# 2003/04 webredaktion https://jungle.world/index.php/artikel/2003/04/mit-den-fingern-ueber-den-tasten Mit den Fingern über den Tasten Zur Kritik der flexiblen Persönlichkeit | Brian Holmes. Flexibel sind heute nicht nur die Arbeitsverhältnisse, flexibel muss auch die Subjektivität derer sein, die sie aushalten. Kein Weg scheint vom Typus der flexiblen Persönlichkeit zur Negation der bestehenden Gesellschaft zu führen. Der Kunstkritiker Brian Holmes fragt nach Verbindungen kultureller und politischer Kritik, um gegen die Art, wie Herrschaft heute funktioniert, zu intervenieren. Die Ereignisse der vergangenen Jahre, von Seattle bis New York und darüber hinaus, haben gezeigt, dass eine Kritik der kapitalistischen Globalisierung möglich und dringend notwendig ist, bevor das Ausmaß der Gewalt weltweit weiter dramatisch ansteigt. Die Anfänge einer solchen Kritik existieren, doch ist es wichtig, sie um eine Kritik der gegenwärtigen kapitalistischen Kultur zu erweitern. Eine Kritik der Kultur zielt darauf, die Verknüpfungen der Machtverhältnisse mit den mehr oder minder trivialen Ästhetiken des Alltagslebens aufzuweisen. Die Kritik hat die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer Gesamtheit in den Blick zu nehmen und den Zwang zu untersuchen, den sie für jede einzelne und jeden einzelnen bedeuten, während gleichzeitig die spezifischen Diskurse, Bilder und emotionalen Strukturen analysiert werden, die soziale Ungleichheit und rohe Gewalt verbergen. Und die Kritik hat die Aufgabe, den gesellschaftlichen Konsens zu stören, indem sie ihn ans Licht zerrt und zeigt, wie die Gesellschaft etwas aushält, was man nicht aushalten kann. Eine solche Kritik setzt an zwei entgegengesetzten Enden an. Sie muss die Komplexität des gesellschaftlichen Prozesses präzise fassen und zugleich ihre Thesen klar genug formulieren, um die anzusprechen, denen die Veränderung des Bestehenden zuzutrauen ist. Verlust der Negation Es war in den sechziger und siebziger Jahren eine Kritik der Kultur, die der radikalen und weit verbreiteten Ablehnung des Status quo ihren intellektuellen Ausdruck gab. Sie hatte ihren Anteil an der Veränderung des ganzen Systems. Doch heute scheint sie verschwunden. Es ist, als ob das Gespür für die Negation verloren gegangen sei, und mit ihm der Anspruch auf eine systemsprengende kritische Theorie. Stattdessen finden wir heute endlose Varianten der angloamerikanischen Cultural Studies. Am Ende handelt es sich dabei um Strategien der Affirmation, um Methoden des Konformismus. Die Geschichte der Cultural Studies ist dagegen ein Argument für die Ideologiekritik und die Negation der sozialen Verhältnisse. Als die Cultural Studies sich in den fünfziger Jahren in England entwickelten, waren sie ein Versuch, die herrschende Hierarchie der Kultur umzukehren. Die elaborierte Sprache und die Mittel der Literaturkritik sollten ihren Gegenstand in den Praxen und Codes der Arbeiterklasse finden. Populäre Ausdrucksformen sollten als Moment der Kontamination und Veränderung der Hochkultur ernst genommen und so als Alternativen zu den neuen, in den Massenmedien angelegten Formen von Herrschaft hervorgehoben werden. Der Ansatz erweiterte den Bereich legitimer Gegenstände und wissenschaftlicher Methoden. Darüber hinaus konstituierten die Cultural Studies sich als eigenständige Schule der intellektuellen Linken und entwickelten strategische Ziele. Ihr wichtigstes theoretisches Werkzeug wurde das Konzept einer selektiven Aufnahme und Transformation kultureller Momente, wodurch »Elemente der vorhandenen Kultur aus ihrem sozialen Kontext herausgelöst und umgestaltet« werden (John Clarke u.a., Jugendkultur als Widerstand, 1979). Der Ansatz entstand im Kontext von Untersuchungen über die Arbeiterklasse und orientierte sich zunächst an Fragen nach dem Klassenbewusstsein. Doch als im Verlauf der achtziger Jahre die Untersuchung unterschiedlicher Rezeptionsweisen sich von der der Klassendynamik ablöste, gefielen sich die Cultural Studies mehr und mehr darin, jede besondere Wendung zu feiern, die Individuen und Gruppen den Erzeugnissen der globalisierten Medien abgewannen. Auf diese Weise trugen die Cultural Studies zur Rechtfertigung einer neuen transnationalen Konsumentenideologie bei. Ihr Diskurs affirmierte die Entfremdung, wurde individualisierend und ethnisierend. Verzerrte Bilder. Wo kann eine Kritik der Kultur heute ansetzen? Ich plädiere dafür, von einem »Idealtypus« (in dem polemischen Sinn, den die Frankfurter Schule diesem Konzept Max Webers gab) auszugehen, an dem sich die Verbindungen gesellschaftlicher Machtverhältnisse mit moralischen Haltungen und Triebstrukturen zeigen lassen. Diesen Idealtypus nenne ich flexible Persönlichkeit. Die Eigenschaft »flexibel« spielt dabei direkt auf die politische Ökonomie der Gegenwart an, die gekennzeichnet ist durch befristete Arbeitsverhältnisse, die Produktion just in time, die informatisierten Produkte und die Abhängigkeit von virtuellen Zirkulationsprozessen in der Finanzsphäre. Und gleichzeitig bezieht sich »flexibel« auf das ganze Set von positiv besetzten Bildern, auf Spontaneität, Kreativität, Kooperation, Mobilität, nicht hierarchische Beziehungen, das Lob der Differenz und die Offenheit für neue Erfahrungen. Man könnte diese Muster als Erfindungen der Gegenkulturen der siebziger Jahre bezeichnen, doch sind sie gefangen im Zerrspiegel einer neuen Hegemonie. Es bedarf beträchtlicher Anstrengung, diese historischen Verzerrungen der gegenwärtigen Gesellschaft für erträglich zu halten. Der Opportunismus des kommunikativen Handelns Die Arbeitsverhältnisse von heute sind von Selbstkontrolle durchzogen. Sie zeigt sich am mächtigsten und macht politisch handlungsunfähig vor allem dort, wo Kultur und informatisiertes Wissen Bestandteile der Arbeit sind. Lohnarbeit, ob direkt im Betrieb oder telematisch mit dem Produktionsprozess verbunden, kann heute auf vielfältige Weise kontrolliert werden: durch Kameras, Telefon- und Computerüberwachung, elektronische Anwesenheitskontrolle etc. Für Freelancer kommt hinzu, dass ihre Auftraggeber die Annahme von Arbeitsergebnissen verweigern, wenn sie nicht bestimmten Erwartungen entsprechen. Internalisierte Selbstkontrolle wird zu einer Notwendigkeit. Auch Kulturproduzenten bilden da keine Ausnahme, sodass auf allen Ebenen kultureller Produktion eine Art Selbstzensur zur Regel wird, wie es Antonella Corsani, Maurizio Lazzarato und Toni Negri in ihrer Untersuchung über die immateriellen Arbeitsverhältnisse in Paris (Le bassin du travail immateriel dans la métropole parisienne, 1996) feststellten. Die Integration kultureller, künstlerischer und ethischer Inhalte in die kapitalistischen Verwertungszyklen führt noch zu einem anderen Effekt. Die Verwertung entwertet diese Ideale und bewirkt auf Seiten der Kulturproduzenten (in der Medien- und Unterhaltungsbranche, im Forschungs- und Bildungsbereich, in der Werbung etc.) einen entpolitisierenden Zynismus. Tatsächlich ist Zynismus heute weiter verbreitet als Selbstzensur. Die linguistische Wende. Jean-François Lyotard untersuchte in Das postmoderne Wissen (1979) Sprachspiele als ein bedeutendes Feld der Produktion von Wert in kapitalistischen Gesellschaften, in denen sich der Zugang zu Wissen informatisiert und computerisiert vollzieht. Es kommt nicht länger auf eine primäre Untersuchung an als vielmehr auf transformierende »Spielzüge« innerhalb eines arbiträren semantischen Feldes. Mit der linguistischen Wende der Ökonomie wurden semiotische Operationen – Mallarmés »coup de dés« – zu einem Gesellschaftsspiel im Wettbewerb, fassbar auf den vom Insiderhandel beherrschten Aktienmärkten, wo Glück nur ein anderes Wort dafür ist, die Spieler nicht zu kennen. Zynismus ist zugleich die Folge und die Voraussetzung eines ungebändigten Opportunismus. Paolo Virno beschrieb den Zusammenhang so: »Einer Fülle austauschbarer Chancen gegenüber hält sich der Opportunist so viele wie möglich offen; in einer unvorhersehbaren Wendung ergreift er die nächstliegende. Und der Computer ist weniger ein Mittel, um ein eindeutiges Ziel zu erreichen, als die Bedingung fortgesetzter ›opportunistischer‹ Operationen. Opportunismus gilt als unverzichtbare Ressource, wo ein Arbeitsprozess von einem diffusen ›kommunikativen Handeln‹ durchzogen ist.« (Opportunisme, cynisme et peur, 1991) Opportunismus ist in einem Sprachspiel ein Konformismus gegenüber jedem sich bietenden Vorteil. Auch Politik ordnet sich der Flexibilität und den raschen Umschlagzeiten der Marktbeziehungen unter. Virnos ironischer Hinweis auf Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns spielt darauf an. Habermas sprach in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus (1973) davon, dass Konsens in demokratischen Gesellschaften darauf beruht, dass die Bürger sicher sind, diskursiv überzeugt werden zu können: »Erst wenn die Handlungsmotive nicht mehr über rechtfertigungsbedürftige Normen laufen würden und die Persönlichkeitsstrukturen nicht mehr unter identitätsverbürgenden Deutungssystemen ihre Einheit finden müssten, könnte das motivlose Akzeptieren von Entscheidungen zur Sache vorwurfsloser Routine gemacht, könnte also Konformitätsbereitschaft in beliebigem Umfang bereitgestellt werden.« Was für Habermas noch soziale Fiktion war, steht Virno als Realität vor Augen: Persönlichkeitsstrukturen ohne Anspruch auf subjektive Wahrheit, ohne das Bedürfnis nach einer Garantie durch kollektive Deutungsprozesse. Diese Realität gründete sich zudem auf die Verzerrung des Autonomieanspruchs, wie ihn die radikale Linke in Italien in den siebziger Jahren artikulierte. Soziale Kontrolle. Die immaterielle Arbeit der Gegenwart ist deshalb als Form der Entfremdung zu beschreiben; als Entfremdung nicht nur von den Energien und den Begehren der sechziger und siebziger Jahre, sondern vom Politischen und von der Gesellschaft. Demokratie ist kein profitables Geschäft und kann nicht endlos in der Produktion von Bildern und Gefühlen recycelt werden. Die Entwicklung der flexiblen Persönlichkeit geht einher mit einer neuen Form sozialer Kontrolle, in der der Kultur eine wichtige Rolle zufällt. Die Kontrolle verzerrt die kulturrevolutionären Bestrebungen gegen den Autoritarismus und die Eindimensionalisierung; es entsteht ein Set von Praxen und Techniken, das die revolutionären Energien, die in den westlichen Gesellschaften während der sechziger Jahre auftraten, begrenzt und instrumentalisiert. Um das Konzept der flexiblen Persönlichkeit, also der vom gegenwärtigen Kapitalismus modellierten und kanalisierten Subjektivität, klarer zu machen, mag es hilfreich sein, sich die Geschichte einer Gruppe sozialer Akteure vor Augen zu halten, an deren Beispiel die Gewalttätigkeit des Wechselspiels von Integration und Exklusion klar wird: die Emanzipationsbewegungen des ethnisierten Proletariats der so genannten Minderheiten in den USA, also der Schwarzen, Chicanos und native americans. Auch sie stellten das kapitalistische System in Frage. Heute dient die Minderheitenidentität als Stilressource in der warenförmigen Kultur und löst so die Themen von ihrer Verknüpfung mit dem sozialen Antagonismus. In den Cultural Studies beispielsweise lässt sich in den Neunzigern verfolgen, wie die Verbindungen der Minderheitenkultur mit sozialen Konflikten gekappt und Erzählungen über die Emanzipation zum Bestandteil des literarischen Kanons wurden. Mit Hilfe der enormen Ressourcen, über die die kommerziellen Medien – Fernsehen, Kino und Popmusik – verfügen, sampelte man Minderheiten- und Subkulturen, rekodierte sie als Waren und verkaufte sie den gesellschaftlichen Gruppen, aus denen sie hervorgingen, über die Distributionskanäle des Weltmarkts. Differenz gilt überall als Beweis der Offenheit und Universalität des globalisierten Produkts. Transnationale Firmen und westliche Regierungen öffnen ihre Führungsebenen für »nicht weißes« Personal. Doch gleichzeitig funktioniert der »kulturelle Touch« (Boris Buden) auch gegenteilig, wenn sich ethnisierte Identität nicht kommerziell verwerten lässt, sondern als Signifikant für Regression, Tribalismus und Fundamentalismus steht. Die Repression solcher ethnisierter Identitäten gilt weithin als legitim. Michael Hardt und Toni Negri beschreiben denn auch in Empire die Stimulation und das nachfolgende Management ethnisierter Konflikte als Grundlage imperialen Regierungshandelns. Kritik als Aneignung In die flexible Persönlichkeit schreiben sich die internalisierten und kulturalisierten Muster »weichen« Zwangs ein, die die Gouvernementalität der Gegenwart kennzeichnen. Sie stehen dennoch in direkter Korrelation mit den »harten« Fakten der Ausbeutungsverhältnisse, des bürokratischen und polizeilichen Zugriffs, der Grenzregimes und Militärinterventionen. Die Charakteristik des Idealtypus – und der Kulturideologie – ist aktuell beobachtbar. Es wird höchste Zeit, gegen die Art, wie Herrschaft heute funktioniert, zu intervenieren. Untersuchungen der Zwangsmuster, die in diesen Typus eingehen, sind eine Art, wie eine intellektuelle Praxis dazu beitragen kann, Dissens zu produzieren. Eine radikale und negative Kritik hat ihr Ziel vor allem im Bereich der immateriellen und ästhetischen Produktion. Doch zugleich ist es offensichtlich, dass die bloße Beschreibung des Herrschaftszusammenhangs, mag sie auch noch so präzise sein, kaum ausreichen wird, ihn aufzulösen. Das Konzept der Gouvernementalität verleitet, mit allen Nuancen, leicht zur Selbstbespiegelung. Die kritische Theorie zielt auf die Möglichkeit, sich einer hoch differenzierten und äußerst wirkungsvollen Ideologie zu widersetzen, die eine große Zahl früher gangbar scheinender Auswege neutralisiert. Doch gilt es, den toten Punkt zu vermeiden, an dem beispielsweise die Frankfurter Schule ankam, und der dazu führte, eine kontemplative und letzlich elitäre Haltung einzunehmen. Kritik muss eine öffentliche Praxis sein: als Wiedererfindung einer oppositionellen Kultur, die Formen schafft, den unvermeidlichen Versuchen, sie zu kooptieren, zu widerstehen. Die flexible Persönlichkeit kann der Lächerlichkeit preisgegeben, ihr institutioneller, politischer und ökonomischer Hintergrund angegriffen werden, ihre Charakterzüge können in kulturellen und künstlerischen Produktionen bloßgestellt werden. Die Beschreibung und die Suche nach Alternativen muss dabei vermeiden, selbst wieder zu einem neuen Zweig der akademischen Industrie zu werden. Stattdessen ist es das Ziel negativer Kritik, neue Formen intellektueller Solidarität zu schaffen, ein kollektives Projekt für eine befreite Gesellschaft. Die flexible Persönlichkeit ist kein Schicksal. Trotz der Ideologien der Resignation, trotz der undurchdringlich scheinenden Realität gouvernementaler Strukturen spricht nichts dagegen, dass sich die verzweigten Formen kritischen Wissens direkt mit den neuen und gleichermaßen verzweigten Formen des Dissenses, der sich auf der Straße artikuliert, verbinden könnten. In diesem Prozess treffen die »künstlerische Kritik« und die Verweigerung der Ausbeutung erneut zusammen. Dieser Crossover wurde bereits im weiten Feld der Bewegungen, die sich der neoliberalen Globalisierung widersetzen, sichtbar. Die Entwicklung einer negativen Kritik bezieht sich aber auf ein wesentlich größeres Gebiet. Die Infrastruktur der Kommunikation ist heute zumindest zum Teil auf Personalcomputer ausgelagert und eine große Menge von Wissen findet sich von den Akademien und Universitäten des Wohlfahrtsstaates in die Körper und Hirne der immateriell Arbeitenden verschoben. Es geht darum, sich diese Aktivposten anzueignen, uns zu nehmen, was wir bereits haben, politische Autonomie und demokratischen Dissens zu wagen. Die Geschichte der radikalen Bewegungen kann erforscht werden, um die Ziele und die Wege der gegenwärtigen Bewegungen auszuformulieren und öffentlich zu debattieren. Es ist ein ambitioniertes Programm. Doch die Alternative wäre, einfach weiter das Spiel von anderen zu spielen: immer in der Luft hängend, zwischen einem Auftrag und dem Nichts, mit den Augen nach Informationen suchend, die Finger über den Tasten. Den gezinkten Würfel werfen, wieder und wieder. Aus dem Englischen von Thomas Atzert. Brian Holmes’ Essay »The Flexible Personality: For a New Cultural Critique«, der hier in einer gekürzten Version publiziert wird, geht zurück auf einen Beitrag für das Seminar »Class Composition in Cognitive Capitalism« (www.geocities.com/CognitiveCapitalism ) im Februar 2002 in Paris. Brian Holmes ist Redakteur der Zeitschrift Multitudes und lebt in Paris. © Jungle World Verlags GmbH