
ambulanten Dienste, die den Patienten zur Verfügung stehen, sowie die Wohnsituation und
die persönlichen Lebensumstände des Patienten in sein Therapiekonzept ein. Das
Hauptaugenmerk der mobilen Rehabilitation liegt auf der Bewältigung des „Alltags“ und hat
zum Ziel, für den Betroffenen die größtmögliche Selbständigkeit im täglichen Leben zu
erreichen. Die Behandlung erfolgt unter Berücksichtigung der Mobilität, der Aktivitäten des
täglichen Lebens, der Kommunikation (Sprachtherapie), der Neuropsychologie und anderer
rehabilitativer Aspekte und schließt ein Case-Management der sozialen Problematik ein.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Mobile Rehabilitation hat sich auf folgende Zielvorgaben
geeinigt6: „Ziel der Mobilen Rehabilitation ist, voraussichtlich nicht nur vorübergehende
schädigungsbedingte
Beeinträchtigungen
Fähigkeitsstörungen,
durch
Rehabilitationsmaßnahme
auch
bedarfsgerechte
zu
vermeiden,
drohende
und
zu
oder
zielorientierte
beseitigen,
zu
bereits
manifeste
Durchführung
bessern
oder
der
eine
Verschlimmerung zu verhüten. In der Mobilen Rehabilitation werden insbesondere folgende
Ziele angestrebt:
–
Befähigung zur Ausübung alltagsrelevanter Aktivitäten möglichst in der Art und in dem
Ausmaß, die für einen Menschen als normal, d. h. für seinen persönlichen Lebenskontext
typisch erachtet werden
3
Volkenborn, F. und H., Düsseldorf 2001 (2002), S. 134.
Nau, H., Stellungnahme gegenüber der DVfR, 2002 (Expertenbefragung).
5 Hollander, M., Tessaro, A., 2001: “It appears from both the quantitative and qualitative data in this
report that ignoring the preventive aspects of home care may not only lead to increased costs in the
overall health system, but may also lead to suffering and emotional distress for a significant portion of
the people who are cut from care. The data also reveal that many of the people who are cut from
home care come back into the continuing care system, possibly in worse health than if they had never
left. This represents a shortening of the quality of life for a significant portion of people who are cut
from care. These are clearly negative consequences in both human and fiscal terms.“
6 URL: http://www.bag-more.de am 16.09.2002.
4
69
–
Aktivierung des Selbsthilfepotentials des Rehabilitanden durch Einbeziehung
der Lebenswirklichkeit (Familie, Alltagsbelastungen, Arbeitswelt) in die rehabilitativen
Bemühungen
–
Stabilisierung der Lebenssituation des Patienten in größtmöglicher Unabhängigkeit und
Selbstständigkeit ggf. unter Akzeptanz der gegebenen, nicht veränderbaren Einschränkungen
–
Abkürzung von Arbeitsunfähigkeit
–
frühzeitige Einleitung und Unterstützung innerbetrieblicher Maßnahmen zur Förderung
der beruflichen Wiedereingliederung
–
Förderung der Reintegration in das Wohnumfeld
–
Verbesserte Kooperation in der Nachsorge (Rehabilitationssport, Funktionstraining,
Vermittlung in Selbsthilfegruppen, Kooperation mit niedergelassenen Ärzten)
–
Nutzung eingliederungsfördernder Ressourcen eines vorhandenen komplementären
sozialen Netzwerkes von Hilfen (z. B. Sozialstationen, Berufsintegrationsfachdienste)
–
Vermeidung sekundärer Komplikationen, Schäden und Funktionsstörungen sowie der
Chronifizierung von Krankheiten
–
Vermeidung oder Verminderung der Abhängigkeit von Fremdhilfe, z. B. von Pflege oder
ständiger Therapie
–
Vermeidung oder Verminderung des Bezuges von Sozialleistungen
–
Verbesserung der Lebensqualität
... Mobile Rehabilitation ist im Kern medizinische Rehabilitation, kann jedoch je nach Konzeption, Qualifikation und Ausstattung auch für andere Formen der Rehabilitation
Verwendung finden.7“
Im Rahmen des Modellprogramms „Verbesserung der Situation der Pflegebedürftigen“ des
Bundesministeriums für Gesundheit wurden vernetzte Strukturen und mobile Rehabilitationsdienste gefördert. Drei Modelle sind inzwischen nach mehrjähriger Modelllaufzeit in die
Regelfinanzierung übernommen worden. Die Projekte wurden wissenschaftlich begleitet,
indem ihre Patientenstruktur und die therapeutischen Effekte erfasst wurden8.
Zielgruppen für die Mobile Rehabilitation sind Menschen mit Mobilitätsbehinderungen und
Rehabilitationsbedarf, die unter häuslichen Bedingungen rehabilitationsfähig sind und im
Hinblick auf die definierten Ziele eine günstige Rehabilitationsprognose haben. Mobile
Rehabilitation kann als Zielgruppe Menschen verschiedener Altersgruppen oder primär
geriatrische
Patienten
behandeln,
je
nach
zugrundeliegender
Konzeption.
Die
Bundesarbeitsgemeinschaft Mobile Rehabilitation (BAG MORE) hat auf der Grundlage der
Erfahrungen
7
der
verschiedenen
Modellprojekte
Quelle: http://www.bag-more.de am 16.09.2002.
unter
strenger
Beachtung
der
70
Rahmenempfehlungen der BAR zur ambulanten medizinischen Rehabilitation eine
Rahmenkonzeption erarbeitet, die alle wichtigen Fragen zur Konstruktion Mobiler
Rehabilitation bearbeitet. (Download: www.bag-more.de)
In Marburg wurde das Projekt „Mobile ambulante geriatrische Rehabilitation“ im Zeitraum
1993–1998 gefördert und anschließend von Landesverbänden der AOK und des VdAK/AEV
in die Regelfinanzierung übernommen. Träger ist das Diakonie-Krankenhaus mit 206 Betten.
Dem therapeutischen Team unter der Leitung einer Fachärztin für Innere Medizin gehören
zwei Krankengymnasten, zwei Ergotherapeuten und eine Sprachtherapeutin an. Zusätzlich
steht neben der Projektkoordinatorin eine Verwaltungskraft zur Verfügung. Da dem Team
keine Pflegekraft angehört, besteht eine Kooperation mit ambulanten Pflegediensten, die bei
Bedarf hinzugezogen werden. Es werden nur Patienten direkt im Anschluss an einen
Krankenhausaufenthalt einbezogen. Eine Überweisung durch niedergelassene Ärzte ist nicht
möglich. Behandelt werden geriatrische Patienten, eine Hauptgruppe stellen Patienten mit
Schlaganfall dar.
Das Reha-Verfahren beginnt im Akutkrankenhaus mit einem geriatrischen Screening. Die
Bewilligung der Maßnahme ist durch bestimmte Haupt- und Nebendiagnosen eingegrenzt.
Nach dem geriatrischen Assessment erfolgt eine Begutachtung durch den Medizinischen
Dienst der Krankenversicherung (MDK). Die Krankenkasse entscheidet und genehmigt einen
bestimmten Leistungsumfang. Die gesamte Maßnahme muss innerhalb eines Zeitraums von
8 Wochen abgeschlossen sein.
In Karlsruhe gibt es die mobile ambulante Rehabilitation Karlsruhe „mark gGmbH“, ein
Unternehmen des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Nach der Förderung von
1992–1998 sind mobile Reha-Maßnahmen kostendeckend von gesetzlichen Krankenkassen
als Komplexleistung übernommen worden. Inzwischen ist die mobile ambulante Rehabilitation Karlsruhe „mark gGmbH“ Teil eines bürgernahen Gesundheitszentrums.
Dem Team gehören zwei Physiotherapeuten, zwei Ergotherapeuten, ein Logopäde sowie
Fachkräfte für rehabilitative Pflege und die Projektleitung an. Es besteht eine Kooperation mit
11 niedergelassenen Ärzten in Karlsruhe, die für die Rehabilitation besonders qualifiziert
sind. Einbezogen werden Patienten mit höherem Lebensalter (> 65 Jahre), multiplen
rehabilitationsrelevanten
Fähigkeitsstörungen
und
drohender
oder
bestehender
Pflegebedürftigkeit. Die größte Zielgruppe sind Schlaganfallpatienten und Patienten mit
Frakturen und Gelenkerkrankungen.
Die Zuweisung der Patienten erfolgt durch die Modellärzte und niedergelassener
Vertragsärzte. Bei einem Viertel der Patienten erfolgt die mobile Reha-Maßnahme im
Anschluss an eine stationäre Behandlung.
8
Siehe zu den folgenden Ausführungen: Schweizer, C., 2001.
71
Die Eingangsuntersuchung (Assessment) wird durch den zuständigen Reha-Arzt in der
Wohnung des Patienten durchgeführt. Ziel ist es, die Reha-Bedürftigkeit möglichst frühzeitig
zu erkennen. Nach der Kostenzusage der Krankenkasse wird das Reha-Ziel festgelegt und
eine
Therapieplan
erstellt.
In
der
Regel
genehmigen
die
Krankenkassen
20
Behandlungstage, für eine Verlängerung ist eine Begründung notwendig. Bei der Vergütung
wird zwischen ärztlicher und nichtärztlicher Leistung unterschieden. Die mark gGmbH erhält
pro Reha-Fall eine Grundpauschale. Die häuslichen Therapien werden als Leistungsmodule
vergütet. Der Arzt erhält pro Rehabilitand eine Behandlungspauschale und ein Honorar für
das Eingangs- und Abschlussassessment.
In Bad Kreuznach ist das Rehabilitationszentrum Bethesda der kreuznacher diakonie – (kd),
eine
Einrichtung
für
Körperbehinderte
im
Rahmen
einer
großen
diakonischen
Komplexeinrichtung, Träger des Mobilen Rehabilitationsdienstes. Erfahrungen aus der
Langzeitrehabilitation und Behandlung mehrfachbehinderter und multimorbider Menschen
können dort genutzt werden. Bei Bedarf kann auf die anderen vorhandenen therapeutischen
Dienste, u.a. eine Beratungsstelle für unterstützte Kommunikation und elektronische Hilfen,
eine Werkstatt für Behinderte und das Krankenhaus zurückgegriffen werden. Die Patienten
werden in der Regel zu Hause behandelt, in besonderen Fällen lassen sich aber, falls
Beförderungsfähigkeit besteht, einzelne Behandlungen z.B. an speziellen Geräten auch in
der Einrichtung durchführen. Dem Team gehören unter Gesamtleitung eines Arztes für
Orthopädie
und
physikalische
und
rehabilitative
Medizin
3
Physiotherapeuten,
3
Ergotherapeuten, 2 Logopäden, 2 Rehabilitationspflegekräfte, eine Sozialarbeiterin, 2
Sekretärinnen sowie ein teamleitender Arzt (z.Zt. Arzt für Chirurgie, Unfallchirurgie,
Rehabilitationswesen) an.
Behandelt werden Patienten aller Altersgruppen nach einem rehabilitationsmedizinischen
indikationsübergreifenden Konzept. Schwerpunkte sind Patienten nach Schlaganfall, nach
Gelenkrekonstruktionen und mit neurologischen Erkrankungen.
Die Patienten kommen zu ca. 70 % aus dem stationären (auf Anforderung des
Krankenhausarztes) und zu ca. 30 % aus dem ambulanten (auf Anforderung des
Vertragsarztes) Bereich. Nach einem Konsil wird ein Rehaplan erstellt, der von der
Krankenkasse genehmigt werden muss. Um eine frühzeitige Entlassung aus dem
Krankenhaus nicht zu gefährden, kann unter bestimmten Voraussetzungen mit der
Behandlung sofort begonnen werden. Es können bis zu 45 Einheiten (Hausbesuche) für
einen Zeitraum von ca. 12 Wochen beantragt und genehmigt werden. Verlängerung ist
möglich. Nach Absprache übernimmt eine Teammitglied die Funktion eines Case-Managers.
Es erfolgt eine strukturierte Überleitung in die weitere Behandlung.
72
Nach 3 ½ jähriger Modellerprobung konnte zum 1.4.1996 eine vertragliche Regelung mit
weitgehend kostendeckenden Vergütungen vereinbart werden. Rechtsgrundlage ist § 40
Abs. 1 SGB V.
In Magdeburg sind die Pfeifferschen Stiftungen (Diakonie) Träger des mobilen RehaModells, das seit 1998 gefördert wird. Neben Kliniken für Orthopädie, Innere Medizin und
Chirurgie gibt es ein Geriatriezentrum mit 30 akutgeriatrischen Betten, 10 tagesklinischen
Plätzen und einer Beratungsstelle für ältere Menschen. Die mobile Rehabilitation ist hier
zugeordnet. Das Team unter Leitung einer Fachärztin für innere Medizin besteht aus einer
Ergotherapeutin, zwei Physiotherapeuten, einem Sozialarbeiter und einer Projektleiterin.
Eine Logopädin wird bei Bedarf hinzugezogen. Da das Team keine Pflegekräfte hat, besteht
eine Kooperation mit ambulanten Pflegediensten. Eine Vergütung ist mit der AOK SachsenAnhalt vereinbart. Für die Mitarbeiter sind Zusatzqualifikationen notwendig.
Als Indikationen sind Ein- und Ausschlusskriterien festgelegt, wobei die individuelle
Beeinträchtigung, soziale Ressourcen und der individuelle Hilfebedarf ausschlaggebend
sind. Die Patienten kommen vorwiegend aus der Geriatrie der Pfeifferschen Stiftungen,
Überweisungen von niedergelassenen Ärzten und dem MDK sind bis jetzt noch die
Ausnahme, werden aber angestrebt. Nach der Eingangsuntersuchung entscheidet die
Krankenkasse. Die Zahl der Patienten ist pro Jahr auf 120 begrenzt. Pro Patient sind 50
Leistungseinheiten vorgesehen, die innerhalb von 12 Wochen zu erbringen sind. Die
Tagespauschale ist z. Z. noch nicht kostendeckend. Der Fehlbedarf wird über Fördermittel
aus dem vorgenannten Bundesmodellprogramm finanziert.
In Woltersdorf besteht seit August 2001 ein in Kooperation mit dem Landkreis Oder-Spree
finanziertes Projekt „vernetzte Versorgung“, das an das Evangelische Krankenhaus
Gottesfriede und das Alten- und Pflegeheim Gottesfriede angegliedert ist. Das Projekt
besteht aus der geriatrischen Klinik, der geriatrischen Tagesklinik, der mobilen Rehabilitation
im Bereich der ambulanten Medizin, einem Anlauf- und Beratungscenter sowie einer neu
konzipierten Service- und Informationsstelle zur Wohnraum-Anpassung (SIWA). Bereits in
der akutmedizinisch-stationären Phase werden alle Maßnahmen an dem „Leben nach dem
Krankenhaus“ ausgerichtet und eine umfassende Gesundheits- und Lebensplanung im
Sinne einer „Anleitung zum Gesundwerden“ angelegt. Eine stationär zu behandelnde
Krankheit wird bewusst als schwerwiegender Einschnitt in die Biographie der Klientinnen und
Klienten wahrgenommen9.
9
Entsprechend: Kollak, I., Berlin 13.09.2002.
73
5.2.2 Erkenntnisse aus den Modellprojekten
Die Ergebnisse der verschiedenen Modellprojekte zeigen, dass für die gleiche Zielgruppe
vergleichbare Verbesserungen im Bereich der funktionalen Gesundheit erreicht werden wie
in stationären Einrichtungen und dass diese Ergebnisse noch 6 Monate konstant bleiben.
Fast alle Patienten , die ja externe Behandler nicht mit vertretbarem Aufwand besuchen
können, sind pflegebedürftig. Allerdings lassen sich die Ergebnisse der Mobilen
Rehabilitation in ihrer Komplexität, insbesondere im Hinblick auf die Beeinflussung der
Pflegebedürftigkeit, ihrer Bewältigung und der Kontextfaktoren, nur schwer messen10.
Mobile Rehabilitation bearbeitet die Probleme dort, wo sie auftreten, in der häuslichen
Umgebung. Sie ist deshalb für einen Teil der rehabilitationsbedürftigen pflegebedürftigen
und/oder behinderten Menschen ein notwendiges Angebot, v. a. dann, wenn die
Angehörigen eng und intensiv in den Rehabilitationsprozess einbezogen, Maladaptionen
abgebaut und angemessene Bewältigungsstrategien erarbeitet werden müssen, wenn die
Mobilität und die Alltagsaktivitäten in der eigenen Wohnung und der Umgebung konkret
erprobt und trainiert werden muss, wenn eine hohe Verbindlichkeit und Zuverlässigkeit der
aufsuchenden Hilfe unabdingbar ist, wenn neuropsychologische Symptome, geistige oder
mehrfache Behinderung Rehabilitation in vertrauter, Orientierung ermöglichender Umgebung
erforderlich machen, wenn Sprachprobleme oder enge familiäre Bindungen Rehabilitation zu
Hause erfordern und/oder wenn der Patient selbst unbedingt mobile Rehabilitation wünscht
(vgl. Rahmenkonzeption Mobile Rehabilitation, www.bag-more.de).
Mobile Rehabilitation trägt vor allem an der entscheidenden Schnittstelle Krankenhaus –
ambulante Versorgung dazu bei, eine vorschnelle Heimeinweisung zu vermeiden und den
Verbleib in der eigenen Häuslichkeit zu sichern. Dies und die Verbesserung der funktionalen
Gesundheit bedeuten Lebensqualität und Lebenszufriedenheit für den behinderten oder den
älteren Menschen und nicht zuletzt einen verminderten Bezug anderer Sozialleistungen. Zu
vermuten, jedoch noch nicht ausreichend untersucht, ist die Vermeidung des Drehtüreffektes
bei Problempatienten.
Modellrechnungen zeigen, dass Mobile Rehabilitation dann eine besonders wirtschaftliche
Form der Rehabilitation darstellt, wenn sie Krankenhausverweildauern verkürzt, stationäre
Rehabilitation ersetzt
oder
verkürzt
bzw.
regional Spezialprobleme,
z. B.
in der
Hilfsmittelversorgung, lösen hilft.
Mobile Rehabilitation fördert die Vernetzung, indem der Hausarzt in die Behandlung
eingebunden bleibt. Besonders umfassend ist dies im Woltersdorfer Projekt „Vernetzte
Versorgung“ gelungen, in dem eine deutliche Verbesserung der Zusammenarbeit aller
10
Vgl. Schulz, M., Düsseldorf 2002.
74
regionalen Hilfestrukturen für geriatrische und gerontopsychiatrische KlientInnen erreicht
wurde11.
11
Entsprechend: Grambow, E., Berlin 13.09.2002.
75
6
Ergebnis
Die Rehabilitation von Menschen, die pflegebedürftig oder von Pflegebedürftigkeit bedroht
sind, ist ein spannender und herausfordernder Entwicklungsbereich in Deutschland und
Europa.
Eine sozialrechtliche Systematisierung und die Vermeidung von Fehlanreizen kann hierbei
zur Unterstützung des auf allen Ebenen geforderten und bereits in Ansätzen erkennbaren
Engagements zur Durchsetzung des Grundsatzes „Rehabilitation vor Pflege“ beitragen.
Die DVfR schlägt vor, die Pflegeversicherung gleich den anderen Sozialversicherungsträgern
zu einem eigenständigen Träger von Rehabilitationsleistungen auszubauen, mit einem
trägerspezifischen Schwerpunkt auf der pflegepräventiven Rehabilitation.
Die DVfR sieht dies als eine grundlegende Verbesserungsmöglichkeit für die gesundheitliche
Situation und die gesellschaftliche Integration der Bevölkerungsgruppen an, die auf Pflege
angewiesen sind. Für die Reduktion der aufgezeigten Interessenkonflikte ist es von minderer
Bedeutung,
ob die Trägerschaft
der
Pflegeversicherung
durch eine Fusion
von
Krankenversicherungen und Pflegeversicherung bzw. durch ein Leistungsgesetz mit
Durchführung durch den Staat erfolgt oder durch die von der DVfR bevorzugte
Fortschreibung der im Jahr 1994 durch Gründung eines rechtlich selbständigen
Versicherungszweiges begonnenen Ausdifferenzierung. Die Weiterentwicklung zu einem
eigenständig handlungsfähigen, bundesweit einheitlichen Sozialversicherungsträger mit
eigener Sachmittel- und Personalausstattung erfordert im Vergleich zu anderen Lösungen
geringere systematische Veränderungen, da die unterschiedlichen Systematiken in der
Refinanzierung auf diese Weise bestehen bleiben können. Gleichgültig, wie die
organisatorischen Fragen gelöst werden, ist jedenfalls aber entscheidend, dass bei der
pflegepräventiven Rehabilitation ein voller Gleichlauf von Leistungsträgerinteresse und dem
wohlverstandenen Individualinteresse der pflegebedürftigen oder von Pflegebedürftigkeit
bedrohten Versicherten hergestellt wird. Dabei wird nicht verkannt, dass in manchem Fall
von einer solchen Lösung auch die Sozialhilfe „profitieren“ wird. Doch zumindest zieht die
Pflegeversicherung in der Regel Nutzen aus verhinderter Pflegebedürftigkeit.
Im Konzert mit der weiteren Stärkung von Eigen-, Familien- und Umfeldressourcen, zu deren
Erschließung im Verlauf des Projektes zielgruppenspezifische Empfehlungen erarbeitet
wurden (siehe Kapitel 8.3), handelt es sich nach unserer Einschätzung überdies auf lange
Sicht auch sozialökonomisch um eine sinnvolle Investition in die Zukunftsfähigkeit unserer
demographisch „alternden“ Gesellschaft.
Die Ansätze des SGB IX zur Stärkung der trägerübergreifenden Zusammenarbeit sind
hierbei eine Entwicklungschance für die Schaffung dezentraler, an den Bedürfnissen der
76
Betroffenen und Mitbetroffenen orientierter Zugangsstrukturen zu Rehabilitationsleistungen.
Der Beitrag des vorliegenden Projekts hierzu versteht sich in der Ausarbeitung von
Perspektiven für die gemeinsamen Servicestellen, für die Medizinischen Dienste der
Krankenkassen, für das Handlungsfeld der begleitenden Dienste und den Bereich der
Akutmedizin.
Die trägerübergreifenden Servicestellen sind zu Koordinationszentren auszubauen, die ein
umfassendes Case-Management ermöglichen und als ständige Ansprechpartner der
Klienten die Vernetzung der zuständigen Träger und Leistungserbringer bewirken. Dies setzt
eine entsprechend qualifizierte personelle Ausstattung und eine Senkung der Schwelle für
die Inanspruchnahme voraus, wie sie am besten durch eine Anbindung an dezentrale,
nötigenfalls aufsuchende Dienste durchgeführt werden kann. Hierbei ist an eine
Zusammenarbeit mit dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen oder an die Schaffung
von ambulanten begleitenden Diensten analog zum Krankenhaussozialdienst zu denken.
Insbesondere die Spitzenverbände der Krankenkassen sind aufgefordert, Verbesserungen
im Bereich der Begutachtungsrichtlinien und Begutachtungsformulare des Medizinischen
Dienstes in Richtung eines geeigneten Rehabilitations-Assessment zu fördern, wenigstens
aber die Anwendung der Begutachtungs-Richtlinien „Vorsorge und Rehabilitation“ im
Rahmen der Begutachtung nach SGB XI zu initiieren.
Die Berücksichtigung rehabilitativer Aspekte ist ein Qualitätsmerkmal von Pflege. Dies sollte
konsequent sowohl bei den „Gemeinsamen Maßstäben“ gemäß § 80 SGB XI als auch bei
einer Überarbeitung des Pflege-Qualitätssicherungsgesetzes berücksichtigt werden und
ebenso auf die Vergütungsrichtlinien ambulanter Pflegedienste durchschlagen, so dass die
Erweiterung von deren Leistungsspektrum auf therapeutische Pflegeleistungen und
rehabilitative Elemente wirtschaftlich abgesichert wird.
Aufsuchende und wohnortnahe ambulante Angebote für integrierte Pflege- und Rehabilitationsleistungen sind, unter Berücksichtigung der ermutigenden Erfahrungen in den
einschlägigen Modellprojekten, nunmehr flächendeckend aufzubauen. Dies stellt nicht nur
eine qualitative Verbesserung des Leistungsspektrums dar, sondern ist, aufgrund der
Erkenntnis, dass Einsparungen im Bereich ambulanter Gesundheitsdienste zu insgesamt
steigenden Kosten führen, ein Gebot der Stunde. Leider besteht noch Klärungsbedarf, wie
die Verbesserung des Angebots entwickelt werden soll: Die Verabschiedung der Richtlinie
zur ambulanten Rehabilitation durch den Bundesausschuss Ärzte und Krankenkassen nach
§ 92 Abs. 1 Ziff. 8 i. V. m. § 111a Abs. 1 SGB V stagniert seit längerer Zeit, aufsuchende
Rehablitation fehlt dort. Es fehlt Klarheit darüber, in welcher Weise ein flächendeckender
Ausbau ambulanter Rehabilitationsangebote, von dem gerade ältere Menschen einen
Nutzen hätten, stattfinden soll. Die Blockade ist besonders dem Streit darüber geschuldet,
welche
Rolle
Ärzte
mit
der
Fachkunde
„Rehabilitation“
oder
Zusatzbezeichnung
77
„Rehabilitationswesen“
einnehmen
können
und
in
welchem
Maße
ein
diagnosenübergreifender Ansatz sinnvoll ist.
Eine Ersatzregelung des Gesetzgebers in diesem Bereich sollte ernsthaft erwogen werden.
Auch ist der weitere bedarfsgerechte Aufbau wohnortnaher stationärer geriatrischer
Rehabilitationsangebote voranzutreiben. Hierbei kann nicht nur die Schaffung neuer,
spezialisierter Zentren in den Blick kommen, sondern auch die verbreitete Integration
rehabilitativer Angebote in stationären Altenhilfeeinrichtungen. Hier kann ebenfalls eine
Veränderung
der
Vergütungsgrundlagen
Anreize
für
die
Fortentwicklung
der
Angebotsstruktur setzen.
Die Deutsche Vereinigung für die Rehabilitation Behinderter sieht sich bei aller Fachlichkeit
ihrer Orientierung vor allem rehabilitationsbedürftigen Menschen verpflichtet. Die Gruppe
derer unter ihnen, die von Pflegebedürftigkeit bedroht oder betroffen sind, wächst. Mit
Vorlage dieser Schrift, die zu der laufenden Diskussion notwendigerweise nur eine vorläufige
Zusammenfassung des Sachstands, nicht aber einen Schlusspunkt beitragen kann, möchte
die DVfR einen Beitrag zur Verbesserung der Teilhabemöglichkeiten und der Lebensqualität
leisten und gibt dabei zu bedenken, dass von dem Kernproblem der Pflegeabhängigkeit
jeder betroffen sein kann und viele im Verlauf ihrer Biographie betroffen sein werden.
78
Langfassung des Projektberichtes „Rehabilitation vor Pflege - Lösungshilfen für ein
Strukturproblem in Deutschland“: www.dvfr.de (Veröffentlichungen/weitere Publikationen)
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