Die öffentliche Debatte um medizinethische Themen zeigt, dass

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Graumann, Sigrid/ Schneider, Ingrid (Hg.) 2003: Verkörperte Technik - Entkörperte Frau.
Biopolitik und Geschlecht. Frankfurt/M.: Campus
Wie kann über den Embryo in einer lebensweltlich angemessenen Weise gesprochen
werden?
Eine Kritik der Debatte um den moralischen Status des Embryos
Claudia Wiesemann
Kaum ein Faktum ist mehr in der Lage, auf öffentliche Debatten um medizinethische Themen
Einfluss zu nehmen, als die individuelle Lebensgeschichte eines Menschen. Die
Suggestivkraft von Geschichten menschlicher Not ist beachtlich und lädt gelegentlich sogar
zu einem manipulativen Missbrauch ein. Nicht umsonst sind heftige Auseinandersetzungen
darum entbrannt, wer mit welchen Geschichten das Feld der öffentlichen Meinung besetzen
darf. Dies hat beispielsweise die Diskussion um das Transplantationsgesetz gezeigt, in der
Geschichten von nierenkranken Patienten auf der Warteliste für ein gespendetes Organ gegen
Geschichten von Eltern ins Felde geführt wurden, die von schweren Zweifeln geplagt wurden,
ob es richtig war, ihr verstorbenes Kind zur Organspende freizugeben.
Die in den Medien geführte Diskussion über ethische Konflikte in der Medizin macht sich das
Phänomen zu Nutze, dass Empathie und Sorge für andere Menschen zentrale Motive
moralischen Handelns sind. Zudem lebt Ethik von der Wahrnehmung und dem Respekt vor
der Differenz menschlicher Lebenswelten und versucht, die daraus resultierenden
Spannungen zu minimieren. Die ethischen Normen unseres Zusammenlebens müssen sich auf
dem Prüfstein des Alltags bewähren. Erst dann erhalten sie ihre volle Überzeugungskraft.
Dies ist umso wichtiger, je mehr uns die Medizin neue, überraschende Möglichkeiten des
Umgangs mit unserem Körper und unserer Identität eröffnet. Unsere Phantasie reicht oft nicht
aus, uns die Auswirkungen neuer Techniken auf den Lebensalltag von Menschen auszumalen.
Wir brauchen dieses Wissen aber als Korrektiv für unsere Urteilskraft, da ethische Normen
von sich aus nichts darüber sagen, wie sie in welchem Einzelfall anzuwenden sind. Als etwa
die pränatale genetische Diagnostik in den achtziger Jahren den Frauen mehr Sicherheit und
weniger Ängste in der Schwangerschaft versprach, konnten die äußerst genauen und
einfühlsamen biographischen Studien von Eva Schindele (1995) und Barbara Katz Rothman
(1993) zeigen, dass dieses Versprechen nur zu einem Teil tatsächlich eingelöst wird.
Eine gute Kenntnis der Lebenswirklichkeit von Menschen hilft außerdem dabei, Begriffe, die
in ethischen Debatten verwendet werden, mit Leben zu erfüllen. Jeder ethische Diskurs stützt
sich auf ein Inventar von Vorstellungen und Begriffen, die möglichst präzis den Sachverhalt
1
aufgreifen und beschreiben sollten, den es zu regeln gilt. Nur so ist garantiert, dass die
Sprache der Ethik der Lebenswelt angemessen bleibt.1
Dies zeigt sich beispielsweise an der öffentlichen Diskussion um das Thema Schwangerschaft
nach der Menopause. Frauen, die mit Hilfe der In-vitro-Fertilisation (IVF) noch mit fünfzig
Jahren oder später ein Kind bekommen wollen, werden oft pauschal als egoman oder gar als
psychisch gestört angesehen. IVF in dieser Situation anzuwenden wird in unserer Gesellschaft
verurteilt.2 Im Kontrast dazu sind wir in der Lage, ohne jede moralische Verurteilung
Geschichten von liebevollen und besonders einfühlsamen Vätern zu rezipieren, die in hohem
Alter noch einmal mit einer jungen Frau Vaterfreuden in zweiter, dritter oder gar vierter Ehe
erleben.3 Offensichtlich stimmen in diesem Beispiel die Begriffe Mutterschaft und
Vaterschaft mit den in unserer Gesellschaft vorherrschenden, nach Geschlecht differierenden
Vorstellungen von sexueller Attraktivität überein. Hier wird jedoch kein angemessenes
lebensweltliches Kriterium für die Frage, ob jemand eine gute Mutter oder ein guter Vater
sein kann, verwendet. Immerhin wissen wir alle von Menschen, die überwiegend oder gar
ganz von liebevollen Großmüttern betreut und aufgezogen wurden. Eine faire ethische
Debatte müsste also die implizit vorausgesetzten Unterschiede im Fall von Mutterschaft und
Vaterschaft thematisieren und kritisch hinterfragen.
In diesem Aufsatz möchte ich am Beispiel der Reproduktionsmedizin zeigen, dass die
Berücksichtigung lebensweltlicher Bezüge unverzichtbar ist, um angemessene Begriffe und
Normen für die medizinethische Diskussion herauszubilden. Im Besonderen werde ich die
Debatte um den moralischen Status des Embryos daraufhin analysieren, ob sie Begriffe
verwendet, die der Erfahrungswelt von Frauen angemessen sind und damit in der Lebenswelt
von Frauen Bestand haben können. Ich werde untersuchen, wann und wie man
sinnvollerweise überhaupt von einem Embryo sprechen kann und was für Folgen sich daraus
für die ethischen Auseinandersetzungen ergeben.
Die Debatte um den moralischen Status des Embryos
1
Aus diesem Grund wurden zum Beispiel die häufig verwendeten Begriffe "aktive" und "passive" Euthanasie
kritisiert, weil sie sich auf ein Unterscheidungskriterium beziehen, das für das medizinische Handeln in vielen
Situationen irrelevant ist. (Ist das Abschalten eines Beatmungsgeräts "aktiver" als das Unterlassen einer
lebensrettenden Operation?)
2
S. dazu die Berichterstattung in den Printmedien über die erfolgreiche Durchführung der IVF durch den
italienischen Reproduktionsmediziner Severino Antinori zusammen mit mehreren Frauen jenseits der
Menopause.
3
So beispielsweise Luis Trenker oder Anthony Quinn.
2
Die Debatte um den moralischen Status des Embryos ist durch eine Reihe von normativen
Vorannahmen geprägt, die allein deshalb nicht mehr zur Diskussion kommen, weil sie ihren
Niederschlag in gängigen, scheinbar unproblematischen Begriffen oder Kategorien gefunden
haben. Systematisch verortet wird diese Debatte zum Beispiel üblicherweise unter der
Überschrift "Ethische Probleme am Beginn menschlichen Lebens", worunter Fragen des
Schwangerschaftsabbruchs, der Pränataldiagnostik und der Reproduktionsmedizin gerechnet
werden.4 In dieser Wortwahl wird aber schon deutlich, dass die Frau, die dem Konflikt eines
Abbruchs, einer In-vitro-Fertilisation oder einer genetischen Diagnostik in der
Schwangerschaft ausgesetzt ist, nicht im Mittelpunkt der Überlegungen steht. Vielmehr
fokussiert die Debatte auf den Embryo als Protagonisten des Geschehens und Ausgangspunkt
aller Überlegungen. Auf die betroffene Frau bezogen müsste die Formulierung stattdessen
"Ethische Probleme in der Lebensmitte" oder " Ethische Probleme im Fortpflanzungsalter"
lauten. Die Bezeichnung "Ethische Probleme am Lebensanfang" lenkt die Aufmerksamkeit
hin auf Fragen, die den Embryo als Person und Individuum betreffen. Mit der gebräuchlichen
logischen und systematischen Gleichsetzung von ethischen Problemen "am Lebensende" und
"am Lebensanfang" wird zudem der Eindruck erzeugt, bei dem Embryo handele es sich
ebenso um ein moralisches Subjekt wie beispielsweise bei einem Siebzigjährigen, der eine
Patientenverfügung verfasst. Dies aber ist nur eine der möglichen und letztlich kontroversen
Positionen in der Debatte. Schließlich lenkt diese Systematisierung den Blick auf Konflikte
um den moralischen Status des Embryos; ethische Fragen, die sich auf die angemessene
Anwendung von reproduktionsmedizinischen Techniken oder pränataler Diagnostik bei
Frauen beziehen, wie beispielsweise nach der Notwendigkeit unabhängiger Beratung, geraten
dem gegenüber in den Hintergrund.
Die Folge davon ist eine Verlagerung der Debatte hin zu grundsätzlichen, theoretischen
Auseinandersetzungen, während konkrete, lebenspraktische Fragen weniger Aufmerksamkeit
finden.
Eine weitere Marginalisierung der Erfahrungswelt von Frauen zeigt sich in der Art und
Weise, wie der Begriff Embryo in der Debatte verwendet wird. Die Diskussion dreht sich um
die Frage, ob der Embryo ein Recht auf Leben habe oder mit Menschenwürde ausgestattet sei.
Dabei entsteht der Eindruck, es handele sich um ein selbständiges Individuum, vergleichbar
jedem anderen geborenen Menschen. Der Anteil der Frau an der Entwicklung eines Menschen
wird dabei ausgeblendet.
So definiert beispielsweise das Embryonenschutzgesetz:
4
Vgl. Engelhardt 1996.
3
"Als Embryo im Sinne dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige
menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, ferner jede einem Embryo
entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren
Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag." (EschG 1990,
§8, Abs.1)
Hierbei handelt es sich um eine unangemessene Abstraktion von den realen Verhältnissen.
Denn in dieser Definition wird vollständig von der empirischen Tatsache abgesehen, dass der
Embryo als Subjekt der Menschwerdung undenkbar ist ohne die Frau, die existenzielle
Bedingung seines ins-Leben-Kommens ist. Die Frau und ihre Schwangerschaft erscheinen
hier lediglich unter dem Sammelbegriff der "erforderlichen weiteren Voraussetzungen", unter
denen sich die Eizelle "zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln" vermag. Damit
wird zwischen einer Petrischale und einer Schwangerschaft kein Unterschied gemacht. Ein
solcher Vergleich ist in den entscheidenden Aspekten unangemessen. Während eine
befruchtete Eizelle in der Petrischale allenfalls wenige Zellteilungen übersteht, entsteht nur
durch die Schwangerschaft einer Frau ein Mensch. Während es sich bei der Petrischale um ein
unbeteiligtes Objekt handelt, ist die Frau, die schwanger werden will, als Person und
Individuum an Leib und Seele betroffen. Die Frau wird durch die Schwangerschaft schließlich
zur Mutter – die Petrischale ändert sich nicht.
Eine vergleichbare Tendenz zur sprachlichen wie gedanklichen Ausblendung der Situation
der Schwangerschaft findet sich in der gesamten, inzwischen nahezu vierzig Jahre alten
Debatte um den moralischen Status des Embryos.5 Der Embryo wird rhetorisch behandelt wie
ein Individuum ohne weitere wesensmäßige Abhängigkeiten. Doch die leibliche und
biographische Koexistenz von Frau und Embryo stellt eine einmalige und unvergleichliche
Situation dar.6 Argumente aus Auseinandersetzungen um bürgerliche Rechte oder
Menschenrechte beziehen sich auf echte Individuen, die tatsächlich zu einer individuellen
Existenz befähigt sind. Wollte man die Sprache der Individualrechte auf den Embryo
anwenden, müsste man zunächst einmal prüfen, ob und wie solche Argumente überhaupt für
5
Für einen kritischen Überblick siehe Kaminsky 2001; vgl. auch die hervorragende Zusammenfassung der
deutschen Debatte in: Enquete-Kommission Recht und Ethik der modernen Medizin 2002. Zum Personbegriff in
der Reproduktionsmedizin siehe Biller 1997.
6
Schon der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts bezeichnete in seinem Urteil vom 28. 5.1993 zum
Schwangerschaftskonfliktgesetz die frühe Schwangerschaft als "Zweiheit in Einheit"; in seiner Argumentation
bekräftigte er jedoch, dass das Recht auf Leben des Embryos auch gegen die Frau durchgesetzt werden müsse.
Dies wurde von den Richtern Mahrenholz und Sommer in einem Minderheitenvotum kritisiert: "Das einzigartige
Zuordnungsproblem der "Zweiheit in Einheit" kann grundrechtlich auch nicht annähernd in einer bloßen
Gegenüberstellung von Embryo und Frau eingefangen werden. Ihre eigene grundrechtliche Lage [d. h. die der
4
die Situation der Frau in der Schwangerschaft angemessen sind.7 In welchem Sinn kann bei
einer befruchteten Eizelle in der Petrischale von einem Individuum gesprochen werden? Im
genetischen Sinn? Ist dies sinnvoll, wenn sich das genetisch bestimmte Einzelwesen noch zu
eineiigen Zwillingen oder Drillingen entwickeln kann? Im leiblichen oder gar biographischen
Sinn? Auch in dieser Hinsicht ist der Begriff Individuum mit Bezug auf einen Embryo
inhaltsleer. Denn um tatsächlich zu einem Einzelwesen, das aus sich heraus lebensfähig und
damit zu einer individuellen Biographie befähigt ist, heranreifen zu können, muss der Embryo
notwendigerweise noch für weitere Monate eine leibliche Einheit mit seiner Mutter bilden.
Nur mit einer und durch eine Frau vermag er dies.
Dennoch versucht die Ethik, mit dem begrifflichen Inventar bürgerlicher Individualrechte
Konflikte vor und während der Schwangerschaft zu erfassen. Durch die Debatte um den
moralischen Status des Embryos wird somit ein virtuelles Wesen konstruiert8, dessen
existenzielle Abhängigkeit von einer Frau, die ihm das Leben schenkt, ausgeblendet wird. Das
so geschaffene Konstrukt kann nun mit "individuellen" Rechten ausgestattet werden, die
gegen die Rechte der Frau in Anschlag gebracht werden. Erst durch diese Betrachtungsweise
ergeben sich Probleme, die wiederum mittels ethischer Argumentation aus der Welt geschafft
werden müssen. Wenn also beispielsweise einem achtzelligen Embryo während der IVF für
die Präimplantationsdiagnostik eine totipotente Zelle entnommen wird, so muss diese Zelle
wiederum als gegebenenfalls schützenswerter Embryo angesehen werden, obwohl die
beteiligte Frau keinerlei Absichten hegt, diese Zelle auszutragen. Auch Eizellen, die
ausschließlich zur Erzeugung embryonaler Stammzellen und ohne Bezug auf die menschliche
Fortpflanzung befruchtet werden, müssen nach dieser Auffassung als Embryonen,
gegebenenfalls mit Menschenrechten oder Menschenwürde, angesehen werden. Die
komplexen körperlichen, seelischen und sozialen Leistungen der Mutterschaft, die bislang
noch vonnöten sind, um einem Menschen zum Leben zu verhelfen, werden auch hier
wiederum dabei ignoriert.9
Es wundert nicht, dass die moralische Position, die von einer lediglich graduellen Zunahme
des Lebensrechts von Embryonen ausgeht, als Folge dieser Inkonsistenzen Zulauf erhält. Aber
auch diese Position orientiert sich für ihre Stadieneinteilung üblicherweise nicht an der
Beziehung zwischen Frau und Embryo, sondern an im Embryo selbst zu verortenden
Frau] ist vielmehr ihrem Wesen nach durch die Verantwortung für das andere Leben mit-bestimmt, weil sie
dieses Leben in sich trägt." BVerfGE 88, 203, 379ff. (Kursivierung C.W.)
7
Vgl. Wiesemann 2001.
8
Vgl. dazu Duden 1994.
9
Auf die Bedeutung dieses Arguments wies schon Judith Jarvis Thomson (1971) in ihrem Aufsatz zur
Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs hin.
5
Entwicklungsstadien oder Qualitäten. Sie bleibt ebenso embryo-immanent wie die Position
der Lebensschützer, denn auch sie betrachtet den Embryo als ein unabhängiges Wesen, das
aus sich heraus – und damit auch gegen die schwangere Frau – Rechte beanspruchen kann. So
wurde beispielsweise vorgeschlagen, die Ausbildung des Nervensystems oder die beginnende
Gehirnentwicklung als moralische relevante Zäsur für ein Lebensrecht des Embryos
anzusehen.10
Kritiker der Entwicklung der Reproduktionsmedizin gingen bisher davon aus, dass der
technischen und naturwissenschaftlichen Indienstnahme des Embryos für Forschungszwecke
und fremdnützige therapeutische Zwecke am besten entgegengewirkt werden könne, indem
der Lebensschutz und der Schutz der Menschenwürde des Embryos möglichst kompromisslos
verfolgt werde.11 Dieses Vorgehen hat sich als eine zweischneidige Waffe herausgestellt.
Denn es führt zu einer weiteren Spaltung des Verhältnisses von Frau und Embryo und treibt
die Marginalisierung der Frau voran. Sie erhält allenfalls noch als intellektuelles Wesen
Bedeutung, das seine Zustimmung zu den Verfahren – beispielsweise zur Spende einer
befruchteten Eizelle – gibt. Gleichzeitig wird es leichter, Ansprüche von Frauen zu entkräften,
weil nun nur noch gezeigt werden muss, dass sie bei Entscheidungen nicht wirklich
selbstbestimmt sind.12
Das Verhältnis der Frau zum Embryo außerhalb ihres Leibes wird somit zu dem einer
Eigentümerin, nicht einer Mutter. Damit wird die Frau ihrer Fähigkeit, Leben zu schenken,
entkleidet; ohne Leib und ohne leibliche Beteiligung wird auch sie, wie der Embryo, zu einem
virtuellen Wesen.
Diese artifizielle Sichtweise führt dazu, dass der Prozess von der Eizellentnahme bis zur
Geburt eines Kindes in seiner Zielgerichtetheit und damit Sinnhaftigkeit belanglos wird.
Wenn es demnächst möglich sein wird, Körperzellen so zu reprogrammieren, dass sie wieder
Totipotenz erlangen, würde der Begriff Embryo vollständig aus seinem ursprünglichen
Bedeutungskontext in der Fortpflanzung gelöst.13 Damit wäre die Fähigkeit der Frau zu
Schwangerschaft und Geburt endgültig diskursiv eliminiert worden.14 Ein weiterer Nachteil
dieser Sichtweise ist, dass die Phase von der Eizellgewinnung bis zur Befruchtung kaum
10
Sass 1989, kritisch dazu Wiesemann 1993.
Braun 2001. Körner argumentiert dagegen, dass es sinnvoll sei, "von Menschenwürde der befruchteten Eizelle
nur unter dem Gesichtspunkt der später daraus werdenden Person" (1999: 36) zu sprechen.
12
Vgl. Kollek 2000 und 2001 (die allerdings anders als Braun stärker sozialethisch argumentiert). Zur Kritik
daran siehe Bockenheimer-Lucius 2002.
13
Zurzeit ist das so genannte Klonen nur mit Hilfe einer entkernten Eizelle möglich. Dies verweist auf die
Bedeutung, die schon die unbefruchtete Eizelle im Geschehen der Fortpflanzung hat.
14
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass sich damit – auf der sprachlichen Ebene – erfüllen würde, was
Shulamith Firestone schon Ende der sechziger Jahre forderte: die Befreiung der Frau von ihren biologischen
Fesseln. Siehe Firestone 1975 (deutsche Ausgabe).
11
6
Beachtung findet, denn der vorgebliche Hauptakteur entsteht erst nach der Befruchtung. In
einer durch die praktischen Notwendigkeiten diktierten Auslegung des
Embryonenschutzgesetzes ist dies sogar erst mit dem Verschmelzen der Vorkerne der Fall,
weshalb es zahlreiche befruchtete, aber in einem sehr frühen Stadium eingefrorene Eizellen
gibt, die in der Debatte um den moralischen Status des Embryos keine Rolle spielen.
Schutz der reproduktiven Einheit der Frau mit ihrem Embryo
Eine mit den empirischen Gegebenheiten im Einklang stehende Position hingegen kann den
Embryo nur durch die Beziehung15 zur Frau und damit primär im Einklang mit den Interessen
der Frau schützen. Lebensschutz muss also heißen Schutz der reproduktiven Einheit der Frau
mit ihrem Embryo, wobei berücksichtigt werden muss, dass ein Schutz des Embryos nicht
gegen die existenziellen Interessen der Frau realisiert werden kann. "Reproduktiv" bedeutet in
diesem Zusammenhang, dass der Schutz den auf die Schwangerschaft einer Frau und die
Geburt ihres Kindes hin ausgerichteten Prozess meint. Dies sollte der Ausgangspunkt aller
weiteren ethischen Überlegungen sein. Aus der Perspektive des Schutzes der reproduktiven
Einheit von Frau und Embryo ist ein Lebensschutz von der Eizellentnahme an durchaus
sinnvoll. Denn Frauen, die eine In-vitro-Fertilisation vornehmen lassen, haben ein großes
Interesse daran, dass ihre Eizellen, die sie den Reproduktionsmedizinern vorübergehend
anvertrauen müssen, sorgfältig und gewissenhaft behandelt werden und somit ihnen und
ihrem zukünftigen Kind kein Schaden zugefügt und keine unnötigen Risiken zugemutet
werden. Ein abgestufter Lebensschutz bringt diese Notwendigkeit nicht zum Ausdruck.
Von einem Embryo sollte nur dann gesprochen werden, wenn eine Frau beabsichtigt, mit
einer befruchteten Eizelle eine Schwangerschaft zu erreichen.16 "Nicht-Embryonen" sind
damit jedoch nicht der Willkür preisgegeben. Der Umgang mit anderen befruchteten Eizellen
15
Das Wort "Beziehung" ist eigentlich noch zu schwach, um die engen körperlichen und seelischen Bande zu
bezeichnen. Es soll hier trotzdem verwandt werden, da die deutsche Sprache keine bessere Alternative zu
Verfügung stellt, die nicht altertümlich oder romantisierend wirkt.
16
Bettina Schöne-Seifert (2002) kritisiert zu Recht das Kriterium der Intentionalität beim Umgang mit dem
extrakorporalen Embryo innerhalb einer Ethik des individuellen Embryos. Nur wenn man von dem hier
geschilderten Begriff des Embryos ausgeht, erhält das Kriterium der Intentionalität einen Sinn, denn nur dann
haben die Absichten der Frau eine intrinsische Bedeutung für den Status der befruchteten Eizelle. Schöne-Seifert
2001. Das Embryo-Sein ist existentiell geknüpft an die Bereitschaft der Frau, eine befruchtete Eizelle zu einem
Menschen heranreifen zu lassen. Insofern beschreibt der von mir verwendete Begriff "Embryo" zugleich die
Bedingungen für die Verwirklichung des Mensch-Seins des Embryos. Es scheint mir entscheidend zu sein, dass
"Bereitschaft" der Frau nicht nur einen rein intellektuellen Vorgang, sondern eine viel weitergehende körperliche
Zur-Verfügung-Stellung meint. Insofern können die Intentionen des Vaters nicht den gleichen Stellenwert
beanspruchen. Damit ist klargestellt, dass es sich bei dem hier verwendeten Begriff "Embryo" nicht nur um eine
letztlich willkürliche normative Setzung, sondern um einen teleologischen, durch seine Zweckgerichtetheit
bestimmten, Begriff handelt.
7
sollte schon deshalb mit Vorsicht und Sorgfalt geschehen, weil sie nur mit großem Aufwand
und unter körperlichen Risiken von Frauen gespendet werden können. Zudem sollte das
Verhalten ihnen gegenüber respektvoll sein, um der Tatsache gerecht zu werden, dass sie in
einer Situation von großer emotionaler und sozialer Bedeutung für die beteiligte Frau, wie
auch für jeden anderen Menschen, entstanden sind, denn immerhin handelt es sich um den
Ursprung des Menschseins.17 Aus ethischer Perspektive müsste untersucht werden, ob die
Verwendung solcher Eizellen für Forschungszwecke als ein Nebeneffekt des Primärzieles
Schutz der reproduktiven Einheit zu rechtfertigen wäre. Denkbar wäre es in einem solchen
Modell meines Erachtens, dass Frauen überzählige, gegebenenfalls befruchtete Eizellen, die
im Rahmen von IVF – also dem Primärzielverfahren – entstanden sind, der Forschung für
hochrangige Zwecke zur Verfügung stellen.18 Aber eine Eizellentnahme oder Befruchtung
ausschließlich für wissenschaftliche Zwecke und aus rein kommerziellen Motiven hätte
keinen Bezug zum Primärziel und wäre deshalb nicht tolerabel.
Macht man den Schutz der reproduktiven Einheit von Frau und Embryo zum Ausgangspunkt
aller ethischen Überlegungen zum Umgang mit dem extrakorporalen Embryo, dann erhalten
alle Maßnahmen, die einer Verbesserung der IVF dienen, indem sie beispielsweise zu einer
signifikanten Erhöhung der Schwangerschaftsrate führen, wie die dazu eventuell notwendige
Forschung an befruchteten Eizellen und die Erzeugung einer größeren Zahl von befruchteten
Eizellen für die IVF, einen neuen Stellenwert in der ethischen Debatte. Sie stünden im
Einklang mit diesem Primärziel und könnten deshalb gegebenenfalls gerechtfertigt werden.19
Wenn Zäsuren in der ethischen Debatte eine Rolle spielen, dann 1. die der Eizellentnahme als
Zeitpunkt, zu dem die Frau ihre Verantwortung für ein zukünftiges Lebewesen für einen
gewissen Zeitraum mit Reproduktionsmedizinern teilt, 2. der Aufnahme der befruchteten
Eizelle in die Gebärmutter als Beginn der engen körperlichen und biographischen
Verbundenheit zwischen Frau und Embryo – vorläufig immer noch conditio sine qua non der
menschlichen Entwicklung – sowie 3. der Geburt als Beginn der leiblichen und
biographischen Individualität. Diese Zäsuren sind echte, für die Beziehung zwischen Frau und
Embryo relevante Einschnitte, nur sie nehmen Bezug auf das besondere Verhältnis zwischen
beiden.20
17
Vgl. Meyer/Nelson 2001. Dies schließt eine Verwendung für triviale Ziele aus. Siehe auch Maio 2002.
Schneider (2001) hingegen ist der Auffassung, schon der Respekt vor befruchteten Eizellen verbiete eine
Nutzung für die Forschung.
19
Es sind hier damit natürlich keineswegs alle Argumente für und wider solche Techniken erschöpft. Mir geht es
in diesem Aufsatz nur um die besonderen Auswirkungen des neuen Embryobegriffs.
20
Die Nidation wird auch von den Befürwortern einer Gewinnung menschlicher Stammzellen im Nationalen
Ethikrat als moralisch bedeutsame Zäsur angesehen. Nur sie lasse eine "Leibesfrucht" erst entstehen. Nationaler
Ethikrat 2001, 18. Die Gegner dieser Position im Nationalen Ethikrat stellen die moralische Bedeutung der Zäsur
18
8
Präimplantationsdiagnostik oder Pränataldiagnostik können dem Schutz der Einheit von Frau
und Embryo dienen, insbesondere wenn dabei die existenziellen Interessen der Frau
berücksichtigt werden; die ethische Diskussion muss aber weitere Aspekte einbeziehen. Hier
können zum Beispiel gesellschaftliche Interessen am Schutz von Minderheiten vor
Diskriminierung oder ein Recht des geborenen Kindes auf Schutz vor willentlich zugefügtem
Schaden während der Embryonalphase angeführt werden. Dieser Schaden könnte darin
bestehen, dem Kind nur eine ganz bestimmte, eingeengte Identität zuzumuten (beispielsweise
durch Auswahl bestimmter erwünschter Eigenschaften). Diese Überlegungen zeigen, dass
eigenständige Bedürfnisse und Interessen des später geborenen Kindes durchaus Bedeutung
im Rahmen dieses Modells erhalten können.21 Das kann zum Beispiel in Zukunft besonders
dann wichtig werden, wenn tatsächlich therapeutische Eingriffe in die Keimbahn möglich sein
werden. Eine Ethik der Beziehung von Frau und Embryo geht lediglich davon aus, dass die
Interessen des Kindes zunächst und vorrangig am besten respektiert und geschützt werden
können, wenn die Beziehung respektiert und geschützt wird.
Ethik der Beziehung
Die Auswirkungen einer an der Lebenswelt orientierten Ethik der Beziehung auf Konflikte
vor und während der Schwangerschaft können hier nur in Ansätzen skizziert werden.22 Eine
detailliertere Untersuchung müsste sich eingehender mit den Bedürfnissen und Interessen von
Frau und Embryo sowie Mutter und Kind auseinandersetzen, aber auch gesondert mit denen
des geborenen Kindes und der Gesellschaft. Auch die Rolle des männlichen Partners ist bisher
ausgeklammert worden. Als vorläufiges Fazit kann aber hier schon festgehalten werden, dass
eine solche Ethik die Debatte vom Kopf auf die Füße stellt.23 Das Eigentliche der
Auseinandersetzungen und ihr lebensweltlicher Mittelpunkt, die Frau und ihre
Schwangerschaft geraten vom Rand der Debatte wieder in ihr Zentrum. Zugleich können alle
in Frage, weil es sich nicht um einen Zeitpunkt handele, sondern um einen Prozess zunehmender "stofflicher
Wechselwirkung" zwischen Embryo und weiblichem Organismus. Deshalb sei nur die Befruchtung als relevant
anzusehen. Dieses Argument ist allerdings gerade für den extrakorporal erzeugten Embryo nicht zutreffend, von
einem Kontinuum einer stofflichen Wechselwirkung nicht ausgegangen werden. Interessant ist auch, dass die
Gegner in dieser Frage den Beziehungsaspekt zwischen Embryo und Frau in den Vordergrund stellen, während
dieser Aspekt von ihnen an anderer Stelle als für die moralische Entscheidung irrelevant herausgestellt wird.
Nationaler Ethikrat 2001, 31.
21
Details können hier nicht herausgearbeitet werden. Aber es ist klar, dass beispielsweise der empfindungsfähige
Embryo einen Anspruch auf Schutz vor Schmerzen oder anderen Traumatisierungen hat.
22
Als Beispiele für eine auf der Basis der ethics of care entwickelten Ethik der Beziehung siehe Biller-Andorno
(2001) und Conradi (2001).
23
Es soll hier nur nebenbei bemerkt werden, dass die intuitive lebensweltliche Rechtfertigung der
Empfängnisverhütung mittels Spirale oder "Pille danach" im Einklang mit der hier skizzierten ethischen Theorie
steht.
9
Begriffe auf ihre Tauglichkeit zur Erfassung dieses Sachverhalts hin geprüft werden. Damit
rückt beispielsweise die Befruchtung als ein Zeitpunkt des Geschehens in den Hintergrund
und wird weniger wichtig als die Eizellentnahme oder die Aufnahme des befruchteten Eis in
die Gebärmutter.
Ethiker haben der Befruchtung viel Aufmerksamkeit gewidmet. Die technische Entwicklung
aber demonstriert die Potenz menschlicher Eizellen und führt uns vor Augen, dass das
moralisch und praktisch bedeutsamere Datum die Eizellentnahme ist. Mit diesem Moment
lässt die Frau andere an ihrem leiblichen Geschehen teilhaben, räumt ihnen Einfluss ein und
teilt mit ihnen die Verantwortung. Der verantwortliche Umgang mit Eizellen vor der
Befruchtung ist inzwischen von mindestens ebenso großer Bedeutung wie danach.
Nur eine lebensweltliche Ethik ermöglicht einen der Sache angemessenen Ausweg aus dem
Dilemma, zwischen absolutem und abgestuftem Lebensschutz des "individuellen" Embryos
entscheiden zu müssen, die beide zu kontraintuitiven, lebensfernen Schlussfolgerungen
führen.
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