SIEGFRIED ALEXANDER HENZL BEDEUTUNGSGEBUNG UND

Werbung
Systemische Notizen 04/04
Therapiemethoden
SIEGFRIED ALEXANDER HENZL
BEDEUTUNGSGEBUNG UND SPRACHE
IM KONTEXT VON AUFSTELLUNG
Ein metatheoretischer Versuch einer Annäherung*
ALS MICH Konrad Grossmann und Helmut de Waal vor einigen Monaten einluden, diesen Vortrag über
Bedeutungsgebung und Sprache im Kontext von Aufstellungsarbeit zu halten, hatte ich keinerlei Vorstellungen,
wie gedanklich komplex sich meine nächsten Wochen, Tage und Stunden in Bezug auf dieses Thema gestalten
würden.
Ausgehend von meiner anfänglichen Frage an Konrad „Wie kommst du auf mich?“ war seine Antwort, dass er
mir zutraue, mich mit einem Blick sowohl von innen wie auch von außen diesem Thema anzunähern.
Von innen, weil ich mich selbst seit mehr als 15 Jahren mit Methoden der Externalisierung beschäftige – aus
einer metatheoretischen Perspektive, wie auch als selektiv kritisch Praktizierender von visualisierenden,
externalisierenden Methoden (zu denen ich Skulptur- und Aufstellungsarbeit im Kontext systemischer
Psychotherapie zähle).
Mit einem Blick von Außen, weil ich immer wieder durch meine kritische Distanz zum Thema versuche, eine
Position der Außenperspektive einzunehmen und mir diese zu erhalten.
Mir ist hier – wie ein Wanderer durch den schier riesigen Aufstellungswald gehend – bewusst, dass ich nur
einzelne Steinchen am Weg aufhebe, diese kurz neugierig kritisch betrachte und dann wieder weglege.
Vielleicht werden Sie am Ende meines Vortrages kritisieren, dass ich einen sehr eingeschränkten Fokus gewählt
habe, neuere Entwicklungen nicht berücksichtige.
Wenn Sie mehr über die Vielfältigkeit von Aufstellungsarbeit lesen wollen, dann verweise ich Sie auf Matthias
Varga von Kibed und Insa Sparer, 2000, die einen komplexen Überblick über Aufstellungsarbeit geben.
Heinz von Foerster referiert im Film „Suspicious mind“, dass wir (ich denke er meint uns PsychotherapeutInnen)
eine Geschichte so erzählen müssten, dass der Hörer seine eigenen Geschichten in diese Geschichte einfließen
lassen kann. Er solle seiner Meinung nach die Geschichte nicht vollständig erzählen. Ich werde versuchen, es
zu versuchen, es zu versuchen ...
*Dieser Artikel ist die gekürzte Fassung eines Vortrages im Rahmen des Systemischen Kaffeehauses an der LASF am
2.6.2004. Vorweg gestatten Sie mir nun folgenden Personen zu danken: Konrad Grossmann und Helmut de Waal, für ihre
Einladung hierher zu kommen, der ich gerne gefolgt bin, Mag. Gerald Friedrich, Dr. Margarete Fehlinger und Gisela Moser,
die mit viel Aufmerksamkeit und Behutsamkeit die Entwicklung des Vortrages in der berühmten Wortteilungsphase
begleiteten und meiner Frau, Dr. Marlies Henzl, die, wenn ich ihr anfangs den Text vorlas, als Nicht-Insiderin kritisch darauf
achtete, dass dieser nicht den allgemein verständlichen Rahmen verließ. Gewidmet habe ich den Vortrag meinem mentalen
Begleiter in meiner beruflichen Entwicklung, Heinz von Foerster, und meiner Mutter, die als einzige der mir vorhergehenden
Generation noch am Leben ist. Zuletzt gestatten Sie mir, Sie mit Hauptkommissar Van Vetereen bekannt zu machen: „Die
Wirklichkeit?“ wiederholte der Hauptkommissar, nachdem er die Fantasiebilder weggezwinkert hatte. „Ach so, die...ja,
vermutlich glaube ich viel zu viel. Es gibt so viele sonderbare Dinge in dieser Geschichte, und es ist so schwer, die
herauszuhalten...zu viele sonderbare Dinge (...), genauer gesagt. Ihre verfluchten Dummheiten und kranken Ideen verdrehen
sozusagen die ganze Perspektive. Weg vom Wesentlichen, ich dachte, wir hätten schon letztes Mal darüber geredet.“ „Und
was ist das Wesentliche?“ (Hakan Nesser, Der Kommissar und das Schweigen, 2003, S.196)
Seite 1 von 12
Systemische Notizen 04/04
Therapiemethoden
AUFSTELLUNGSARBEIT – ich muss Ihnen hier gestehen, nicht zu wissen, wer diesen Begriff erfunden hat und
in welchem Zusammenhang er geprägt wurde – ist im Kontext von Psychotherapie und ihrer Umwelten seit
bereits mehr als 10 Jahren – genauer gesagt seit 1993, seit dem Erscheinen des Buches von Gunthard Weber
„Zweierlei Glück: Die systemische Psychotherapie Bert Hellingers“, erschienen im Carl Auer Verlag –
Gegenstand von Diskussionen.
Gunthard Weber schrieb als ein von Bert Hellinger und dessen Arbeit begeisterter geschäftsführender
Eigentümer eines jungen Verlages den Bestseller schlechthin – das Buch ist inzwischen in der x-ten Auflage
erschienen und stellt mit den anderen um die Person Hellingers erschienenen Werken eine wirtschaftliche Basis
des Carl Auer Verlages dar. Scheinbar traf Weber den Geschmack der Kunden oder höflicher ausgedrückt, das
Bedürfnis der Kunden, sprich der Psychotherapeuten. Am Ende einer Zeit konstruktivistischer Herausforderung
und konstruktionistischer Theorienbildung in der systemischen Therapie bekam der Therapeut/die Therapeutin
durch Hellinger wieder die ihm/ihr in den Jahren davor scheinbar abhanden gekommene gebührende
Zuschreibung als „Wissende/Wissender des Heilungsrituals“.
Gleichzeitig war dies aber auch der Beginn der Trennungsgeschichte einer der erfolgreichsten Gruppen
systemischer Theorie- und Methodenbildung im deutschsprachigen Raum, der Heidelberger Gruppe. Seit der
Erfindung der Psychoanalyse gab es keine so umfassend kontroversielle Beschäftigung mit einem, den
konzeptionellen psychotherapeutischen Kontext tangierenden Thema.
Kaum ein anderer methodischer Aspekt teilte die Gemeinde so stark in Gläubige und Ungläubige in Bezug auf
diese Vorgangsweise, je nachdem, von welcher Position die jeweiligen Konfrontationsparteien sich dem Thema
annäherten. Wie schnell Begriffe wie „Aufstellung“, „Aufstellungsarbeit“ oder „Familienaufstellung“ Eingang in die
Kommunikation auch von Laien gefunden haben, ist schon daraus zu ersehen, dass diese Begriffe nicht nur
Fachleu ten geläufig scheinen: Selbst Arbeiter, Hausfrauen und Bäuerinnen aus dem Inn- und Hausruckviertel
haben schon einmal von ihnen gehört. Oder, wie es ein Kollege, bezogen auf den Raum um Graz, zu mir sagte:
„Dort gibt es scheinbar keinen Menschen mehr, der nicht schon aufgestellt wurde“.
Ich hoffe, Sie sind mir über dieses Zitat nicht böse, ich werte es eher als einen Ausdruck oft schierer
Verzweiflung über die eigene schlecht gehende Praxis mancher Kollegen und Kolleginnen im Gegensatz zu
AufstellungskollegInnen.
LASSEN SIE MICH IHNEN HIER, an dieser Stelle, eine kleine private Statistik zeigen. Diese Zusammenstellung
ist das Ergebnis einer zufälligen Eingabe der Begriffe Bert Hellinger, Matthias Varga, Insa Sparer, systemische
Aufstellung,
Familienaufstellung,
Familienstellen,
Aufstellungsarbeit,
Strukturaufstellung
und
Organisationsaufstellung in eine der größten Suchmaschinen des Internets, nämlich Google.
Angezeigte Seiten (deutschsprachig)
Hellinger
ca. 44.800
Familienaufstellung
ca. 31.200
Familienstellen
ca. 19.300
Matthias Varga
ca. 7.290
Systemische Aufstellung
ca. 6.540
Organisationsaufstellung
ca. 5.820
Aufstellungsarbeit
ca. 5.460
Insa Sparer
ca. 2100
Strukturaufstellung
797
Eine Eingabe ins gesamte Web erbrachte einen Auswurf von über 84.000 Seiten beim Begriff „Aufstellung“. Ich
denke, dass diese Zahlen beeindruckend sind und ein Bild davon geben, welche Bedeutung diese
Vorgangsweise im Handeln von Consulting (psychosozialer Beratung, Supervision und Coaching,
Seite 2 von 12
Systemische Notizen 04/04
Therapiemethoden
Organisationsbe ratung und -entwicklung) sowie auch von Therapie gewonnen hat. Ich sage hier bewusst
Therapie, da oft unter dem Begriffsrahmen „Therapie“ auch Tätigkeitsfelder jener Personen wiedergegeben
werden, die sich ohne psychotherapeutische Grundausbildung am Aufstellungsmarkt bewegen. Dieses Thema
sei jedoch einer anderen Diskussion vorbehalten.
LASSEN SIE UNS NUN den Sprung hinein ins Konkrete wagen, der geschichtliche und mediale Kontext scheint
mir nun gut vorbereitet.
Am Anfang stand also „Zweierlei Glück“ oder die Erfindung Bert Hellinger durch Gunthard Weber und seine
phänomenologische systemische Psychotherapie. Mit folgenden Sätzen gelang es Gunthard Weber den
Grundstein einer, ich gestatte mir zu sagen, heute noch nicht abzuschätzenden Bewegung zu legen (S. 17):
„Beziehungen dienen unserem Überleben und unserer Entfaltung, und sie nehmen uns zugleich für Ziele in die
Pflicht, die jenseits unseres Wünschens und Wollens sind. Daher walten in Beziehungen Ordnungen und
Mächte, die fördern und fordern, treiben und steuern, beglücken und begrenzen, und ob wir wollen oder nicht,
wir sind ihnen ausgeliefert durch Trieb und Bedürfnis, durch Sehnsucht und Furcht und durch Leid.“
Sie werden möglicherweise schon hier bei genauerer Betrachtung feststellen, dass diese Sätze einem mitunter
durch Mark und Bein gehen können. Was heißt das?
– In Beziehungen walten
– Ordnungen (welche, von wem und für wen festgelegt?)
– und Mächte (welcher Natur sind sie?)
– Sie (die Ordnungen und Mächte)
– fördern und fordern (was von wem, wer von wem?)
– treiben und steuern (wen oder was, wer steuert wohin?)
– beglücken und begrenzen (wen, womit, wer wen oder was?)
– ob wir wollen oder nicht (scheinbar wird hier klargestellt, dass wir keinen Einfluss darauf haben),
– wir sind ausgeliefert durch
– Trieb und Bedürfnis
– Sehnsucht und Furcht
– und Leid (scheinbar festgelegt durch unsere Biologie, vielleicht auch durch unser Schicksal).
Damit scheint die phänomenologische Konstruktion von Wirklichkeit ausformuliert und die Zielsetzung sowie der
Auftrag von Aufstellungsarbeit bestimmt: Ordnungen sind zu schaffen, Mächte sind zu befriedigen, unsere
Auslieferung ist zu würdigen.
Ein Ihnen nicht unbekannter systemischer Kollege, ich möchte seinen Namen hier nicht preisgeben, meinte
einmal pointiert im Vertrauen, dieser scheinbar alles vorgebende zweite Satz wäre seiner Ansicht nach eine
gefährliche Drohung, weil er jegliche Idee von individueller Autonomie und subjektiver Einflussnahme
ausschließe.
Oder wie Hakan Nesser weiter in seinem Roman „Der Kommissar und das Schweigen“ seinen Kommissar Van
Vetereen auf S. 130 sagen lässt: „Die Götter treiben ihr Spiel mit uns, (...). Die ziehen an den Fäden, damit die
Marionetten auch gehorchen.“
ERLAUBEN SIE MIR hier an dieser Stelle festzustellen, dass mich keinerlei Absicht leitet, Ihnen
Aufstellungsarbeit näher bringen oder vielleicht – noch viel schwieriger – Aufstellungsarbeit ausreden zu wollen.
Ich möchte vielmehr versuchen, meine und Ihre forschende Wahrnehmung anzuregen und zu aktivieren, um auf
einige Aspekte in der Verknüpfung von Bedeutungsgebung, Sprache und Aufstellungsarbeit im Sinne einer
qualitativen Analyse eingehen zu können. Markierungspunkte meiner Ausführungen sind das System
„Aufstellung“ und seine Umwelten „Bedeutungsgebung“ und „Sprache“, das System „Bedeutungsgebung“ und
Seite 3 von 12
Systemische Notizen 04/04
Therapiemethoden
seine Umwelten „Sprache“ und „Aufstellung“, das System „Sprache“ und seine Umwelten „Bedeutungsgebung“
und „Aufstellung“.
Mir ist bewusst, dass ich mich beim Beschreiben der radikal konstruktivistischen Rückbezüglichkeit nicht
entziehen kann und mit jeder Form von Sprachlichkeit – mit jedem Wort, mit jedem Satz – einen Prozess von
Bedeutungsgebung mitgestalte und selbst davon mitgestaltet werde.
Gestatten Sie mir noch einen Kommentar zu den vorhin angeführten Einleitungsätzen Gunthard Webers mit
einem Hinweis auf einen Text Jan Assmanns, in welchem Assmann auf altägyptische Konzepte vom
konnektiven Leben Bezug nimmt. Sie werden vielleicht – ebenso wie ich – merken, wie ambivalent dieser Text in
seinem Einfluss wirken kann.
Der Titel des Textes „Der Eine lebt, wenn der andere ihn geleitet“ ist ein altägyptisches Sprichwort, könnte aber
genauso gut ein zukünftiger Titel eines Aufstellungsbestsellers sein. Den Text finden Sie im Taschenbuch
„Individuum und System“, 2000, bei Suhrkamp in der Reihe Wissenschaft erschienen.
„Leben“, so Assmann „stellen sich die Ägypter als konstellativ vor, d.h. einbezogen in Konstellationen sozialer
Bindungen, die nach seiner Überzeugung oder Hoffnung stärker sind als der Tod, die aber andererseits
keineswegs als selbstverständlich gegeben vorausgesetzt werden dürfen, die vielmehr ständig gefährdet sind
und unausgesetzter Pflege, Aufmerksamkeit und Investition bedürfen“ (S.148)
Bereits in den um 2350 v.Chr. erschienenen Texten wird in der Weltsicht der Ägypter auf das Wesen einer
sozialen Bezogenheit des Lebens und des Menschseins hingewiesen. Heute – 4350 Jahre später – konstruieren
wir scheinbar immer noch eine mystische Bezogenheit. Ich zitiere weiter Jan Assmann S. 151: „Was (wir als)
Personen sind, sind sie nur in Bezug aufeinander. Dadurch, dass sie in festen Konstellationen ihre bestimmte
Rolle spielen, konstituieren sich wechselseitig ihre Personalitäten (...) Leben heißt Interdependenz,
Kommunikation, Einbezogenheit in die Beziehungsnetze, aus denen die Wirklichkeit besteht“.
Meine Abschweifungen zeigen die anfänglich angesprochene Komplexität meiner Gedanken zum Thema: „Je
mehr ich über meine gegenwärtige Lage (ich füge ein: in Bezug auf Aufstellungsarbeit) nachdenke, desto
weniger ist mir begreiflich, wo ich bin“ (Rousseau, J.-J., 1782c, Träumereien eines einsamen Spaziergängers.
In: Rousseau, J.-J.: Werke in zwei Bänden, Bd.II, Hanser, 1978, München).
AN DIESER STELLE erlaube ich mir nun, die in der Überschrift meines Vortrages genannten Begriffe
aufzugreifen bzw. die von mir fokussierten Bedeutungsgebungen von Aufstellung, einige theoretische
Grundlagen und Erklärungsmodelle, in Diskussion zu stellen. Meine Aufmerksamkeit gilt zuerst den Begriffen
Bedeutungsgebung, Sprache, Wahrnehmung und Wirklichkeit.
TEIL 1: DER KOMMUNIKATIVE RAUM
BEDEUTUNGSGEBUNG, SPRACHE, WAHRNEHMUNG UND WIRKLICHKEIT
Bedeutungsgebung beschreibt einen Vorgang in der Kommunikation; Bedeutung entsteht nach Retzer (2002) „in
einem Sprachspiel von Worten und Metaphern in der Kommunikation“ (S.31).
Wie bereits der Begriff vermuten lässt, wird scheinbar etwas gegeben – nämlich Bedeutung. Vielleicht wird
zuallererst etwas gedeutet, eine Zuschreibung erfolgt – eine Deutung.
Diese Deutung wiederum wird zur Bedeutung, indem sie mit einer gestaltenden Kraft versehen ausgestattet
wird. Bedeutungsgebung verweist auf einen Vorgang der Selektion. Im assoziativen Vorgang der
Begriffsanalyse lassen sich mögliche Funktionen vorstellen: Funktionen wie markierend, füllend,
unterscheidend, bezeichnend, zuordnend usw. Wenn etwas eine Bedeutung erhält, dann existiert es, ist somit in
der Aufmerksamkeit eines Betrachters existent oder ist Teil von ihr.
Bedeutungsgebung erzeugt eine Qualität – nämlich Sinn.
Im Kontext Aufstellung werden Zusammenhänge von Bedeutungsgebungen geschaffen, wird auf die Fragen der
Fragenden und/oder der Suchenden eine Antwort gegeben. Die Deutung versucht Sinn zu stiften. Die Deutung
Seite 4 von 12
Systemische Notizen 04/04
Therapiemethoden
wird in der Wahrnehmung des Betrachters zur Bedeutung. Denken und Handeln erklärt sich, erhält eine
Erklärung, wird also geklärt und damit vielleicht klar. Das Gesehene, die Wahrnehmung wird in den Augen des
Betrachters zur Wirklichkeit. Nach Luhmann (1998) existiert der Sinn als Ereignis nur in der Gegenwart.
Bezugnehmend auf Husserls Phänomenologie ist für Luhmann Sinn die Prämisse jeder Erfahrungsverarbeitung:
Sinn verweist auf weitere Möglichkeiten des Erlebens in jedem einzelnen Erlebten. Aktuelles und Mögliches
(Potentielles) wird im Sinn simultan präsentiert und reproduziert sich durch ein Erleben, das ihn aktualisiert und
auf weitere Möglichkeiten verweist, die nicht aktualisiert werden.
Sinn konstituiert sich nur in sozialen und in psychischen Systemen. Kommunikationen und Gedanken realisieren
sich im Medium des Sinns. Daraus folgend ist Aufstellungsarbeit ein sinnkonstruierendes System, eine Ordnung,
die selektiv gegenüber anderen Möglichkeiten offen ist. Der Sinn beschränkt jedoch auch die Möglichkeiten der
Systembeobachtung. Für die sinnkonstituierenden Systeme hat alles Sinn, weil alles nur auf der Grundlage von
Sinn kommuniziert (oder gedacht) werden kann. (Vgl. Luhmann, 1998, S.170f.)
Wittgenstein (1989) stellt sich in seinen Untersuchungen die Fragen nach der Bedeutung so: „Was ist die
Beziehung zwischen Namen und Benanntem?“ (§37) oder „Jedes Zeichen scheint alleine tot. Was gibt ihm
Leben? - Im Gebrauch lebt es. Hat es da den lebenden Atem in sich? - Oder ist der Gebrauch sein Atem?“ (§
432)
In der Aufstellungsarbeit ist die Wahrnehmung, die Prozessualisierung der Bedeutung versprachlicht im
Hinweisen, im Anbieten, im Aufzeigen. Versprachlichte Sprache spielt keine Hauptrolle. Der Körper nimmt wahr,
denkt. Aufstellungskommunikation ist auch ein Vorgang der Nichtversprachlichung.
Ich verweise auf Bert Hellinger, der in einem Seminar mit PsychotherapeutInnen 1994 in Oberösterreich sagte,
als eine Kollegin einen Zusammenhang erklären wollte: „Das brauche ich nicht!“ Matthias Varga (1998)
gebraucht den Begriff der „repräsentierenden Wahrnehmung“ und beschreibt damit das Wahrnehmen des
semantischen Gehalts von Zeichen, ohne dass der Repräsentant die versprachlichten Zusammenhänge der
Erzählung kennt. Ich verweise noch auf Gunthard Weber, der am Züricher Kongress 2000 bei einer
Bandpräsentation über einen Aufstellungskontext die Erzählung des Klien ten mit den Worten „ich sehe in Ihren
Augen, dass es sich um Ihren Vater handelt“ kommentierte. Das scheint repräsentierende Wahrnehmung zu
meinen.
Sprache ist nach Luhmann (1998) das Medium mit der Funktion, das Verstehen der Kommunikation
wahrscheinlich zu machen. Sprache ermöglicht, den Bereich des Wahrnehmbaren zu überschreiten und mit
Hilfe von symbolischen Generalisierungen in der Form von Zeichen über etwas zu kommunizieren, was nicht
anwesend oder was nur möglich ist.
Auf der Ebene der Wahrnehmung kann man nie sicher sein, dass es sich tatsächlich um Kommunikation handelt
und nicht einfach um ein Verhalten mit einem anderen Zweck. Laute, wie die der Sprache, werden nicht zufällig
produziert.
Mündliche Sprache hat eine spezifische Form: die Unterscheidung zwischen Laut und Sinn. Der Laut ist nicht
der Sinn, aber bestimmt jeweils, was der Sinn ist, wovon die Rede ist. Der Sinn ist nicht der Laut, aber bestimmt,
welcher Laut zu benutzen ist, um den betreffenden Sinn auszudrücken. Sprache eignet sich, jeden Gedanken
auszudrücken und jede Kommunikation zu formulieren.
Sprache ist als solches im Sinne Luhmanns kein System, sondern ein Medium, das von Systemen benutzt wird,
um eigene Operationen zu strukturieren - und insbesondere, um Reflexivität zu gewinnen. Es gibt keine
spezifische Operation der Sprache; die Sprache existiert nur in den Operationen der Sprache; die Sprache
existiert nur in den Operationen der psychischen und sozialen Systeme. (Vgl. S.180f.)
Maturana wiederum beschreibt das Phänomen Sprache „als die konsensuelle Koordination von Koordinationen
von Handlungen“ (1988, S.46f.); ähnlich auch Glasersfeld (1998): „Um in den Gebrauch einer Sprache
einzudringen, muss ich Lautbilder und Re-Präsentationen meiner Erfahrungen auf solche Weise koordinieren,
dass die von mir konstruierten Paare mit den Paaren kompatibel (das heißt koordiniert) erscheinen, die andere
Sprecher der Sprache konstruiert haben“.
Seite 5 von 12
Systemische Notizen 04/04
Therapiemethoden
Die radikal konstruktivistische Annahme „Die Umwelt, die wir wahrnehmen, ist unsere Erfindung“ (Heinz von
Foerster, 1993) erlaubt keine „Realitätsgewissheit“.
Maturana spricht von einer Realität in Klammern. Helm Stierlin verwendet den Begriff „Realitätsgewissheit“
(2000) in seinem Artikel „Gewissheit, Zweifel und Psychotherapie“, der ihn zur Unterschiedsbildung harter und
weicher Realitäten führt, die sich einerseits durch Zuschreibungen unverrückbarer Wirklichkeiten (wie
Ordnungen und Regeln) und andererseits in möglichen Annahmen von Zusammenhängen eines Vollzuges, von
scheinbaren Wechselwirkungen repräsentieren.
Ich möchte es Ihrer Erfahrung mit Aufstellungsarbeit überlassen, ob im Kontext von Aufstellungsarbeit
Bedeutungsgebung und Sprache harte oder weiche Beziehungsrealitäten konstruieren und möchte dabei den
sprachlichen Zusammenhang von Heilungssätzen beleuchten. Befunde der modernen Hirnforschung erhärten
etwa die Annahme, dass unser Gehirn das, was wir als Realität wahrnehmen, Schritt für Schritt selbst
autopoietisch konstruiert und organisiert.
Wie groß bei Wahrnehmungsprozessen der Anteil selbst generierter Aktivität ist, beschreibt in eindrucksvoller
Weise Wolf Singer 2002 in seinem Buch „Der Beobachter im Gehirn, Essays zur Hirnforschung“.
„Es bestätigt dies auf eindrucksvolle Weise, was wahrnehmungsphysiologische Untersuchungen nahe legen:
dass Wahrnehmung nicht als passive Abbildung von Wirklichkeit verstanden werden darf, sondern als das
Ergebnis eines außerordentlich aktiven, konstruktivistischen Prozesses gesehen werden muss, bei dem das
Gehirn die Initiative hat. Das Gehirn bildet ständig Hypothesen darüber, wie die Welt sein sollte, und vergleicht
die Signale von den Sinnesorganen mit diesen Hypothesen. Finden sich die Voraussagen bestätigt, erfolgt die
Wahrnehmung nach sehr kurzen Verarbeitungszeiten. Treffen sie nicht zu, muss das Gehirn seine Hypothesen
korrigieren, was die Reaktionszeiten verlängert. In den meisten Fällen dürfte sich der Wahrnehmungsakt jedoch
auf das Bestätigen bereits formulierter Hypothesen beschränken“. (S.72)
Übertragen wir diese Aussage Wolf Singers auf die Wirklichkeitskonstruktion Aufstellung, dann müssen wir
aufpassen, in diesem Kontext nicht die allgemeine Intention der Mitglieder damit zu beschreiben, dass sich die
Beteiligten möglicherweise ihre bereits zu Beginn oder im Vorfeld gefassten Hypothesen im Aufstellungsprozess
lediglich bestätigen.
Hat sich Hellinger im Prozess um die Erfindung von Aufstellung um die Ideologie oder Theologie bemüht,
bemühten sich Matthias Varga und andere vielmehr um die Schaffung einer Theorie bildenden Grundlage der
„systemischen Aufstellungsarbeit“.
Varga glaubt jedoch bei all seinen Bemühungen um eine saubere systemtheoretische Konzeption auch, dass
systemische Aufstellungen die Fähigkeiten von Menschen verdeutlichen, Beziehungsstrukturen fremder
Systeme angemessen wiederspiegeln zu können.
Seiner Ansicht nach benötigt diese Fähigkeit keine inhaltliche sondern nur rein syntaktische Information über
das betrachtete System (d.h. über die Anzahl der Mitglieder, die Reihenfolge und die Zugehörigkeit in der
Hierarchieebene, usw.). Er wählt für diese Form der Wahrnehmung den Begriff der „repräsentierenden
Wahrnehmung“, die den als RepräsentantInnen aufgestellten Personen konkrete Informationen über das fremde
System zuschreibt, welche sie aus dem eigenen Körper als Wahrnehmungsorgan für ein fremdes System
beziehen.
Ich zitiere Matthias Varga (1998, S.52): „Die repräsentierende Wahrnehmung entspricht offenbar nicht einem
eigenen Sinnesorgan, sondern ist ein das Wahrnehmungsmuster der übrigen Sinneskanäle überlagerndes
Muster. Es handelt sich dabei wohl um eine Fähigkeit, ein Zeichen höherer Ordnung (...) wahr zu nehmen“.
Er nennt dieses Zeichen ein „Hyperzeichen“, d.h. ein Zeichen, das erst dadurch wahrnehmbar wird, dass es eine
Form aus anderen Zeichen darstellt.
Weiters führt Varga aus, dass systemische Aufstellungsarbeit auch auf der Fähigkeit beruht, repräsentierende
Wahrnehmung von gewöhnlicher zu unterscheiden. Wie bereits erwähnt, ließe sich repräsentierende
Wahrnehmung, wenn man Vargas weiteren Ausführungen folgt, als ein analoges Wahrnehmen des
Seite 6 von 12
Systemische Notizen 04/04
Therapiemethoden
semantischen Gehalts von Zeichen beschreiben, ohne dass der Repräsentant die versprachlichten
Zusammenhänge der Erzählung kennt.
In diesem Zusammenhang gestatte ich mir, Ihnen einen Artikel von Alois Hahn und Rüdiger Jacob (1994) mit
dem Titel „Der Körper als soziales Bedeutungssystem“ nahe zu legen. Man könnte fast glauben, dass Varga in
Bezug auf die repräsentative Wahrnehmung in einem Teil seiner Aufstellungstheorie einer ähnlichen
Begründung folgt. Ich zitiere (S. 152):
„Insofern der Körper einerseits als Vollzugsorgan eines Bewusstseins gedeutet wird, andererseits aber auch als
Manifestation von Tatsachen, die das Bewusstsein gerade nicht mitteilen will, wird er zur Schnittfläche, auf der
die Differenz zwischen Mitteilung und Information sozial relevant wird. Er wird in doppelter Hinsicht beobachtet:
als Medium für Mitteilung und als Feld für Informationen. Die Interpretationen des Körpers, die dessen relevante
Unberechenbarkeit zum Ausgangspunkt nehmen, beziehen sich nicht nur auf das, was uns jemand mitteilen will,
sondern auch auf das, was er uns ausdrücklich verheimlichen möchte. Beide Beobachtungen halten sich an den
Körper des anderen. Als „Informant“ kann der Körper nicht lügen, wohl aber falsch gedeutet werden.“
Sowohl Hellinger, als auch Weber und Varga plädieren für eine wirkungsvolle Reduktion eigener
Interpretationen der Repräsentanten, indem sie darauf abzielen, dass Fragen (und ich zitiere hier wörtlich)
„vorwiegend möglichst ausschließlich die Körperwahrnehmung in allen Sinneskanälen und Modalitäten betreffen
und in erster Linie nach Unterschieden in der Wahrnehmung zwischen den einzelnen Aufstellungsbildern gefragt
wird.“
Varga präzisiert dies mit deShazers Forderung, an Stelle der illusorischen Suche nach dem richtigen Verstehen
die Konstruktion einer nützlichen Weise des Missverstehens zu setzen und verneigt sich - bildlich gesprochen gegenüber Bert Hellinger, wenn er bestätigt, dass Hellingers achtungsvoller Umgang mit der
phänomenologischen Schau die Illusion des Verstehens als Anmaßung sieht. (Vgl. 1998, 51f.)
IM ZWEITEN TEIL meines Vortrages fokussiert meine Aufmerksamkeit nun die Begriffe Stellen bzw.
Aufstellung, Zeit und Raum, das schamanistische Ritual Aufstellung als ein Übergangsritual und Ordnung als
Lösungsbild.
TEIL 2: AUFGESTELLT
STELLEN BZW. AUFSTELLUNG, ZEIT UND RAUM, DAS SCHAMANISTISCHE RITUAL,
AUFSTELLUNG EIN ÜBERGANGSRITUAL, ORDNUNG ALS LÖSUNGSBILD
Hierzu zwei meiner Thesen zu Aufstellung:
These 1: Aufstellung definiert sich über das Verhalten seiner Mitglieder selbst (ist daher rückbezüglich an den
Aufstellungskontext gebunden, d.h. auch von allen daran Beteiligten abhängig) und ist ein sich selbst
organisierendes System, welches sich ausschließlich zum Zwecke der Aufstellung organisiert.
These 2: Aufstellung ist ein schamanistisches Heilungsritual zur Herstellung von „Ordnung“ (in welcher Form
auch immer).
Die Begriffe Stellen bzw. Aufstellung werden im oben genannten Buch Webers meines Wissens erstmalig
verschriftlicht kommuniziert.
Über Jahrtausende hinweg beschäftigen sich Menschen mit Zeit und Raum und sprechen darüber – auch
deshalb, weil Sprache, Zeit und Raum jene Dimensionen darstellen, in denen wir uns als Menschen erleben, in
denen wir wahrnehmen und etwas erfahren. Kant erklärt alltägliches Erleben, indem er Zeit und Raum als Matrix
aller nur möglichen Erfahrungen betrachtet, als apriorische Anschauungsformen des inneren Sinnes. Aber auch
die Alltagssprache beschreibt psychische Sachverhalte und soziale Beziehungen in Raummetaphern, so zum
Seite 7 von 12
Systemische Notizen 04/04
Therapiemethoden
Beispiel, wenn wir Erfahrungen machen, von Gefühlen bewegt sind, wenn Beziehungen als nah oder distanziert
erlebt werden.
Psychotherapie beschäftigt sich grundlegend mit Raumfragen, mit dem Verhältnis von Innen und Außen, mit
Fragen nach der Beeinflussung des Innen durch das Außen und umgekehrt. Psychotherapie gestaltet dabei
auch eigene Räumlichkeiten, Kontexte, die sich gegenüber nichttherapeutischen Räumen unterscheiden sollen.
Diese Unterschiede zwischen Alltagsräumen und therapeutischen Räumen sind uns nicht neu. In der
Menschheitsgeschichte verbinden sich bestimmte Heilungsvorstellungen und -praktiken mit bestimmten
Raumvorstellungen und Verfahrensweisen. Heilige Orte werden konzipiert. Diese Orte stellen eine Verbindung
zwischen verschiedenen Welten her, z.B. in der Religion zwischen Himmel und Erde, in der Psychotherapie
zwischen Innen und Außen. Die Räume sind Wirkungsstätten von Priestern, Heilern, Schamanen und
PsychotherapeutInnen.
In der schamanistischen Tradition versteht sich der Priester/der Schamane als Vermittler zwischen Diesseits und
Jenseits, als derjenige, der sich auf Seelen, Geister und Jenseitsmächte versteht. Der Kontext Aufstellung
könnte somit auch als ein Raum bezeichnet werden, in welchem ein Heilungsritual vollzogen wird, welches die
Mitglieder befreien soll. Es soll befreien von Verstrikkungen und ordnen, was in Unordnung geraten scheint. Das
Ritual ist die Aufstellung, der Schamane/die Schamanin, der Heiler/die Heilerin ist der/die LeiterIn der
Aufstellung, der/die das Ritual kennt und dieses Ritual leitet. Ich verweise auf den Begriff „Grammatik der
Aufstellung“, eine viel zitierte und gebrauchte Begrifflichkeit von Varga und Sparer.
Die Kirche ist die Aufstellungsgruppe, sie umfasst die Mitglieder, die Gläubigen, Hoffenden und sich Sehnenden,
die sich zum Aufstellungsritual, zum Heilungs-, Lösungsritual eingefunden haben. Ein Inneres Bild wird
aufgestellt, nach außen gebracht, die (visualisierte) Externalisierung wird vollzogen.
Beim Familien-Stellen wurden anfänglich in der Regel personale Systeme lebender, toter oder nicht geborener
Mitglieder aufgestellt. Später wurde das Aufstellungssetting vom/von der AufstellungsleiterIn um in der
Problemerzählung als bedeutend erkannte Elemente erweitert. So fanden später Symptome oder andere
Elemente ihre Externalisierung im aufgestellten Problem- bzw. auch Lösungsbild. Der Ablauf des Rituals wurde
zunehmend von Varga standardisiert.
Varga und Sparer beschreiben (2000, S.193) die Phasen der Aufstellung folgendermaßen:
1. Auswahl des Klienten
2. Wahl der Systemebene
3. Klärung der Systemelemente
4. Auswahl der Repräsentanten
5. Aufstellung der Repräsentanten
6. Überprüfung des Ergebnisses durch den Klienten
7. Befragung der Repräsentanten
8. Überprüfung der Kongruenz des Bildes
9. Umstellen des Bildes
10. erneute Befragung
11. a) erneute Umstellung
b) Prozessarbeit
c) diagnostische Tests für Systemdynamiken
12. Hineinstellen des Klienten
13. Überprüfung des Lösungsbildes
14. Modifikation oder Nachkorrektur und/oder abschließende Überprüfung
15. Ankern des Lösungsbildes
16. Entlassen der Rollenspieler
Seite 8 von 12
Systemische Notizen 04/04
Therapiemethoden
17. a) (bei Aufstellungen außer Familienaufstellungen) Aufgabenverschreibung
b) (bei Familienaufstellungen) Hinweis darauf, das Bild über längere Zeit wirken zu lassen
18. Verabschiedung des Klienten (kurzes Feedback der Rollenspieler, in der Regel aber besser gleich)
Ähnlich wie Retzer (2002) Psychotherapie als Übergangsritual mit unterschiedlichen Stadien beschreibt, sehe
ich Aufstellungsarbeit als eine Praxis des Übergangsrituals. Das Übergangsritual Aufstellung beschreibt einen
Bogen (die Transformation) von einer subjektiven Problemaufrechterhaltungstheorie hin zu einer subjektiven
Lösungsermöglichungstheorie von Klienten. Folge ich dieser Idee weiter, bestehen jedoch die Lücke dieser
Theorie in der Aufstellung in einer Nicht-Definition durch nichtversprachlichte Kommunikation des Handelns, die
mit scheinbar unbestimmten Codierungen wie Phänomenologie, repräsentierende Wahrnehmung oder
wahrnehmende Wirklichkeit angesprochen wird und sich daher nur schwer, wenn überhaupt, nachvollziehen
lässt. Eine zweite Lücke besteht in der Nicht- Definition von Merkmalen und Kriterien erfolgreich vollzogener
Aufstellungen. Teilnehmenden SkeptikerInnen wird – zumeist mündlich, aber auch in der Literatur – der
erfolgreiche Vollzug des Erkennens in einer ferne liegenden Zukunft in Aussicht gestellt.
Übergangsrituale beschreiben einen Übergang von einer Struktur über die Schwellenphase hin zu einer anderen
Struktur. Grundlegende Arbeiten über Rituale stammen schon von Arnold van Gennep (1908) und später von
Victor Turner (1967, 1969 und 1982). Beide definieren Übergangsrituale als kulturelle Handlungen, die vollzogen
werden können, wenn soziale Konflikte festgefahren oder Entwicklungen blockiert sind. Die einzelnen Phasen
werden als Trennungsphase, Schwellenphase und Wiedereingliederungsphase beschrieben.
Bezogen auf Aufstellung scheint die
– Trennungsphase z.B. die Aufstellung des „Inneren Bildes“ zu sein, des „Problembildes“ des Erzählers
/der Erzählerin, oder die Externalisierung der subjektiven Problemaufrechterhaltungstheorie,
– die Schwellenphase z.B. die Suche nach Ordnungen und Lösungsstrukturen (in der auch die
Umstellungen vollzogen werden),
– die Wiedereingliederungsphase z.B. die mögliche Inpositionierung des Erzählers/der Erzählerin, sowie
das Sprechen von Ritualsätzen (siehe Varga und Sparer, 2000, S.196) und der Abschluss der
Aufstellung.
Ein erster skeptischer Gedanke gilt den Ritualsätzen, die auch immer wieder im Fadenkreuz der andauernden
Diskussion von Aufstellungsarbeit stehen. Varga und Sparer halten beim Sprechen von Ritualsätzen die Haltung
des Leiters/der Leiterin für entscheidend. „Die LeiterInnen sollten in einem Zustand des Gewahrseins des
eigenen Körpers geeignete Sätze „kommen lassen“, „zuhörend sprechen“, die Sätze als Vorschlag anbieten und
gewissermaßen darauf achten, ob sie „die innere Erlaubnis haben“, diesen Satz (den RepräsentantInnen bzw.
den KlientInnen) vorzuschlagen (...) Und je besser die LeiterInnen beim Vorschlagen „bei sich“ sind, desto
leichter können auch RepräsentantInnen und KlientInnen wahrnehmen, was für sie passt und was nicht und es
in einer für sie passenden Form abändern“. (S.196)
Ein zweiter kritischer Gedanke gilt der psychotischen Prozessualisierung in der Aufstellungsarbeit. Sehr häufig
zu beobachten ist, dass in der Bedeutungsgebung des Proponenten/der Proponentin (des Erzählers/ der
„Erzählerin“) nicht unterschieden wird, dass es sich beim aufgestellten System lediglich um Repräsentationen
handelt. Diese Unterscheidung wird möglicherweise dann nicht vollzogen, wenn der/die AufstellungsleiterIn
diesen Aspekt in der Aufstellung nur undeutlich formuliert. Folgt man z.B. phänomenologischen Sichtweisen Bert
Hellingers als Grundlage der Aufstellung, bleibt zum Beispiel diese Differenzierung von „real erlebten
Familienmitgliedern (-bildern)“ und „im Aufstellungsprozess erfahrbaren Zuschreibungen von Repräsentationen“
mitunter aus, und es kann im Erleben der teilnehmenden RepräsentantInnen ein hoher zeitlicher
Synchronisierungseffekt entstehen.
Seite 9 von 12
Systemische Notizen 04/04
Therapiemethoden
Simon, Clement und Stierlin beschrieben 1999, dass bei synchroner Dissoziation Ambivalenz nicht mehr
wahrnehmbar ist. Zeitunterschiede scheinen aufgehoben, eine Abfolge von Ereignissen ist nicht mehr
erkennbar. Ambivalenz wird durch das Fehlen von Unterschieden aufgelöst. Zeit wird als verbindende
Kontinuität aufgehoben, die psychischen Inhalte werden nicht mehr durch ein zeitliches Nacheinander
organisiert, sondern durch eine dauernd gleichzeitige und scheinbar gleichwertige Präsenz ersetzt. Dadurch
entsteht in der Erzählung eine Bedeutungsunklarheit alles Gesagten.
Wynne et.al. bezeichneten 1958 diese auf der Ebene der familiären Kommunikation durch synchrone
Dissoziation erlebte Ambivalenzfreiheit als scheinbar konfliktlose Pseudo- Gleichzeitigkeit. Die doppeldeutige
Lösung von Seiten der KlientInnen ist eine mögliche psychotische Prozessualisierung der Aufstellung.
Familien-Stellen nach phänomenologischen Prämissen verwendet den Grundgedanken der Familienskulptur,
Beziehungen räumlich zu analogisieren, verfolgt jedoch im Gegensatz zur Familienskulptur die Idee von
„ursprünglichen“ oder „richtigen“ Zuordnungen. Grundlegendes Element der nach Hellinger entwickelten
Aufstellungen ist das Bild einer traditionellen, gewachsenen Grundordnung.
Diese Grundidee fordert die TeilnehmerInnen auf, diese verbindliche Grundstruktur als scheinbar lösende
Ordnungskraft anzuerkennen. Neben dieser können noch andere Anerkennungen, wie Eva Madelung dies in
ihrem Artikel zum Buch „Praxis des Familien-Stellens, Beiträge zu systemischen Lösungen nach Bert Hellinger“
(1998) beschreibt, geortet werden:
– Anerkennung einer familiären Grundordnung (Vater, Mutter, 1., 2., 3. Kind)
– Anerkennung einer Rangordnung in der „Zeit-Hierarchie“ (Vorrang des Früheren vor dem Späteren)
– Die Würdigung: Innere Haltung des Dankens (Vater und Mutter ehren; wer dagegen verstößt, bestraft
sich selbst)
– Die Vollständigkeit: Alle, die dazu gehören, müssen gewürdigt werden
– Der Ausgleich durch die Wirkung des Gewissens (der Familie, der Sippe usw.)
– Die Dynamik von Nachfolge und Übernahme des stellvertretenden Leidens (Rückgaberituale)
– Die gute Lösung ist für alle gut (keiner kann nehmen auf Kosten des anderen, bedeutet die
Notwendigkeit des Verzichtens auf Nachfolge auch stellvertretenden Leidens
Die Implikationen aus diesen Grundforderungen für die TeilnehmerInnen am Prozess einer Aufstellung lassen
sich vielleicht auch so beschreiben: Der/die AufstellungsteilnehmerIn ist herausgefordert, einem Weltbild des/der
AufstellungsleiterIn zu folgen, d.h. die Ideen der Ordnungen im Kontext von Aufstellung zu verwirklichen.
Aufstellung konstruiert sich diese Ordnung selbst. Dabei werden in unser Denken und Handeln nicht
unmaßgeblich strukturierende Ordnungsparameter qualitativ impliziert.
Gunthard Weber formuliert 1993 auf Seite 148 Hellingers Bezug zur Ordnung, indem er formuliert: „... der
Ordnung ist es völlig egal, wie ich mich verhalte; sie steht immer da“.
Ordnung erhält bei Hellinger die Bedeutung von „Wahrheit“ und wird im Sinne Stierlins zu einer harten
Beziehungsrealität.
In den oft heftig emotional geführten Diskussionen zwischen Aufstellungsbefürwortern und Aufstellungsgegnern
lassen sich nur zaghaft Aspekte einer autopoietischen Aufstellung erkennen.
Einen anderen bedeutungsgebenden Zusammenhang in Verbindung mit der Ordnungshaltung des Anleitersder
Anleiterin formuliert eine sich in der Aufstellung über die Wahrnehmung der TeilnehmerInnen zeigende
„Wahrheit, die Wirklichkeit (er)schafft“: Dies soll ein Zitat von Weber 1993, S.182 belegen. „Das was ist, ist aber
keine objektive Wahrheit, oder ein unumstößliches Gesetz, sondern lebendige Wirklichkeit; und
Wahrnehmung...ein schöpferischer Prozess, der etwas bewirkt“.
Bei Hellinger erscheint die Wahrnehmung von Ordnung somit als Wahrheit, wie seine Ausführungen im
Aufstellungsklassiker „Ordnungen der Liebe – Ein Kursbuch von Bert Hellinger“ (1994) zeigen. Der Inszenierung
der Aufstellung wird eine lebendige Wirklichkeit in Bezug zur dargestellten Problemerzählung zugeschrieben.
Seite 10 von 12
Systemische Notizen 04/04
Therapiemethoden
Dem Aufstellungs-Ergebnis oder Lösungsbild einer Aufstellung wird die Bedeutung von Veränderungswahrheit
oder Lösungswirklichkeit beigemessen.
Dies könnte bedeuten, dass TherapeutInnen noch mehr als bisher beginnen müssten, die Bedeutungsgebungen
von AufstellungsteilnehmerInnen genauer abzuklären und deren Rückbezüglichkeiten auf die Aufstellung selbst
zu bedenken.
Eva Madelung vergleicht den Ansatz Hellingers und jenen der Heidelberger Gruppe:
Hellinger:
–
Die Anerkennung einer Kraft, die zwischen
den Menschen und durch sie hindurch auf
eine archaische Ebene wirkt.
– Das Finden des Ordnungsbildes mit Hilfe der
Wahrnehmung des von außen schauenden
Therapeuten und der Stellvertreter. D.h. es
muss etwas dazu kommen.
– Eine Rangfolge in der Zeit, um eine
Zeithierarchie innerhalb der Gundordnung.
Heidelberg:
–
Die gemeinsame Neugestaltung einer
Ordnung unter gleichberechtigten
Familienmitgliedern.
– Kontextgebundene Selbstregulation: Innerhalb
des aktuellen Familiensystems sind alle
Ressourcen zur Lösung vorhanden. Der
Therapeut gibt nur Anstöße.
–
Änderung der Ordnung im Zeitfluss (zirkulärer
Prozess)
(Eva Madelung, 1998, S.42)
LETZTENDLICH HOFFE ICH, in Ihren Augen und Ohren meine Konstruktneutralität in meinen Beschreibungen
nicht ganz verloren zu haben und möchte mich mit einem Danke für Ihre Aufmerksamkeit mit einem letzten Satz
Hakan Nessers auf S.232 verabschieden: „Nun ja“, dachte der Hauptkommisar mit klarsichtiger Schärfe. „So ist
man also mit einer gewissen Würde wieder um ein paar Stunden gealtert“. Dann merkte er jedoch, dass es
schon spät war „und nicht mehr viel Zeit übrig blieb, wenn er den Signalen seines Körpers nach einem guten
Essen folgen wollte.“
BIBLIOGRAPHIE
Baraldi, D., et.al (1998) GLU, Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme; Suhrkamp, Frankfurt/M.
Keeney, B.P., (1987) Konstruieren therapeutischer Wirklichkeiten, Praxis und Theorie systemischer Therapie; VML,
Dortmund.
Döring-Meijer, H., Hrsg.,(2000) Die entdeckte Wirklichkeit, die systemisch-phänomenologische Arbeit nach Bert Hellinger;
Junfermann, Paderborn.
Fischer, H.R., Weber, G., (1999) Individuum und System; Suhrkamp, Frankfurt/M.
Foerster, H.v., (1993) In: Heinz v.Foerster, Wissen und Gewissen, Siegfried.J.Schmidt, Hrsg.; Suhrkamp, Frankfurt/M.
Hahn, A., Jacob, R., (1994) Der Körper als soziales Bedeutungssystem, In: Der Mensch als Medium der Gesellschaft;
Suhrkamp, Frankfurt/M.
Henzl, S., (2003) Theoretisch-Methodische Überlegungen zur Vorgangsweise der Prozessorientierten
Organisationsstrukturaufstellung (PrOsa) in der systemischen Supervision, Systemische Notizen, LSF-Wien
Glasersfeld,E.v., (1997) Radikaler Konstruktivismus, Ideen, Ergebnisse, Probleme. Suhrkamp, Frankfurt/M.
Hellinger, B., (1994) Ordnungen der Liebe; C. Auer, Heidelberg.
Hellinger, B., (1995) Familien-Stellen mit Kranken; C.Auer, Heidelberg.
Kriz, J., (1997) Systemtheorie; Facultas, Wien.
Madelung, E., (1998) Die Stellung der systembezogenen Psychotherapie Bert Hellingers im Spektrum der Kurztherapie, In:
Praxis des Familien-Stellens, G. Weber (Hrsg.), C. Auer, Heidelberg
Maturana, H.R., (1982) Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit; Vieweg, Braunschweig/Wiesbaden.
Nesser, H., (2003) Der Kommissar und das Schweigen, btb, Goldmann, München
Retzer, A., (2002) Passagen, Systemische Erkundungen, Klett-Cotta, Stuttgart.
Retzer, A., (2004) Systemische Familientherapie der Psychosen; Hogrefe, Göttingen.
Retzer, A., (2004) Systemische Paartherapie, Konzepte-Methode-Praxis; Klett-Cotta, Stuttgart.
Simon, F.B., (1988) Unterschiede, die Unterschiede machen; Springer, Berlin.
Seite 11 von 12
Systemische Notizen 04/04
Therapiemethoden
Simon, F.B., Clement, U., Stierlin, H., (1999) Die Sprache der Familientherapie, Ein Vokabular; Klett-Cotta, Stuttgart
Singer, W., (2002) Der Beobachter im Gehirn, Essays zur Hirnforschung, Suhrkamp, Frankfurt/M.
Sparer, I., Varga v. K., M., (2000) Ganz im Gegenteil, C.Auer, Heidelberg
Varela, F. J., (1994) Ethisches Können, Ed.Pandora,Campus, Frankfurt/M.
Varga, v. K., M., (1998) Bemerkungen über philosophische Grundlagen und methodische Voraussetzungen der
systemischen Aufstellungsarbeit, In: Praxis des Familien-Stellens, G.Weber (Hrsg.), C. Auer, Heidelberg.
Weber, G., (1993) Zweierlei Glück, C. Auer, Heidelberg
Weber, G., (1998) Praxis des Familien-Stellens, C.Auer, Heidelberg
SIEGFRIED ALEXANDER HENZL, DSA
Lehrtherapeut und Lehrsupervisor (ÖAGG)
Institut für systemische Lösungen, Vöcklabruck und Wien,
4840 Vöcklabruck, Salzburgerstrasse 30,
Telefon/Fax: (07682) 3807, mobil: 0676-602 40 60,
Homepage: www.henzl.at, E-mail: [email protected]
Seite 12 von 12
Herunterladen