Die Stellung der systembezogenen Psychotherapie

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Die Stellung der systembezogenen Psychotherapie Bert Hellingers
im Spektrum der Kurztherapien
Dr. Eva Madelung
(erschienen in: „Praxis des Familienstellens“ – Kongressbericht, Wiesloch 1997)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren,
Zuerst möchte ich mich bei Gunthard Weber bedanken für die Ehre, die er mir mit
dem Ansinnen erwiesen hat, auf dieser Tagung einen Vortrag über ein so
anspruchsvolles Thema zu halten. - Wenn ich diese Aufgabe übernommen habe, so
heißt das nicht, daß ich mich anheischig mache, die "Stellung der systembezogenen
Psychotherapie Bert Hellingers im Spektrum der Kurztherapien" genau definieren,
geschweige denn erschöpfend behandeln zu können. Tatsache ist allerdings, daß
mich dieses Thema aus einem gewissen philosophischen Interesse heraus interessiert.
In meinem Buch "Kurztherapien" können Sie die Spuren dieses Interesses finden.
Außerdem beschäftigt mich im therapeutischen Alltag aus praktischen Gründen
immer wieder die Frage, wie das Familienstellen zu den anderen systemischen
Ansätze steht. - Mit diesen „anderen systemischen Ansätzen“ sind die Ericksonsche
Hypnotherapie, das Neurolinguistische Programmieren (NLP), der Ansatz der
Heidelberger Schule, die Kurzzeittherapie nach De Shazer und den Satirschen Ansatz
gemeint. Sie alle kann man unter dem Begriff "konstruktivistisch-systemisch"
zusammenfassen, denn für diese Methoden dient der Konstruktivismus als
philosophischen Hintergrund. Dieser Denkansatz geht - wie die meisten von Ihnen
wissen - davon aus, daß wir unsere Wirklichkeiten nicht vorfinden, sondern erfinden.-.
Hellinger dagegen bezeichnet seine Vorgehensweise" als "phänomenologisch"., und
er hat uns gestern genau definiert, was er darunter versteht: das Absehen von
Gewohntem, und das Sich-Aussetzen der erfahrbaren Wirklichkeit gegenüber, wie sie
sich im Wandel des Zeit zeigt. - Heidegger ist der Philosoph, bei dem er - wie er sagt am ehesten Entsprechungen zu seinen eigenen philosophischen Erkenntnissen findet,
und bei Heidegger gibt es nicht nur "Selbst-Erkenntnis", oder „Erkenntnis über
Erkenntnis“, sondern auch "Seins-Erkenntnis". Also nicht nur „Erfundenes“, sondern
auch „Vorgefundenes“.
In diesem Vortrag ist es meine Aufgabe, die Stellung von Hellingers systembezogener
Psychotherapie zu den übrigen Kurztherapien theoretisch zu beleuchten. Dabei
beziehe ich mich weitgehend auf das Heidelberger Modell, da es ein repräsentatives
1
Beispiel systemtherapeutischen Vorgehens darstellt; und auch, um dem genius loci
damit Rechnung zu tragen.
Über meine praktischen Erfahrungen mit den Ergänzungsmöglichkeiten von
Familienstellen, NLP und anderen systemtherapeutischen Elementen können Sie in
dem anschließenden Kurzreferat "Durch die Augen des Anderen - Familienstellen in
der Einzeltherapie" etwas erfahren.
Zwei Fragen.
Als Gunthard Weber das Buch "Zweierlei Glück, die systemische Psychotherapie Bert
Hellingers" herausgab, wurde angezweifelt, ob der Begriff "systemisch" überhaupt für
diese Methode zutreffend sei. - Andererseits löste dieses Buch - wie mir Gunthard
Weber schilderte - ein so lebhaftes Echo an dankbaren Zuschriften und sogar kleinen
Geschenksendungen aus, wie er das selbst nie erwartet hätte. Das Buch zusammen
mit den anderen Hellinger-Büchern, Cds und Kassetten und auch seinen Workshops sind wie wir wissen - "Bestseller"..
Der Frage, ob Hellingers Methode des Familienstellens systemisch sei, muß man - so
nehme ich an - auf einer Tagung wie dieser nicht gesondert nachgehen. Denn daß
bei dieser Vorgehensweise nicht nur das Einzelschicksal, sondern der übergeordnete
Beziehungs- Zusammenhang in den Blick kommt, kann niemand abstreiten. Hier wird
uns beschäftigen, wie Hellingers Ansatz zu den anderen systemischen Ansätzen steht,
und ob sie sich ergänzen oder ausschließen.
Die zweite Begebenheit läßt einen darüber nachdenken, wie es kommt, daß das von
Bert Hellinger entwickelte Familienstellen, und die daraus abgeleiteten Erkenntnisse
einer „lebendigen Philosophie“ so starken Widerhall finden; und ob sich darin ein
reaktionärer oder gar fundamentlistischer Trend ausdrückt, oder ob Hellingers
Methode nicht besonders progressiv ist, indem sie genau das in den Blick bringt, was
heute fehlt.
Zwei Thesen.
Meine Thesen dazu sind:
1. Das Familienstellen nach Hellinger ist nicht nur eine wertvolle, sondern in der
heutigen Situation auch eine notwendige Ergänzung der systemischen Methoden.
2. Es spiegelt und ergänzt gesellschaftliche Defizite und Verdrängungen, und ist
deshalb von besonderer Aktualität.
2
Charakterisierung der Verschiedenheiten.
Um diese Thesen zu belegen, bedarf es zuerst einer Charakterisierung der
Verschiedenheit der systemischen Ansätze.
Die konstsruktivistisch-systemischen Therapiemethoden unterscheiden sich auf den
ersten Blick von der phänomenologisch-systemischen Methode Bert Hellingers durch
zwei grundlegende Metaphern von wesentlich verschiedener Qualität: In der
Heidelberger Schule geht es um das Wiederingangsetzen des Kommunikationsflusses
zum Aushandeln neuer Beziehungsrealitäten" (Helm Stierlin1), und um das Verflüssigen
von Konzepten, (Gunthard Weber2). Während beim Familienstellen die Suche nach
einer Ordnung der Liebe im Mittelpunkt steht.
Das Bild einer "Ordnung" als etwas statisches und das Bild des "Flusses" als Inbegriff
von Dynamik stehen sich also gegenüber.
Diese Gegenüberstellung kann man folgendermaßen erweitern.
In Hellingers Ansatz geht es um
Im Heidelberger Ansatz geht es um
die Anerkennung einer Kraft, die
die gemeinsame Neugestaltung einer
zwischen den Menschen und durch sie
Ordnung unter gleichberechtigten
hindurch auf einer archaischen Ebene
Familienmitgliedern
wirkt.
das Finden des Ordnungsbildes mit Hilfe kontextgebundene Selbstregulation:
der Wahrnehmung des von außen
innerhalb des aktuellen Familiensystems
schauenden Therapeuten, und der
sind alle Ressourcen zu Lösung
Stellvertreter. Das heißt: es muß etwas
vorhanden. Der Therapeut gib nur
dazu kommen.
Anstöße.
eine Rangfolge in der Zeit, um eine
Zeithierarchie innerhalb der
Änderung der Ordnung im Zeitfluß
(zirkulärer Prozess)
Grundordnung
Aus einer solchen Aufzählung gegensätzlicher Elemente entsteht der Eindruck von
zwei völlig verschieden Ansätzen, die sich womöglich sogar ausschließen.
Die philosophischen Hintergründe.
1
Gunthard Weber, Helm Stierlin: In Liebe entzweit. Rowohlt, Reinbeck 1989. S.34.
"Über die Verflüssigung von Konzepten.." in Autobahn-Universität, Auer-Verlag.
2TB
3
Vom philosophischen Hintergrund her gesehen ergeben sich darüber hinaus
folgende Gegensätzlichkeiten:
Die konstruktivistisch-systemischen Ansätze gehen - wie schon angedeutet - von der
Erkenntnis aus, daß wir uns über Vorstellungen oder Konzepte eine Wirklichkeit
erfinden oder "konstruieren". Therapeutische Interventionen müssen darauf
abzielen, die Weltsichten im Familienzusammenhang zu verändern, um die
Bewältigung eines Problems zu ermöglichen.
Hellinger phänomenologisches Vorgehen rückt den Vorgang der Wahrnehmung in
den Vordergrund. Dieser Wahrnehmungsprozess richtet sich auf die
"Grundordnung". Sie wird also „gefunden“ und nicht "erfunden". Die Lösung liegt
im Auffinden und Anerkennen der Verstrickung und des lösenden
Ordnungsbildes, und im Finden und Aussprechen der Sätze der Kraft.
Das heißt: „Bei einem phänomenologischen Vorgehen nimmt man an, daß der
Schwerpunkt des Kognitionsprozesses, der sich wechselwirkend zwischen den Polen
Wahrnehmen und Vorstellen vollzieht, auf der Wahrnehmung liegt; während der
konstruktivistische Ansatz die Vorstellung in den Vordergrund rückt . Die durch
phänomenologisches Vorgehen gefundene ... lebendige Ordnung hat eine andere
Qualität, als die aus der Selbstorganisationsfähigkeit eines Familiensystems sich
ergebenden Verhaltensalternativen, die im Heidelberger Modell zur Lösung führen. Wenn man einen Vergleich aus der Computersprache benutzen will, so könnte man
sagen, daß das konstruktivistisch-systemische Vorgehen die "Software" eines
Computers betrifft, während man sich im phänomenologisch-systemischen
Vorgehen mit der "Hardware" befaßt“3.
Hellingers Ordnungsbegriff
Es wird immer wieder daran Anstoß genommen, daß im Familienstellen der Begriff der
Ordnung so stark im Mittelpunkt steht. Daran knüpfen sich Vorwürfe wie: Law-andorder-Denken, Fundamentalismus, oder auch Faschismus. Tatsächlich handelt es sich
dabei um einen äußerst differenzierten und paradoxer Begriff, der nicht leicht zu
fassen ist.
Zwei Zitate, die das belegen:
"....der Ordnung ist es völlig egal, wie ich mich verhalte; sie steht immer da 4" .Das
heißt: Ordnung hat die Qualität von Wahrheit. Sie ist "das was ist".
3
Madelung, 1996, S. 196.
1993, S. 148.
4Hellinger,
4
Hellinger versteht Wahrheit jedoch als Wirklichkeit: "Das was ist, ist aber keine
objektive Wahrheit, oder ein unumstößliches Gesetz, sondern lebendige Wirklichkeit;
und Wahrnehmung ... ein schöpferischer Prozess, der etwas bewirkt"5 .
Man muß da genau hinhören: Wahrnehmung bewirkt etwas, das heißt: sie schafft
Wirklichkeit! - Die konstruktivistischen Richtungen dagegen betonen, daß die Via
regia zur Wirklichkeit die Vorstellung sei! - Anderseits weist aber auch Hellinger immer
wieder auf die Wirksamkeit innerer Bilder - und das sind ja Vorstellungen (!) - hin. Das
bedeutet, daß auch er die Wechselwirkung von Wahrnehmung und Vorstellung in
Betracht zieht. Hier findet man eine Brücke zum konstruktivistischen Denken.
Bei Hellinger erscheint die Wahrnehmung oder Schau von Ordnung als Wahrheit, als
Ein-sicht in das "was ist". Dies ist jedoch eine Wahrheit besonderer Art: "Für mich ist
Wahrheit etwas, was mir der Augenblick zeigt und durch das er die Richtung weist für
den nächsten fälligen Schritt...keine bleibende Wahrheit"6 - Dies scheint mir eine
Parallele zu der "Geschichtlichkeit von Wahrheit zu sein, von der K.F. v. Weizsäcker.7
spricht.
Handelt es sich also um eine fließende Wahrheit und eine fließende Ordnung? Ist die
Gegensätzlichkeit der Metaphern „Ordnung“ und „Fluß“ ins Fließen geraten?
Einige grundlegende Elemente dieses Ordnungsbegriffs.
Das Bild der Grundordnung (Vater, Mutter, 1.2.3. Kind im Uhrzeigersinn in einer kreisoder halbkreisförmigen Figur angeordnet) wurde von Hellinger im Verlauf von Jahren
aus Wahrnehmungen und Erfahrungen mit der Methode des Familien-Stellens
gewonnen. Sie ist nicht "erdacht" oder einfach übernommen, wie manche
annehmen. - Über Jahre konnte ich in verschiedenen Ausblidungen bei Bert Hellinger
diesen Prozess verfolgen.
Andere wichtige Elemente sind:
1. Die Anerkennung einer Rangordnung in der "Zeit-Hierarchie". Das heißt: das Frühere
hat Vorrang vor dem späteren. Diese Rangordnung ist wertfrei. Was nachgeordnet
ist, ist deshalb nicht von geringerem Wert. Zum Beispiel bei Mann und Frau: der Mann
nimmt zwar meistens den ersten Rang in der Familie ein (er steht rechts von der Frau).
Die Frau steht gleichwertig neben ihm, hat aber eine andere Aufgabe. - Hat die Frau
jedoch - zum Beispiel dadurch, daß sie das Geld für die Familie verdient - ein
besonderes Gewicht, so steht sie meist rechts neben dem Mann, und nimmt den
5Gunthard
Weber Hrg.:. 1993, S. 182.
Hellinger, 1994. S.511
7Carl F. v. Weizsäcker 1997, S. 92.
6Bert
5
ersten Rang ein, während der Mann gleichwertig neben ihr steht. dies ist jedoch
keine starre Regel, sondern ergibt sich aus den Wahrnehmungen der
stellvertretenden Personen.
2. Die Würdigung: Das 1. Gebot: Du sollst Vater und Mutter ehren. Das bedeutet eine
innere Haltung des Dankes, nicht der Anklage, den Eltern gegenüber: Wer - Dies ist
keine Moralvorschrift, sondern der Hinweis auf eine unbewußte psychische Dynamik.
Denn wer - aus noch so guten Gründen - dagegen verstößt, bestraft sich selbst.
3. Die Vollständigkeit: Alle, die dazu gehören, müssen gewürdigt werden.
4. Der Ausgleich durch die Wirkung des Gewissens (der Familie, der Sippe usw.)
5 Die Dynamik von Nachfolge und Übernahme, des stellvertretenden Leidens.
6. Die gute Lösung ist für alle gut. Keiner kann nehmen auf Kosten der anderen. Dies
bedeutet die Notwendigkeit des Verzichtes auf Nachfolge und stellvertretendes
Leiden.
Das Verhältnis von Gefühl und Ordnung.
Die starke Einbeziehung des Gefühls ist ein wesentliches - und den anderen
systemischen Therapien gegenüber bereicherndes - Element in Bert Hellingers Arbeit.
Ein Grundsatz ist: "Man muß schauen, wie die Liebe fließt und ihre gleichermaßen
verstrickende wie lösende Wirkung sehen und würdigen". Denn das Gefühl ist der
Ordnung nachgeordnet. Gefühle ohne Grundordnung wirken weiter verstrickend.
D.h. der Gefühlsfluß der Primärliebe ist nur auf Grundlage von Ordnung lösend. - Über
das Gefühl kommt also - neben der Zeit - ein weiteres fließendes Element in die
Ordnung. Aber: sie kann erst lösend fließen, wenn die Ordnung da ist. Liebe kann
Ordnung nicht überwinden.
Andererseits erscheint die primäre Liebe, die die Familienmitglieder aneinander
bindet und deshalb auch „Bindungsliebe“ genannt werden kann, als eine Art von
psycho-biologischer Basis zu einer nächsten Stufe von Liebe, die durch den Verzicht
auf die „Hybris des Opfers“8 entsteht, und auf der Ebene des „schauenden
Gewissens“(Bert Hellinger) über den Familienzusammenhang hinaus wirksam wird.
Grundordnung und verhandelte Neuordnung.
Im Heidelberger Modell und beim Familienstellen gibt es also unterschiedliche
Ordnungsbegriffe.
Die "ausgehandelte Neuordnung" des Heidelberger Konzepts verweist auf die
Notwendigkeit und dient den Möglichkeiten von Co-Individuation und Co-Evolution
(Stierlin, Willi)
8Siehe
unten S. 7.
6
Das Bild der Ordnung dagegen, das durch Familienstellen entsteht, setzt Grenzen
und zeigt den Grund, die Basis auf der Entwicklung möglich ist.
Wie schon angedeutet entsteht dieses Ordnungsbild nicht in einem durch zirkuläres
Fragen angeregten Selbstregulationsprozess. Sondern es stammt aus einem Bereich,
den C.G. Jung das kollektive Unbewußte genannt hat, und den man aus
phänomenologisch-systemischer Sicht das Zwischen-Bewußte - oder noch besser das
„Um-Bewußte“ nennen kann. Hellinger nennt diesen Bereich „die große Seele“.
Jung hat einmal gesagt: "Wir träumen nicht so sehr aus dem was in uns, sondern aus
dem was zwischen uns ist"9 . Womit er darauf hinweist, daß es auch für ihn etwas
gab, was über uns hinaus oder durch uns durch geht und im Zwischen wirkt. - Dies als
ein Hinweis auf spirituelle oder transpersonale Aspekte der systemorientierten
Psychotherapie Bert Hellingers.
Zusammenfassung der Gegensätzlichkeiten.
Im Heidelberger Konzept eröffnet zirkuläres Fragen die Ebene der sprachlichen und
handelnden Kommunikation. Im Focus sind die Entwicklungsmöglichkeiten des
Einzelnen im Zusammenspiel mit den Anderen. - Die Neuordnung entsteht in
beständigen Selbstregulationsprozess eines zirkulären Zusammenwirkens. Innerhalb
der Familie ist alles vorhanden.
Das Familienstellen nach Bert Hellinger führt auf eine darunter liegende Ebene
archaischer Wirkungen. - Das Anerkennen des Ordnungsbildes eröffnet eine innere
Haltung der Demut und ein Bewußtsein der unwiderrufbaren Bezogenheit und der
Grenze der eigene Möglichkeiten. Diese Bezogenheit bildet eine Tiefenschicht zur
Handlungsebene. Hier gibt es archaische Wirkungen und Reaktionen, und - das ist
sehr wichtig - es gibt eine Wirkung der Toten auf die Lebenden.
Um diese Tiefenschicht des „Um-Bewußten“ zu erreichen, genügt es nicht, sich auf
die Selbstregulationsfähigkeit des aufgestellten Systems zu verlassen. Es muß etwas
von außen dazu kommen. Der Blick nämlich des von außerhalb der Verstrickung
schauenden Therapeuten und die Wahrnehmungen der Stellvertreter.
Gibt es Ansätze zu einer "Vereinigten Theorie"?
Sollte man nicht, trotz aller Gegensätze, nach einer "Vereinigten Theorie" suchen,
denn es gibt - wie sich mehr und mehr zeigte - neben den Gegensätzen auch
9Jürg
Willi, 1989, S. 96.
7
manche Gemeinsamkeiten. Zum Beispiel könnte man die Arbeit mit dem Familienbild
auch als "Änderung der Sicht" (reframing) betrachten. - Außerdem gleicht die
Aufstellungsarbeit - wenn man so will - einer Ressourcensuche. Die gefundene
Grundordnung wäre dann eine machtvolle „Basis-Ressource“.
Eine weitere Gemeinsamkeit ist die Lösungsorientierung. Gegenüber der
familientherapeutischen Arbeit von Boszormenyi-Nagy, die das „entitlement to
vindictiveness“ in den Vordergrund rückt, und auch gegenüber der Arbeit des
Mailänder und des Heidelberger Teams, die mit der Hybris des Opfers konfrontiert, ist
Hellinger einen Schritt weiter in Richtung Lösungsorientierung gegangen. Statt die
Eltern mit ihrer Verantwortung, oder die Kinder mit der Hybris ihres Opfers zu
konfrontieren, schaut Hellinger „wie die Liebe fließt", und sieht die gleiche Dynamik
aus einem anderen Blickwinkel, der tiefergreifende Lösungsmöglichkeiten eröffnet. Er
selbst sieht darin den entscheidenden Schritt zur Lösungsorientierung seiner Arbeit
(Mündliche Mitteilung)
Darüber hinaus sehe ich die Zeit als vereinigendes Element. Denn in beiden Ansätzen
spielt die Zeit eine wichtige Rolle. Im Heidelberger Konzept erscheint die Zeit als „ZeitFluß“, dem alle folgen müssen, soll die Co-Evolution nicht zum Erliegen kommen. Bei
Hellinger ist die Zeit die Grundlage der Rangordnung, die es anzuerkennen gilt. Sie ist
Grundlage einer „Zeit-Ordnung“. Ordnung und Fluß treten über die Zeit in
Verbindung. Zeit erscheint als Kernsubstanz von Leben. - „Sein und Zeit“ ist das
zentrale Thema Martin Heideggers.
Abschließend komme ich nun auf die eingangs aufgestellten Thesen zurück.
Zur These der Ergänzung.
Trotz mancher Übereinstimmungen ist es - aus meiner Sicht - sinnvoll, daß beide
systemischen Ansätze in ihrer Gegensätzlichkeit und in ihren Gemeinsamkeiten
nebeneinander bestehen. Denn dies entspricht der paradoxen Situation, in der wir
uns befinden. Denn wir erleben beides: die Notwendigkeit den eigenen Weg zu
finden und damit die Notwendigkeit Selbstverantwortung zu übernehmen einerseits.
Dabei besteht die Gefahr einer Hybris der Selbstverantwortung; einer Hybris der
Machbarkeit und die Gefahr der Illusion von Beliebigkeit.
8
Daneben besteht gleichermaßen die Notwendigkeit , die Grenze des
Eingebundenseins anzuerkennen, und die Notwendigkeit der Hingabe an einen
größeren Zusammenhang, den Hellinger „die große Seele“ nennt.
Denn immer wieder geraten wir in Situationen, in denen uns unsere Machtlosigkeit,
die Illusion der Beliebigkeit, und das Ende konstruktivistischer Möglichkeiten klar wird.
Immer wieder stehen wir vor der Notwendigkeit anzuerkennen was ist! Zum Beispiel
unsere Machtlosigkeit einer bestimmten Krankheit oder der schlichten Tatsache
gegenüber, daß zwei ganz bestimmte Personen unsere Eltern sind, gleichgültig, ob
wir das als Glück oder als Unglück ansehen.
Aus diesem Grunde ergänzt die -phänomenologisch-systemische Vorgehensweise
des Familienstellens die konstruktivistisch- systemischen Vorgehensweisen auf
sinnvolle Weise. Die in der Aufstellung gefundene Ordnung dient als Untergrund und
Grenze der - aus der systemisch-konstruktivistischen Methoden sich ergebenden Möglichkeiten und Ziele. Die anerkannte Grundordnung läßt keinen Raum für
Beliebigkeit, die die Achillesverse mancher systemischen Kurztherapien ist.
Zur These der Aktualität.
Die Methode des Familienstellens ist von besonderer Aktualität, denn sie rückt Werte
wie: Würde, Anerkennung, Demut, Liebe und Autorität in den Vordergrund; und sie
weist hin auf die Ausklammerung des Todes und der Toten. Damit spiegelt und
ergänzt sie ein gesellschaftliches Defizit.
Viel wäre zu sagen zu den Gesten des Verneigens und Segnens, die in dieser
Methode einen so zentralen Platz einnehmen; ebenso zu der Rolle, die das Ausüben
und das Annehmen von Autorität in dieser Arbeit spielt, und welche Gefahren damit
verbunden sind. Leider fehlt hier der Raum.
Erfahrungswissen von Ordnung ist heilend.
Aus meiner Sicht ist Hellingers Ansatz unter anderem so gesucht, weil die Menschen
heutzutage offensichtlich die Erfahrung einer lebendigen Ordnung brauchen.
Gesellschaftlich steht Verunsicherung, Auflösung und Vereinzelung im Vordergrund.
Das Erlebnis des Eingebundenseins in einen, durch das fließen der primären Liebe
lebendigen, Beziehungszusammenhang wird als heilend erlebt. Ähnlich wie man in
einem Flußbett die am Grunde liegenden Steine und Felsen wahrnehmen kann,
wenn man mit Aufmerksamkeit hinschaut, wird unter der bedrohlich schnell
fließenden, sich ständig verändernden Oberfläche des handelnden Miteinanders
durch diese Arbeit ein Untergrund sichtbar. Damit wird der Grund zu den Gefahren
9
der Oberfläche - der Schnellen und Wirbel - mit einem mal klar; und man kann
erleben, daß der Fluß denjenigen trägt, der diesen Untergrund kennt und anerkennt.
Eine andere Art von Aktualität, die ich sehe, bezieht sich auf alle systemischen
Therapien. Es ist das „existentielle Paradox“10 unserer ökologischen Situation.
Global gesehen ist die Menschheit in einer ähnlich paradoxen Situation wie jeder
Einzelne. Denn wir erleben beides: große Gestaltungsmöglichkeiten und eine ebenso
große Machtlosigkeit und Ratlosigkeit. Wir sind uns selbst und unserem Schicksal
ausgesetzt. Gleichzeitig aber tragen wir die Konsequenz unserer Handlungen, als
Kollektiv wie als Einzelwesen.
Die "Wählbarkeit von Schicksal" und die damit verbundene Selbstverantwortung ist
das eine. Das Wissen und die Erfahrung des Eingebunden-Seins in Gegebenheiten
und das damit verbundene Gefühl von Machtlosigkeit und de Notwendigkeit der
Hingabe ist das Andere. Zum Beispiel erfahren wir, wie wenig wir mit ökologischen
Absichtserklärungen oder Handlungen bisher bewegen und wie machtlos wir uns
immer wieder in dieser Frage empfinden. Ohne allerdings deshalb aus der
Verantwortung entlassen und von den Konsequenzen entlastet zu sein.
Den an Bateson geschulten Zuhörerinnen und Zuhörer ist klar, daß wir uns in einer
existentiell doppelt gebundenen Situation befinden, die - wenn wir der von ihm
zitierten Delphin-Geschichte Glauben schenken wollen - die Voraussetzung für
erhöhte Lebenskreativität ist. In dieser Geschichte entwickelt ein Delphin - in eine von
ihm als beängstigend empfundene double-bind Situation gebracht - einen vorher
nicht gekannten Einfallsreichtum.
Dies ist ein Hoffnung, die uns alle betrifft.
Hellinger sieht diese Situation aus einem noch anderen Blickwinkel: "Manche meinen,
sie selber suchten nach der Wahrheit ihrer Seele. Doch die große Seele, denkt und
sucht durch sie. Wie die Natur kann sie sich sehr viel Irrtum leisten, denn falsche
Spieler ersetzt sie mühelos durch neue. Dem aber, der sie denken läßt, gewährt sie
manchmal etwas Spielraum, und wie ein Fluß den Schwimmer, der sich treiben läßt,
trägt sie ihn mit vereinter Kraft ans Ufer."11
10Siehe
dazu Madelung, 1996, S. 122 ff: Watzlawick und die „pragmatische Paradoxie“.
Weber Hrg, 1993 S. 51
11Gunthard
10
Literatur.
Bert Hellinger, Ordnungen der Liebe, Carl Auer-Systeme, Heidelberg, 1994
Eva Madelung, Kurztherapien, neue Wege zur Lebensgestaltung. Kösel, München 1996.
Gunthard Weber Hrg.: Zweierlei Glück, die systemische Psychotherapie Bert Hellingers, CarlAuer-Systeme, Heidelberg. 1993
Carl F. v. Weizsäcker: die Einheit der Natur, Hanser, 3. Aufl. München 1997
Jürg Willi, Ko-Evolution, Rowohlt, Reinbeck, 1989
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