Neue Technologien/Medien in der Pädagogik

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Evaluation des Modellprojekts
Neue Technologien/Medien in psychosozialen
und pädagogischen Handlungsfeldern
am Institut für Erziehungswissenschaft
der Philipps-Universität Marburg
gefördert vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst
Projektleiterin:
Prof. Dr. Christina Schachtner
Projektmitarbeiterinnen:
Tanja Paulitz, Erziehungswissenschaftlerin, wissenschaftliche Hilfskraft m.A.
Annette Allendorf, studentische Hilfskraft
Lehrbeauftragte im Rahmen des Modellprojekts:
Roland Bader, Diplompsychologe
Rita Gerstenberger, EDV-Trainerin
PD Dr. Christel Kumbruck, Diplompsychologin
Kontaktadresse:
Prof. Dr. Christina Schachtner
Institut für Erziehungswissenschaft der
Philipps-Universität Marburg
Wilhelm-Röpke-Str. 6B, 35032 Marburg
T. 06421/28-4703, FAX 06421/28-8946
E-Mail: [email protected]
2
Inhalt
Einstimmung
5
1.
Begründung und Anspruch des Modellprojekts
6
2.
2.1
2.2
2.3
2.4
Wer nimmt an den Veranstaltungen des Modellprojekts teil?
Alter
Interdisziplinäre Zusammensetzung
Verteilung nach Geschlecht
Entwicklungstendenzen
9
9
10
12
14
3.
3.1
3.1.1
3.1.2
3.1.3
3.1.4
3.2
3.2.1
3.2.2
3.3
Praxiserfahrungen und Technikkompetenz
Vorerfahrung
Zugang zu einem Computer
Nutzung von Computern
Zugang zum Internet
Nutzung des Internet
Theorie-Praxis-Vermittlung
Praktische Erfahrung: "Selber ausprobieren"
Theoretische Reflexion: "Detaillierter spekulieren"
Erleben und Einschätzen von Technikkompetenz
15
15
16
17
19
21
22
22
25
28
4.
4.1
4.1.1
4.1.2
4.2
Interessenstendenzen: Hochschuldidaktische Dimension
Themen
Die Welt im Zerrspiegel von Science Fiction Literatur
Die Welt unter der Lupe dreidimensionaler Kartierung
Didaktische Methoden
32
32
34
35
38
5.
5.1
5.2
5.2.1
5.2.2
5.2.3
5.2.4
Lernen aus der Differenz
"Zunächst befremdend, dann eher anregend"
Lernziel Virtuelle Welten
Diskussion: "Wie so 'ne Kettenreaktion"
Kontroverse: "Da prallen Welten aufeinander"
Kooperation: "Da hatte er dann schon einen Stein im Brett"
Toleranz: "Es kann ja jeder sein eigenes Zimmer haben"
42
43
46
46
49
50
52
3
5.3
Studienobjekt: Fremddisziplin - Lernziel: eigene Disziplin
53
5.3.1 Herangehensweise: "Die Art und Weise zu denken is' halt ganz anders" 53
5.3.2 Argumentationsweise: "Viele Pädagogen glauben irgend etwas. Ehm, bei
uns glaubt niemand"
54
5.3.3 Fakten: "Man muß ja irgendwie 'en Maß haben"
57
5.3.4 Personen: "Da kann ich eigentlich nur von mir ausgehen"
58
Literatur
61
Anhang
59
4
Einstimmung
Der elfjährige Alexandre führt mich durch den PC-Raum einer Grundschule in
Porto Alegre im Süden Brasiliens. Auf den Bildschirmen sehe ich Texte und bunte
Bilder, die von Mädchen und Jungen im Alter von Alexandre bearbeitet werden.
Sie nehmen teil an dem Modellprojekt „Amora-Piaget“1, das ihnen die
Möglichkeit eröffnet, selbst zu ForscherInnen zu werden. Das Projekt basiert auf
der Annahme von Jean Piaget, derzufolge das Kind sich als aktives Wesen
entwickelt, indem es in eine Auseinandersetzung mit der Welt eintritt, die Welt
strukturiert und dabei diese und sich selbst verändert (vgl. Piaget 1983, S. 19).
Zunächst haben die Kinder ihre eigenen Forschungsfragen formuliert z. B.: Wie
kommt es, daß die Menschen nicht von der Erde fallen? Warum ist es hier Tag,
wenn es in Tokio Nacht ist? Warum bricht die Erde da nicht ein, wo Vulkane
sind? Anschließend begann die Suche nach Antworten; die Kinder sind zu zweit
oder zu dritt in Bibliotheken gegangen, haben ältere SchülerInnen oder
Erwachsene befragt und im Internet recherchiert. Am Tag meines Besuches sind
sie gerade dabei, die Ergebnisse ihrer Untersuchungen ins Internet zu stellen.
Alexandre hat zusammen mit einem Freund einen Forschungsbericht über
jüdische Kultur erarbeitet; auf dem Bildschirm lese ich die Namen Albert Einstein
und Arnold Schönberg. Ich frage Alexandre nach seinen Forschungsmotiven und
er antwortet stolz: „I’m a jew“.
Die Forschungsberichte werden in den nächsten Tagen über das Internet an
argentinische Kinder geschickt, die die Berichte kommentieren. Die
argentinischen Kinder haben ebenfalls geforscht und schicken ihre Ergebnisse
nach Brasilien. Sie haben auch ein gemeinsames Logo kreiert: eine ‘Maus’, auf
deren Oberfläche die Flaggen von Brasilien und von Argentinien zu sehen sind.
Die Lerneffekte des Projekts sind vielfach: Die Kinder eignen sich eine neue
5
Kulturtechnik an, sie gestalten ihren Lernprozeß als AkteurInnen, üben sich in der
Teamarbeit und im Aufbau interkultureller Beziehungen. Sie erleben ihre
LehrerInnen in neuen Rollen als ModeratorInnen, KoordinatorInnen und
BeraterInnen.
1.
Begründung und Anspruch des Modellprojekts
Die Bedeutung Neuer Medien (NM) für die Pädagogik ergibt sich aus deren
Aufgabe, Perspektiven der Erziehung mit Perspektiven zu verknüpfen, die auf die
Strukturen, Ressourcen und Behinderungen in sozialen Lebensräumen abstellen.
Dies beinhaltet einerseits, Lern- und Sozialisationsprozesse zu initiieren und zu
begleiten und andererseits Angebote zu entwickeln, die abzielen auf die
Mitgestaltung sozialer Strukturen. Pädagogische Intentionen und Konzepte betreffen
das Grundverhältnis zwischen Subjekt und Welt. Dieses formt sich zunehmend
unter dem Einfluß der NM und ihrer Nutzung in Arbeit und Freizeit, im öffentlichen
und im privaten Bereich (vgl. Merkert 1992, 53; Kübler 1993, 23). Die NM sind zu
neuen Sozialisationsinstanzen geworden. Schon Kinder und Jugendliche, bewegen
sich von klein auf in multimedialer Umgebung. Fernsehen, elektronische
Kleinstinstrumente, Video- und Computerspiele sind selbstverständliche
Bestandteile ihres Erfahrungsraumes geworden. Studien, die Ende der 80er Jahre in
Bayern sowie in Städten des Ruhrgebiets durchgeführt wurden, ergaben, daß gut ein
Drittel der befragten Jugendlichen einen eigenen Homecomputer besaß
(Beierwaltes/Grebe/Neumann-Braun 1993, 99). Diejenigen, die keinen besaßen,
wünschten sich meist einen.
LehrerInnen, ErzieherInnen, SozialpädagogInnen werden ihre AdressatInnen nicht
mehr erreichen, wenn sie nicht wissen, welche Erfahrungshorizonte sich durch die
NM erschließen, welche Wünsche diese ansprechen, welche Kompetenzen sie
1
Das Projekt wurde von der Professorin für Entwicklungspsychologie, Léa Fagundes/Staatl.
Universität Porto Alegre konzipiert und wird an einer Reihe brasilianischer Schulen
durchgeführt. Beteiligt sind Kinder aus Mittelschichts- und Unterschichtsfamilien. Ein
wesentliches Projektziel ist, sozialen Ungleichheiten zu begegnen und ärmere
Bevölkerungsschichten am Modernisierungsprozeß zu beteiligen.
(http://www.cap.ufrgs.br/amora/1998/Amora-Piaget/concurso/)
6
freisetzen, was es heißt, in virtuelle Welten einzutauchen, welche Risiken damit
verbunden sind. Nicht weniger entbehrlich ist es zu wissen, wie das Potential der
NM zur Entwicklung zukunftseröffnender Handlungsperspektiven genutzt werden
kann.
Das seit dem SS 1997 von der Projektleiterin zusammen mit Mitarbeiterinnen,
Lehrbeauftragten und KollegInnen anderer Fachbereiche durchgeführte
Modellprojekt bindet Neue Technologien/Medien als Thema in das Studium der
Diplompädagogik am Institut für Erziehungswissenschaft der Philipps-Universität
Marburg ein. Im Rahmen des Modellprojekts finden jedes Semester
Lehrveranstaltungen, Gastvorträge und Exkursionen zu ausgewählten Aspekten des
Themenfeldes statt. Ziel des Modellprojekts ist die Vermittlung einer technik- und
medienbezogenen Qualifikation auf der Wissens- und Handlungsebene in der
universitären Ausbildung von PädagogInnen. Dazu gehört:
1. der Erwerb theoretischen und empirischen Wissens über neue Medien und
Techniken und ihre soziokulturellen Implikationen
2. der Erwerb technischer Fertigkeiten, die einen kompetenten Gebrauch
technischer/medialer Instrumente ermöglichen
3. der Erwerb methodischer Fähigkeiten, die zur empirischen Erforschung medialer
Lebensfelder und computergestützter Arbeitsfelder erforderlich sind
4. der Erwerb medienbezogener und adressatInnenspezifischer Handlungskonzepte
für die Arbeit in verschiedenen pädagogischen Praxisfeldern.
Das Modellprojekt folgt einem lebensweltlich-interaktionistischen Ansatz in der
Medienforschung (s. Schachtner i.E.). Der Begriff Lebenswelt bezeichnet die mit
anderen geteilte, intersubjektive Welt in Gestalt von Werten, Leitbildern,
Sinnzusammenhängen (vgl. Schütz/Luckmann 1975, 26). Lebenswelt ist die Welt,
die immer schon da ist, in die man hineingeboren wird und die als Bezugsschema
dient für die Aneignung neuer Erfahrungen. Doch unter den Bedingungen der
Moderne sind die dem Subjekt Sicherheit verleihenden lebensweltlichen Strukturen
brüchig geworden. Traditionelle Handlungsmuster und Lebensentwürfe verlieren an
Gültigkeit (vgl. Giddens 1996, 182 f.). Dies produziert auf Subjektseite
7
Selbstverunsicherung, Selbstbefragung, Selbstzweifel, Krisen; aber es eröffnet auch
Entwicklungspfade. Das Leben in der Moderne ist zu einem Experiment geworden,
das nicht nur alle Lebensbereiche, sondern auch alle Lebensalter erfaßt, jedoch für
die jeweiligen Alters- und Geschlechtsgruppen Spezifisches bedeutet.
Ein lebensweltlich-interaktionistischer Ansatz berücksichtigt die gesellschaftlichen
Umbrüche als Deutungs- und Handlungsrahmen, innerhalb dessen sich sowohl das
mediale Angebot entwickelt als auch der Modus, in dem sich die Subjekte mit
diesem Angebot auseinandersetzen. Es fragt nach dem Stellenwert der NM im
Hinblick auf den an das Subjekt gestellten Anspruch, das Experiment der Moderne
zu bestehen.
Der Einsatz Neuer Medien in pädagogischen Arbeitsfeldern orientiert sich diesem
theoretischen Ansatz entsprechend an Fragen wie:
 Fördert der Umgang mit NM Phantasie, Kreativität, Mut zur Neugestaltung von
Lebensverhältnissen?
 Erlauben Computerspiele oder die Teilhabe an elektronischen Datennetzen das
Experiment mit verschiedenen Identitäten sowie die Einübung in kontrastierende
Handlungskompetenzen, um in einer nicht nur pluralen sondern auch
widersprüchlichen Welt handlungsfähig zu sein?
 Bilden sich durch die globalen Kommunikationsstrukturen neue
Gemeinschaftsformen, die die brüchig gewordenen alten ersetzen?
 Erfahren die Subjekte an den NM Anerkennung und Autonomie als
Gegengewicht zu erlebter Ohnmacht in der Welt jenseits des Bildschirms.
 Welche Konsequenzen hat das Agieren in virtuellen Realitäten für die
Auseinandersetzung mit Wirklichkeiten jenseits virtueller Begegnungen?
Die Antworten auf diese Fragen bestimmen sich von zwei Seiten her: von seiten des
Subjekts und seines Lebenskontextes, der trotz seiner Eingebundenheit in den
gesellschaftlichen Wandel ein spezifischer bleibt und von seiten der Medien, die
eine bestimmte gesellschaftlich geformte Logik in das Wechselspiel einbringen.
Das Modellprojekt wird fortlaufend evaluiert, um feststellen zu können, inwieweit
8
die angestrebten Ziele erreicht werden bzw. verändert werden müssen. Einbezogen
in die Untersuchungen werden neben den Lehrenden vor allem die Studierenden.
Der Forschungsansatz orientiert sich an den Implikationen der von B. Glaser und
A. Strauss konzipierten Grounded Theory, derzufolge wissenschaftliche
Erkenntnisse induktiv, aus der Empirie heraus gewonnen werden sollen. Das
benutzte methodische Repertoire umfaßt kontrastierende Forschungsinstrumente,
die sich wechselseitig ergänzen und korrigieren können. Neben dem
standardisierten Fragebogen kamen bislang das qualitative Interview sowie die
Gruppendiskussion zur Anwendung. Der vorliegende Bericht enthält eine
Zwischenbilanz, auf deren Basis das Modellprojekt weiterentwickelt werden soll.
2.
Wer nimmt an den Veranstaltungen des Modellprojekts teil?
Aufgrund der interdisziplinären Ausrichtung des Projekts werden die einzelnen
Lehrveranstaltungen auch im Lehrangebot anderer Studiengänge angeboten, z.B.
in den Studiengängen Soziologie, Politik, Ethnologie, Kunstgeschichte,
Musikwissenschaft, Theologie, Informatik und regelmäßig im Studiengang Neuere
Deutsche Literatur/Medien. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie sich
die Teilnehmenden der Lehrveranstaltungen zusammensetzen. Die Ergebnisse
basieren auf soziodemographischen Daten, die mittels Fragebogen in 5 Seminaren
über die ersten drei Semester der Laufzeit des Projekts hinweg (vom SS 1997 bis
SS 1998) erhoben wurden. Im folgenden werden die wesentlichen Tendenzen, die
sich aus diesen Daten herauskristallisieren, aufgezeigt.
2.1
Alter
In den bisher angebotenen theoretisch ausgerichteten Seminaren liegt der
ermittelte Altersdurchschnitt der TeilnehmerInnen bei etwa 24 Jahren.
Beispielhaft können die Zahlen des Seminars "Virtuelle Welten und soziales
Lernen" im WS 1997/98 betrachtet werden. In diesem Seminar überwiegt die
Altersgruppe der 23-25jährigen, das statistische mittlere Alter beträgt 24,3 Jahre
mit einer Streuung von 2,45 Jahren. Diese Verteilung deutet auf eine Gruppe von
Lernenden hin, die wahrscheinlich direkt nach dem Abitur an die Hochschule
9
gekommen sind und hier ihre erste Ausbildung erhalten. Die Tatsache, daß fast
keineR der Befragten vor Studienbeginn eine Berufsausbildung abgeschlossen hat,
bestätigt diesen Eindruck.
2.2
Interdisziplinäre Zusammensetzung
Die Vermutung, daß die interdisziplinäre Ausrichtung des Modellprojekts sich in
der Teilnahme von Studierenden aus verschiedenen Fachbereichen niederschlägt,
kann in der Tendenz bestätigt werden.
10
Zwar stellen die Studierenden der Pädagogik stets den größten Anteil der
TeilnehmerInnen in allen Seminaren, jedoch differieren die Werte zwischen
42,9% und 79,5% der Gesamtzahl aller TeilnehmerInnen. Für diese Differenz
scheinen zwei Faktoren verantwortlich: Zum einen erhöht sich der Anteil der
Studierenden aus anderen Fachbereichen, wenn das Seminar von einem
interdisziplinären Leitungsteam angeboten wird. Dies dokumentieren z.B. die
Zahlen des in Kooperation mit der Informatik angebotenen Seminars "Virtuelle
Welten und soziales Lernen" im WS 1997/98. 69,2 % der befragten StudentInnen
gehören der Fachrichtung Pädagogik an, die anderen kommen aus der Neueren
Deutschen Literatur/Medien sowie aus der Informatik2. Zum anderen zeigt sich
folgender Entwicklungstrend. Während im SS 1997, in dem die erste
Lehrveranstaltung des Modellprojekts stattfand, nur 20,5% der TeilnehmerInnen
aus anderen Fachbereichen kamen, hat diese Gruppe im SS 1998 einen Anteil von
57,1%. Allein 32,1% der SeminarteilnehmerInnen studieren Neuere Deutsche
Literatur/Medien als 1. Studienfach. Diese Zahlen deuten darauf hin, daß das
Lehrangebot des Modellprojekts verstärkt für andere Fachbereiche attraktiv
geworden ist. Eine andere Vermutung ist, daß Erziehungswissenschaft für diese
Studiengänge als Nebenfach interessant wird, wenn der Themenkomplex Neue
Technologien/Medien dabei vertieft und unter pädagogischen Fragestellungen
betrachtet werden kann.
2
Allerdings ist die recht geringe Beteiligung von seiten der InformatikerInnen
erklärungsbedürftig. Zum einen ist zu bemerken, daß der Rücklauf des Fragebogens vielleicht
nicht die tatsächliche Beteiligung wiedergibt. Zum anderen war der Veranstaltungsort in den
Räumen der Erziehungswissenschaft angesiedelt, was eventuell ebenfalls zu diesem Ergebnis
beiträgt. Schließlich differieren die Studentenzahlen zwischen dem Studiengang
Erziehungswissenschaft und dem Studiengang Informatik erheblich (im WS 97/98 betrug die
Anzahl der StudienanfängerInnen im Diplomstudiengang Pädagogik 122, im
Diplomstudiengang Informatik lag die Zahl der StudienanfängerInnen bei 61).
11
2.3
Verteilung nach Geschlecht
Die Verteilung der TeilnehmerInnen nach Geschlecht ist vor dem Hintergrund
interessant, daß in mehreren empirischen Studien der Marburger Studiengang
Diplompädagogik als "Frauenstudiengang" bezeichnet worden ist.3 Es stellt sich
die Frage, ob dieses Bild für Veranstaltungen des Modellprojekts stabil bleibt, da
mit den Neuen Technologien/Medien ein neues und gesellschaftlich nach wie vor
männlich konnotiertes Thema in die Pädagogik eingeführt wird. Zudem handelt es
sich um ein explizit interdisziplinär angelegtes Lehrangebot, das sich ggf. mit den
geschlechtsspezifisch geprägten Interessenstendenzen anderer Disziplinen
überschneidet.
Betrachtet man die Beteiligung von weiblichen Studierenden an den theoretisch
ausgerichteten Seminaren des Projekts, so läßt sich zunächst eine nur geringe
zahlenmäßige Dominanz feststellen. Exemplarisch können die Daten des
Seminars "Modernisierung, Neue Technologien, Soziale Ungleichheit" im SS
1998 betrachtet werden: Von der Gesamtzahl von 28 Befragten sind 16 weiblich.
Das entspricht einer prozentualen Verteilung von 57,1% Frauen und 42,9%
Männern. Der Vergleich mit der statistisch erhobenen Anzahl an Studierenden am
gesamten Institut für Erziehungswissenschaft ergibt ein deutlich anderes Bild: Für
den Untersuchungszeitraum der Bestandsaufnahme steigt der Anteil der
Studentinnen von ca. 60% im WS 1992/93 auf ca. 76% im WS 1993/94 mit einem
eindeutig linearen Trend nach oben. Der Schluß, daß das "techniklastige"
inhaltliche Arrangement der Lehrveranstaltungen des Modellprojekts mehr
männliche Studierende in die Seminare zieht und damit eine gesellschaftliche
Rollenverteilung widerspiegelt, sollte jedoch nicht voreilig gezogen werden. Unter
Berücksichtigung der heterogenen interdisziplinären Zusammensetzung der
Seminare, deren steigende Tendenz im vorangegangenen Abschnitt dokumentiert
wurde, verschiebt sich das Muster. Beispielsweise verdeutlicht die im WS
1997/98 zusammen mit dem Fachbereich Informatik durchgeführte Veranstaltung,
wie Fach- und Geschlechtszugehörigkeit im Gesamtspiegel ineinandergreifen
12
können. Graphik 1 veranschaulicht die Verteilung:
14
12
10
8
6
4
te
r
e
W2
te
lu
o
s
b
A 0
Geschlecht
weiblich
männlich
Pädagogik
NDL-M edien
Informatik
Graphik 1
Studienfach
Das zunächst recht ausgewogen scheinende Verhältnis von männlichen und
weiblichen Studierenden (53,8% weiblich und 46,2% männlich) löst sich vor dem
Hintergrund der Studienfächer auf. Die Graphik zeigt, daß aus dem Fach
Informatik nur Männer am Seminar teilnahmen, während aus dem Fach Neuere
Deutsche Literatur/Medien Männer und Frauen zu gleichen Anteilen erschienen.
Der in der Gesamtschau sichtbare leichte "Frauen-Überhang" bezieht sich auf das
Fach Pädagogik: Zwei Drittel der PädagogInnen sind Frauen. Zum einen gibt
dieses Ergebnis sicherlich eine geschlechtsspezifische Frequentierung von
Studienrichtungen wieder, wie sie an der Universität insgesamt beobachtet werden
kann. Zum anderen stellt sich die Frage, wie sich die Beteiligung aus dem Fach
Pädagogik über mehrere Semesterveranstaltungen hinweg im Rahmen des
Modellprojekts entwickelt.
Einen ersten Eindruck vermitteln die Zahlen aus dem SS 1998: Im Seminar
"Modernisierung, Neue Medien, Soziale Ungleichheit" sind 8 der 12
PädagogInnen weiblich. Unter 9 Studierenden aus der Neueren Deutschen
Literatur/Medien befinden sich 5 Männer und alle 3 Teilnehmer aus der
Politikwissenschaft sind männlichen Geschlechts. Ein Trend zeichnet sich ab,
nach dem das Lehrangebot des Modellprojekts von Studierenden des Fachs
Pädagogik ohne geschlechtsspezifische Auffälligkeiten genutzt wird. Die o.g.
These vom "Frauenstudiengang" kann bestätigt werden. Die Beteiligung weicht
3
Vgl. Friebertshäuser, 1992 sowie Diplom-Studiengang Erziehungswissenschaft, 1994 und
Betz/Wins, 1995.
13
nur unwesentlich vom Durchschnitt ab. In der Tendenz kann die Schlußfolgerung
gezogen werden, daß die Einbettung des Themenkomplexes Neue
Technologien/Medien in den Studiengang Erziehungswissenschaft ohne
nennenswerte geschlechtsspezifische Einschränkungen gelungen ist. Darüber
hinaus ist festzustellen, daß die Seminare für männliche Studierende anderer
Fachbereiche mit steigender Tendenz große Attraktivität besitzen.
2.4
Entwicklungstendenzen
Auf der Basis der Daten des hier dokumentierten Projektabschnitts lassen sich
zwei wichtige Trends markieren, die auf die Frage nach der Beteiligung an
Seminaren Antwort geben. Erstens ist eine wachsende interdisziplinäre Popularität
und Bekanntheit für die Veranstaltungen des Modellprojekts feststellbar. Die
Zusammensetzung der Seminare weist ein deutlich zunehmendes Interesse von
Studierenden anderer Fachbereiche auf. Es stellt sich die Frage, ob es für
Studierende zu einer thematischen Schwerpunktbildung im Themenkomplex Neue
Technologien/Medien kommt, der mit Lehrveranstaltungen aus unterschiedlichen
Disziplinen bestückt wird.
Zweitens deuten die Zahlen darauf hin, daß eine kleine Gruppe von Studierenden
kontinuierlich an Veranstaltungen zu diesem Themengebiet belegt. Die vermutete
Schwerpunktbildung ließe sich durch diesen Trend stützen. Hierzu informieren die
Ergebnisse des Fragebogens aus dem WS 1997/98, in dem die Motivation der
Studierenden zur Seminarteilnahme erhoben wurde: Auf die standardisierte
Abfrage (Mehrfachantworten möglich) geben 41,7% der Befragten (10 Personen)
an, zum Themengebiet bereits Veranstaltungen besucht zu haben. Die Teilnahme
am Seminar dient gemäß dem Antwortverhalten im Fragebogen dazu, dieses
thematische Interesse weiter auszubauen. In der genaueren Betrachtung zeigt sich,
daß 7 dieser 10 Befragten Pädagogik studieren. Es ist naheliegend, daß sie bereits
Veranstaltungen im Rahmen des Modellprojekts besucht haben. Dies könnte
darauf hinweisen, daß eine Gruppe von Studierenden das Angebot des Projekts
bereits kontinuierlich nutzt und thematische Interessen im Rahmen des Seminars
vertiefen möchte.
14
Die Zahlen des Seminars im SS 1998 verfestigen dieses Bild: Wieder geben 10
TeilnehmerInnen des Seminars an, Motivation zum Veranstaltungsbesuch sei der
Ausbau des Themengebietes. 7 von ihnen sind männlich. In diesem Fall studieren
nur 4 von ihnen Pädagogik im Hauptfach. Weitere 4 stammen aus der
NDL/Medien. Dies könnte darauf hinweisen, daß sich ebenfalls aus dieser
Fachrichtung eine Art "Stammpublikum" etabliert hat. Bei der Abfrage von Ideen
und Anregungen für weitere Seminare des Modellprojekts äußert eine Befragte
den Wunsch, in Zukunft zwischen einführenden und vertiefenden Seminaren zu
unterscheiden. Diese Antwort weist ebenfalls darauf hin, daß unter manchen
Studierenden ein Bedürfnis vorhanden ist, auf der Basis des bereits gewonnenen
Wissens intensiv weiterzuarbeiten.
Die Antwort auf die im Fragebogen erhobene Veränderung im Verhältnis zu den
Neuen Technologien gibt darüber Auskunft, welcher Effekt mit einem Seminar
hinsichtlich des Themas Neue Technologien/Medien erzielt wurde. Im WS
1997/98 geben 9 Studierende der Pädagogik und 3 der Neueren Deutschen
Literatur/Medien an, zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema ermutigt worden
zu sein. Dieses Ergebnis könnte die Vermutung stützen, daß eine kleine Gruppe
von TeilnehmerInnen eine kontinuierliche Beschäftigung mit Neuen
Technologien/Medien anstrebt. Das Ergebnis des Fragebogens im SS 1998 (18
von insgesamt 28 TeilnehmerInnen) stützt dies. Mit Blick in die Zukunft kann an
dieser Stelle eine erste Prognose formuliert werden. Demnach wäre für die
folgenden Semesterveranstaltungen zu erwarten, daß sich ein Kern von
spezialisierten Studierenden stärker herausbildet und ggf. vergrößert. Darüber
hinaus ist die Entwicklung von Di-plomarbeiten in diesem Themenkomplex zu
erwarten.
3.
Praxiserfahrungen und Technikkompetenz
3.1
Vorerfahrung
Um eine Vorstellung davon zu gewinnen, welchen Stellenwert der in den
Seminaren des Modellprojekts eingebrachte neue Themenkomplex für die
15
theoretische Reflexion der Studierenden besitzt, ist es wesentlich, Art und Umfang
der Vorerfahrung mit Neuen Technologien/Medien zu betrachten. Wie stark der
Zusammenhang zwischen eigener technischer Vorerfahrung und Metadiskussion
für Studierende ist, läßt sich beispielhaft anhand einer Bemerkung der
Pädagogikstudentin Anja4 in einem Interview zeigen. Ihre ablehnende
Formulierung illustriert die enge Verzahnung: "Mein Papa wollte mir schon vor
Jahren 'en Computer kaufen. Da hatte ich aber noch 'ne Schreibmaschine
durchgesetzt, weil ich gesagt hab', oh nein, ich hab’ keine Zeit und keine Lust,
mich mit der ganzen Thematik da auseinanderzusetzen" (2)5. Welche praktischen
Kenntnisse TeilnehmerInnen der Veranstaltungen bereits besitzen, welche
Selbstverständlichkeit im Umgang mit der neuen Technik vorausgesetzt werden
kann, wurde ebenfalls im Fragebogen erhoben. Uns interessiert hier besonders die
Verbreitung des Zugangs zu Computern im allgemeinen und zur InternetTechnologie im besonderen sowie die Art der Nutzung. Bislang lassen sich
folgende Trends ablesen:
3.1.1 Zugang zu einem Computer
Es geben durchwegs alle TeilnehmerInnen der Lehrveranstaltungen des
Modellprojekts an, Zugang zu einem Computer zu besitzen. Dieses Ergebnis
dokumentiert, daß man von der Existenz irgendeiner Erfahrung mit
Informationstechnologie bei den SeminarteilnehmerInnen ausgehen kann. Die
Intensität und Bandbreite dieser Erfahrung kann mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit aus der Art des Zugangs zum Computer geschlossen werden.
Die Auswertung der Fragebögen zeigt, daß in jedem Seminar ein großer Teil der
Studierenden über einen eigenen Computer zu Hause verfügt. Beispielhaft kann
eine Größenordnung von ca. 77% aus dem WS 1997/98 genannt werden. Es ist
anzunehmen, daß die Entscheidung für die Anschaffung eines Computers in
erhöhtem Maße mit einer Bereitschaft für eine gewisse Auseinandersetzung mit
dem Gegenstand einhergeht. Wie setzen sich nun - exemplarisch betrachtet - im
Seminar "Virtuelle Welten" WS 1997/98, das zusammen mit dem Fachbereich
4
Sämtliche Namen von Befragten wurden für diesen Bericht geändert.
16
Informatik angeboten wurde, die übrigen ca. 23% der SeminarteilnehmerInnen
zusammen, die keinen eigenen Rechner besitzen? Sie gehören alle (mit einer
Ausnahme) der Fachrichtung Pädagogik an. Dagegen kann jeder der
Informatikstudierenden auf einen häuslichen Computer zurückgreifen. Die Grafik
verdeutlicht diese Verteilung unter Berücksichtigung der Kategorien
‘wissenschaftliche Disziplin’ und ‘Geschlecht’.
kein PC
Geschlecht
weiblich
männlich
Studienfach
Studienfach
eigener PC
Pädagogik
Anzahl
2
10
NDL-Medien
Anzahl
1
1
Pädagogik
Anzahl
3
3
NDL-Medien
Anzahl
2
Informatik
Anzahl
4
Die Verteilung zeigt, daß Studierende, die keinen Computer auf dem eigenen
Schreibtisch stehen haben, im interdisziplinären Vergleich mit erhöhter
Wahrscheinlichkeit Pädagogik studieren. Geschlechtsspezifische Besonderheiten
sind nicht feststellbar.
3.1.2 Nutzung von Computern
Für die Art und Weise der Nutzung von Computern können die Zahlen aus dem
WS 1997/98 ebenfalls exemplarisch betrachtet werden. Sie haben den Vorteil, daß
sie den Kontrast zwischen dem Profil von eher sozialwissenschaftlichen und
informationswissenschaftlichen Disziplinen aufzeigen können. Bei der Abfrage
der Computernutzung bot der Fragebogen verschiedene Optionen, von denen
mehrere angekreuzt werden konnten. Alle Befragten geben an, den Computer für
Textverarbeitung zu nutzen; 50% nutzen ihn auch zum Spielen. Lediglich 4
Personen programmieren am Computer; sie gehören der Fachrichtung Informatik
an.
Die Auswertung der Fragebögen im SS 1997 zeigt an dieser Stelle eine
interessante Tendenz. Von den ca. 50% der Teilnehmenden, die den Computer für
Hobby und Spiel nutzen, sind deutlich mehr Männer (60%) als Frauen. Auffällig
5
Zahlen am Ende von Zitaten bezeichnen die Seite im Interviewprotokoll.
17
ist ebenfalls, daß alle Frauen, für die der Computer eine Bedeutung im
Hobbybereich hat, einen eigenen Computer besitzen. Dieses Ergebnis deutet auf
einen Zusammenhang zwischen Computerbesitz und Nutzungsprofil hin. Es
scheint, daß das Vorhandensein eines eigenen Rechners dazu führt, daß
Informationstechnologie vielseitiger genutzt wird. Die Heterogenität der
Nutzungsarten weist darauf hin, daß von einer umfassenden Integration in
verschiedene Tätigkeitsbereiche des alltäglichen Lebens ausgegangen werden
kann. Dies verdeutlicht auch das folgende Ergebnis:
Im WS 1997/98 geben alle TeilnehmerInnen explizit an, den Computer für ihr
Studium einzusetzen. Dies ist in Verbindung mit der üblich gewordenen
computergestützten Erstellung von Texten für Lehrveranstaltungen zu sehen. Weit
verbreitet (ca. 77% der Befragten) ist ebenso der Einsatz des Rechners im privaten
Bereich. Für die Hälfte der Informatiker ist der Computer auch Instrument im
Rahmen von Erwerbsarbeit, während dies nur für 3 der insgesamt 18
PädagogInnen der Fall ist.
Bezogen auf Zugang und Nutzung von Computern zeigen die beispielhaft
dargestellten Zahlen des Seminars im WS 1997/98 keine eindeutig feststellbare
Benachteiligung aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit. Deutlich wirkt sich
hingegen die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Fachrichtung aus. Während für
die befragten Informatiker Besitz und vielfältige Nutzung des Rechners offenbar
selbstverständlich sind, gehören diejenigen, die z.B. nicht programmieren, mit
hoher Wahrscheinlichkeit dem Fach Pädagogik bzw. Neuere Deutsche
Literatur/Medien an. Als interessant ist festzuhalten, daß die männlichen
Studierenden der Pädagogik seltener einen eigenen PC besitzen als ihre
weiblichen Mitstudierenden. Es ist denkbar, daß weibliche Studierende sich
tendenziell erst dann für den Besuch eines Seminars des Modellprojekts
entschließen, wenn sie über Vorerfahrungen in bezug auf den Gegenstand
verfügen. Für die männlichen Studierenden scheint die mangelnde praktische
Vorerfahrung kein Ausschlußkriterium zu sein.
Daneben findet sich eine andere bemerkenswerte, wenn auch sehr kleine Gruppe
von SeminarteilnehmerInnen, die eine intensive und breitgefächerte Nutzung des
18
Computers vorweisen kann. Besonders deutlich läßt sich dies anhand der Zahlen
aus dem SS 1997, also aus dem ersten Seminar des Modellprojekts, illustrieren.
Nur 3 der Befragten wählten im Fragebogen die Nutzungsart "Programmieren".
Alle 3 sind männlich und besitzen einen eigenen Computer sowie einen
Internetanschluß. Die umfassende Nutzungsweise von Computern bei einigen
wenigen männlichen Seminarbesuchern läßt die Vermutung zu, daß das
Lehrangebot im Bereich Neue Technologien ein Anziehungspunkt für eine kleine
Gruppe sog. "Poweruser" darstellt. Dies deutet daraufhin, daß praktische
Computererfahrungen die theoretische Auseinandersetzung mit dieser Technik
fördern können. Wir werden auf diesen Zusammenhang nach der Analyse der
Internetnutzung zurückkommen.
3.1.3 Zugang zum Internet
Da die neuen Kommunikationsnetze für das Themenspektrum der Seminare von
besonderer Bedeutung sind, wurden sie im Fragebogen gesondert abgefragt. Im SS
1997 geben 56% der TeilnehmerInnen an, einen Zugang zum Internet, das als
größtes und populärstes Kommunikationsnetz gilt und auch unter der Bezeichnung
"Netz der Netze" bekannt ist, zu haben. Obwohl nur ein kleiner Teil der Befragten
(15,4%) über einen eigenen Internetanschluß zu Hause verfügt, ist doch die Zahl
derjenigen, die grundsätzlich einen Zugang besitzen, relativ hoch. Im Seminar
"Virtuelle Welten" im WS 1997/98 ist der Anteil der Studierenden, die einen
Zugang zum Internet aufweisen, mit knapp 85% deutlich höher. Hier wirkt sich
die Präsenz der Informatiker aus. Sie verfügen ohne Ausnahme über einen
entsprechenden Zugang. Von den verbleibenden 4 Studierenden ohne
Internetzugang gehören 3 der Fachrichtung Pädagogik an und 3 sind weiblich. Die
folgende Grafik verdeutlicht die Verteilung der Internet-Zugänge in diesem
Seminar:
19
kein Internet
Geschlecht
weiblich
männlich
Studienfach
Studienfach
Internet
Pädagogik
Anzahl
2
10
NDL-Medien
Anzahl
1
1
Pädagogik
Anzahl
1
5
NDL-Medien
Anzahl
2
Informatik
Anzahl
4
Diese Zahlen bestätigen die oben geäußerte Vermutung, daß aus dem Fach
Pädagogik einige sog. "PoweruserInnen" am Seminar teilgenommen haben, die
über eine gute technische Ausstattung verfügen.
Neben dem Einfluß, den die Präsenz der Informatiker hat, könnte in diesem
Ergebnis ebenfalls eine Entwicklungstendenz gesehen werden. Zum einen wäre es
möglich, daß mit steigender gesellschaftlicher Popularität des Internet, mehr
Studierende von der Möglichkeit eines kostengünstigen Zugangs über die
Universität Gebrauch machen. Zum anderen könnte es sich um einen Effekt der
Lehrveranstaltungen des Modellprojekts handeln, der Studierende, die anfangs in
das Thema "reinschnuppern" wollten, zur weiterreichenden Auseinandersetzung
mit der Technik motiviert. Eine Betrachtung der Zahlen aus dem SS 1998 scheint
diese Tendenz zu stützen: 64% aller SeminarteilnehmerInnen geben im
Fragebogen an, einen Zugang zum Internet zu besitzen. Diese Zahl liegt bereits
höher als die vergleichbare Zahl aus dem SS 1997. Die Auswertung des
Fragebogens aus dem SS 1998 ergibt, daß 53,6% der Befragten nicht auf die
Mitbenutzung bei einer anderen Person angewiesen sind, sondern über eine eigene
E-Mail-Adresse verfügen und damit bei einem Anbieter als eigenständige
NutzerInnen registriert sind. Ob diese Werte auch in den zukünftigen
Lehrveranstaltungen noch weiter ansteigen werden, ist zu überprüfen.
Ein weiteres Ergebnis der Fragebogenauswertung bleibt über die hier
dokumentierten Semester hinweg konstant: Für den Zugang der Studierenden zum
Internet spielen die Rechnerräume der Universität eine herausragende Rolle. Im
SS 1997 geben 15 der 20 Studierenden mit Internetzugang die Universität als
Zugangsort an. Die Tatsache, daß ein hoher Anteil von ihnen weiblich ist, kann als
Hinweis auf die Relevanz dieser universitätsöffentlichen Räume mit ihren hierfür
20
eingerichteten Rechnern für die Förderung von Frauen-Zugängen interpretiert
werden.
3.1.4 Nutzung des Internet
Für die Nutzung des Internet zeigt sich ebenfalls eine sehr eindeutige Tendenz.
Die Zahlen aus dem WS 1997/98 sprechen hierfür exemplarisch:
22 Studierende (95,7%) geben in der standardisierten Abfrage der Tätigkeiten an,
das Internet zur Informationsrecherche zu nutzen. Weniger beliebt sind
Anwendungsgebiete des Internet, die Diskussion und Austausch mit anderen
ermöglichen. Hierbei ist bemerkenswert, daß alle NutzerInnen von OnlineDiskussionsräumen Studierende der Fachrichtung Pädagogik sind; Männer und
Frauen sind in diesen Diskussionsräumen zu gleichen Teilen vertreten.
Hinsichtlich der 5 Befragten, die mit eigenen Seiten im WWW vertreten sind, fällt
auf, daß sich unter ihnen keine weibliche Studierende befindet (3 der 5 studieren
Informatik). Zusammenfassend ergibt sich folgendes Bild: Die Studierenden der
Informatik sind in allen abgefragten Anwendungsgebieten mit Ausnahme des
Bereichs "Diskussion/Austausch" überproportional hoch vertreten. Studierende
des Fachs Neuere Deutsche Literatur/Medien favorisieren die
Informationsrecherche im Internet und sparen die übrigen Gebiete weitgehend aus.
PädagogInnen interessieren sich neben der Informationsrecherche vorwiegend für
die Kontaktpflege sowie Diskussion und Unterhaltung über das Internet. Dagegen
spielt die Veröffentlichung von eigenen WWW-Seiten bei ihnen keine wesentliche
Rolle.
Die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht erzeugt - wie die Zahlen
wiedergeben - hinsichtlich der Funktion des Internet als Rechercheinstrument und
Medium des Austausches keinen Nachteil. Relevant scheint
Geschlechtszugehörigkeit im Unterhaltungsbereich, wo von insgesamt 8
Studierenden nur 2 weibliche im Fragebogen ihr Kreuz gesetzt haben. Augenfällig
ist ebenfalls, daß keine Frau mit eigenen Seiten im WWW präsent ist.
Allgemein ist für das Seminar "Virtuelle Welten und soziales Lernen" im WS
1997/98 festzuhalten, daß ungeachtet der Fach- und Geschlechtszugehörigkeit,
21
eine recht große Gruppe der Studierenden des Seminars Zugänge zum und
Vorerfahrungen mit dem Internet besitzt. Es ist wahrscheinlich, daß für diese
Gruppe technische Ausstattung und Vorbildung Motivationsfaktoren für den
Seminarbesuch sind. Dieses Ergebnis kann exemplarisch für die bisher
abgehaltenen Seminare des Modellprojekts verstanden werden.
Auch die Analyse der Nutzung von Kommunikationstechnologie deutet folglich
darauf hin, daß bei einigen Teilnehmenden von einem relativ hohen Grad an
Vorerfahrungen mit den Neuen Technologien/Medien ausgegangen werden kann.
Zugang und Nutzung dieser Werkzeuge außerhalb des universitären Curriculums
bilden wichtige Voraussetzungen für die theoretische Reflexion im Rahmen der
Seminare des Modellprojekts. Sie sind der Erfahrungshintergrund für die
Entwicklung einer Auseinandersetzung aus sozialwissenschaftlicher Perspektive.
Die im Modellprojekt zu beobachtende Vermittlung zwischen Theorie und Praxis,
die für die Aneignung Neuer Technologien als neuartige Gegenstände der
Alltagswirklichkeit von besonderer Bedeutung ist, möchten wir deshalb gesondert
darstellen.
3.2
Theorie-Praxis-Vermittlung
In den Äußerungen der Befragten dazu, welche Themen sie im Seminar am
stärksten interessiert haben sowie in ihren Anregungen für weitere Seminare ist
der ausdrückliche Wunsch nach einer starken Anbindung an die Praxis besonders
bemerkenswert. Hiermit meinen sie jedoch nicht die Einsatzorte Neuer
Technologien in der Sozialen Arbeit, sondern zunächst die eigene Erfahrung mit
der technischen Welt. Zeigt sich in dem Ruf nach Praxis ein Trend zur
"Theoriefeindlichkeit"? So wünschen sich einige der Studierenden
Lehrveranstaltungen, die ganz oder teilweise in Rechnerräumen der Universität
abgehalten werden. Dies schließt jedoch das Nachdenken über das Erfahrene nicht
aus.
3.2.1 Praktische Erfahrung: "Selber ausprobieren"
Hierzu das Auswertungsergebnis des Fragebogens aus dem SS 1997:
22
Hervorstechendstes Bedürfnis in der Auseinandersetzung mit den Neuen
Technologien ist die praktische Erfahrung mit und an diesen Technologien.
Angeregt werden sowohl die Arbeit in Kleingruppen am PC, der Besuch eines
Internetcafés als auch die Integration eines Praxis-Blockes in das Seminar.
Gemeinsames "Ausprobieren" wird als wichtig eingestuft. Die Befragten äußern
hierbei die Einschätzung, daß ohne ausreichendes Vorwissen eine Diskussion auf
akzeptablem Niveau nicht zu führen sei. Mit der Anregung, mehr praktische
Komponenten zu integrieren, ist ebenfalls die Idee einer Chancengleichheit in der
Seminardiskussion verbunden. Alle sollen wissen, wovon gesprochen wird, um
mitreden zu können.
Im Fragebogen des WS 1997/98 kristallisieren sich auf die offene Frage, ob es
Themen gibt, die die Befragten über das Seminar hinaus weiterverfolgen möchten,
drei Aspekte heraus. Der erste läßt sich mit den Zitaten "selber ausprobieren" und
"effektiv nutzen" überschreiben. Der zweite Aspekt bezieht sich auf das
Nutzungsverhalten anderer Gruppen und ihrer Beteiligung an bestimmten
elektronischen Räumen ("Diskussionsbeteiligung in Newsgroups"). Hierunter fällt
auch das Interesse an einer frauenspezifischen Nutzung. Der dritte und am
stärksten vertretene Aspekt ist die Beschäftigung mit den durch Erfahrungen in
virtuellen Räumen ausgelösten Veränderungen und Problemen im sozialen Leben
Offline. In diesem Zusammenhang wird der "Einfluß von Virtuellen Realitäten auf
Kinder und Jugendliche" sowie auf "Persönlichkeit und Gesellschaft" genannt.
Aber auch Konsequenzen für die Sprache und das Lernen sind Gegenstand des
Interesses. Die Diskussion zu diesem Aspekt bewegt sich im Rahmen einer
gesellschaftspolitischen Chancen-Risiken-Debatte und versucht, sowohl neue
Möglichkeitsräume als auch "Gefahren" auszuloten. Der Blick der Befragten
richtet sich dabei zudem auf die KlientInnen Sozialer Arbeit.
In der Gesamtbetrachtung läßt sich aus unserer Sicht keine Ablehnung von
Theorie konstatieren. Eher scheint es, daß praktische Nutzung und eigene
experimentierende Erfahrung eine Grundlage für eine theoretische Reflexion
bilden. Die Äußerungen könnten als ein Bedürfnis gedeutet werden, zu wissen,
worüber man spricht. Zugleich soll die Integration von praxisorientierten
23
Sequenzen alle auf einen ähnlichen Wissensstand bringen und Unterschiede in den
Voraussetzungen ausgleichen. An dieser Stelle erhebt sich die Frage, ob die
deutlich hörbare Einforderung der Praxis auch andere pädagogische
Themenschwerpunkte betrifft oder ob er mit der Spezifik des Themas Neue
Technologien/Medien zusammenhängt.
Zum einen wäre der laute Ruf nach Praxis als exemplarische Reaktion auf die
allgemeine Forderung nach einem stärkeren Praxisbezug in der
Hochschulausbildung zu deuten. Das Studium soll optimaler auf einen
Berufseinstieg vorbereiten und hierzu gehören eben auch praxisrelevante EDVKenntnisse. Die Theorie wird dabei ausdrücklich verstanden als Metadiskussion,
die auf die Praxis aufbaut. Das legitime Bedürfnis nach der Aufklärung über den
Gegenstand theoretischer Reflexion könnte allerdings im Themengebiet der Neuen
Informations- und Kommunikationstechnologien noch eine besondere Ausprägung
haben. Technikwissen ist in der gesellschaftlichen Symbolik mit den Insignien
von Fach- und Spezialwissen ausgestattet, dem ein hoher Wert beigemessen wird.
Deshalb könnte man annehmen, daß für PädagogInnen eine möglichst genaue
Kenntnis dieses Wissens unabdingbar für die Diskussion und letztlich für ihr
Urteil ist. Der Respekt vor dem technologischen Bereich erscheint aus dieser
Perspektive nicht exemplarisch und zufällig. Technik steht als Symbol für
Fortschritt und damit für eine kapitalisierbare Zusatzqualifikation für die Zukunft.
Darüber hinaus scheint technisches Wissen nicht aus alltäglichen Evidenzen
ableitbar, wie es vielleicht für andere Gegenstände der Pädagogik zunächst
aussieht. Es muß unterrichtet werden, bevor man darüber reden kann. Daher ist
eine praktische Ausbildung in diesem Bereich auch zugleich eine begehrte
Investition in die eigene Hochschulausbildung. Hierin spiegelt sich ebenfalls eine
gesellschaftliche Situation wider, die Technik zu einem elitären und zumeist
männlichen Fach-Know-How stilisiert.
Das Anliegen des Modellprojekts, ein ineinander verschränktes Angebot aus
praxisorientierten und theoretischen Lehrveranstaltungen zur Verfügung zu
stellen, soll konzeptionell weiterentwickelt werden. Da die Studierenden, die an
den Übungen "Einführung in das Internet" teilnehmen, voraussichtlich erst nach
24
einigen Semestern in die theoretisch-reflektierend ausgerichteten Seminare des
Hauptstudiums kommen, entsteht eine Lücke für heutigen
SeminarteilnehmerInnen. Es zeigt sich jedoch anhand der im WS 1997/98
erhobenen Daten, daß die Verbesserung der praktischen Vorkenntnisse auch von
den Studierenden selbst organisiert wird.
Offen bleibt im bisher Gesagten, ob die fundierte technische Vorerfahrung
tatsächlich mit dem Bedürfnis nach Metadiskussion einhergeht oder ob die These,
daß sich die "Computerkids" reflexionslos im Labyrinth der virtuellen Welten
verlieren, eine Bestätigung erfährt. Wir möchten dieser Frage anhand eines
Fallbeispiels nachgehen.
3.2.2 Theoretische Reflexion: "Detaillierter spekulieren"
Die Motivation des Informatikstudenten Julian, das interdisziplinäre Seminar im
WS 1997/98 zu besuchen, läßt erkennen, daß technisch-praktische Kompetenz
theoretisch-soziale Interessen nicht ausschließt.
Über sein Selbstverständnis als Fachmann in Sachen Informationstechnologie
definiert er zunächst ein Segment der von ihm angestrebten Rolle innerhalb der
Seminardiskussionen. Diese hat ihren Hintergrund in einer ungewöhnlich
zusammengesetzten interdisziplinären Seminargruppe, in der neu ausgehandelt
werden muß, welches Fach für welchen Bereich zuständig ist. Die Aufgaben der
Disziplinen im Themenkomplex des Seminars macht Julian im Interview mittels
zuteilender und selbstpositionierender Aussagen deutlich. Er gibt folgenden
Überblick:
"Ja, das is' schon, ja halt wirklich, so ganz nach Klischee, der technische Standpunkt auf der
einen Seite und, eh, der andere Standpunkt, sich mit dem Menschen zu beschäftigen, sich in
andre Menschen hineinzuversetzen. Das eine is' das Denken über den Menschen, der vor der
Maschine sitzt, und der andere ist der Mensch, der vor der Maschine sitzt und über den
Computer denkt" (13).
Julian benennt die Technik und den Menschen als zwei polar aufeinander
bezogene Einheiten. Er arrangiert diese in einer räumlichen Konfiguration: Der
Mensch sitzt vor dem Computer. Die Konfiguration impliziert zwei einander
25
entgegengesetzte Objekte, bei der die pädagogische Perspektive einen
Außenstandpunkt innehat. Die Perspektive der Informatik indessen ist in der
Szene selbst lokalisiert. Der über den Computer nachdenkende Mensch ist Subjekt
und Objekt zugleich. Er befindet sich in der Szene, die die Pädagogik betrachtet.
Interessant ist auch, daß in dieser Konfiguration beide Objekte als eigenständige
Entitäten dargestellt werden. Die aktive Kraft geht dabei nicht von beiden,
sondern allein vom Menschen aus, dem beobachtenden bzw. dem
programmierenden Menschen.
Verwischungen dieser sauberen Trennung entstehen nach Aussage des befragten
Informatikstudenten durch den Beitrag der Informatik im Seminar. "Sicherlich
Anregungen. Anregungen finde ich relativ wichtig, weil bei den Pädagogen
scheinbar der Computer noch keine zu große Rolle spielt. Die Anregung, einfach
mal sich mit dem Thema zu beschäftigen, sich das Internet mal anzusehen" (11).
Der Computer bzw. das Internet können durch das interdisziplinäre Seminar in das
Blickfeld der Pädagogik rücken, die damit aus der distanzierten beobachtenden
Perspektive in das Geschehen selbst hineingezogen wird. Er spitzt diesen
Gedanken zu in der Bemerkung: "Das [Internet] hat für alle was zu bieten" (11).
Aber auch der Informatik schreibt er die Rolle zu, anderen die
Computertechnologie näherzubringen, wodurch sich einmal mehr die zunächst
aufgemachte Polarität verwischt.
Bezogen auf das Seminargeschehen nimmt Julian darüber hinaus die
PädagogikstudentInnen als diejenigen wahr, die Diskussionen initiieren und
Auseinandersetzung anstoßen. "Grade in den Kleingruppen haben sich die
Pädagogen sehr oft unterhalten und, ehm, untereinander und haben das Gespräch
begonnen" (10). Julian schreitet ein, wenn sein Fachgebiet berührt wird. Er
informiert und erklärt. Dies hat einen Hintergrund in seiner eigenen
Seminarerfahrung: "Meistens isses ja auch dann sehr sachlich begründet. Da gibt
es dann nichts zu kommentieren zu bei uns im Seminar" (10). Allerdings füllt er
diese Rolle in der interdisziplinären Gruppe nicht ganz freiwillig aus. Sie ist mit
der Ambivalenz verbunden, denn die Dominanz der pädagogischen
Meinungsbildung war für ihn Grund, weniger offensiv aufzutreten. "Wenn, wenn
26
mehr Informatiker dagewesen wären, wär’ ich vielleicht auch mutiger gewesen
und hätte öfters, öfters irgendwas gesagt. Aber grade wenn sich die Pädagogen
miteinander unterhalten, isses schwer dann, ehm, 'ne andre Meinung zu vertreten"
(12).
Darüber hinaus achtet er darauf, daß technische Fakten in korrekter Form in die
Auseinandersetzung einfließen. In diesem Sinne sieht er sich sowohl als Lieferant
der erforderlichen technischen Grundinformationen als auch als derjenige, der im
Bedarfsfall korrigierend wirkt: "Also ich hab' dann eingegriffen, wenn ich der
Ansicht war, daß das technisch jetzt unsinnig wird" (10). Daß er sich mit dieser
Rolle allein nicht zufrieden geben kann, resultiert aus seinem anfänglichen
Anliegen hinsichtlich des Seminarinhalts. Auf der Basis seines technischen Knowhows beunruhigt ihn besonders die "Welt der Zukunft" und das
Veränderungspotential, welches die Technologie hierfür bereithält: "Es is' halt, eh,
schon verbunden mit 'ner gesellschaftlichen Umwandlung der Zukunft durch den
Computer, das Internet wird halt schon maßgeblich in das Leben einschneiden und
zwar für jedermann" (2). Deshalb hält er eine Auseinandersetzung mit diesem
Bereich wichtig. "Da ich ja selber das alleine nich' überblicke, 'en Ausmaß und
Wirkung des Internets auf mich und meine Umgebung, ehm, hab' ich höchstens
die Chance in der Diskussion mit anderen der Sache 'en bißchen
näherzukommen." (19) Er möchte "detaillierter spekulieren", um die Frage zu
klären, "wie sieht denn so ‘ne Zukunftsgesellschaft aus? Und, ehm, diese Risiken,
Gefahren. [...] Weil die Technik ist keine Spekulation mehr, aber die Folgen, das
is' noch Spekulation" (3 f.). Aus seiner Erfahrung und Kenntnis der
technologischen Möglichkeiten heraus erwächst das Bedürfnis nach Prognosen
über ihre Gestaltungskraft und ihr Potential, den Alltag von Menschen zu prägen.
Aus der Präsentation von elektronischer Kommunikation durch eine
Arbeitsgruppe bezieht er wichtige Anregungen darüber, welche Wirkungen
computervermittelte Interaktion zeigen kann. Das im Seminarraum inszenierte
Rollenspiel führt die Prinzipien der Kommunikation im Internet in einer Art und
Weise vor, die zum Nachdenken auffordert. Durch die spielerische Verfremdung
werden Julian Probleme deutlich, die er auf seine eigenen Online-Erfahrungen
27
zurückbeziehen kann. Er kann durch die distanzierte Betrachtung der Vorführung
im Seminar, eigene Erfahrungen mit elektronischen Medien überdenken, neu
einordnen und verstehen. Eine Sensibilisierung für die Probleme und
Erfordernisse elektronischer Kommunikation findet dadurch statt, daß die
unhinterfragte Erfahrung durch die Verfremdung im Seminar gebrochen und
dadurch reflektiert werden kann. Die Inszenierung macht die Besonderheiten des
Inszenierten deutlich:
"Man konnte dort ungeheuer gut dieses Phänomen Newsgroup sehen. [...] Und auch die
Probleme, auf die man da trifft. Darüber war ich mir vorher gar nich' so im klaren. Und hab'
so dann, ja, wenn ich jetzt 'ne Newsgroup durchsehe, muß daran immer denken. Und verstehe
dann eigentlich auch die ganzen Mißverständnisse und Probleme, die da auftreten" (6).
Die informationstechnische Vorbildung und die Erfahrungen im Seminar scheinen
seinen Blick für die Notwendigkeit zur kritischen Reflexion geschärft zu haben.
Diese will er nicht den Gesellschaftswissenschaften überlassen. Gerade die
Interdisziplinarität der Lehrveranstaltung hat ihn angesprochen. Allerdings
wünscht auch er sich, schon um seiner reduzierten Rolle als Lieferant und
Repräsentant technischer Grundlagen zu entschlüpfen, daß "’ne ungefähre
Vorstellung, was nun möglich is’ und was nich’" (23) bei den PädagogInnen
vorhanden ist. Die Erläuterung informationstechnischer Details betrachtet er für
den Seminarzusammenhang als nicht fruchtbar und verzögernd.
3.3
Erleben und Einschätzen von Technikkompetenz
Wie erleben PädagogInnen ihre eigene Techniksozialisation? Welche
Einschätzung von Technikkompetenz nehmen sie vor und in welcher Weise soll
diese in das Seminargeschehen einfließen?
Die Studentin Anja kann als Fallbeispiel herangezogen werden. Anhand ihrer
Äußerungen läßt sich sowohl die Entwicklung einer technik-distanzierten
Perspektive als auch ihr Rollenverständnis im Seminar veranschaulichen.
Anja unterstreicht an auffallend vielen verschiedenen Stellen des Interviews die
Begrenztheit ihres eigenen technischen Könnens mit Formulierungen wie: "weil
ich auf dem Gebiet überhaupt nicht soviel Ahnung habe, also ich kenn’ mich jetzt
28
gerade mit Word aus und kann meine Hausarbeiten selbständig schreiben. Aber
das war’s dann auch grade" (1). Für die Zeit, in der sie noch keinen Computer
hatte, erklärt sie flapsig, daß sie "damals eben noch ganz blöd" (2) gewesen sei.
Daß sie bereits in der Schule mit dem Computer konfrontiert wurde, erwähnt sie
beiläufig, fast zufällig, als sei diesem Faktum kaum Bedeutung beizumessen. Sie
lehnt das Angebot des Vaters ab, der ihr einen Computer kaufen will. Anja schafft
sich erst einige Jahre später ihren ersten eigenen Rechner an und zwar zu einem
Zeitpunkt, als sie die damit verbundenen praktischen Vorteile nicht mehr von der
Hand weisen kann. Doch auch ihre Erinnerungen an die erste Gewöhnungsphase
an den Computer sind geprägt von abgrenzenden Äußerungen. Sie mischen sich
unter Erklärungen, die ganz unspektakulär auch ihre Souveränität im Umgang mit
der Technik verdeutlichen: sie habe sich "eigentlich dann ganz gut mit
zurechtgefunden. Aber ich hab’ nich’ weiter experimentiert. Also ich kenn’ mein
Windows, mein Word, und das war's dann" (2). In die Erläuterungen zu dieser
Situation fließen Gründe ein, die ihre Distanz produziert haben. Sie sei "dafür
überhaupt nie so offen" (2) gewesen und: "Das war mir irgendwo zu abstrakt" (2).
Einige Zeit übernimmt ihr Freund für sie die im Rahmen ihres Studiums
anfallenden Schreibarbeiten am Computer. Er ist auch derjenige, der ihren ersten
eigenen PC einrichtet und sich kontinuierlich darum kümmert, daß alles
funktioniert. Dennoch scheint in Anjas Erzählung auch einmal eine Situation auf,
in der der Freund nicht in der Nähe ist, um die technischen Probleme zu beheben.
Das Problem mit dem Drucker hat sie schließlich, weit davon entfernt, untätig auf
einen Helfer zu warten, auch allein schon "ganz gut hingekriegt" (2). Trotzdem
stellt sie folgende Überlegung in den Raum: "Vielleicht hab ich das Interesse
einfach nich’ dafür, da richtig hinterzusteigen" (2). Diese Selbstbegrenzung läßt
sich über eine lange Sozialisationsgeschichte verfolgen, in der die
Auseinandersetzungssitutationen mit und die Angebote an Technologie allerdings
unerwartet zahlreich sind. Deutlich wird, daß Anja sich und ihre
Interessensgebiete entschieden außerhalb technischer Wissensgebiete lokalisiert
und sich allenfalls aufgrund pragmatischer Notwendigkeiten im Zusammenhang
mit dem eigenen Berufsweg emotionslos dem Computer als Werkzeug annähert.
29
Sie benutzt ihn ohne Begeisterung, aber auch ohne Angst. Sie behält sich vor, wo
sie die eigenen Grenzen ziehen will. Sie wird nicht im geringsten dazu verleitet,
eigene Ambitionen in bezug auf Technik zu entwickeln.
Die Aufgabenteilung zwischen den TechnikerInnen und reinen AnwenderInnen
klang bereits in Anjas Geschichte ihrer Computersozialisation an. Doch obwohl
sie sich bereits über zwei Semester in ihrem Pädagogikstudium im Rahmen der
Lehrveranstaltungen des Modellprojekts mit Technik befaßt, sieht sie ihre
Aufgabe eindeutig nicht darin, auf dem Gebiet der technischen Kompetenz zu
konkurrieren. Vielmehr sieht sie ihren Beitrag zur Thematik in der Entwicklung
technikkritischer Positionen . "Und da bin ich eben auf die Idee gekommen, daß es
problematisch sein kann" (4). Hierdurch gelingt zugleich die Überbrückung von
divergierenden Interessenslagen im privaten Bereich, da die
Informationstechnologie die berufliche Domäne des Freundes darstellt: Es "war
total die Diskrepanz zwischen seinen und meinen Interessen und da kam das
Seminar, und das hat beides so'n bißchen verknüpft" (1). Durch dieses gelingt es
ihr, ein Stück privater Realität mit den eigenen beruflichen Vorstellungen zu
verbinden. Neue Technologien/Medien erfahren als Herausforderung für die
Soziale Arbeit eine konsequente Einbindung in ihr Studienprogramm: "Es ist ja
auch ein pädagogisches Thema geworden, diese Medien und so, die Gefahren, die
da drin stecken können" (3). Wie spiegelt sich Anjas Anliegen in ihren
Äußerungen über das Seminargeschehen wider?
Zu dem Zeitpunkt, an dem Technik als pädagogisches Thema in ihr Leben Einzug
hält, nimmt Anja eine ambivalente Rolle zwischen kritischer Distanz und
Begeisterung ein. Dies veranschaulicht eine Seminarsituation, die sie belustigt wie
folgt beschreibt: "Der [ein Informatikstudent, d.V.] hat sich so eine Mühe
gegeben, uns Dummerchen dann (lacht) aufzuklären, und, ähm, ich weiß nich’,
irgendwie hat es mich auch begeistert, diese Technik, was da möglich ist. Ich hab
mich dann zwar auch gefragt, ja, wozu brauche ich das?“ (4). Ein Student aus der
Informatik vermittelt im Seminar den Mitgliedern einer Kleingruppe eine
Vorstellung davon, was mit dem Begriff "Cybercity" (der virtualisierten
Darstellung und Begehung von Städten) gemeint ist. Die PädagogInnen sehen ihre
30
Rolle darin, das Dargestellte kritisch zu hinterfragen.
"Wie er dann erklärt hat, ja, zum Beispiel in der Architektur kann man das gebrauchen, daß
man mit dem Computer eben, ähm, en Gebäude aufstellen kann, entwickeln kann, und kann
da Statik mit berechnen, so, das ist ja wirklich einfacher als diese großen Zeichnungen und
ähm die ganzen Miniaturbauten. Es ist ja wirklich ‘ne feine Sache. Ja, dann ja, braucht man’s
wirklich?" (4 f.).
Während sich die Rolle als "Dummerchen" durch die Begeisterung, die sie
ergreift, nicht mehr bruchlos durchhalten läßt, endet jede ihrer Denkbewegungen
dennoch wieder mit der kritischen Frage nach der Notwendigkeit technischer
Produkte. Interessant ist an dieser Stelle darüber hinaus, daß beide,
InformatikerInnen und PädagogInnen dem Paradigma der Zweckmäßigkeit und
des Gebrauchswerts von Technologie verhaftet bleiben. Die Sinnhaftigkeit einer
technischen Entwicklung wird über ihren Nutzen für eine Gesellschaft legitimiert.
Der Informatikstudent scheint in dieser Konstellation - jenseits aller eigenen
Ambitionen - tendenziell in die Rolle des Repräsentanten der Neuen Technologien
und damit argumentativ in eine Pro-Position zur kritischen pädagogischen
Perspektive zu geraten. Es mag naheliegend sein, daß er dabei zunächst die
nutzbringenden Aspekte einer Sache, für die er sich im gegebenen Kontext als
Fachmann begreift, deutlich machen möchte. Anja stellt die Unverzichtbarkeit der
Technik für architektonische Planung in Frage. Der Einsatz von Computern
kommt für sie bisher nur dann in Betracht, wenn daraus ein wirklich
unersetzlicher praktischer Vorteil entsteht. Die lustvolle Dimension der
Begeisterung am Machbaren und vielleicht auch Ästhetischen flackert allenfalls
vorübergehend auf und ist für eine gesamtgesellschaftliche Betrachtung des
Gegenstandes nicht zu berücksichtigen.
Zusammenfassend kann gesagt werden, daß durch das Lehrangebot des
Modellprojekts ein Themenkomplex auf neue Art und Weise für PädagogInnen
zugänglich gemacht wird. Die Verknüpfung von Technik und Sozialem zeigt eine
aktuelle gesellschaftliche Brisanz auf, die zur sozialwissenschaftlichen
Auseinandersetzung motiviert. Obwohl Anja Computertechnik lange Zeit als
einen ihr fernen Gegenstand erlebt, zu dem sie weder einen Bezug entwickelt noch
Kompetenzen entfaltet, kann sie sich dem Thema im Seminar in neuer Form
31
annähern. Trotzdem stellt sich damit bei ihr keine Begeisterung für technische
Sachverhalte an sich oder ein Anspruch auf Fachwissen ein. Sie handelt
vorwiegend aus dem Selbstverständnis der Kritikerin heraus. Entsprechend ihrer
Haltung gegenüber dem Computer, die sie in der Vergangenheit erworben hat,
weist sie auf die Grenzen technischer Produkte hin. Der Nutzen technischer
Produkte muß sich an deren Gebrauchswert messen lassen. Nach der Höhe des
Gebrauchswerts richtet sich der Umfang zu erlernender technischer Kompetenzen.
In dieser Haltung erscheint eine gewisse Weigerung, sich mit einer Sache schon
deswegen zu beschäftigen, weil sie existiert. Die Frage "wozu" kann als
Kurzformel für diese Praxis verstanden werden.
4.
Interessenstendenzen: Hochschuldidaktische Dimension
Im folgenden möchten wir erste Tendenzaussagen darüber, auf welches Interesse
die Lehrveranstaltungen des Modellprojekts bei den Studierenden stößt, bezogen
auf den hier dokumentierten Projektabschnitt darstellen. Es wird darum gehen,
beispielhaft zu zeigen, was die Zielgruppe der Seminare inhaltlich beschäftigt,
welche Fragen sich stellen und wie die eingesetzten didaktischen Methoden
aufgenommen werden.
4.1
Themen
Für die Skizzierung der thematischen Interessensschwerpunkte von Studierenden,
die an den Seminaren des Modellprojekts teilnehmen, ist an erster Stelle eine
bemerkenswerte Beziehung zwischen dem Seminarthema und der
Zusammensetzung der TeilnehmerInnen festzustellen. Dies tritt besonders stark
im Seminar "Virtuelle Welten" hervor, das im WS 1997/98 in Kooperation mit
einem Hochschullehrer aus der Informatik durchgeführt wurde. Beide
TeilnehmerInnen des Seminars, Anja und Julian, bringen das in den Interviews in
aller Deutlichkeit zur Sprache. Wie zwei rote Fäden ziehen sich die beiden o.g.
Aspekte durch die Gespräche. Letztlich hat beides, die Interdisziplinarität der
Veranstaltung sowie der im Seminar behandelte Themenkomplex, zur Teilnahme
motiviert. Der interdisziplinäre Charakter entwickelt sich dabei ausdrücklich zum
32
eigenständigen Aspekt der Lernerfahrung, mit dem sich beide in hohem Maße im
Verlauf des WS auseinandersetzen (vgl. Kapitel 5.3). Die beiden Aspekte
befinden sich bei Julian überdies in einem Spannungsverhältnis: "Ich glaube, es
geht gar nicht so sehr um das Thema. Sondern das war schon mehr, daß es
zusammen mit den Pädagogen gemacht wurde, grade die Zusammenarbeit, das
fand ich, fand ich spannend" (1). Die Fremddisziplin erscheint in dieser sicherlich recht seltenen - interdisziplinären Konstellation als Studiengegenstand.
Eine solche Veranstaltung gibt Gelegenheit, die Grenzen der eigenen Disziplin zu
übertreten, "daß man nicht nur, ehm, in seinem eigenen Fach bleibt" (1). Der
Gewinn dieser Grenzüberschreitung liegt für Julian vor allem in der neuen Art der
Betrachtung der Neuen Technologien, die in der Informatik üblicherweise keinen
Platz hat: "Weil, weil man sich, viele Informatiker sich im Vorfeld nie Gedanken
gemacht haben. Das is' en völlig neues Thema. [...] Vermutlich geht aber der
durchschnittliche Informatiker anschließend [nach dem Seminar, d.V.] in PC-Saal,
weil er noch was programmieren muß, und vergißt darüber vollkommen, darüber
jetzt nochmal nachzudenken. Es is' keine Sache, also, die, die wir halt lernen"
(18). Allein dieses strukturelle Moment faßt Julian als spannendes "Experiment"
auf (1). Dabei wird es für ihn wesentlich, diesen theoretischen Anspruch mit
persönlicher Erfahrung aufzufüllen. Auch Anja nennt in der Rückschau auf das
besuchte Seminar diesen Aspekt an erster Stelle: "Das bestand einfach so, einfach
so das Kennenlernen von diesem Interdisziplinären. Also, das ist doch, ähm, im
letzten Semester so'n Schlüsselbegriff geworden" (20). Julian äußert sich in
ähnlicher Weise: "Gebracht hat es mir letztendlich, Pädagogen kennenzulernen,
pädagogische Denkweise kennenzulernen" (21). Die Formulierung
"kennenlernen", die beide in ihrem Resümee verwenden, deutet auf die
Konfrontation mit etwas Neuem hin. Sie enthält auch die Konnotation einer ersten
kurzen Begegnung mit einer Sache, die nicht selbstverständlicher Bestandteil des
universitären Alltags ist. Julian konkretisiert dies folgendermaßen: "Ich glaube,
daß man sich 'en bißchen beschnuppert hat" (13).
Mit welchen konkreten thematischen Interessenslagen Studierende ein Seminar
des Modellprojekts besucht haben, soll aus folgenden Beispielen deutlich werden.
33
Sie zeigen, welche Modelle sich die einzelnen heranziehen bzw. konstruieren, um
konkrete aktuelle Veränderungen in der sozialen Welt reflektierbar zu machen.
4.1.1 Die Welt im Zerrspiegel von Science Fiction Literatur
Julian wurde von dem Thema "Virtuelle Welten" besonders deshalb
angesprochen, weil er Verbindungen zu seinen privaten Interessen sah: "Ich bin
halt auch Science Fiction Fan, und da spielt es halt auch 'ne große Rolle, virtuelle
Welten." (1) In dieser Literatur, vor allem bei William Gibson, der mit seinem
Roman "Newromancer" den heute populären Begriff "Cyberspace" prägte, findet
er Anregungen und "ein sehr klares Zukunftsbild" (19) gezeichnet. Die neue Welt
erscheint plastisch vor seinem geistigen Auge:
"Es gibt da erschreckende Teile und es gibt interessante Teile. Und vieles deutet sich an, daß
des, daß er [William Gibson, d.V.] da 'en sehr guten Riecher für hatte. Daß es also, vieles so
kommen wird, wie er sich das vorgestellt hat. Also es gibt 'en, meiner Ansicht nach viele,
viele Ansätze, wo das schon ganz klar darauf hingeht" (20).
Dieser Text stellt auch deshalb für ihn einen Gewinn dar, da aus seiner Sicht mit
dem Thema "Virtuelle Welten" Neuland betreten wird. Die Visionen von Gibson
lassen sich in der gegenwärtigen Welt wiederfinden. Auf der Grundlage dieser
konkreten Bilder und sozialen Arrangements sieht er sich in der Lage,
problemorientiert zu diskutieren. Was ist der Gewinn, den ein fiktionaler Text
bietet? Bei seiner Lektüre tritt man gleichsam aus dem eigenen Alltag mit all
seinen Selbstverständlichkeiten heraus. Im Science Fiction Roman schlüpft man
explizit in eine künstliche Welt der Übertreibungen und Übersteigerungen hinein.
Die Erzählung spielt in einer fremden Umgebung mit fremden Konventionen, die
durch eine radikale technische Weiterentwicklung geprägt ist. Als
Zukunftsszenarien bleiben sie jedoch immer mit der Gegenwart des Autors oder
der Autorin verbunden und entfalten vor allem im Hinblick auf diese Gegenwart
ihre Bedeutung. Sie halten dem Jetzt einen Spiegel vor, in dem eine Welt zu sehen
ist, die eine logische Konsequenz des kulturell-technischen Schaffens der
Gegenwart darstellt. Daher kann die fiktionale Inszenierung das Normale,
Alltägliche und damit die sich in der heutigen Realität bereits andeutende
zukünftige Welt, deren schleichende Veränderung uns nicht mehr auffällt,
34
veranschaulichen bzw. bewußt machen. Die technizistische Zukunftsvision wird
damit zur Provokation, über die eigene Gegenwart und den Einfluß der Neuen
Technologien auf diese Gegenwart kritisch nachzudenken und
Entwicklungsmöglichkeiten zu diskutieren. Ein neues Bild der eigenen
Alltagswirklichkeit könnte entstehen, für das die Science Fiction als Katalysator
wirkt.
4.1.2 Die Welt unter der Lupe dreidimensionaler Kartierung
Im Anschluß an das Seminar "Modernisierung, Neue Medien, soziale
Ungleichheit" im SS 1998 ergab sich im Rahmen einer Gruppendiskussion, die
von uns mit vier TeilnehmerInnen geführt wurde, ein Gespräch über elektronische
Netze und die Machtverteilung in der modernisierten Welt. Die
Pädagogikstudentin Mascha bringt das Modell einer Weltkarte ins Gespräch,
anhand derer die gesellschaftlichen Veränderungen sichtbar gemacht werden
können:
"Was ich ganz, ganz spannend fand, war diese Idee von 'Global Cities', also daß das wirklich
neben dem, was ich so sehe, also was ich so an Weltkarte kenne, gibt es schon 'ne andere
Weltkarte und die is' zwar nich' aufgezeichnet, aber die is' real. [...] Und erst mal hat mich
einfach erschreckt, also erschreckt, weil's mir fremd is' und weil ich's nich' kenne" (26).
Die Landkarte ist eine Visualisierung der Welt, die sich auf die Darstellung
nationalstaatlicher Grenzen konzentriert. Dieser kartierte Anblick der Welt, den
sich alle mit dem Geographieunterricht in der Schule aneignen, scheint nun nicht
mehr die Realität wiederzugeben. Die Weltordnung hat sich im Zuge globaler
Informations- und Kommunikationsstrukturen verändert. Es existiert eine
unsichtbare neue Weltkarte, die fremd ist und die einverleibte Ordnung des
klassischen Globus bedroht. Die neue Welt muß anders visualisiert werden als die
bisherige. Mascha führt dies weiter aus: "Ja, daß auch einfach wieder die
Weltkarte sich anders strukturiert in dem Sinne, was, was ragt heraus und was,
ehm, was ragt nich' heraus. [...] Und ich denke, da macht sich durch das Internet,
ehm, gibt's nochmal ne' andere Struktur" (27). Die Neuen Technologien stellen
letztlich kleine Erhebungen auf der Karte dar, die das Aussehen der Welt
verändern. Sie wird mit einem Netz aus Knotenpunkten überzogen. Mascha stellt
35
sich das folgendermaßen vor: "Ja, ich denk', es wär' eher so wie, wie so'n
Pickelgesicht, daß Du überall so einzelne Punkte hast" (27). Die zweidimensionale
Karte wird um eine dritte Dimension erweitert. Die Fläche eines Nationalstaats
verliert damit an Relevanz. Sie tritt in den Hintergrund der Wahrnehmung. Ihre
Gedanken werden von dem Studenten der Medienwissenschaften Urs
weitergeführt: "Aber wenn man nur diese Punkte aufzeichnen würde, würden die
Grenzen, die politischen Grenzen arg verschwinden" (27). Eine solche Karte
würde die Stärkung von den an verschiedenen Orten der Welt agierenden
Unternehmen aufzeigen. Für Mascha wäre die neue Karte "ehrlicher", da sie die
maßgeblichen Machtzentren aufzeigt. Der Unterschied zur "alten" Welt wird
durch die Existenz eines weltweiten Computernetzes sichtbarer. Mascha betont
diesen qualitativen Sprung:
"Also, wenn ich mir große Unternehmen anschaue, die sind ins Ausland gegangen [...] oder
ja, also, ham sich einfach an mehrere Punkte auf die Welt verteilt, also, für die gab's diese
Grenzen schon zum bestimmten Punkt nich' mehr, ja, und das wird, denke ich, durch das Netz
nur deutlicher" (29).
Folglich "geht's nich' mehr um 'en Land, das als Nation stark is', sondern da geht's
um 'ne Stadt, die als Stadt stark is'" (28). Das Resultat erklärt sich aus der
Bedeutung der Neuen Technologien für die globalisierte Weltordnung. Nimmt
man die Verteilung der Netzknotenpunkte über die Welt - ähnlich wie z.B.
ehemals Bodenschatzkarten - in eine neue Weltkarte auf, so kann man damit eine
neue und reale Dimension der Machtverteilung in der Welt der Diskussion
zugänglich machen. Mascha baut diesen Gedanken bildhaft aus, indem sie einen
Vergleich aus der Medizin heranzieht.
"Also das, ich denke, ehm, das eben das Netz hat für mich auch was damit zu tun, also mit
Kapital zu tun, und daß dadurch unglaublich sichtbar wird, also wie wenn man in 'en Körper
irgend'ne Flüssigkeit reinspritzt, dann sieht man, wo irgendwelche Thrombosen sind" (32).
Technologie funktioniert auf einer solchen Karte wie ein Kontrastmittel in der
Medizin. Sie zeigt auf, wo sich die Macht auf dem Globus akkumuliert. Die neue
Ordnung bringt es mit sich, daß die Aufteilung der Welt in eine erste, zweite und
dritte nicht mehr so einfach zu bewerkstelligen ist. Der Politikstudent Dirk weist
auf diese Verkomplizierung hin, "daß es jetzt Dritte Welt in der Ersten Welt gibt,
36
und Erste Welt in der Dritten, daß also durch Neue Medien etc., ähm, ja, sich das
Ganze vermischt stärker. [...] Es is' dadurch jetzt nicht mehr so leicht zu sagen:
'Das is' Erste Welt, das is' Dritte Welt'" (30). Diese strukturellen Veränderungen
veranlassen Urs dazu, das Verständnis der Punkte auf der Karte zu
problematisieren:
"Diese Karte würde z.B. auch dadurch verfälscht, jetzt z.B. so 'en armes, wirklich armes Land
wie Französisch Guayana hätte auf der Karte 'en knallroten Punkt, weil 'en, 'en riesiger
Backbone da liegt, wegen dem, äh, Raumfahrtzentrum in Courou und für die ganzen
Forschungsmitarbeiter, die da wohnen, die hab'n ja auch noch wahrscheinlich, äh, jeder 'en
Internetanschluß, verlangt einfach die, die, äh, Forschung da [...] aber die Einwohner,
Ureinwohner, Einheimischen, äh, werden da kaum Zugriff drauf haben, aber auf der Karte
würde es dann so aussehen, als wäre das, äh, gut abgedeckt" (30).
Erfolgt die Interpretation der Punkte nach dem alten Schema, so wäre eine
Bedeutung dieser Technologiekonzentration für den gesamten Staat gegeben. In
der globalisierten Ordnung sind sie vielmehr Orte der Ersten Welt in Flächen der
Dritten. Urs bemängelt deshalb: "Aber man sieht net, wer den Zugriff hat auf das
Neue Medium" (30). Die dreidimensionale Kartierung gibt für ihn nicht den
Effekt wieder, daß ganze Regionen an Bedeutung verlieren, die vormals im
Rahmen des Nationalstaats in ein flächenhaft größer gefaßtes Machtgebiet
eingebettet waren. Seine KommilitonInnen halten ihm entgegen, daß eine solche
Karte die Verteilung von Ressourcen auf der Welt nur dann realistisch wiedergibt,
wenn sie nicht im Denkmuster des Nationalstaats interpretiert wird. Dirk macht
auf die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer und anderer sozialer
Ungleichheiten aufmerksam: "Deswegen is' die Frauendiskussion wichtig, da
müßt' mer da nämlich z.B. gucken, wieviel Frauen, wieviel Männer hab'n Zugang,
oder wieviel, ähm, Einwohner dort oder wieviel, wieviel Leute, Gastarbeiter in
Mexiko, ja" (31). Die Provokation, die von der neuen Visualisierung der Welt
ausgeht, erzeugt in der Diskussion schließlich ein detaillierteres Interesse für die
Frage, welche sozialen Gruppen an der Neuverteilung der Macht partizipieren
können. Der Blick durch die Lupe auf die "Pickel" des Globus kann ein feines
Gewebe entdecken, dessen komplizierte und sicher teilweise widersprüchlichen
Verflechtungen von Macht, Einfluß, Ohnmacht und Chance entlang
gesellschaftlicher Differenzlinien diskutierbar werden. Die Neuen Technologien
37
haben in dieser Diskussion die Funktion, über Konzentration von technisch
gestützten Vernetzungen auf dem Globus, die sozialen und ökonomischen
Verhältnisse zu visualisieren.
4.2
Didaktische Methoden
In allen Seminaren des Modellprojekts wurde mit heterogenen didaktischen
Methoden gearbeitet. Daß diese praktisch angewandt und für den Unterricht auch
an der Universität fruchtbar gemacht werden, findet bei der Pädagogikstudentin
Anja sehr positive Resonanz und motiviert sie, weitere Seminare zu besuchen:
"Also, war mal wieder was ganz anderes hier an der Uni, so wie sie [die
Seminarleiterin, d.V.] mit Gruppenarbeit gearbeitet hat, mit Flipchart. [...] so
eingebettet in so'n pädagogisches Thema. Also, das hab' ich so noch nich' erlebt,
hier" (1). Die methodisch-didaktische Aufbereitung der Thematik verbessert ihrer
Meinung nach aber nicht nur den Lernerfolg, sondern hat auch eine emotionale
Komponente: "Dann hat mir das Seminar einfach soviel Spaß gemacht" (1). Um
der Frage nachzugehen, welche Methoden in den Seminaren nun wie bewertet
werden, wurden beide genannten Effekte, Spaß und Lernerfolg, quantitativ
abgefragt. Das Ergebnis aus dem SS 1997 soll hier exemplarisch betrachtet
werden.
38
Im Fragebogen wurden die TeilnehmerInnen aufgefordert, die einzelnen
Methoden mit Rängen zu beurteilen. Rang 1 ist die positivste Beurteilung, Rang 8
die negativste. Bei der vergleichenden Betrachtung der Rangverteilung nach der
Auswertung auf Ordinalskalenniveau je Methode ergibt sich folgendes Bild:
Spaß
8,5
7,5
6,5
5,5
4,5
Q1
3,5
Median
2,5
Q3
1,5
39
Vortrag
AG-Teilnahme
Rollenspiel
Fishbowl
AG-Referat
Kleingruppe
Zweiergruppe
-0,5
Plenum
0,5
Lernerfolg
8,5
7,5
6,5
5,5
Q1
4,5
Median
3,5
Q3
2,5
1,5
Vortrag
AG-Teilnahme
Rollenspiel
Fishbowl
AG-Referat
Kleingruppe
Zweiergruppe
n
-0,5
Plenum
0,5
Die besten Beurteilungen fanden die Arbeit im Plenum und die
Kleingruppenarbeit. Sie weisen im Schnitt den höchsten Rang auf bei geringer
Streuung der Bewertungen in den positiven oder negativen Bereich. Eindeutiger
fallen die Antworten für die Kleingruppenarbeit mit der Note 2,3 (Median) in
beiden Beurteilungsgängen aus.
Es folgen die Methoden Arbeit in Zweiergruppen, Teilnahme an einer
Arbeitsgruppe und Gastvortrag6, die alle im Schnitt mit Rang 3,5 bedacht wurden.
Weniger gut bewertet wurden die Referate der Arbeitsgruppen mit einem Schnitt
von ca. 4,1.
Die ambivalenteste Beurteilung erfuhren das Rollenspiel und der Fishbowl7. Mit
Rängen zwischen 5 und 6 im Schnitt gefielen die Methoden weniger gut, während
6
7
In das Seminarprogramm wurde ein Gastvortrag integriert, der von den TeilnehmerInnen
gehört wurde, jedoch auch für die Öffentlichkeit zugänglich war.
Ein Fishbowl ist eine Podiumsdiskussion mit dynamisch im Verlauf der Debatte wechselnder
Besetzung. Je nach inhaltlicher Entwicklung in der Gesprächsrunde können einzelne aus dem
Publikum auf das Podium steigen und mitdiskutieren bzw. sich wieder ins Publikum
zurückziehen.
40
sich die Bewertung des Lernerfolgs für Fishbowl mit Rang 4,5 zum Positiven
verschiebt. Die große Streuung zeigt, daß die Antworten sehr stark differieren: Die
sehr positiven und die sehr negativen Beurteilungen durch die Befragten sind
interpretationsbedürftig. Sie könnten darauf hinweisen, daß solche, im
universitären Alltag eher ungewöhnlichen didaktischen Methoden sowohl
Befremden und Abwehr auslösen als auch als besonders attraktiv erlebt werden
können.
Zusammenfassend betrachtet kann die These aufgestellt werden, daß der Einsatz
klassischer hochschuldidaktischer Methoden, wie z.B. die Diskussion im Plenum,
positiver erlebt werden als innovative, wie z.B. das Rollenspiel. Dies wirft die
Frage auf, ob der Einsatz neuer, stark gruppendynamisch orientierter Methoden an
der Universität sinnvoll ist. Gegen die Option, diese wieder aus dem Konzept zu
streichen, läßt sich einwenden, daß neben sehr negativen auch extrem positive
Beurteilungen zu finden sind. Die Uneindeutigkeit der Bewertung und damit die
"Uneinigkeit" in der Seminargruppe könnte aus unserer Sicht eher auf einen
anderen Grund hinweisen: Die Herstellung ungewohnter und uneingeübter
Kommunikationssituationen durch innovative didaktische Methoden im Seminar
kann unter den TeilnehmerInnen eher Verunsicherung und damit Ablehnung
produzieren. Zugleich scheinen andere Studierende diese spielerische und
experimentelle Art der Wissensbildung begeistert aufzunehmen und zu genießen.
Eine breite Akzeptanz, die sich in einer gemäßigten und eindeutigeren Beurteilung
niederschlagen würde, kann für den Fishbowl und das Rollenspiel nicht erwartet
werden.
Was sind mögliche Konsequenzen dieser Interpretation? Sollen neue Formen des
Lernens eingeübt werden, so muß möglicherweise deren Einsatz noch behutsamer
eingeführt werden. Dazu gehört, Sinn und Zweck neuer didaktischer Methoden
ausführlich zu thematisieren, um eine Akzeptanz auf der kognitiven Ebene zu
erreichen. Eine weitere Möglichkeit stellt die abschließende Auswertung dar, die
intensiviert werden könnte. Reflexionen über den Lerneffekt könnten die
Einschätzung einer didaktischen Methode nachträglich positiv beeinflussen. Diese
41
konzeptionellen Konsequenzen sollen bei der weiteren Gestaltung des
Modellprojekts eingearbeitet werden.
Unabhängig von dem Versuch, den Einsatz innovativer Methoden im Rahmen des
Projekts zu optimieren, kann jedoch auch die zeitliche Dimension für die
Beurteilung neuer didaktischer Instrumente eine Rolle spielen. Je öfter
Studierende ein Rollenspiel ausprobieren, um so geläufiger und damit
selbstverständlicher kann seine Anwendung im Seminar werden. Erst das
Aushalten der Verunsicherung und die konsequente Wiederholung können die
Erweiterung des Repertoires an Verhaltensweisen und damit Lernchancen
aufzeigen.
Da für zukünftige PädagogInnen spielerische, experimentelle und darstellende
didaktische Methoden besonders relevant sind, sollte auf ihre Integration in der
Hochschulausbildung nicht voreilig verzichtet werden. Gerade die Möglichkeit,
Selbsterfahrung im Prozeß zu erleben, stellt einen wichtigen Bestandteil des
erziehungswissenschaftlichen Studiums dar. Das Ergebnis der Beurteilung im
Fragebogen, das zunächst einen recht diffusen Eindruck macht, weist auch darauf
hin, daß experimentierende Lernsituationen sich sehr nachhaltig einprägten und
intensiv erinnert wurden. Darin liegt eine Chance für eine zukünftige lebendige
Auseinandersetzung mit neuen hochschuldidaktischen Konzepten.
5.
Lernen aus der Differenz
Auf die Frage, wodurch und wie Lernen in den Seminaren des Modellprojekts
erfolgt, kristallisiert sich heraus, daß die Konfrontation mit der Technik als dem
Fremden für die Pädagogik Relevanz gewinnt. Die Auseinandersetzung mit einem
Gegenstand, der ein Novum in den Studieninhalten am Institut für
Erziehungswissenschaft der Philipps-Universität Marburg darstellt, scheint
irritierende und auch herausfordernde Denkbewegungen anzustoßen. Besonders
wertvolle Hinweise sind deshalb aus dem Seminar "Virtuelle Welten" zu erhalten,
in dem nicht nur das Thema, sondern auch die Seminargruppe und das
ProfessorInnen-Team sowie das MitarbeiterInnen-Team eine äußerst seltene
42
interdisziplinäre Konstellation aufwies. Hervorstechend für dieses Seminar war,
daß es im Lehrangebot der Informatik erschien und von Studenten dieses
Fachbereichs besucht wurde. Damit kam der Dialog mit Studierenden einer
Disziplin zustande, die den technisch-naturwissenschaftlichen Fächern zugeordnet
wird. Er überschritt damit die Grenzen der geistes- und
gesellschaftwissenschaftlichen Fächer. Studierende der Pädagogik sahen sich
Personen gegenüber, die - gewollt oder ungewollt - als VertreterInnen der Neuen
Technologien in Erscheinung traten. Umgekehrt erlebten die Studierenden der
Informatik mit den PädagogInnen diskussionsfreudige KritikerInnen technischer
Innovation. Selbst- und Fremdbilder wurden kontrastreicher als unter Geistes- und
GesellschaftswissenschaftlerInnen konstruiert, Lernstile wurden bewußt gemacht
und hochexplosiv diskutiert. In diesem Sinne folgten Lehrende und Studierende
dem Gedanken "Lernen aus der Differenz".
Im folgenden möchten wir im ersten Schritt die in diesem Seminar quantitativ
erhobenen Einschätzungen zum Thema Interdisziplinarität skizzieren. Welche
Differenzen werden dabei markiert? Im zweiten Schritt geht es darum,
Lernerfahrungen in der interdisziplinären Gruppe bezogen auf den Gegenstand des
Seminars herauszuarbeiten, wie sie in qualitativen Interviews formuliert werden.
Im dritten Schritt schließlich zeichnen wir, ebenfalls auf Basis der Interviews,
nach, was die Befragten über die fremde und letztlich vor allem über die eigene
Disziplin gelernt haben.
5.1
"Zunächst befremdend, dann eher anregend"
Die Wirkung der interdisziplinären Seminarkonstellation wurde zunächst mit
einem Fragebogen abgefragt. Hierbei ging es neben deren Bewertung darum,
herauszufinden, durch welche konkreten Phänomene die Studierenden
Interdisziplinarität wahrgenommen haben. Die hier feststellbaren Trends lassen
sich in den Interviews, auf die wir anschließend zu sprechen kommen, teilweise
vertiefen und ausführen.
Auf einer 5-wertigen Skala von sehr gut bis gar nicht (codiert mit 1 bis 5) konnten
die TeilnehmerInnen bewerten, inwiefern ihnen der interdisziplinäre Charakter des
43
Seminars gefallen hat. Das Ergebnis ist in der Graphik wiedergegeben:
Histogramm
12
10
8
6
4
2
Mittel = 2,7
N = 26,00
Häufigkeit
0
1,0
2,0
3,0
4,0
5,0
Interdisziplinärer Charakter
Das statistische Mittel liegt bei 2,7. Die Zahlen weisen dabei eine recht geringe
Streuung (Quartile bei 2,0 und 3,4) auf. Die Kurve schlägt zwischen den Werten 2
und 3 steil nach oben aus und geht um den Wert 5 fast auf Null. Dies gibt eine
recht positive bis indifferente Beurteilung des interdisziplinären Charakters der
Veranstaltung wieder, die darüber hinaus relativ einstimmig abgegeben wird.
Antworten im negativen Bereich sowie im sehr positiven Bereich sind selten. Die
Motive der größten Gruppe (11 Personen), deren Antwortverhalten indifferent
ausfällt, sind schwer zu interpretieren. Man könnte vermuten, daß dies aus einer
Ambivalenz herrührt, die es nicht erlaubt, das im Seminar Erlebte insgesamt
eindeutig der positiven oder der negativen Seite zuzuschlagen. Woher diese
Ambivalenz rühren mag, bedarf einer Erklärung und ist im folgenden genauer
herauszufinden.
In den Antworten auf die folgenden drei offenen Fragen im Fragebogen wird das
Bild differenzierter: Wie hat sich die interdisziplinäre Zusammensetzung gezeigt?
Wie ist diese zu bewerten? Welche Vorschläge gibt es für die Gestaltung von
weiteren Seminaren? Da die Grenzen zwischen den abgefragten Aspekten in den
Antworten verschwimmen, fassen wir die Ergebnisse aus allen drei Einzelfragen
weitgehend zusammen.
Die Befragten benennen zahlreiche Unterschiede zwischen den beiden
Fachbereichen Pädagogik und Informatik, die ihnen im Verlauf des Seminars
aufgefallen sind. Die wichtigsten seien hier aufgeführt: Insgesamt besehen, werde
die "gesellschaftliche Wertung der Fächer" durch das gemeinsame Seminar
44
sichtbar. Der deutlichste konkret benannte Unterschied jedoch scheint in dem
Vorhandensein von technischen Vorkenntnissen zu liegen. Mehrere Antworten
thematisieren entweder den Wissensvorsprung der Informatikstudierenden oder
das Defizit der PädagogInnen.
Die Erfahrung der Interdisziplinarität wird neben der Ungleichheit im
Kenntnisstand über Neue Technologien vor allem im Bereich Kommunikation
festgemacht. Die Aussagen beziehen sich vorwiegend auf den im Seminar
praktizierten Diskussionsstil. Hierfür gibt es zahlreiche Spezifizierungen. Konkret
ist damit zum einen gemeint, daß unterschiedliche Verständnisse und Definitionen
von Sachverhalten vorliegen, zum anderen, daß Blickrichtungen und damit
Herangehensweisen differieren. Es werden unterschiedliche
Argumentationsweisen bemerkt. In den Diskussionen nehmen die Angehörigen
der beiden Fachbereiche unterschiedliche Positionen ein und kommen zu
divergierenden Einschätzungen des Gegenstandes. Hier wird auch von
unterschiedlichen "Ebenen der Diskussion" gesprochen.
Bei der Suche danach, was diese "Ebenen" ausmachen könnte, fällt auf, daß beide
"Orte" der Differenz, technisches Vorwissen und Kommunikation, nicht ganz
voneinander zu trennen sind. So fällt in den Antworten zunächst die bemängelte
"Dominanz der informatikbezogenen Themen" ins Gewicht. Die Diskussion
verlaufe "schlecht, wenn Erfahrung und Wissen" fehlen, wird von pädagogischer
Seite angeführt. Es entsteht auf seiten der PädagogikstudentInnen das "Gefühl, im
technischen Bereich unterbelichtet zu sein". An einigen Stellen wird auch
bemängelt, daß "irrelevante technische Details" zuviel Raum eingenommen haben.
Diese Ambivalenz, die z.T. mit emotionaler Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht
wird, setzt sich in der Beschreibung dessen fort, wie die Kommunikation erlebt
wurde. "Zunächst befremdend, dann eher anregend", ist eine knappe Formel dafür,
daß für jedeN einzelneN TeilnehmerIn Hürden in der Diskussion zu überwinden
waren. Es wird von einer "Distanziertheit im Umgang miteinander" gesprochen,
bei der es erforderlich ist, aber "schwer, Vorurteile abzubauen". Einige Stimmen
meinten auch, man hätte im Seminar "aneinander vorbei diskutiert" und zu wenig
"Offenheit und Toleranz" füreinander aufgebracht. Auch differierende Lehrstile,
45
die als "Uneinigkeit der Seminarleitung" wahrgenommen wurden, können in
diesen Zusammenhang gestellt werden. Andere Stimmen betonen den fördernden
und gewinnenden Aspekt des interdisziplinären Geschehens. Ausgehend davon,
daß für viele Befragte der Seminargegenstand keinen Bestandteil ihrer
Alltagserfahrung darstellt, bietet das Seminar nach Ansicht befragter
TeilnehmerInnen eine Möglichkeit zur Annäherung. Ein Gewinn liege darin, daß
technische und gesellschaftliche Perspektiven zusammengebracht werden. Dies
wird in einer Antwort als Kombination aus "pädagogischen Hintergründen" und
"technischen Informationen" spezifiziert. Auf dieser Ebene könne voneinander
profitiert werden. Ein Befragter gibt an, daß solche Diskussionen am Fachbereich
Informatik nicht möglich gewesen wären. Diese Aussage weist auf den Gewinn
hin, der unter dem Stichwort Kommunikation zu verzeichnen ist: Neben dem
Wissenserwerb bringt Interdisziplinarität "neue Erfahrungen mit anderen
'Denkansätzen'" oder kann zu einer anderen Bewertung des Themas führen, zu der
man nur gelangt, wenn verschiedene Blickrichtungen gehört und berücksichtigt
werden.
5.2
Lernziel Virtuelle Welten
Ausgehend von dem Eindruck, daß interdisziplinäre Lernprozesse in hohem Maße
die kommunikative Landschaft eines Seminars verändern, kann aus den Interviews
genauer herausgefiltert werden, wie die Kommunikation wahrgenommen wurde.
Anhand des individuellen Erlebens der Pädagogikstudentin Anja und des
Informatikstudenten Julian treten interessante Parallelen zutage, die sich in
folgende Aspekte gliedern lassen: die Notwendigkeit von genügend Raum für
Diskussion, die Fruchtbarkeit von Kontroversen, die Kooperation als wertvoller
Katalysator zur Förderung des Dialogs und die Unentbehrlichkeit von Toleranz.
Hierzu möchten wir einige prägnante Beispiele dokumentieren.
5.2.1 Diskussion: "Wie so 'ne Kettenreaktion"
Diskussion wird von beiden InterviewpartnerInnen als zentrales Geschehen im
Seminar betrachtet. Der hierfür bereitgestellte Zeitrahmen sollte großzügig
46
kalkuliert werden. Nicht die Referate, sondern die an einen Input anschließende
diskursive Auseinandersetzung im Plenum oder in der Kleingruppe vermittelt das
Wesentliche. "Aber, so allein die Diskussion find’ ich schon unheimlich wertvoll.
(Pause) Und ich finde, die Diskussion ist im Laufe des Seminars zunehmend zu
kurz gekommen" (9), bemängelt Anja.
Was ist an Diskussionen wichtig? Für Anja geht es im ersten Schritt vorwiegend
darum, einen Möglichkeitsraum zu eröffnen. In ihm setzt Diskussion eine
Bewegung in Gang, die etwas entstehen läßt. "Aber naja, dann haben wir doch
mit'n paar Leuten diskutiert da vor der Wand. 8 Und dann haben noch zwei, drei
Leute was hingeschrieben. Und dann hat sich bei mir auch so'ne Veränderung
ergeben" (17). Auf die Frage, wie eine Situation beschaffen sein muß, damit etwas
in Bewegung gerät, antwortet Anja: "Offen. Also irgendwo 'ne Struktur und
Eckpunkte, wo man 'ne Basis hat. Aber, ja, nicht so vorgefertigt. Und dann eben
gucken, was ergibt sich jetzt aus der Basis. Also, daß dieses Mauerwerk steht"
(18). Der Input von außen soll nur ein grobes Muster vorgeben, das anregt,
selbständig weiterzudenken. Brillante und abgeschlossene Analysen können aus
dieser Perspektive einen Lernprozeß nicht ausreichend anstoßen. Es geht nicht
darum, sich ein perfektes, hermetisches Gedankengebäude anzueignen, sondern
darum, es selbst zu bauen, mit allen Stolpersteinen, die sich dabei ergeben. Eigene
Lösungen sind gefragt. Detailliert entwirft sie mit dem Bild des "Hauses", was bei
der Entwicklung eines Gedankengebäudes in der Gruppe wichtig ist: "Aber wie
das Haus dann im Endeffekt aussieht, ähm, das ist eben noch nicht von vornherein
durchdacht. Daß ich zwar meine Stichpunkte habe, so soll das Wohnzimmer
aussehen, so soll das aussehen, aber daß ich noch offen dafür bin, um das
umzuwerfen und umzugestalten" (18). Es geht darum, gemeinsam in der Gruppe
das beste Planungsergebnis zu ermitteln, zu dem alle ihre Ideen beitragen bzw.
vielleicht auch einige Ideen wieder verwerfen müssen. Den Prozeß des Gestaltens
und Modellierens beschreibt sie folgendermaßen:
"Ich kann überlegen: Was ist gut dran? Was ist schlecht daran? Ein Für und Wieder. Welche
8
Die Aufgabe in dieser Sitzung war, über schriftliche Wortbeiträge an der Pinnwand
miteinander in Diskussion zu treten.
47
Thesen gibt es? Einfach, daß ich mich damit auseinandersetzen und, und dann entwickeln sich
ja weitere Punkte daraus, also, wie so, so'ne Kettenreaktion. Und wenn verschiedene
Menschen noch über diesen Ecken drehen und auch eigene Gedanken, Ideen haben, und die
mit einfließen. Ja, da entsteht ja ganz viel oder kann ganz viel entstehen. Und, ähm, das ist
eben das Produkt von vielen" (19).
Wichtig sind die Bewegungen des Bewertens, der Pro- und ContraArgumentation, die die gemeinsame Reflexion in Gang bringen. Bei jedem Bauteil
soll abgewogen werden, ob es paßt oder die Stimmigkeit des Ganzen stört. Die
Beiträge der einzelnen stehen dabei nicht unverbunden nebeneinander, sondern
einer folgt in einer "Kettenreaktion" aus dem vorherigen und bewirkt seinerseits
den nächsten. Der Einzelbeitrag ist nicht mehr herauszulösen aus diesem
Gruppenprozeß und dem kollektiven Ergebnis.
Julian hält die Diskussion speziell über das Seminarthema deshalb für wichtig,
weil es bislang wenig erforscht ist: "Man muß ja erst mal sammeln eigentlich.
Brainstorming im Prinzip machen, im globalen Stil. Alle möglichen, eh, Dinge
mal andenken und dann sehen, wo lohnt sich's denn weiterzumachen. Und, ehm,
auch Ideen zu bekommen" (19). Er möchte mit Hilfe dieser offenen Methoden
einkreisen, welche Fragestellungen letztendlich weiter verfolgt werden. Für diese
Form der Wissensbildung benutzt er auch das Wort "Spekulation" (4). Die
Formulierung ist positiv gemeint: Es geht darum, ein Forschungsfeld zu eröffnen,
wo keine Fakten abgesichert werden müssen. Dieselbe Wortwahl erfährt jedoch,
wie wir später noch sehen werden, im Kontext der Erläuterung seines
disziplinären Selbstverständnisses eine negative Konnotation. Im hier gegebenen
Kontext allerdings betont er stark die Vorteile einer Atmosphäre, in der
Diskussion und gemeinsame Reflexion möglich sind. Sie erlauben es, mehrere
Möglichkeiten einzubeziehen, spontane Ideen auszusprechen und Ungeplantes zu
integrieren. Vor allem sind diese Diskussionen ein Mittel, abgetretene Wege
zugunsten der noch unbekannten zu verlassen: "Es kommen viele neue Ideen,
innovativere Ideen dabei rum. Kreativer das Ganze" (9).
Sowohl von Anja als auch von Julian wird die Offenheit unterstrichen, die für den
Beginn einer Diskussion gewährleistet sein muß. Während Julian dies mit dem
noch unerforschten Gegenstandsbereich begründet, steht bei Anja der Wunsch
48
nach Selbständigkeit beim Erkunden des Themas im Vordergrund. Eine offene
Kommunikationssituation wird als erforderliche Ausgangslage formuliert, damit
ein Lernprozeß in Gang kommen kann, damit "viele neue Ideen" heranwachsen
können, die sich manchmal gegenseitig, wie in "Kettenreaktion", auslösen.
5.2.2 Kontroverse: "Da prallen Welten aufeinander"
Anja berichtet von Situationen, in denen Kontroversen wichtige Lernerfahrungen
für sie darstellten. Sie verwendet das Bild des Zusammenpralls: "Da prallten so
richtig diese zwei Fachbereiche, diese, diese Fachverständnisse aufeinander. Und
dann da, da denk’ ich, das kann fruchtbar sein" (8). Julian bedient sich derselben
Worte, um die Diskussionen in seiner Arbeitsgruppe zu beschreiben: "Da prallen
Welten aufeinander" (17). Er macht nicht nur die Erfahrung, "daß man einen
anderen Standpunkt vertreten kann" (17), sondern auch, daß dieser ihm
vollständig neu und sehr fremd sein kann. Dies fordert das eigene
Selbstverständnis heraus. Julian hat für sich gelernt, daß solche interdisziplinären
Auseinandersetzungen ein höheres Maß an gegenseitiger Akzeptanz voraussetzen
und "auch das Stück weit sich einlassen auf den anderen" (18).
Was eine Kontroverse letztlich fruchtbar machen kann, wird dann deutlich, wenn
Störungen beschrieben werden. Anja erinnert sich an eine solche Situation: "da
weiß ich noch, daß ein Informatiker wirklich alle Bedenken von vorneherein, also,
total abgestritten hat" (8). Wie aus einer Polarisierung der Standpunkte hingegen
Gewinn gezogen werden kann, beschreibt sie wie folgt:
"Ja, nee, ich lerne ja auch, indem ich ‘ne Meinung habe, und, ähm, ich hör’ mir ‘ne andere
Meinung an und versuch’ die zu akzeptieren. Also, nicht unbedingt zu übernehmen und
meine zu verwerfen, sondern eben beide Meinungen zu integrieren und dann mein eigenes
Modell neu zu überdenken. Und neu zu bauen. Das ist, ja, das ist für mich der Lerneffekt
dabei. Aber der Lerneffekt ist auch, daß ich sehe, daß ein anderer sein Modell überdenkt. Ach,
ich finde, das ist so 'ne Interaktion, müßte das, stattfinden" (8).
In ähnlicher Weise wie Julian vermerkt sie, daß es zunächst darum geht, sich auf
das Gegenüber einzulassen. Dies geschieht über das Zuhören und Akzeptieren der
fremden Position. Ohne sich dieser einfach anzuschließen, geht es ihr jedoch wie
Julian darum, den eigenen Standpunkt zu reflektieren. Wichtiges Moment an
49
diesem Prozeß ist, daß er reziprok verläuft, was sie mit der Formulierung
"Interaktion", dem sich wechselseitig beeinflussenden Handeln, ausdrückt.
Von beiden wird die kontroverse Diskussion zwischen den Disziplinen als etwas
Neues charakterisiert, in das sie sich hineinbegeben. Die Fachbereiche stehen
einander nicht mehr unverbunden gegenüber. Es kommt hingegen sogar zum
Knall. Die Trennlinie zwischen den Disziplinen wird aufgehoben. Beide Seiten
gehen verändert aus der Kontroverse hervor. Die Materie wird aufgemischt und
aus diesem Verschwinden der Distanz entsteht im optimalen Fall etwas
Gemeinsames. Im anderen Fall kommt es wenigstens zum Überdenken der
eigenen Perspektive vor dem Hintergrund der Kenntnis und Akzeptanz des
anderen.
5.2.3 Kooperation: "Da hatte er dann schon einen Stein im Brett"
Julian erlebt in seiner Arbeitsgruppe zur Vorbereitung eines Referats zahlreiche
kontroverse Auseinandersetzungen mit einer Pädagogikstudentin. Die konträren
Standpunkte werden aneinander gerieben, es werden Argumente ausgetauscht und
Meinungen gefestigt. Trotzdem berichtet Julian nur Positives aus dieser
Zusammenarbeit, aus der für beide die erfolgreiche Vorbereitung eines Referats
resultiert. Die Notwendigkeit, im Plenum etwas zu präsentieren, hat das
Geschehen beeinflußt. Aufgabe der Arbeitsgruppe war, sich auseinanderzusetzen
und ein Resultat, die Gestaltung einer Sitzung, zu erzielen. Dieses Erfordernis läßt
die Gruppe von der Verschiedenheit der TeilnehmerInnen profitieren, die ihre
jeweiligen Fähigkeiten und Perspektiven einbringen. Bezogen auf die didaktischmethodische Aufbereitung des Referats räumt Julian ein: "Und, ehm, muß ich
sagen, hab' ich, ehm, mangels Erfahrung eigentlich das meiste von der Claudia
übernommen, weil sie eindeutig mehr Erfahrung, ehm, Rangehensweise von
diesem Seminar hat" (17). Umgekehrt: "Und ich glaube, die hat sich schon auch,
ehm, letztendlich schon von meiner Rangehensweise, sich das angesehen und
abgeguckt 'en bißchen, 'en Stück weit. Sofern's halt nützlich is' für sie" (17). Julian
faßt die Form der Zusammenarbeit, in die beide etwas von sich selbst einfließen
lassen, wie folgt zusammen: "So letztendlich, das Angenehmste an der Sache war,
50
daß, ehm, daß man gemeinsam was erarbeitet hat, daß jeder seinen Teil
dazugegeben hat und daß was Gutes dabei rausgekommen is'" (18). Nicht nur auf
der sachlichen Ebene, sondern auch emotional ist diese Erfahrung wichtig. Es ist
"angenehm", wenn man gemeinsam produktiv ist. Nach den kooperativ
verlaufenen Absprachen hat sowohl das Vorbereiten der individuellen Teile des
Referats als auch das gemeinsame Agieren in der Seminarsitzung lustvolle
Qualitäten aufzuweisen. "Das Gesamtbild, das macht dann, also ich hab' mich
schon, das hat mir Spaß gemacht das Referat. Und auch das, die Ausarbeitung. Ich
denke grade die Zusammenarbeit, daß die so gut funktionierte, das war das
Positive an der ganzen Sache" (18). Das Gelingen dieser Zusammenarbeit ist auch
Motivationsfaktor: "Wenn ich meinen Teil alleine und sie ihren Teil alleine
gemacht hätte, wär’ die Motivation vielleicht gar nicht dagewesen" (18).
Kooperation war bei Anja ebenfalls ein Thema. Sie hat von den technischen
Kompetenzen eines Informatikstudenten profitiert, den sie im Seminar
kennengelernt hat. Der im Seminar zustande gekommene Kontakt wird in einer
Situation außerhalb des Seminars wieder aufgegriffen. "Der war nämlich auch,
ähm, im Hochschulrechenzentrum. Also, er jobt da wohl auch als Hiwi. Da hatten
wir unseren E-Mail-Anschluß beantragt und haben ihn an dem Tag bekommen.
Und er hat uns dabei noch geholfen“ (20). Anja erlebt den Informatikstudenten
nicht nur als kompetent, sondern darüber hinaus als hilfsbereit. "Und ja hat uns
halt auch da super geholfen. Und von daher fand ich den dann halt auch sowieso
ganz Klasse. Da hatte er dann schon einen Stein im Brett gehabt" (20). Seine
Unterstützung stiftet Sympathie. Die Erfahrung von kooperativem Verhalten
bedeutet bei ihr vielleicht auch, das Gegenüber nicht nur als technisch, sondern
auch als sozial kompetent zu erleben. Vermutlich schafft hier nicht nur der
persönliche Gewinn, den sie davon trägt, sondern auch der symbolische Wert der
Handlung eine günstige emotionale Grundlage für die Seminararbeit. Hinter dem
Techniker tritt der Mensch hervor. Die Erfahrung auf menschlicher Ebene erzeugt
bei ihr ein höheres Maß an Akzeptanz, das die Interaktion im Seminar verbessert.
51
5.2.4 Toleranz: "Es kann ja jeder sein eigenes Zimmer haben"
Kennenlernen und Akzeptieren einer fremden Perspektive waren für Julian
entscheidende Entwicklungen im Rahmen des Seminars. "Das war sehr
interessant, ehm. Da war'n halt also auch wirklich ganz fremde Meinungen für
mich. Also ich, eh, war auf solche Argumente nie gefaßt" (17). In
Auseinandersetzung mit dem Neuen will er jedoch nicht aushandeln, was wahr
und richtig ist. Verschiedene Sichten können nebeneinander bestehen: "Ich hab'
meinen Standpunkt nich' geändert, aber natürlich, ich sehe ein, daß man den
anderen Standpunkt vertreten kann" (17). Sowohl das Wissen darum, daß es
andere Positionen gibt als auch diese zu respektieren, werden als Erfordernisse
interdisziplinärer Zusammenarbeit formuliert. Dies wird auch von Anja betont:
"Ja, ich finde es gut, wenn man sich nicht einig ist. Aber ich finde diese Akzeptanz und diese
Toleranz einfach wichtig. Also nicht, wie jetzt bei diesem einen Informatiker, also, der hat
rechts und links nichts an sich rangelassen. Und er hatte seine Meinung. Und darauf beharrte
er die ganze Zeit. Und da erwarte ich einfach, daß meine Meinung gehört wird, und auch
irgendwo aufgenommen wird. Ob er dann trotzdem sagt, ähm, nee, ist nicht so, ich hab’
andere Argumente, und ich laß mich davon jetzt nicht so leicht runterbringen, ist in Ordnung.
Aber von vornherein zumachen, das find’ ich einfach nicht, nicht in Ordnung. Also, das ist
für mich dann nicht interdisziplinär" (9).
Es geht also auch für sie nicht darum, daß man sich gegenseitig überzeugt,
sondern zunächst, sich für andere Ansichten zu öffnen. Die von ihr gebrauchte
Wendung "(nicht) in Ordnung" deutet auf ein implizites Regelwerk hin, was im
interdisziplinären Geschehen Gültigkeit hat. Wichtige Verhaltensregeln sind
dabei, positiv formuliert: etwas um sich herum wahrnehmen, zuhören, sich davon
vielleicht irritieren, wenigstens in Bewegung bringen lassen, es aufnehmen,
Argumente gegeneinander abwägen und zu eigenen Schlüssen kommen.
In dem von ihr entwickelten Bild des Hauses erläutert sie, daß verschiedene
Schlüsse einzelner Beteiligter etwas Gemeinsames nicht ausschließen müssen.
"Ich mein, es kann ja jeder sein eigenes Zimmer haben. Aber das Produkt kann das
gleiche sein oder kann miteinander vereinbar sein" (19). Das Einräumen einer
gewissen Pluralität ist Voraussetzung für Zusammenarbeit. Interdisziplinarität
erzeugt ein Spannungsverhältnis, in dem die einzelnen sich zurechtfinden müssen.
52
Sie ist der Versuch, zu einem kollektiven Resultat zu kommen, ohne dabei
existierende Widersprüche aufzuheben.
"Und wenn’s zwei Häuser werden, ist es auch nicht schlimm. Also man kann nicht immer
alles, ähm, ja unter ein Dach bringen. Aber man kann unter diesem Dach ja auch noch
Widersprüche zulassen. Ich denke, die gibt es immer. (Pause). Also, so Friede-FreudeEierkuchen soll das Haus dann auch nicht aussehen. Also, also so idealistisch stelle ich mir
das auch nicht vor, aber einfach, daß, daß diese Möglichkeit gegeben wird, dieses Haus zu
produzieren. Und dieses Dach, daß alle Meinungen eben akzeptiert werden, daß alle
Meinungen da sind, daß, daß keiner rausgeworfen wird. Und eben dieses Dach als, nochmal
‘ne Zusammenfassung, also ‘en Abschluß finden" (20).
Wichtig ist ihr die Integration von allen in einem Pool, in dem alle sichtbar sind
und keine Perspektive dominiert. Nicht Toleranz im Sinne von Gleichgültigkeit
und Isolation ist erforderlich, sondern Toleranz verbunden mit einer kritischen
Auseinandersetzung, die Ecken und Kanten haben darf.
5.3
Studienobjekt: Fremddisziplin - Lernziel: eigene Disziplin
Neben die Beschäftigung mit dem Thema "Virtuelle Welten" tritt die
Konfrontation mit der Fremddisziplin. Die Irritation durch das Andere löst eine
Suchbewegung aus, in der die Differenz ermittelt werden soll. Zugleich entsteht
das Bedürfnis, sich der Spezifik des eigenen Fachs zu versichern. Der Versuch,
eindeutige Unterschiede zu markieren, geht jedoch nicht immer reibungslos auf,
sondern produziert ebenfalls Ambivalenz.
Die entsprechenden Interviewpassagen beschäftigen sich mit der heterogenen
Herangehensweise an einen gemeinsamen Seminargegenstand, den dabei
festgestellten Unterschieden in der Argumentationsweise sowie mit dem
voneinander abweichenden Anliegen, die eigenen Diskussionsbeiträge auf einer
"objektiven" oder "subjektiven" Basis zu fundieren. Daß dies nicht exakt zu
bewerkstelligen ist, tritt in den Reflexionsgängen der InterviewpartnerInnen auf
eindrucksvolle Weise zutage.
5.3.1 Herangehensweise: "Die Art und Weise zu denken is' halt ganz anders"
Besonders dann, wenn die Interviewten Irritationen, Störungen, angenehme
Eindrücke, Wünsche etc. bezogen auf die Seminargruppe zum Thema machen,
53
bringen sie die differierenden Herangehensweisen der Disziplinen deutlich zum
Ausdruck.
Anja erlebt Interdisziplinarität deshalb als zentral, weil diese ihr den eigenen
Blickwinkel als Sozialpädagogin besser verdeutlicht. Bei der Betrachtung
desselben Gegenstands durch die Seminargruppe kann die Verschiedenheit der
Zugänge sichtbar werden:
"Also, daß es nicht nur Sozialpädagogen gibt, sondern daß es noch andere Berufsgruppen
gibt, mit denen man zusammenarbeiten kann und soll, und daß es auch fruchtbar sein kann,
von anderen zu lernen, die ‘ne andere Auffassung haben. Also, die, ähm, ‘ne andere
Herangehensweise an ein und dieselbe Sache haben. Das find ich recht spannend" (21).
Zum einen erscheint Anja neben der simplen Wahrnehmung, daß es auch andere
Perspektiven gibt, der positive Effekt, voneinander zu lernen, als Argument
zugunsten fachübergreifender Zusammenarbeit. Zum anderen reizt sie das
Ungewisse, die Erfahrung, nicht voraussehen zu können, wie sich eine Diskussion
entwickelt, wenn man nicht nur "unter sich" bleibt.
Auch für Julian ist die Differenz in der Herangehensweise wichtig geworden: "Die
Art und Weise zu denken is' halt ganz anders" (9). Er glaubt, daß Informatiker
gewohnt sind, im allgemeinen "pragmatischer an die Sache ranzugehen" (11). Was
pragmatisch heißt und was es bringt, erläutert er wie folgt: "Pragmatismus hat
natürlich auch seine Vorteile. Nüchterner an 'ne Sache ranzugehen, vorurteilsfrei.
Möglichst natürlich, ich meine, so ganz kann man das nie, aber, ehm, Mathematik
lehrt einem das" (12). Worte wie "natürlich" oder "vorurteilsfrei" verweisen auf
sein Anliegen, sich einer Sache voraussetzungsfrei zu nähern, einfach die "Sachean-sich" zu betrachten, ohne daß die betrachtende Person dabei eine Einflußgröße
darstellt. Die Rückkopplung dieser Herangehensweise an den originären
Studiengegenstand der Informatik zeigt sich, wenn Julian seine Beobachtungen
über divergierende Argumentationsweisen formuliert.
5.3.2 Argumentationsweise: "Viele Pädagogen glauben irgend etwas. Ehm, bei
uns glaubt niemand"
Darüber, was in seinem Fach die übliche Art und Weise des Argumentierens ist,
54
bemerkt Julian: "Ich denke, daß wir, ehm, wir in der Informatik versuchen, Sachen
möglichst auf 'en einfachen Nenner zu bringen. Halt so kurz und korrekt wie
möglich" (9). Einschränkend fügt er selbst an: "Was man ja häufig finden kann bei
uns, so'n Nenner" (9). In der Benennung dessen, was in der eigenen Disziplin
zählt, sind die Dreh- und Angelpunkte seiner weiteren Reflexion angelegt:
Einfachheit, der eine gemeinsame Nenner, Prägnanz und Exaktheit.
Demgegenüber stehen diskursive Verhaltensweisen, von denen er sich durch die
explizite Formulierung der eigenen abgrenzt. Man kann sie folgendermaßen
umreißen: Problematisieren, Pluralität zulassen, unscharfe Aussagen treffen und
Komplexität sowie Widersprüche erzeugen. Auf neuere Entwicklungen in der
Informatik, die systematisch mit Unschärfen und Widersprüchen arbeiten, um
Realität adäquater abbilden zu können, ist er offensichtlich in seinem Studium
noch nicht gestoßen.
Julians Ausführungen spiegeln folglich das wider, was im klassisch-naturwissenschaftlichen Kontext Usus ist. Dort gehorchen die Argumentation und die
Entwicklung von Thesen strengen Regeln. "Ohne eine handfeste Begründung,
ehm, gilt meine Behauptung gar nichts" (14). In der pädagogischen
Herangehensweise findet er dieses Wissenschaftsideal nicht. Dort "wird schon
mehr spekuliert" (9). "Spekulation" erscheint als Gegenbegriff zu "handfest",
hinter dem sich das Wort "Fakten" verbirgt. Um letztere zu produzieren, ist eine
spezielle Form des Denkens erforderlich, die aus seiner Sicht bloßen
Meinungsaustausch übersteigt.
"Grade dieses Ablehnen jeder, ehm, ja so, so Regeln. Das schematische Denken prinzipiell
abzulehnen, ehm, wie das einige gemacht haben. Das verleitet natürlich dazu, ehm, ja daß
man eigentlich nichts mehr begründen muß. Ich bin der Ansicht, also is' das so. So, so gehen
da einige vor" (14).
In seiner Kritik am Diskussionsverhalten der PädagogikstudentInnen wird
deutlich, welche Form von Wissensbildung und Wahrheitsfindung er gewohnt ist.
Zugespitzt formuliert er das wie folgt: "Viele Pädagogen glauben irgend etwas.
Ehm, bei uns glaubt niemand" (15). Die Beschreibung dieser fachspezifischen
Eigenheiten scheint nicht ohne Polarisierung auszukommen. In seiner Erinnerung
an Seminardiskussionen kommt er immer wieder an einen Punkt, an dem er
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fordert: "Dann müßten schon Fakten geliefert werden, warum ..." (17). Hieraus
spricht das Bedürfnis, an einem bestimmten Punkt der Reflexion, Aussagen
abzusichern. Alles andere wäre "Spekulation".
Das Wort "Spekulation" verliert bei Julian jedoch in einem anderen
Zusammenhang seinen negativen Beigeschmack. Dies geschieht dann, wenn er es
in der Seminardiskussion als vorteilhaft erlebt, gedankliche Freiheit zu haben, die
Kühnheit, etwas Unfundiertes in den Raum zu stellen. Befreiend ist es, sich der
strengen Erkenntnisregeln der eigenen Wissenschaft zu entziehen. Dadurch
entsteht die Möglichkeit zum Perspektivenwechsel und zum Neu- bzw.
Umdenken.
"Und ich find das, ehm, also das is' ja sehr, sehr anregend. Grade dieses Spekulieren und
einfach nur mal en paar, paar Behauptungen in die Welt zu setzen. Unabhängig davon, ob ich
sie auf jeder Linie belegen kann. Ehm, einfach nur mal in 'ner ganz andern Richtung zu
denken. Und das gibt es bei uns natürlich nich'. Das is', das is' völlig anders" (9).
Das "Spekulieren" eröffnet die Möglichkeit, eingefahrene Bahnen zu verlassen. Es
erlaubt, ungewöhnliche Ideen, eigene Gedanken im Gespräch argumentativ zu
erproben. Er kann dabei eher thematisieren, was ihn selbst in Zusammenhang mit
einer Thematik beschäftigt, ohne sofort Beweise anführen zu müssen. Zugleich ist
es ein emotional positives Erlebnis, da die regelgeleitete Debatte von den
Beteiligten ein hohes Maß an Disziplinierung erfordert: "Es is’ ‘ne wesentlich
angenehmere Atmosphäre, um zu reden und um sich zu unterhalten und Gedanken
auszutauschen" (9).
Auf die beiden, von Julian thematisierten Wissensarten, ermittelte Fakten und
subjektivere Gedankengänge, möchten wir im folgenden näher eingehen.
56
5.3.3 Fakten: "Man muß ja irgendwie 'en Maß haben"
Was Fakten sind und wie die Informatik diese ermittelt, beschreibt Julian wie
folgt:
"Es is' wissen oder nich' wissen. Entweder ich hab' en Beleg, dann weiß ich's. Oder ich hab'
ein Programm, dann funktioniert's, oder ich hab' ne Fehlermeldung, dann funktioniert's nich'.
Also schon irgendwo diese binäre Denkensweise der Maschine" (15).
In der Reibung mit der pädagogischen Denkweise entsteht nicht nur die
Notwendigkeit, die eigene genauer zu formulieren. Sie wird Julian auch stärker in
ihrer Struktur transparent. Die Parallelität zwischen der Art der Wissensbildung
und dem Gegenstand der Informatik wird ihm bewußt und läßt diese Logik als
eine spezifische erscheinen.
Fakten lassen sich aus der Empirie ermitteln. Hier rekurriert Julian auf die
statistischen Verfahren, mit denen man versucht, sich Realität über Berechnungen
zu nähern.
„Über Umfragen, also wie das in der Psychologie üblich is'. Da wird ja alles statistisch
erstmal erhoben und dann wird das durchgerechnet, ob das signifikant is', also nach
statistischen Verfahren, und erst dann wird gesagt, 'Okay, das is' jetzt so'. Und ich denke, das
is' schon notwendig“ (14).
Sicherheit bieten wissenschaftliche Verfahren, die mit Zahlen hantieren.
Mathematik liefert Größen, mit denen Signifikanz festgemacht und damit
Aussagen getroffen werden, die einen Wahrheitsanspruch erheben können. Es geht
darum, Beliebigkeit zu verringern und Wissen zu fundieren. Um das Bedürfnis
nach Objektivität zu bedienen, "muß man ja irgendwie 'en Maß haben" (14). Die
Suche nach einem "Maß" geht an Wirklichkeit, als an eine meßbare Sache heran.
Letztlich verbirgt sich dahinter das Ringen nach Objektivität, nach einer Größe,
die auf eine Wahrheit verweist.
Allerdings muß Julian einschränkend feststellen, daß man auch in der Informatik,
als praxisorientierter Disziplin mit Unschärfen leben muß. "Also, Fehler
schleichen sich ganz schnell ein und dann isses vorbei mit der mathematischen
Exaktheit" (15). Von Menschen Gemachtes birgt Fehler. Es gibt keine Garantie
auf das perfekte Computerprogramm. Seine Funktionalität erweist sich erst im
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Einsatz. An diesen Stellen läßt sich auch für einen Informatiker keine Sicherheit
finden. "Da fangen wir auch an, zu glauben, 'Ich glaube, daß mein Programm
fehlerfrei is' (lacht)" (15). Letztlich sind persönliche Urteilskompetenz und
Vermutung Kategorien, mit denen auch im Informatik-Alltag hantiert werden
muß.
5.3.4 Personen: "Da kann ich eigentlich nur von mir ausgehen"
Anja bestätigt zum einen das Fremdbild, das Julian von den PädagogInnen
zeichnet. Ihre Argumentation geht vom eigenen Selbst aus. Die Art, wie man
selbst ist, erscheint als stabiler Bezugspunkt, der zu Einstellungen und Haltungen
führt und diese erklärt. "Ja, da kann ich eigentlich nur von mir ausgehen, ich
mein’, daß ich diese persönliche Meinung habe, ähm, ist ja auch mit meiner
Person verbunden" (7). Dabei geht es jedoch nicht darum, eine eigene Haltung
starr und ungebrochen zu fixieren. Sie muß stets in Diskussionen überdacht
werden. Die eigene Meinung ist von außen anfechtbar. Provoziert wird das
Umdenken durch Argumente.
"Wenn jemand gut argumentiert, dann laß ich mich auch gerne, ja, was heißt davon
überzeugen, oder, ich bau's zumindest in mein Modell mit ein, also, ich versuch’ das
irgendwie zu integrieren und dann, mein Modell neu zu überdenken, beharr’ dann nicht auf
meiner Meinung" (8).
Meinung steht daher nicht unverbunden neben oder gegen Meinung. Die Vielfalt
von Meinungen ist nicht beliebig. Sie ist Resultat von Auseinandersetzung und
gleichzeitig eine Sache, die mit der eigenen Subjektivität zu tun hat.
Allein auf den subjektiven Eindruck geworfen zu sein, erlebt Anja auch als
einschränkend. In einer Meinungsverschiedenheit mit dem Seminarleiter aus der
Informatik wagt sie es nicht, ihre kritische Haltung in der Feedback-Runde zu
äußern, weil sie keine weitere Diskussion auslösen möchte und weil sie sich mit
ihrer Kritik alleine fühlt. "Das bringt jetzt auch nichts. Das ist ja alles sehr
subjektiv" (12). Später unterhält sie sich jedoch mit ihren KommilitonInnen über
die fragliche Situation. Erst durch die Rückversicherung, der Fundierung ihrer
Meinung in den bestätigenden Wahrnehmungen der anderen, wird sich
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nachträglich aktiv.
"Und daraufhin, wo ich dann so'n bißchen die Bestätigung hatte, daß es doch nicht so
subjektiv sein kann, daß es zumindestens schon drei, vier Leute waren, die so empfunden
haben und hab es dann nochmal zu Frau Schachtner gesagt" (12).
Indizien dafür, daß ihre Sicht der Dinge nicht nur subjektiv ist, gewinnt also auch
sie aus Häufigkeiten. Je öfter andere ihre Sicht der Dinge bestätigen, um so eher
fühlt sie sich ermutigt, Kritik zu äußern. Man könnte vermuten, daß für die
Auseinandersetzung mit Ranghöheren gesichertere Argumente erforderlich sind.
Am Beispiel dieser Begebenheit zeigt sich, daß auch Anja zwischen spekulativen
und empirisch fundierten Wissensbeständen unterscheidet. Eine nicht verifizierte
These in den Raum zu stellen, ist riskanter, wenn man nicht von gleich zu gleich
diskutiert bzw. wenn man das Verhalten einer anderen Person kritisiert. Hier
glaubt sie, sich nicht nur auf ihren subjektiven Eindruck verlassen zu dürfen.
Allerdings gibt es für Anja keine einzige Wahrheit. Auch sie beruft sich auf die
Besonderheit ihres Studiengegenstands:
"Also, es ist, ich finde, es gibt kein Richtig und kein Falsch. Also, beim PC okay. Wenn ich
Enter drücke, dann drück' ich Enter, ne. Da kann nichts anderes dabei rauskommen. Ähm,
aber in der Pädagogik, ich, ich muß doch verschiedene Handlungsweisen irgendwie zulassen
können. Oder Gedanken" (13 f.).
Auch ihre Selbstpositionierung erfolgt in Abgrenzung zur Fremddisziplin. Sie
dient als Kontrastfolie, vor der die eigene Denk- und Handlungsweise
differenzierter hervortritt. Verantwortlich für die Differenz erscheint ihr der
jeweils unterschiedliche Gegenstand. "Ich denk', in der Mathematik geht’s um
Zahlen und in der Pädagogik geht's um Menschen" (15).
Ein deutlicher Trend schält sich aus dem Dargestellten heraus: Die
interdisziplinäre Konstellation ist von zahlreichen Ambivalenzen durchzogen. Sie
hat bei Julian den Wunsch erzeugt, etwas Neues und Fremdes - nämlich
problemorientierte kontroverse Diskussion - kennenzulernen. Sie hat die
Beteiligten stets auf ihre eigenen Selbstverständlichkeiten zurückgeworfen, die es
auszuloten, zu begründen, zu verteidigen oder neu zu fassen galt. Vielleicht ist es
kennzeichnend für das Eintauchen in einen interdisziplinären Lernzusammenhang,
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daß erfüllte Bedürfnisse nach Differenz und Selbstpositionierung flankiert werden
von Widerspruchserfahrungen. Die TeilnehmerInnen stoßen an die Grenzen ihres
eigenen Fachs, erfahren aber auch dessen Stärken. Diese Erfahrung läßt das
polarisierte Selbst- und Fremdbild aufweichen, ohne daß deshalb Differenzen
aufgehoben oder unbedeutend werden.
Anhang:
Verzeichnis der Lehrveranstaltungen
Gastvorträge
Exkursionen
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Literatur
Beierwaltes, A./B. Grebe/K. Neumann-Braun (1993), Indizierte Computerspiele Markt und Spiele, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.),
Computerspiele, Bonn, S. 89-104
Betz, J./C. Wins (1995), Der Eintritt in den Diplom-Studiengang
Erziehungswissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. Eine empirische
Analyse. Marburg.
Institut für Erziehungswissenschaft (1994), Diplom-Studiengang
Erziehungswissenschaft am Fachbereich Erziehungswissenschaft der PhilippsUniversität Marburg, Versuche einer Bestandsaufnahme, Marburg
Friebertshäuser, B. (1992), Übergangsphase Studienbeginn, Eine Feldstudie über
Riten der Initiation in eine studentische Fachkultur, Weinheim
Giddens, A. (1996), Leben in einer posttraditionalen Gesellschaft, in: Beck, U./A.
Giddens/S. Lash (Hrsg.), Reflexive Modernisierung, Frankfurt/Main, S. 113-194
Kübler, H.-D. (1993), Jugendliche Medienwelten: Computerwelten?, in:
Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Computerspiele, Bonn, S. 21-36
Merkert, R. (1992), Medien und Erziehung, Darmstadt
Paulitz, T. (i.E.), „Da prallen Welten aufeinander!“, Ergebnisse einer
Evaluationsstudie zum Modellprojekt ‘Neue Technologien in psychosozialen und
pädagogischen Handlungsfeldern’, in: Marburger Universitätszeitung
Piaget, J. (1983), Meine Theorie der geistigen Entwicklung, Frankfurt
Schachtner, Ch. (1998), Lernen für die Zukunft. Neue Medien als
Herausforderung für die Schule, in: alma mater philippina, WS 1998/99, S. 44-48
Schachtner, Ch. (i.E.), Neue Medien und Soziale Arbeit, in: Otto, H.-U./H.
Thiersch, Handbuch für Sozialarbeit/Sozialpädagogik
Schachtner, Ch. (i.E.), Unterstützen Neue Medien die Entwicklung
zukunftseröffnender Lebensperspektiven? Anforderungen an die Schule, in:
Bildung und Erziehung
Schütz, A./Th. Luckmann (1975), Strukturen der Lebenswelt, Neuwied
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