Cultural Studies als kritische Medienanalyse

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Rainer Winter
Cultural Studies als kritische Medienanalyse:
Vom „encoding/decoding“-Modell zur Diskursanalyse
( aus: Hepp, Andreas: Kultur – Medien – Macht: Cultural Studies und Medienanalyse.
Opladen: Westedeutscher Verlag GmbH, 1997; S. 47-63)
Abstract
Der Artikel von Rainer Winter versucht anhand der chronologischen Entwicklung
zweier Modelle zur kritischen Medienanalyse ein Verständnis für diese Perspektive
innerhalb der Cultural Studies zu schaffen. Während Stuart Halls „encoding/decoding“Modell zu erfassen versucht, welche ideologische Macht Medien ausüben können,
erforschen an dieses Modell anschließende ethnographische und diskursanalytische
Studien die Prozesse der Medienproduktion und Medienaneignung zwischen den Polen
Macht der Medien und Macht des Zuschauers. Bei beiden Ansätzen wird über das
Verständnis der Komplexität von Bedeutungsproduktion an den unterschiedlichen Orten
des kulturellen Kreislaufs die Basis von Handlungsfähigkeit etabliert, worunter die
Möglichkeit des Eingreifens in diese Prozesse verstanden wird.1 Neben einer
ideologiekritischen Analyse medialer Texte ist den Cultural Studies somit ein auf
gesellschaftliche und soziale Veränderung zielendes interventionistisches Motiv
zueigen, das eine kritische Pädagogik impliziert.
Schlagwörter
Cultural Studies, „encoding/decoding“ – Modell, Diskursanalyse, kritische Pädagogik,
kultureller Kreislauf, Macht, Medienproduktion, pädagogische Intervention, Politik,
Rezeption
Christoph Salzl, 9325530
696511 VO Medienpädagogik: Medienbildung, Medienkompetenz, Medienkultur
Univ.-Prof. Dr. Thomas A. Bauer, Institut für Publizistik- und
Kommunikationswissenschaft, Universität Wien, WS 2004/2005
1
vgl. Hipfl S.47
1
1.
Zusammenfassung
1.1. Einleitung
Cultural Studies setzen sich vornehmlich mit dem Verhältnis von Kultur Medien und
Macht auseinander. Ziel ist es die Einbindung kultureller Prozesse in Machtverhältnisse
aufzuzeigen und diese Verzahnung gesellschaftlicher Prozesse differenziert zu
analysieren. Unter Kultur werden dabei sowohl die kulturellen Praktiken als auch die
Produkte verstanden, die kontextuell (d.h. in je besonderen gelebten Umfeldern)
verfügbar sind. Dabei wird besonders die Vielfalt der Kulturen und Werte
berücksichtigt und auf diese Weise der fehlende kulturelle Konsens in Wert- und
Bedeutungsfragen herausgearbeitet.2 Demnach ist „Kultur ein Kampf um Bedeutungen,
ein nie zu beendender Konflikt, über Sinn und Wert von kulturellen Traditionen,
Praktiken und Erfahrungen.“3 Dieser „Kampf um Bedeutungen“, resultierend aus
fehlendem gesellschaftlichem Konsens, ist in den Cultural Studies Ort der Erkenntnis an
dem der Widerstand gegen die gesellschaftlich dominanten Diskurse zu Tage tritt. Den
Medien kommt aufgrund ihrer kommunikativen Reichweite bei der Etablierung der
Neuen sowie bei der Aufrechterhaltung der bestehenden, dominanten Diskurse und
Bedeutungen eine zentrale Rolle und eine damit zusammenhängende Machtposition zu.
1.2. Das „encoding/decoding“-Modell von Stuart Hall
Halls Modell ist im Schnittpunkt verschiedener theoretischer Überlegungen und
Probleme angesiedelt und stellt einen theoretischen sowie methodologischen Beitrag zur
Medienforschung dar. In seinen semiologischen und kommunikationstheoretischen
Überlegungen kritisiert Hall die traditionellen Vorstellungen und Methoden der
Massenkommunikationsforschung („Sender-Empfänger-Modell“) und zeigt alternative
Forschungsdimensionen auf, die in der Folge zur Grundlage für den „uses and
gratifications-approach“ wurden.4 Nach Hall ist die Massenkommunikation kein
transparenter Prozess, in dem die im Kommunikationsfluss enthaltenen Bedeutungen
eindeutig fixiert wären. Aufgrund der relativen Autonomie sowie Eigenlogik von
Sprache ist sowohl der Prozess des Encoding, als auch der des Decoding eine
Artikulation und folglich auch nur über diese begreifbar. Die Komponenten werden
somit als relativ autonomes Geschehen betrachtet, das nicht automatisch
Anschlusshandlungen impliziert. Hall verabschiedet sich von der Vorstellung einer
2
vgl. Winter S.47
Winter S. 47f
4
vgl. Winter S. 48f
3
2
kausalen Wirkung von Ideologien und geht davon aus, dass sich encodierte
Bedeutungen nicht notwendigerweise mit den Decodierten decken müssen. Außerdem
ist der Kommunikationsprozess als solches ein diffuses Geschehen, in dem sich die
daran beteiligten Elemente nur zu analytischen Zwecken trennen lassen.
Bei seiner Analyse der Eigenlogik kultureller Prozesse geht Hall von einer Wirkung der
Ideologien auf der Ebene der Decodierung aus, die wegen des notwendigen polysemen
Charakters der konnotativen Ebene medialer Kommunikation unterschiedlich verlaufen
kann.5 „Unterschiedliche Lesearten auf der konnotativen oder kontextuellen Ebene
haben jedoch keine kommunikative, sondern eine gesellschaftliche Grundlage.“6
Verantwortlich dafür ist in Halls Überlegungen als zentraler sozialer Konflikt seines
Modells der Klassenantagonismus. Hall unterscheidet drei idealtypische Positionen, von
denen aus ein medialer Text decodiert werden kann: (1) die Vorzugslesart, die mit dem
herrschenden ideologischen System übereinstimmt; konnotative Bedeutung eines
medialen Textes wird von Zuschauer voll und ganz übernommen (2) die ausgehandelte
Leseart (häufigste) bewegt sich innerhalb des vorgegebenen Rahmens konnotativer
Bedeutung eines medialen Textes, enthält aber gleichzeitig oppositionelle Elemente;
Der Zuschauer konstruiert in der Interaktion mit dem Text mittels seiner eigenen
sozialen und lokalen Sinnsysteme aktiv eine Bedeutung (3) die oppositionelle Leseart:
Die Vorzugsleseart wird zwar verstanden, aber gänzlich abgelehnt. Anstatt dessen wird
die mediale Botschaft innerhalb eines alternativen Bezugsrahmen interpretiert.7
Dennoch sind die Medienmacher in einer Machtposition zu sehen, da aufgrund der in
medialen Texten enthaltenen Vorzugsbedeutungen eine Decodierung im Sinne der
encodierten Bedeutungen wahrscheinlicher ist.
1.3. Macht, Medien und soziale Auseinandersetzungen. Die Analysen von John
Fiske
Fiske knüpft eng an das „encoding/decoding“-Modell von Hall an, schlägt allerdings
vor in medialen Texten nicht nach Vorzugsbedeutung zu suchen, sondern von
Präferenzstrukturen auszugehen. Außerdem sind für ihn soziodemographische Daten
und nicht Klassenzugehörigkeiten ausschlaggebende Faktoren für die Analyse der
Decodierung, da sie die Positionierung des Individuums in Bezug auf die dominante
5
vgl. Winter S. 49
Winter S.49
7
vgl. Winter S. 50
6
3
Ideologie bestimmen.8 Nach Fiske „wird die Rezeption und die Aneignung eines Textes
zu einer kontextuell verankerten gesellschaftlichen Praxis, in der die Texte als Objekte
nicht vorgegeben sind, sondern erst auf der Basis sozialer Erfahrung produziert
werden.“9 Als Teil der Zirkulation von Bedeutungen und Vergnügen, die die Kultur
ausmachen, treten gesellschaftliche Antagonismen und Differenzen in der Rezeption
und Aneignung von Texten zu Tage, die dadurch zu sozialen Ereignissen werden.
Grenzen der Interpretation sind allerdings sowohl durch die strukturierte Polysemie der
Texte, als auch durch historische und soziale Faktoren bedingt.10 Die Bedeutungen eines
medialen Textes entstehen immer erst durch Anbindung der Objekte an die sozialen und
historischen Wirklichkeiten der Rezipienten. Medienanalyse, die ohne Berücksichtigung
des Kontexts der Rezeption vorgeht, vernachlässigt demnach die, für den
Erkenntnisgewinn der Cultural Studies so wichtigen, Differenzen zwischen Sender und
Empfänger, zwischen intendierten und aufgenommenen Bedeutungen. Dieser Ort der
umkämpften Bedeutungen wird in Fiskes Weiterentwicklung der Machtanalytik zur
Diskurstheorie zu einem Ort diskursiver Auseinandersetzung an dem dominante und
unterdrückte Mediendiskurse um Aufmerksamkeit des Publikums konkurrieren. Erst das
Einbeziehen dieses Wissens bei der Analyse der vielfältigen Mediendiskurse ermöglicht
es, die im jeweiligen Kontext existierenden Gegebenheiten der Sinnproduktion zu
erfassen. Zu kausaler Medienwirkung kommt es in Folge dessen nur dort, wo
Rezipienten den bereitgestellten Bedeutungsrahmen unkritisch in ihr alltägliches Leben
integrieren. Für Fiske sind „diskursive Auseinandersetzungen ein wesentlicher
Bestandteil von Gesellschaften, in denen Macht und Ressourcen ungleich verteilt
sind.“11 Er unterscheidet zwischen folgenden Formen: „(1) Der Kampf um die
Akzentuierung eines Wortes oder Zeichens in einer Weise, die besonderen sozialen
Interessen dient. (2) Die Auseinandersetzung um die Wahl von Wörtern, Bildern und
diskursiven Repertoires. (3) Der Kampf darum, die unterdrückten Stimmen zu Wort
kommen zu lassen. (4) Der Kampf um Desartikulation und Reartikultation. (5) Die
Auseinandersetzung um Zugang zum öffentlichen Diskurs im Allgemeinen und zu den
Medien im Besonderen. Da Wirklichkeit nur diskursiv artikulierbar ist, gibt es einen
engen Zusammenhang zwischen Ereignissen und Diskursen. Mediale Repräsentationen
sind daher nicht Diskurse über Ereignisse, vielmehr sind sie Diskursereignisse bzw.
8
vgl. Winter S. 52f
Winter S. 54
10
vgl. Winter S. 54
11
Winter S. 55
9
4
Medienereignisse, die die Realität erst verfügbar machen, und immer die Spuren von
anderen konkurrierenden Diskursen beinhalten.“12
Medienereignisse werden zum Ort sozialer Auseinandersetzung, in denen sich
Machtverhältnisse verschieben durch Diskurse und Gegendiskurse, durch Wissen und
Gegen-Wissen. Für Fiske prägt nicht mehr primär Klassenantagonismus kulturelle
Auseinandersetzungen, sondern unterschiedliche Oppositionsweisen zwischen dem
„power bloc“ und „the people“.13
1.4. Schlussbemerkung
Die Cultural Studies betreiben Medienanalyse im Rahmen umfassender interpretativer
Kulturstudien. Geprägt von einem Anti-Essentialismus geben die Theorien und Modelle
der Cultural Studies Antwort auf die sozialen Probleme und Fragestellungen
spezifischer Kontexte. Der theoretische Revisionismus und der kulturelle Populismus
sind temporäre Elemente der Strategie des Projekts der Cultural Studies, das Verhältnis
von Kultur Medien und Macht kontextuell zu erforschen und zu verändern.14
2.
Auswertung und Besprechung des Artikels
Cultural Studies, entstanden in den 50er Jahren im Milieu der Erwachsenenbildung,
waren von Anfang an eng verbunden mit Fragen der Erziehung und Pädagogik. Nach
dem Konzept dieser Forschungstradition „erfolgt der „Kampf um Bedeutungen“ in
Form subtiler kultureller Aushandlungs- und Überzeugungsprozesse, mit denen die
Zustimmung der Menschen zu speziellen Haltungen, Lebensweisen sozialen und
kulturellen Praktiken erreicht werden soll. In Anlehnung an Gramsci können diese
Prozesse als pädagogische Beziehung charakterisiert werden.“15
Cultural Studies verfolgen also neben einer kritischen Medienanalyse noch das Ziel, die
Handlungsfähigkeit von Studenten zu stärken, indem diese ihr eigenes Leben im
Kontext der gesellschaftlichen Verhältnisse begreifen und dadurch mehr soziale
Gerechtigkeit und Gleichheit herstellen können.16 Bereits hier wird der
interventionistische Charakter der Cultural Studies deutlich, der auf soziale
Veränderung und Demokratisierung durch ein radikales Öffnen der Diskurse abzielt.
12
Winter S. 56
vgl. Winter S. 56f
14
vgl Winter S. 58f
15
Hipfl S. 36
16
vgl. Winter S. 2
13
5
Dieses Ziel des Birmingham Projekts korrespondiert mit dem der kritischen Pädagogik,
die sich mit der Herstellung einer radikalen Demokratie beschäftigt.
Die Cultural Studies eignen sich bestens als theoretischer Unterbau für Fragen der
Medienpädagogik, die sich nach Bauer als eine „intrinistische Perspektive“ der
Kommunikationswissenschaft verstehen sollte, weil: Zum Ersten ihre kulturtheoretische
Ausrichtung den Blick für die größeren Zusammenhänge schärft, in denen
Medienfragen von Bedeutung sind. Cultural Studies zweitens ein umfangreiches
Repertoire an theoretischen Konzepten, methodischen Zugängen und Ergebnissen
bereitstellen, die der Medienpädagogik dienen können. Zum dritten die Kombination
von Theorie und Praxis sowie die interdisziplinäre und offen angelegte Vorgangsweise
unabdingbar ist, um einer veränderlichen Medienwelt analytisch gerecht werden zu
können. Viertens Medienfragen nicht zu trennen sind von Fragen der Macht, Ideologie
und Politik.17
Henry Giroux, einer der führenden Vertreter, dieser seit den 80er Jahren vermehrt
praktizierten Synthese aus kritischer Pädagogik und Cultural Studies, „vertritt heute
eine explizit an Cultural Studies orientierte kritische Pädagogik, die eine Politik der
Differenz mit einer Forderung nach einer radikalen Demokratisierung der Gesellschaft
verbindet (Kellner 2001).“18 Aus der Warte der Cultural Studies ist dem zu Folge unter
Medienkompetenz nicht nur eine kritische Reflexion und Analyse der Mediendiskurse
zu verstehen, sondern auch die aktive Partizipation an den institutionalisierten Formen
der Bedeutungsproduktion.19 Letzteres wird als „interventionistisches Motiv“ der
Cultural Studies bezeichnet und erklärt, warum in dieser Forschungstradition mehr zu
sehen ist als nur ein methodischer Beitrag zur kritischen Medienanalyse. Daneben
verfügen Cultural Studies nämlich noch über ein gewaltiges pädagogisches und
politisches Potential, weil sie es sich zum Ziel gemacht haben, über die Befähigung des
Einzelnen für sozialen, politischen und gesellschaftlichen Ausgleich zu sorgen.
Wegen der schnellen Veränderlichkeit der Medien und aufgrund ihres
institutionalisierten Charakters, der sie ins gesellschaftliche Regelsystem einbindet, ist
es für eine umfassende Analyse von Medien sowohl unabdingbar soziales und
kommunikationswissenschaftliches Datenmaterial zusammenzuführen, als auch
einzufordern, dass die Theorie Schritt für Schritt anhand der Zwischenergebnisse und
17
vgl. Hipfl S. 38
Winter S. 8
19
vgl. Hipfl S. 47
18
6
-erkenntnisse zur jeweiligen Fragestellung weiterentwickelt wird. Cultural Studies
können diese Voraussetzungen erfüllen und kommen daher auch zentralen Forderungen
der Medienpädagogik nach, die sich eine Kommunikationswissenschaft möglichst nah
an ihrem Erkenntnisobjekt wünscht und diese Beziehung fördern möchte. Aufgrund der
Veränderlichkeit des Untersuchungsfelds ist dies aber wohl nur zu gewährleisten, wenn
sich die Kommunikationswissenschaft parallel zu diesem Feld mitentwickelt.
3.
Bibliographie

Bauer, Thomas: Zweitwissenschaft oder Erschließungsperspektive? Zur
Relevanz der pädagogischen Intervention in der Kommunikationswissenschaft.
In: Paus-Haase, Ingrid; Lampert, Claudia; Süss, Daniel: Medienpädagogik in
der Kommunikationswissenschaft: Positionen, Perspektiven, Potenziale.
Wiesbaden: Westedeutscher Verlag GmbH, 2002; S. 21-33

Hipfl, Brigitte: Zur Politik von Bedeutung: Medienpädagogik aus der
Perspektive der Cultural Studies. In: Paus-Haase, Ingrid; Lampert, Claudia;
Süss, Daniel: Medienpädagogik in der Kommunikationswissenschaft:
Positionen, Perspektiven, Potenziale. Wiesbaden: Westedeutscher Verlag
GmbH, 2002; S. 34-48

Hipfl, Brigitte: Medien - Macht – Pädagogik. In:
MedienPädagogik/www.medienpaed.com (25.02.2004)

Moser, Heinz: Bedürfnisse, soziale Texte und Cultural Studies. In:
MedienPädagogik/www.medienpaed.com (20.02.2004)

Steinwidder, Patrick: „In and outside the academy…“. In:
MedienPädagogik/www.medienpaed.com (16.04.2004)

Winter, Rainer: Cultural Studies als kritische Medienanalyse: Vom
„encoding/decoding“ – Modell zur Diskursanalyse. In: Hepp, Andreas: Kultur –
Medien – Macht: Cultural Studies und Medienanalyse. Opladen:
Westedeutscher Verlag GmbH, 1997; S. 47-63

Winter Rainer: Cultural Studies und kritische Pädagogik. In:
MedienPädagogik/www.medienpaed.com (06.02.2004)
7
4.
Schlagwörter
Cultural Studies, „encoding/decoding“ – Modell, Diskursanalyse, kritische Pädagogik,
kultureller Kreislauf, Macht, Medienproduktion, pädagogische Intervention, Politik,
Rezeption;
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