Wissenspsychologie Boshuizen, H.P.A. (1992) Kapitel 16, S. 153-184 On the Role of Biomedical Knowledge in Clinical Reasoning... Einleitung erste Experimente am menschlichen Körper (damals noch „Black box“) um das 14. – 15. Jahrhundert die Medizin entwickelt sich im Laufe der Zeit von einer Kunst in eine moderne Wissenschaft das Ziel dieser Studien ist es, zu untersuchen, inwieweit verschiedene Levels an medizinischer Expertise das medizinische Schlussfolgern beeinflussen. Die Rolle von biomedizinischem Wissen in medizinischer Diagnostik Medizinische Diagnostik wird als Prozess des Problem-Lösens angesehen. SchlüsselBegriff in dem Konzept ist die mentale Repräsentation eines Problems. Die mentale Repräsentation ist eine Art „illness script“, in dem alle möglichen Informationen über den Patienten, dessen Symptome und zugrunde liegende Prozesse enthalten sind. Nach Chi, Feltovich und Glaser (1981) ist vor allem das biomedizinische Wissen wichtig, um verschiedene Patientenmerkmale, Zeichen und Symptome miteinander verknüpfen zu können. Das Verstehen einer Krankheit und das richtige Diagnostizieren hängen nach ihnen also vom biomedizinischen Wissen ab. Patel, Evans und Groen (1989) nehmen eine andere Perspektive ein: sie sagen, dass Medizin-Experten hauptsächlich klinisches Wissen (und nicht biomedizinisches) anwenden um eine Diagnose zu stellen. Ihnen zufolge ist die Anwendung von biomedizinischem Wissen charakteristisch für das Schlussfolgern von Laien. Begriffe: Biomedizinisches Wissen: Wissen um die der Krankheit zugrunde liegenden physikalischen Prozesse, Mechanismen und Prinzipien. Klinisches Wissen: (Erfahrungs-) Wissen über eine Krankheit und ihre Behandlung. Untersuchungen über die Rolle des biomedizinischen Wissens im klinischen Schlussfolgern Hier lässt sich sagen, dass sich nicht nur die Theorien (siehe oben) widersprechen, sondern auch bisherige Forschungsergebnisse widersprüchlich sind. Patel & Groen (1986) fanden heraus, dass eine komplexe Beziehung zwischen dem unterschiedlichen Wissen der Teilnehmer und ihren Diagnosen besteht und dass zunehmende Expertise negativ mit der Anzahl verwendeter biomedizinischer Konzepte korreliert. 1 Auch Schmidt (1988) machte dazu ein Experiment: Er fand raus, dass Studenten im 4. Studienjahr die meisten biomedizinischen Propositionen gebrauchten (mehr als die Studenten im 2. Jahr!) und dass Experten am wenigsten Propositionen verwendeten. Feltovich et al. (1984) fanden heraus, dass das Wissen von Studenten ähnlich hierarchisch geordnet ist wie in der gelesenen Literatur, während bei Experten keine solche Hierarchie besteht, sondern viele neue Verbindungen zwischen verschiedenen Krankheiten, zugrunde liegenden Prozessen usw., entstehen. Überblick über die ganzen Exp. in Tabelle 1 auf S. 156/ 157/ 158 Jetzt folgen 2 Experimente von Boshuizen, der schauen wollte, ob die Experimente von Patel et al. replizierbar sind. Experiment 1 ( Boshuizen, Schmidt, 1992) Methode: Vier Personen mit unterschiedlicher medizinischer Expertise nahmen an der Studie teil: Medizinstudent, 2. Studienjahr Novize Medizinstudent, 4. Studienjahr Intermediate I Medizinstudent, 5. Studienjahr Intermediate II Hausarzt (vier Jahre Berufserfahrung) Experte Sie alle sollten die Beurteilung und Diagnostik eines Krankheitsfalles durchführen. Der Patient: ein 38-jähriger, arbeitsloser Mann der früher depressiv und alkoholabhängig war, momentan an einer Bauchspeichelentzündung leidet und über Unterleibs-/ Magenschmerzen klagt. Analyse: Aufzeichnung von Protokollen des lauten Denkens, um die Anwendung von biomedizinischem, bzw. klinischem Wissen in der Diagnostik zu identifizieren. Vorgehen: 1. Segmentierung der Protokolle nach gemachten Pausen im Protokoll, Entfernung überflüssiger Statements. 2. Übriggebliebene Statements wurden als Propositionen formuliert. 3. Klassifizierung der Propositionen als klinisch oder biomedizinisch 4. Die biomedizinischen Propositionen wurden gezählt und durch die Gesamtanzahl aller Propositionen geteilt. Ergebnisse: Die Protokolle der beiden Studenten (2. und 4. Studienjahr) enthielten proportional und absolut gesehen mehr biomedizinische Propositionen als die der anderen beiden Protokolle. Mehr als 50% der Propositionen des Medizinstudenten im 2. Studienjahr wurden als biomedizinisch klassifiziert. Weniger als 10% biomedizinischer Ausdrücke ließen sich im Protokoll des Experten wieder finden. Die Anzahl der verwendeten biomedizinischen Propositionen sinkt mit zunehmendem Expertisegrad. (siehe Schaubild S. 165). Außerdem enthielten die Laien-Protokolle teilweise falsche medizinische Konzepte. 2 Diskussion: Hier wurde viele Hypothesen aufgestellt, warum Experten anscheinend weniger auf biomedizinisches Wissen zurückgreifen als z.B. Medizinstudenten. Zusammengefasst gibt es 3 Theorien: 1. Medizinische Details werden mit zunehmendem Grad an Expertise vergessen (Ackermann and Barbichon, 1963). 2. Das biomedizinisches Wissen ist zwar noch vorhanden, ist aber inaktiv (träge) (Leinhardt, 1987) 3. Wissenseinkapselung (knowledge encapsulation): das komplexe theoretische Wissen wird zu relativ einfachen Symptom-Krankheits-Assoziationen umgeformt (führt zu Wissenstrukturen, die leicht zugänglich sind und den Suchweg erheblich abkürzen (short search paths)). Die Hypothesen wurden in einem 2. Experiment überprüft. Experiment 2 Untersuchung der folgenden 3 Hypothesen: 1. Biomedizinisches Wissen erhält mit fortschreitender Expertise rudimentäre Züge. 2. Biomedizinisches Wissen wird inaktiv. 3. Biomedizinisches Wissen wird im klinischen Wissen eingekapselt. Methode: Ähnlicher Ablauf wie in Exp. 1 mit folgenden Unterschieden: Mehr Versuchspersonen wurden getestet (N=20). Davon 6 Novizen, 4 Intermediate I, 5 (bzw, wegen Drop-out 4) Intermediate II, und 5 Experten. Nach der Falldiagnostik wurden die Personen angehalten, schriftliche Erklärungen abzuliefern, die die dem Krankheitsfall zugrunde liegenden pathophysiologischen Prozesse erläutern sollten. Analyse: Annahmen: Falls das biomedizinische Wissen von Experten rudimentäre Züge angenommen hat, so sind die Experten nicht in der Lage, die der Krankheit zugrunde liegenden, pathopysiologischen Mechanismen zu erklären. Falls das Wissen in inaktiver Form vorliegt, so wird davon ausgegangen, dass kein Wissens-Rückgang stattgefunden hat. Festgestellt werden kann das durch einen Vergleich des angewandten Wissens und der späteren Erklärung über das Vorgehen in der Diagnostik. Kann das Vorgehen später nur schwer erklärt werden, wird angenommen, dass das Wissen verschüttet (inaktiv) ist. Falls das Wissen in eingekapselter Form vorliegen sollte, so wird erwartet, dass die Experten, das Wissen bei Bedarf ausweiten und die Prozesse erklären können. Im Unterschied zu Annahme 2 wird zusätzlich erwartet, dass in den Protokollen des lauten Denkens eine hohe Anzahl von Abkürzungen des Denkens zu finden ist. 3 Durchführung: 1. Die Erklärungs-Texte der Versuchspersonen wurden nach einer Methode (von Patel und Groen, 1986), in Propositionen mit jeweils 2 Argumenten und einer zugehörigen Relation zerlegt. Aus den gezählten Propositionen wurde ein semantisches Netzwerk erstellt. 2. Vergleich der Argumente der Protokolle des lauten Denkens mit denen der nachfolgenden physiologischen Erklärungen. 3. Jetzt wurde die Art der Beziehung der Argumente beurteilt (3 versch. Arten) o Identische Relationen o Abkürzungen o Andere Relationen Wissenseinkapselung würde sich in einer vermehrten Verwendung von Abkürzungen zeigen. Ergebnisse: Protokolle des lauten Denkens: Experten verwendeten im Gegensatz zu den anderen 3 Gruppen kaum biomedizinische Propositionen! Anschließende Erklärungen: Je höher der Expertisegrad war, desto mehr Propositionen wurden jedoch insgesamt genannt, um die pathophysiologischen Prozesse, die dem Fall zugrunde liegen, zu erklären (siehe Graphik S. 172). Das beweist, dass das Wissen von Experten keine rudimentären Züge angenommen hat!!! Im Gegenteil: ein zunehmender Grad an Expertise geht mit einem monotonen Anstieg an biomedizinischem Wissen einher! Das widerlegt deutlich die Annahme, dass der Gebrauch von biomedizinischem Wissen deshalb abnimmt, weil die Experten die biomedizinischen Fakten nicht mehr wissen oder diese inaktiv sind!!! Übereinstimmung zwischen den Protokollen des lauten Denkens und den nachfolgenden Erklärungen: Mit einem ansteigenden Level an Expertise stieg auch das Verhältnis der Übereinstimmungen der Argumente im Protokoll mit denen in der Erklärung signifikant an (Graphik S. 173). Bei den Novizen stimmten die Argumente nur zu ca. 15% überein, bei den Experten zu über 56%. Der Vergleich zwischen den Protokollen des lauten Denkens und den nachfolgenden Erklärungen ergibt ebenfalls, dass mit steigender Expertise eine signifikant steigende Anzahl von Abkürzungen einhergeht (siehe Graphik S. 174). Dieses Ergebnis stützt die 3. Hypothese! Das biomedizinische Wissen von Experten scheint in klinischen Propositionen eingekapselt zu sein! Diskussion: Das 2. Experiment hatte zwei Absichten: 1. das erste Exp. zu replizieren 2. die drei Hypothesen zu überprüfen, die entstanden um das erste Exp. zu erklären die Ergebnisse des 1. Experiments konnten repliziert werden! 4 Das 2. Exp. schlägt vor, dass die Anwendung von biomedizinischem Wissen zuerst zunimmt, um mit zunehmender Expertise wieder anzunehmen. Schlussfolgerung: die verminderte Anwendung biomedizinischen Wissen liegt nicht daran, dass das biomedizin. Wissen der Experten Lücken aufweist (verfällt) und auch nicht daran, dass es verschüttet wurde. Sondern es ist eingekapselt in klinischem Wissen!!! Allgemeine Diskussion: Es bleiben 2 Fragen übrig: 1. Welche Lernprozesse führen zur Wissenseinkapselung? 2. Generalisierbarkeit der Ergebnisse? 1. Lernprozesse (es gibt 2 Möglichkeiten) Die Einkapselung ist ein direktes Ergebnis des Problemlösens Die Einkapselung ist ein indirektes Ergebnis Medizinstudenten haben viel theoretisches Wissen über biomedizinische Mechanismen, Funktionen usw. Sie hatten aber bisher nie oder nur selten direkten Kontakt mit Patienten. Welchen Effekt hat nun die neue Situation, also der direkte Umgang mit Patienten auf die Wissensstruktur der Studenten? Möglichkeit 1: Die Studenten bleiben bei ihrer Art der Wissensanwendung, die sie in ihrer Studienzeit angewandt haben. Anderson sagt, dass diese Art von Wissensanwendung über eine Verkürzung der Suchwege (search paths) zur Wissenseinkapselung führen würde. Diese Annahmen ist jedoch nicht sehr plausibel, da die Studenten für diese Art von diagnostizieren viel zu viel Zeit benötigen würden, die sie aufgrund des Zeitdrucks nicht haben. Möglichkeit 2: Die Studenten erwerben während ihres praktischen Teils der Ausbildung neues klinisches und experimentelles Wissen, das die Patientenmerkmale direkt mit möglichen Diagnosen verbindet. Das würde einem Wechsel von biomedizinischem zu klinischem Wissen entsprechen Auch diese Annahme ist nicht plausibel, da es dazu führen würde, dass das biomedizinische Wissen mit der Zeit verschüttet würde. Möglichkeit 3: Die Einkapselung muss also durch einen anderen Prozess entstehen, der sich auf die Integration von biomedizinischem und klinischem Wissen (also von Theorie und Praxis) stützt. Collins (1990) nennt es den „Erwerb einer stabilen Wissensbasis“ o Diese stabile Wissensbasis resultiert aus einer aktiven Integration von allgemeinem und situiertem Wissen. o Collins’ Bsp: am besten findet man sich in einer neuen Stadt zurecht, wenn man versucht, eigene experimentelle Erfahrungen mit generellen (z.B. einem Stadtplan?), zu verbinden! 5 Bezogen auf den Erwerb einer stabilen Wissensbasis wäre das das aktive Verbinden von biomedizinischem und experimentellem Wissen (z.B. durch Selbsterklärungen, Wiederholen der biomedizinischen Inhalte und Diskussionen mit anderen Studenten). Es wurde kein allmählicher, sondern ein abrupter Übergang von biomedizinischem zu klinischem Wissen gefunden, was zur Annahme führt, dass Wissenseinkapselung ein indirekter Effekt praktischer Erfahrung ist, die dem angehenden Arzt eine extra kognitive Anstrengung abverlangt. 2. Generalisierbarkeit Die Generalisierbarkeit hängt von der medizinischen Art der Ausbildung der Studenten (hatten die Studenten im Studium nur Theorie oder war auch eine praktische Ausbildung mit dabei?) und der Art von Experten (sind es Medizin-Experten, Architekten, Wirtschaftsprüfer usw.) ab. Z.B. ist das Experten-Vorgehen in den Bereichen Medizin und Wirtschaftsprüfung ähnlicher, (Wirtschafts-Diagnosen und der Versuch der Abhilfe) als das Vorgehen in Medizin und Architektur. Auch Bereichs-Eigenheiten führen zu einer unterschiedlichen Generalisierbarkeit. Z.B. hat ein dänischer Hausarzt 25-30 Patienten pro Tag, während ein Wirtschaftsprüfer 2-3 Wochen benötigt, um die Finanzlage einer mittelgroßen Firma mit 50-250 Angestellten zu überprüfen. Auch die Veränderungen der Aufgaben spielen eine Rolle- so ändert sich der Bereich eines Mediziners nur geringfügig, während die Finanzbuchhaltung sehr sensibel auf Veränderungen der Wirtschaftslage reagieren. Die Beispiele zeigen, dass die Integration von theoretischem und praktischem Wissen unterschiedliche Verläufe zeigen kann, sie kann in verschiedenen Bereichen der Expertise unterschiedlich schnell und unterschiedlich glatt verlaufen. Schlussfolgerung: Die beiden Experimente replizieren die Ergebnisse von Patel et al. (1986). Sie liefern eine substanzielle Basis für die Annahme, dass Medizin-Experten im Gegensatz zu Intermediates und Novizen, biomedizinisches Wissen im klinischen Schlussfolgern nicht offen anwenden. Die Ergebnisse dieser Experimente erweitern diese Aussage dahingehend, dass gezeigt werden konnte, dass das biomedizinische Wissen von Experten in das klinische Wissen eingekapselt und integriert wird. Diese Ergebnisse widersprechen der Überzeugung von Patel et al. (1989), dass biomedizinisches Wissen und klinisches Wissen 2 verschiedene Welten repräsentieren und dass biomedizinisches Wissen nicht gebraucht wird. Im Gegenteil: diese Studien schlagen vor, dass biomedizinisches Wissen eine stille Rolle im klinischen Schlussfolgern von Experten spielt! 6