Schwangerschaftsvorsorge und Pränataldiagnostik Schwangerschaftsvorsorge: - Diagnostik/Überwachung: regelmäßige Untersuchungen von Schwangeren zur frühzeitigen Erkennung von Risikoschwangerschaften und Risikogeburten - Prophylaxe von Erkrankungen - Beratung (gesunde Lebensführung etc.) - Behandlung bei Feststellung von Erkrankungen - Betreuung von Wöchnerinnen Durchführung: - 10 Vorsorgeuntersuchungen (körperliche U., Labor) - 3 Ultraschalluntersuchungen (seit 1995) - Labor: - routinemäßiges Screening auf Infektionen (Toxoplasmose, Listeriose, Zytomegalie, Röteln) - Suche nach Blutarmut, Gerinnungsstörungen etc. - Erweiterung der Maßnahmen je nach Schwang.-Verlauf Pränataldiagnostik: routinemäßig: Ultraschall zur Suche nach Fehlbildungen spezielle Untersuchungen: - Indikationen: genetisch bedingte Erkrankung von Mutter/Vater genetische Erkrankung eines Geschwisters familiäre Belastung mit Erkrankungen, die eine erbliche Komponente haben Fehlbildung des Feten Alter der Mutter (> 38 Jahre) pränatale Virusinfektionen - Art der Untersuchungen: genetische Untersuchungen bei Mutter und Fetus, Stoffwechseluntersuchungen, Infektionsnachweis - Methodik: Mutter: Blutentnahme, evtl. Hautbiopsie Fetus: Fruchtwasserpunktion, Chorionzottenbiopsie, Blutentnahme (Nabelschnur), Hautbiopsie Beispiele für Erkrankungen behandelbare Erkrankungen der Mutter mit Risiko: - Infektionen - Diabetes mellitus - Thromboseneigung - Blutungsneigung - Bluthochdruck - Stoffwechselerkrankungen nicht / schwer behandelbare Erkrankungen der Mutter mit Risiko: - Skelettanomalien - viele Muskelerkrankungen mit Muskelschwäche - chronisch-progrediente Nervenerkrankungen - dialysepflichtige Nierenerkrankungen - chronische Lungen-/Herzerkrankungen mit schweren Funktionseinschränkungen gut behandelbare Entwicklungsstörungen und Erkrankungen des Kindes: - Frühgeburtlichkeit - Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten - viele Herzfehler - Phenylketonurie - viele andere Stoffwechselerkrankungen nicht behandelbare Erkrankungen des Kindes mit extrauteriner Lebensunfähigkeit: - Anenzephalus - Nierenaplasie bds. - schwere Herzfehlbildungen - multiple Fehlbildungen - bestimmte schwere Stoffwechseldefekte - Ichthyosis congenita gravis („Harlekinbaby“) z. T. behandelbare, zur Behinderung oder zu reduzierter Lebenserwartung führende Erkrankungen des Kindes: - offener Rücken (Myelomeningozele etc.) - bestimmte Hirnfehlbildungen - chromosomale Aberrationen: z. B. Down-Syndrom - Mukoviszidose - Knochenerkrankungen - verschiedene Stoffwechselerkrankungen - Alkoholembryofetopathie Beispiele für Erkrankungen der Mutter durch die Schwangerschaft selbst: - Extrauteringravidität (z. B. „Bauchhöhlenschwangerschaft“) - Uterusruptur (Riß der Gebährmutter) - HELLP-Syndrom - Eklampsie (Bluthochdruck, epileptische Krämpfe etc.) Schwangerschaftsabbruch (Abruptio) (nicht „Interruptio“ = „Unterbrechung“) Frage: Gibt es bei Schwangeren vorhandene oder zu erwartende Erkrankungen von Mutter oder Kind oder soziale Situationen, die einen vorzeitigen Abbruch der Schwangerschaft erforderlich machen oder nahelegen? Wo liegt die Indikation zum Schwangerschaftsabbruch ??? Medizinische Grundlagen „Indikation“ = medizinisch-fachlich allgemein anerkannter Grund für die Durchführung einer konkreten medizinischen Betreuungsmaßnahme; z. B. Diagnostik, Therapie, stationäre Aufnahme u. a. Indikationsstellung: = Abwägung des Verhältnisses zwischen Nutzen einerseits und Risiko bzw. Belastung des Patienten andererseits Grundlagen für Indikationsstellungen: - medizinisch bewiesene Erkenntnisse, - Erfahrungen in der Medizin (nicht immer wissenschaftlich bewiesen), - allgemein bekannte + vielfach akzeptierte Entscheidungsregeln (aber evtl. kontrovers) - humanistische Einstellung zum Patienten (niedergelegt in Richtlinien, Leitlinien, Empfehlungen) absolute Indikation: Maßnahmen mit geringem Risiko, hohem bzw. sogar sicherem Nutzen und klarer ethischer Begründung relative Indikation: Maßnahmen mit unsicherem Nutzen, schlechtem Nutzen-Risiko-Verhältnis oder zweifelhafter ethischer Begründbarkeit vitale Indikation: Risiko für Leben > Eingriffsrisiko, bei lebensbedrohenden Erkrankungen, Verletzungen soziale Indikation: Anlaß für eine medizinische Maßnahme aufgrund eines sozialen Mißstandes Kontraindikation: bei nicht gebotener, weil fachlich falscher, inhumaner oder zu risikovoller Maßnahme Indikationen zur Schwangerschaftsbeendigung: 1. mütterliche Indikation 2. kindliche Indikation Beispiele für mütterliche Indikationen: - schwere chronische Grunderkrankung der Mutter, die eine Schwangerschaft für Mutter und Kind lebensgefährlich macht - schwere therapieresistente psychopathologische Reaktion der Mutter auf Schwangerschaft und Mutterschaft - schwere soziale Probleme + Erkrankung: - z. B. minderjährige Schwangere mit sozial problematischem Hintergrund und stoffwechselkranke Leibesfrucht - z. B. kinderreiche finanzschwache Familie, debile schwangere Mutter und voraussichtlich behindertes Kind - Extrauteringravidität, Eklampsie etc. Beispiele für kindliche Indikationen = „embryopathische Indikationen“ (juristisch): - schwerer Fehlbildungskomplex - nicht behandelbare schwere Stoffwechselerkrankung, die zu schwerem Leiden bzw. frühem Tod führt - Tod der Leibesfrucht Kontraindikationen zum Schwangerschaftsabbruch: - Wunsch nach Austragung der Schwangerschaft - lebensfähiges, gesundes Kind Möglichkeiten zur Beendigung einer Schwangerschaft: extrauterin lebensfähiges Kind - ab 20. SSW ± gesundes Kind extrauterin nicht lebensfähiges Kind - Embryopathie - < 20. SSW Fetozid? Geburtseinleitung lebendes Kind mit Risiko (Frühgeburt) Abtreibung totes Kind ohne Risiko Gesetzliche Regelung zum Schwangerschaftsabbruch bis 20.08.1995: § 218a StGB alter Fassung: „embryopathische Indikation“ = Abtreibung bis zur 22. vollendeten SSW nach Beratung und unter bestimmten Voraussetzungen möglich (für Mutter und Arzt straffrei) seit 21.08.1995: Schwangeren- und Familienhilfe-Änderungsgesetz: „medizinische Indikation“ → § 218a StGB neu gefaßt: Wegfall zeitlicher Fristen! → nach § 219 entfällt Beratungspflicht → Wegfall der statistischen Erfassung Was bedeutet medizinische Indikation? 1. Feststellung von - Erkrankung / Behinderung des Ungeborenen durch Pränataldiagnostik oder - Erkrankung / medizinischer Problematik der Mutter + 2. ärztliche Erkenntnis, daß - die Fortsetzung der Schwangerschaft eine schwerwiegende Gefährdung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren bedeuten würde und - diese Gefahr nicht auf andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden könnte die alleinige pränatale Feststellung eines auffälligen Befundes des Ungeborenen reicht nicht aus! Ziele / Intentionen eines medizinisch indizierten Schwangerschaftsabbruches: a) Schwangerschaft = akut gesundheitlich bedrohender Zustand für die Schwangere: - Lebensrettung, Verhinderung einer Gesundheitsschädigung bei der Schwangeren - Tod des Kindes ist nicht beabsichtigt - Tod nur bei nicht extrauterin lebensfähigen Kindern als unvermeidliche Folge akzeptiert b) die prä- und postnatale Existenz des Kindes wird als schwerwiegende Gefährdung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren angesehen: - Verhinderung einer seelischen/körperlichen Erkrankung bei der Schwangeren - Tod des Kindes ist beabsichtigt Verhältnis von gesetzlichen Vorgaben zu Moral und Ethik Besonderer Brennpunkt sind hier die Konsequenzen aus den Ergebnissen der Pränataldiagnostik! Gesetze widerspiegeln einen gesellschaftlichen Konsens Gesellschaftlich und damit rechtlich akzeptierter, aber moralisch umstrittener Konsens ist offenbar: Eine pränataldiagnostisch festgestellte Erkrankung, Entwicklungsstörung oder Anlageträgerschaft des Kindes stellt in unserer Gesellschaft offenbar eine potentielle Gefährdung des körperlichen oder seelischen Zustandes einer Schwangeren dar. Kommentar: Das Recht kann und sollte auf moralischen und ethischen Prinzipien basieren. Aber Gesetze können Moral und Ethik weder ideal abbilden noch ersetzen. Sie sind ein Kompromiß aus moralischen Grundsätzen, gesellschaftlichen Erwartungen und praktikablen Regelungen. Handelnde Personen sind daher unterhalb der Gesetzesebene zu moralischer Selbstverantwortung verpflichtet. Das betrifft u. a. Ärzte, Schwestern, beratende Genetiker etc. Selbstverpflichtungen und Forderungen der Ärzteschaft als Reaktion auf Gesetzesneufassung Ungeborenes Lebensrecht Schwangere Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit Aber: Kein Recht auf ein Leben ohne Probleme! (Wohlstandsgesellschaft) Kein Recht auf Aufrechterhaltung eines bestimmten Lebensstils! Insofern ist das „Recht auf Abtreibung“ eingeschränkt. Ärztliche Erklärung zum Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik (November 1998) Initiatoren: Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe Deutsche Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer Ziele der Erklärung: - Konflikte und Probleme aufzeigen, die die neue Regelung aufwirft - öffentliche Diskussion anregen - Änderung im gesellschaftlichen Bewußtsein - Selbstverpflichtung zu ärztlich moralischem, menschenwürdigen Handeln - Gesetzgeber auf Regelungsschwächen aufmerksam machen Selbstverpflichtungen und Forderungen der Ärzteschaft: frühestmögliche Durchführung der Pränataldiagnostik: Entscheidung über Abruptio noch vor Eintritt der extrauterinen Lebensfähigkeit (< 20. SSW)! bei Pränataldiagnostik mit auffälligem Befund: - Indikationsstellung erst nach Beratung der Schwangeren - Beratende sind Humangenetiker und Pädiater - Prinzip der Beratung: ergebnisoffen und nicht-direktiv, einzelfallbezogen, vertraulich, möglichst Teilnahme des Vaters - Inhalt der Beratung: Erläuterung von pränatalem Befund Erkrankungsbild mit Entwicklungsmöglichkeiten und Folgen therapeutischen Möglichkeiten Möglichkeiten zur Vorbereitung auf ein Leben mit dem kranken Kind medizinischen, psychosozialen und finanziellen Hilfen um die Schwangerschaft evtl. auszutragen (Kontaktpersonen, Selbsthilfegruppen u. a.) Voraussetzungen und evtl. Folgen einer Abtreibung - weitergehende Beratung bei Wunsch der Schwangeren zum Abbruch der Schwangerschaft: Erläuterung von formalen rechtlichen Voraussetzungen Hinweis darauf, daß sich die Indikation nicht allein aus der Erkrankung / Behinderung des Ungeborenen ergibt Hinweis darauf, daß sich die Indikation aus der Unzumutbarkeit ergibt, die mögliche körperliche oder seelische Gefährdung der Schwangeren anders als durch einen Schwangerschaftsabbruch abzuwenden Art und Schwere der drohenden gesundheitlichen Gefährdung der Schwangeren medizinische, psychosoziale und finanzielle Hilfsangebote zur Inanspruchnahme von Alternativen zur Abtreibung Methoden, Risiken und mögliche Folgen des Schwangerschaftsabbruchs bei fortgeschrittener Schwangerschaft: Möglichkeit der Geburt eines lebenden / lebensfähigen Kindes + ärztliche Pflicht zur Behandlung des Kindes + Risiko durch Frühgeburtlichkeit mögliche psychische Folgeprobleme der Mutter und Behandlungsmöglichkeiten - diese Beratung erfolgt durch einen Frauenarzt + Experten, wie Genetiker, Stoffwechselexperte, Kinderkardiologe, Psychologe, Sozialarbeiter Bei Einhaltung dieser Vorsätze gibt es keine „untergeschobene Ermunterung“ zur Abtreibung. Zwischen Beratung und Durchführung der Abruptio soll eine mehrtägige Frist liegen! (seelische Verarbeitung und Entscheidungsfällung durch Schwangere + Partner) Jeder Arzt, der einen Schwangerschaftsabbruch vornimmt soll eine Bescheinigung über die o. g. Beratungen verlangen; erst daraus ergibt sich die Indikation Abruptio nach der 20. SSW: nur bei unbehandelbarer Erkrankung oder Entwicklungsstörung des Kindes, die nicht mit dem Leben vereinbar ist Fetozid wird bei extrauterin lebensfähigen Feten nicht durchgeführt! Ausnahme: selektiver Fetozid eines schwer erkrankten oder entwicklungsgestörten Fetus in einer Mehrlingsschwangerschaft, wenn die Schwangere ansonsten den Schwangerschaftsabbruch mit Verlust aller Kinder wünschen würde Aufforderungen an den Gesetzgeber: Schaffung der Rahmenbedingungen dafür, daß Beratungen vor Durchführung einer Abruptio und die Einhaltung der mehrtägigen Frist zur gesetzlichen Pflicht werden gesetzliche Verpflichtung zur statistischen Erfassung von Anzahl und Anlaß der Abbrüche wieder einführen (Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht wurde bereits vom Bundesverfassungsgericht auferlegt!)