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(Id.Salz.5)
ICH – Identität und Selbstwert
Das Thema „Identität“ ist uralt. Über dem Eingang des Tempels zu Delphi stand „Erkenne Dich selbst!“ - im Grunde nichts
anderes als die Frage „Wer bin ich?“, „Was bin ich“? Zwei
Tausend Jahre später schrieb Angelus Silesius „Ich bin, ich
weiß nicht wer. Ich komme, ich weiß nicht woher. Ich gehe, ich
weiß nicht wohin – mich wundert, dass ich so fröhlich bin“.
Aus der Forderung „Erkenne Dich selbst!“ (also: „Erkenne, wer
Du bist!“) ergibt sich die gleichfalls uralte Forderung „Werde,
der Du bist!“, das heißt doch: „Finde Deine wahre Identität“.
Nichts anderes besagt der Terminus „Selbstverwirklichung“.
Oder auch Tolstoi: „Einen Menschen lieben, heißt ihn so sehen,
wie ihn Gott gedacht hat“. Immer geht es darum, mit sich selbst
identisch zu sein, gemäß der eigentlichen Identität zu leben.
Und Selbstverwirklichung bedeutet zugleich auch positives
Selbstwertgefühl, also Selbstwertverwirklichung.
Mit dem Begriff „Identität“ haben wir ja einige Schwierigkeiten. Wie definieren? „Sich-Selbstgleichheit“? Das umfasst doch
nicht alle Aspekte. Erikson, der den Begriff in die Psychoana-
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lyse eingeführt hat, weiß um dessen Mehrdeutigkeit: er sei
„ebenso unergründlich wie allgegenwärtig“. Probleme machen
auch die Begriffe „Ich“ und „Selbst“. Nach Erikson ist das Ich
die „integrierende Zentralinstanz“ mit weitgehender Konstanz,
das Selbst dagegen ist zeitlebens veränderlich.
Seine Sicht von Ich und Selbst lässt sich veranschaulichen
durch den Vergleich mit dem Tower auf einem Airport: Der
Tower als konstante integrierende Zentralinstanz, während das
Flugfeld mit seinen ständigen Veränderungen dem Selbst entspricht. Der Tower kontrolliert
alles, bestimmt Abflug und
Landung, speichert alle Daten, berücksichtigt, was gestern war,
plant im voraus - genauso wie das „Ich“ im weiten Feld der
Psyche wahrnimmt, kontrolliert, bestimmt, was aufgenommen,
„perzipiert“ wird, was also bei uns „landen“ darf, und auch was
„starten“ darf, was ausgesandt wird, verbal und nonverbal,
durch Handlung, Mimik, Gestik. Vor allem aber koordiniert
der Tower, verarbeitet eingehende Daten, vergleicht, ordnet und
plant - genauso wie unser „Ich“ im weiten Feld des veränderlichen Selbst! Und wenn da etwas nicht klappt, dann gibts ein
Chaos, eine Katastrophe. Im Airport genauso wie in der Psyche,
bis hin zum katastrophalen Extrem des Schizophrenen, der in
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einer völlig anderen Identität lebt und überzeugt ist, Jesus
Christus zu sein.
Zunächst die Frage: Wie sieht die Entwicklung der Identität
aus? Identitätserleben ist ja nicht von Geburt an mitgegeben,
wenngleich die Säuglingsforschung zeigt: Ansätze von Identitätserleben sind schon sehr früh zu beobachten. Die erste Weltbeziehung des Kindes ist die Identifizierung mit der Mutter, sie
ist die Grundlage des Identitätsgefühls. Als „inneres Objekt“ ist
die Mutter dann auch in Abwesenheit mit sichernder Potenz für
das Kind vorhanden: Objektkonstanz, die Grundlage des
„Urvertrauens“.
Das Kind identifiziert sich mit realen Bezugpersonen, aber auch
mit phantasierten Gestalten - Märchenfiguren, Fernsehhelden,
Popikonen und Sportidolen. Diese Identifizierungen zu integrieren und damit die persönliche wie auch psychosoziale Identität
zu bilden, ist Aufgabe der synthetischen Funktion des Ichs. Das
kann sehr unterschiedlich aussehen.
So bemühen sich Kinder in einem autoritär-einengenden Elternhaus, die Verhaltensweisen zu verwirklichen, die ihre Eltern
erwarten, ohne Rücksicht auf das, was sie eigentlich wünschen
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und wollen, bewusst und unbewusst. Als Folge entwickeln sie
ein „falsches Selbst“. Sie leben eine Identität, die sich ganz
einseitig den Eltern anpasst, und nicht die ihnen adäquate
Identität.
Ein tragischer Sonderfall sind die Kinder, die ein früh verstorbenes älteres Geschwister ersetzen sollen und sogar dessen
Namen bekommen – das so genannte „Replacement“. Erwin
Ringel führt als Beispiel den Dichter Hanns Henny Jahnn an,
der als zweites Kind den Vornamen des verstorbenen Bruders
erhielt. Ich zitiere Ringel: „So musste er oft erleben, dass er an
das Grab des Bruders geführt wurde, wo eine Tafel an den Tod
des Hanns Henny Jahnn erinnerte! Lag dort ein anderer oder er
selber, mit dieser bangen Frage musste er sich auseinandersetzen, und sie hat sicher seine Identitätsfindung beträchtlich
erschwert.“
Ja, die Identität kann bedrohlich deformiert werden, wenn ein
Mensch sich bemüht, Erwartungen und Forderungen zu erfüllen, die seiner Identität gar nicht entsprechen. Da ist ein verliebtes Mädchen bestrebt, ganz so zu sein, wie ihr Freund sie haben
möchte. Freundinnen sagen warnend: „Du hast dich so verändert, Du bist gar nicht mehr Du“. Eine Weile kann das gut
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gehen; ihr Selbstwertgefühl, total abhängig vom „Liebgehabtwerden“, erscheint stabilisiert. Irgendwann aber kracht es, oder
aber - auch das ist möglich - sie reagiert mit psychosomatischen
Symptomen. Es ist halt schwer, auf Dauer ungestraft contra
naturam suam zu leben.
Das klassische Beispiel des Mannes, der eine Frau ganz nach
seinen Wünschen formt, ist der Bildhauer Pygmalion in der
griechischen Mythologie. Sein Werk wird dank göttlicher Hilfe
lebendig. Im Musical „My fair Lady“, Bernard Shaws „Pygmalion“ nachempfunden, wird Eliza von ihrem Prof. Higgins bis
zur Schmerzgrenze zurechtgebogen. Aber dann knallt es, Eliza
rebelliert, steigert sich in wilde Mordphantasien und gewinnt
damit erst ihre wahre Identität.
Pygmalion-Phantasien bewegen wohl auch manche der Männer, die sich für „Sexpuppen“ begeistern. Aufblasbare Exemplare mit entsprechenden Körperöffnungen liefert Beate Uhse.
So etwas gabs schon vor Jahrhunderten („Femme de voyage“,
„Dutch wife“), in Spanien den Seeleuten in Apotheken als
Ersatzfrau angeboten. Für unser Thema uninteressant. Anders
sieht es aus, wenn die Sexpuppe als erträumte Identität einer
allzeit verfügbaren Partnerin erlebt wird. Der große Maler
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Oskar Kokoschka hatte eine höchst problematische Beziehung
zur Skandalfrau Alma Mahler-Werfel. Im Sommer 1918 gab er
bei einer Münchener Puppenmacherin eine Puppe in Auftrag:
eine lebensgroße Nachbildung von Alma! Die Korrespondenz
ist erhalten, sie enthält präzise Anweisungen. „Bitte machen Sie
es dem Tastgefühl möglich, sich an den Stellen zu erfreuen, wo
die Fett- und Muskelschichten plötzlich einer sehnigen Hautdecke weichen“. Weiter: „Es handelt sich um ein Erlebnis, das
ich umarmen muss“. Von der Arbeit der Puppenmacherin war
er dann aber doch enttäuscht und schrieb ihr böse, die Haut der
Puppe sei geeignet für einen Bettvorleger, „aber nie für die
Geschmeidigkeit und Sanftheit einer Weiberhaut“. Offenbar
war die Puppe doch nicht ideal für die Erfüllung seiner sexuellen Bedürfnisse.
Dennoch: Kokoschka verewigte die „stille Frau“, wie er die
Traumpartnerin nannte, in zahlreichen Gemälden und Zeichnungen. Wenn sie auch nicht real lebendig war wie Pygmalions
Frau in der Mythologie, so ging er doch mit ihr um wie mit einer lebendigen Geliebten. Er kleidete sie in teure Kostüme und
Dessous aus besten Pariser Salons und ließ das Gerücht verbreiten, er habe einen Fiaker gemietet, um sie an sonnigen Tagen
ins Freie zu fahren, oder eine Loge in der Oper, um sie öffent6
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lich herzuzeigen. Wirklich eine groteske Variante des Pygmalionthemas! Die Geschichte fand ein dramatisches Ende: bei
einem Gartenfest hackte Kokoschka im Rausch der Puppe den
Kopf ab und kippte eine Flasche Rotwein darüber. Mit der
Ermordung der „stillen Frau“ hoffte er wohl, Alma in sich zu
überwinden, Alma, das innere Objekt. Am nächsten Morgen
schellte die Polizei bei ihm, in seinem Garten liege eine Leiche.
Die Müllabfuhr entsorgte dann die Reste der seltsamen hochambivalenten Beziehung.
Mangel an Realitätsbezug ist bei Identitätsstörungen oft zu beobachten, wenn auch nicht so extrem und so exzentrisch wie bei
Kokoschka. Freud beschreibt ein häufiges Phänomen, das er
„Familienroman“ nennt. Ein Kind phantasiert, gar nicht das
Kind seiner Eltern zu sein, sondern von ganz anderen Eltern
abzustammen, also eine wunderbare Identität zu haben, die das
Kind über reale Frustrationen hinwegtröstet.
Bizarre und auch bedenkliche Tagträumereien werden manchmal auch bis ins Erwachsenenalter fortgesetzt. Orhan Pamuk,
Nobelpreisträger (Literatur) 2006, beschreibt in seiner Autobiographie „Istanbul“, wie er als Kind Fliegen zerquetschte und
sich dabei vorstellte, einen Schurken umzubringen. Und wie er
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sich genüsslich ausmalte, ein Haus anzuzünden und dann auf
die Leute, die sich zu retten suchten, mit einem Gewehr zu
feuern. Bis etwa zum fünfundvierzigsten Lebensjahr habe er in
einem wohligen Zustand zwischen Wachen und Schlafen immer
jemanden umgebracht, Politiker, Geschäftleute, auch Verwandte, die er heute um Verzeihung bitten müsse. Im Militärdienst
hatte er die Phantasie (wörtlich:) „dass siebenhundertfünfzig…
Rekruten die Köpfe abgetrennt waren und ihre blutigen Speiseröhren in der bläulich verrauchten Kantine sanft dahinschaukelten…“. Eine makabre zweite Identität dieses hochbegabten
Intellektuellen. Heute bietet ja der Computer erschreckende
Möglichkeiten, neben der realen Identität eine grandiose, oft
abartige virtuelle Identität zu leben.
Tagträumend eine zweite Identität leben - auch eine Möglichkeit, eine Identitätsproblematik zu bewältigen! Drogen und
Alkohol können die Flucht in den Tagtraum erleichtern. So bei
einer ältlichen vereinsamten Angestellten, die viele Jahre lang
allabendlich leicht alkoholisiert den Jugendtraum ausspann, als
Förstersfrau tief in einem Märchenwald ein glückliches Leben
zu führen. Der Alkohol war dabei notwendig, um die kritische
Realitätskontrolle zu mildern, die den lustvollen Aufbau der
Tagtraumidentität gestört hätte.
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Bei der Identitätsfindung geht es immer auch ums Selbstwerterleben. Warum entwickelt sich ein Kind zu einem selbstwertstarken Menschen, ein anderes zu einem selbstwertschwachen?
Grundlage für ein starkes Selbstwertgefühl - als wesentlichem
Element stabiler Identität! - sind frühe positive Erfahrungen.
Hier verdanken wir der Bindungsforschung wertvolle Einsichten. Aus vielen Interaktionserlebnissen (vor allem natürlich
Mutter-Kind) bildet das Kind schon sehr früh innere Modelle
des Erlebens und Verhaltens, so genannte „innere Arbeitsmodelle“ („inner working models“).
Da gibt’s viele Möglichkeiten:
- Still und artig sein. Das Kind hat immer wieder erlebt: Weinen
nützt nicht, bringt nur Frustrationen ein.
- Oder: Leistung erbringen, tüchtig sein – das gibt
Bindungssicherheit. Später: „Leistungsidentität“.
- Oder: Schmusen, aktive Zärtlichkeit wird gewünscht, das gibt
Sicherheit, liebevolle Zuwendung. Später: eine entsprechende
„Beziehungsidentität“, möglicherweise dann auch sexualisiert.
- Oder auch: Keine feste Bindung eingehen, flexibel bleiben,
Bezugpersonen sind austauschbar; dann wird man auch nicht
enttäuscht. Später Bindungsunfähigkeit, eine labile konturlose
Beziehungsidentität.
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Diese frühen inneren Modelle konstituieren also weitgehend
später die Identität, im Verhalten wie auch im Erleben.
Eine andere wichtige Weiterentwicklung ist die Psychologie
des Borderline-Syndroms. Entscheidender Strukturdefekt dabei:
es fehlt eine integriertes Selbstkonzept. Das bedeutet: extrem
gegensätzliches Selbsterleben mit massiven Einbrüchen ins
Identitätserleben. Mancher Borderlinepatient steht rat- und
fassungslos vor dem, was er am Vortage getan hat. Ein beruflich qualifizierter Mann mit einer unappetitlichen Perversion
(Koprophilie) war jeweils nach den perversen Episoden, die er
in der Situation selbst als ichsynton erlebte, in seinem Selbstwertgefühl tief erschüttert und sagte rückblickend: „Ich kann
einfach nicht fassen, dass ich das war. Ich müsste es in der
Situation aufschreiben, um es hinterher wirklich zu realisieren“.
Er erlebte sich gleichsam als Mensch mit zwei getrennten
Identitäten. Die Identität von heute ist nicht mehr die von
gestern.
Das Extrem einer solchen Identitätsspaltung stellt ja die so genannte „multiple Persönlichkeit“ dar. Eine umstrittene Diagnose! Gibt es sie wirklich? Das Thema ist alt. In Stevensons Roman „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ schafft es der Doktor, sich in
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zwei Identitäten zu spalten: den guten Dr. Jekyll und den bösen
Mr. Hyde. Um 1900 ging über die Bühnen ein Erfolgsstück
„Der Andere“, in dem ein Richter bei der Untersuchung eines
Verbrechens entsetzt feststellt, dass er selbst – seine andere
Identität – der Täter ist. Nun, das ist Literatur, das oft behandelte Doppelgängerthema. Ich gehöre zu den Skeptikern - „Multiple Persönlichkeiten“ dürften allenfalls extreme Raritäten sein.
Nun zu dem Lebensabschnitt der entscheidenden Umbrüche,
dem für die Identitätsfindung besondere Bedeutung zukommt:
die Pubertät!
Da steht so mancher junge Mensch nachdenklich vor dem
Spiegel und erlebt sich als fremd, vielleicht sogar - z.B. nach
erstem sexuellen Erleben - als Mensch mit veränderter Identität.
Die alten Identifizierungen - mit Eltern, Geschwistern, Großeltern - sind gelöst oder modifiziert. Mit der sexuellen Reifung
stellen sich neue Identitätsfragen. „Bin ich ein richtiger Junge?
Bin ich vielleicht schwul? Bin ich eine richtige Frau?“ Die
Identität wird auch im Körperbild erlebt. Denken Sie an die
Anorexia nervosa, bei der es ja auch um die Akzeptanz der
weiblichen Identität geht. Der Körper wird „entweiblicht“,
desexualisiert. Trotz bedrohlicher Abmagerung erlebt sich das
Mädchen als unförmig dick.
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Die Identitätsverwirrung in der Pubertät kann psychotische
Ausmaße annehmen. Ein junger Schizophrener steht vor seinem
Spiegelbild und zertrümmert den Spiegel in einem Anfall von
Verzweiflung: das „Signe du miroir“, das „Spiegelzeichen“ im
Vokabular der französischen Psychiatrie.
Gewiss der Extremfall. Oft erleben junge Menschen aber diese
Problematik in milder, gleichsam verdünnter Form und stehen
fragend-ratlos sich selbst gegenüber. Und aus dem Identitätsbedürfnis heraus suchen sie nach Möglichkeiten, für sich eine
Identität zu finden: klar, ordnungs- und sinnstiftend. Damit sind
sie in Gefahr, zur leichten Beute ideologischer und politischer
Rattenfänger zu werden, die das Glück einer kollektiven Identität versprechen. Ein junger NPD-Anhänger sagte im Fernsehen: „Jetzt weiß ich, wo ich hin gehöre und wer ich bin.“
Ein anderer Aspekt der Identitätsentwicklung. Die Narzissmustheorie lehrt, zur Reifung gehört auch, das kindliche Größenselbst abzubauen und ein Realselbst aufzubauen. Ein Kind, von
unkritisch verwöhnenden Eltern ständig „grundlos“ gelobt und
gefeiert, entwickelt ein unrealistisches Selbstwertgefühl und
wird später im Denken, Fühlen, Handeln vom persistierenden
Größenselbst bestimmt. Die Folge: immer wieder Selbstwert-
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krisen durch Diskrepanz zwischen dem eigenen Identitätserleben und der Realität. Die gegensätzlichen Wahrnehmungen
- die eigene und die der Mitmenschen - kollidieren schmerzlich.
Kohut sagt dazu, dass diese Narzissten hin- und herschwanken
zwischen irrationaler Selbstüberschätzung und Minderwertigkeitskomplexen. Auf Niederlagen reagieren sie mit narzisstischer Kränkung oder auch mit narzisstischer Wut. Wer kennt
nicht solche Menschen? Zumeist kompensieren sie ihre Identitäts- und Selbstwertkrisen durch aufgesetzte Arroganz - die
setzt aber eine Ausblendung der Realität voraus. Manchen
gelingt das nur, indem sie als „Spiegeltrinker“ dafür sorgen, mit
konstantem Alkoholspiegel die kritische Selbstbesinnung zu
reduzieren.
Und dann sind da noch die unkritisch selbstverliebten Narzissten, die überzeugt sind, dass in ihnen Talente und Möglichkeiten schlummern, die nur auf Selbstverwirklichung warten. Sie
landen auf ihrer Identitätssuche in Egoismus, Isolation und Beziehungslosigkeit. Und Therapeuten machen sich mitschuldig,
wenn sie einem Menschen, der in vorgegebenen Grenzen
durchaus glücklich werden könnte, einreden, er müsse mehr für
seine Selbstverwirklichung tun. Manche Ehe ist daran geschei-
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tert, dass ein Mensch in der Therapie auf einen unsinnigen
„Selbstverwirklichungstrip“ geschickt worden war.
Eine mächtige Seite des Narzissmus betrifft das Erscheinungsbild, das Bild, das wir den Mitmenschen bieten, deren Reaktion
dann - je nachdem - narzisstische Bestätigung oder aber auch
narzisstische Kränkung bedeuten kann. Unglücklich jene Menschen, die ihr Selbstwertgefühl allein von der Fassade her aufbauen. „Hauptsache: gut aussehen“ – für sie das Fundament
von Identität und Selbstwertgefühl. Im Alterungsprozess nehmen sie den Wettlauf mit der Lebensuhr auf – und die Uhr
gewinnt immer.
Im Rahmen der Identität ist das Gesicht von herausragender
Bedeutung. „Sein Gesicht verlieren“ – das heißt, man verliert
die Identität, wie sie im sozialen Umfeld gesehen wird. Gesicht
und Identität werden also metaphorisch gleich gesetzt. Und so
kann es nicht Wunder nehmen, wenn das Gesicht bei Störungen der Identität zum bevorzugten Projektionsfeld wird. Dementsprechend: Stabilisierung von Identität und Selbstwertgefühl durch Änderung des Gesichts (Liften, Nasenkorrektur,
Schlupflider entfernen etc.). Welche Fülle an Kosmetika wird
allein zur Verschönerung des Gesichtes angeboten! Darüber
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hinaus hat natürlich die Änderung des ganzen Körperlichkeit
ein großes Gewicht (Fettpolster absaugen, Brustkorrekturen) .
Die geradezu wahnhafte Überzeugung, durch körperliche
Veränderungen irgendwie „richtig“ zu werden, also eine stabile
Identität zu gewinnen, - sowohl im Selbstverständnis als auch
sozial - kann zu Dysmorphophobie und grotesker Operationssucht führen.
Die groben Fälle sind eher selten. Ungemein häufig dagegen
erleben wir Menschen, die mit ihrem Erscheinungsbild höchst
unzufrieden sind. Die Kosmetikindustrie tut ein Übriges dazu.
Die Lawine an Kosmetikangeboten suggeriert vor allem den
Frauen, von Natur aus in hohem Maße korrekturbedürftig zu
sein. Nichts gegen ein vernünftiges (!) Bedürfnis, mit kosmetischen Mitteln etwas für sein Äußeres zu tun. Wenn aber die
„Schönheitspflege“ einen dominierenden Raum einnimmt, dann
ist auch an eine Identitätsproblematik zu denken.
Und das gilt auch und vielleicht noch mehr, wenn der Bekleidung eine völlig unangemessene Bedeutung zukommt, über alle
finanzielle Vernunft hinaus in sinnloser Fülle Kleidung gekauft
wird. Dann geht es nicht nur um simple Eitelkeit – nein, die
Bekleidung wird auch zur Verkleidung. Eine Variante des
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Rumpelstilzchenthemas. „O, wie gut, dass niemand weiß, wer
ich eigentlich bin.“ Die Identitätsproblematik wird damit ja
nicht gelöst - die Folge: Wiederholungszwang! Die eben erst
gekaufte Garderobe verschwindet im überfüllten Kleiderschrank, etwas Neues muss her. Eine 50-jährige Patientin, vom
verzweifelten Ehemann geschickt, sagte mir „Sonst werde ich
doch depressiv“.
Einen zentralen Raum in der Identitätsfindung nimmt die
Geschlechtsidentität ein. Männliche und weibliche Identität
sind ja keineswegs 100%ig genetisch vorgegeben, sondern das
Resultat einer komplizierten und störanfälligen Entwicklung.
Freud ging davon aus, dass wir alle bisexuell sind, die männliche Komponente aber von Anbeginn so sehr dominiert, dass
man das Kleinkind zunächst einmal als männlich charakterisieren muss. Das Mädchen entwickelt dann seine weibliche Identität mühsam über die schmerzliche Erkenntnis, weniger gut
ausgestattet zu sein, sich mit einem Defizit abfinden zu müssen.
Der berühmte Penisneid. Die weitere Identitätsfindung soll
dann abhängen von der Bereitschaft des Mädchens, den Penisneid aufzugeben und durch den Wunsch nach einem Kind zu
ersetzen. Gelingt das nicht, dann ergeben sich schwerwiegende
Einbußen im Selbstwerterleben. Kinderlose Frauen haben damit
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ja kaum Chancen, zu vollwertiger weiblicher Identität zu
gelangen.
Freuds Konzept ist obsolet, zumindest erheblich zu relativieren. Dennoch: Wächst ein Mädchen in einer Familie oder einem
Kulturkreis auf, in dem nur Jungen als vollwertig gelten, dann
kann das Defizitgefühl „Ich bin nur ein Mädchen“ zu einer Verbiegung und Verzerrung der Identität führen. Oft sind Frauen
gezwungen, Aspekte ihrer Identität zu verschweigen oder zu
verbergen. Die Identitätsforderung „Sei Du selbst“ - ist für sie
nicht zu erfüllen. Und dann werden sie diffamiert mit dem abwertenden Begriff „phallische Frau“. Ihnen wird unterstellt, mit
Männern unfair zu rivalisieren und dabei kompensatorische
Strategien zu entwickeln: krankhaften Ehrgeiz, aber auch
Intrigen und Verleumdungen.
Das alte ödipale Konzept der Identitätsbildung (Mädchen müssen den Penisneid, Jungen die Kastrationsangst bewältigen) ist
gewiss nicht total falsch, erfasst aber nicht die präödipalen Aspekte der Identitätsbildung. So ist vor allem für den Jungen
bedeutsam, die frühe Identifikation mit dem primären Liebesobjekt Mutter zu bewältigen. Mädchen dagegen bleiben ja in
der weiblichen Identität, stehen dann allerdings oft später, in
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Pubertät und Adoleszenz, vor der Aufgabe der „Entidentifizierung“, um zur eigentlichen Identität zu kommen. Gar nicht so
selten hört man aus dem Mund von Frauen „Ich habe Angst, ich
könnte so werden wie meine Mutter“. Analoge Äußerungen aus
dem Mund von Männern sind sehr viel seltener.
Die „Startbedingungen“ des Jungen sind also schwierig. Die
große Gefahr für seine Identitätsfindung: die frühe „Entidentifizierung“ gelingt nur unvollständig. Und dann treten später
regressive Tendenzen auf: Sehnsucht nach Rückkehr zum
ursprünglichen Einssein mit der Mutter. Und damit verbunden
die archaische Angst, durch eine solche Regression die Identität
zu gefährden, das inzwischen gewonnene autonome Selbst zu
verlieren, verschlungen zu werden, so wie in der griechischen
Mythologie die Erdmutter Gaea ihre Kinder verschlingt oder
die Hexe in „Hänsel und Gretel“ darauf aus ist, den armen
Hänsel zu verspeisen.
Auf dem Hintergrund dieser archaischen Angst sind viele sexuelle Störungen zu verstehen. Sexuelle Nähe bedeutet eine
gewisse Lockerung der Ich-Grenzen. Wenn Liebende zu einander sagen: „Für uns gibts kein ‚Ich’ und kein ’Du’ mehr, für uns
gibts nur noch ein ‚Wir’“, dann signalisieren sie damit ja eine
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liebevolle Verschmelzung ihrer Identitäten. Und die flüchtige
Bewusstseinstrübung im Orgasmus mit gewisser Minderung der
Kontrollfähigkeit macht verständlich: bei unsicherer Identität ist
damit die Angst vor symbiotischem Ich-Verlust verbunden.
Potenzprobleme sind die Folge.
Auf den ersten Blick steht hier ja die Mutter-Sohn-Problematik
im Vordergrund. Dabei wird oft übersehen, dass der Schwerpunkt beim Vater liegen kann. Väter mit brüchiger männlicher
Identität bieten nicht die Identifikation, die zur Ablösung von
der Mutter notwendig ist. Sie neigen dazu, in Abwehr eigener
homophiler Anteile knallharte Männlichkeitsideale an den Sohn
zu delegieren, um einen „richtigen Mann, einen ganzen Kerl“
aus ihm zu machen. Der Effekt kann gegenteilig sein. Der überforderte Sohn geht auf Gegenkurs, klammert sich an die Mutter,
identifiziert sich vermehrt mit ihr und gerät in eine permanente
Identitätskrise. Der Vater resigniert: „Ich weiß nicht, woher der
Junge das hat. Er ist so weibisch, ein Waschlappen“.
Bei einem solchen Vater kann die Identitätsbildung des Sohnes
aber auch anders verlaufen. Unter dem Druck gesellschaftlicher
Normen, nicht zuletzt auch der Erwartungen des Vaters, entwickelt er genau wie der Vater eine primitive Macho-Identität.
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Seine sexuellen Beziehungen sind dürftig und seelenlos. Richtig wohl fühlt er sich eigentlich nur in Gesellschaft von Männern, Männerbünde sind seine seelische Heimat.
Die Identitätsbildung des Sohnes kann aber auch in noch eine
andere Richtung gehen. Er bewältigt die frühe Frustration dadurch, dass er in Umkehr der erlebten Vater-Beziehung Knaben
so liebt, wie er als Kind von seinem Vater gerne geliebt worden
wäre Er entwickelt eine pädophile Identität. Nun bringt er dem
geliebten Knaben idealisierte väterliche als auch mütterliche
Gefühle
(die
günstigen Fall
mütterliche
Identifikation!)
entgegen,
im
pädagogisch sublimiert, zumeist leider
sexualisiert.
In unserer Zeit sexueller Umbrüche und Neuorientierungen
stellt sich die Frage: In welche Richtung wird sich die Identitätsbildung der Geschlechter künftig entwickeln? Wie sieht die
Identität der Frau und des Mannes von morgen aus? Wir sind
dabei, die krasse Polarisierung der Geschlechter zu überwinden. Der „Nur-Mann“ hat ebenso wie die „Nur-Frau“ keine
gesunde Identität, denn die bedeutet: beim Mann sind die weiblichen Anteile integriert, bei der Frau die männlichen.
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Wir befinden uns gegenwärtig in einer „androgynen Revolution“
(wie Elisabeth Badinter formuliert). Mit der androgynen Identität
eröffnen sich Wege zur Harmonisierung weiter Bereiche der
Zwischenmenschlichkeit, nicht zuletzt auch zur Überwindung
von Vorurteilen und Missverständnissen. Vielleicht auch zu
einem besseren Verständnis für eine - meiner Ansicht nach - zu
wenig beachtete Identitätsproblematik. Ich denke da an Menschen mit depressiver Lebensgrundstimmung, bei denen Träume,
Partnerprobleme und sexuelle Störungen auf bewusstseinsferne
homoerotische Tendenzen und Strebungen hinweisen. Oft haben
sie auch ein „ahnendes Wissen“ um diesen Anteil ihrer Identität.
Es kann eine dankbare Aufgabe sein, diesen meist bisexuellen
Menschen zu helfen, ihr breites Spektrum an Erlebnismöglichkeiten nicht nur negativ zu sehen und sie zu versöhnen mit dem
„androgynen Menschsein “.
Ja, aber wie wird sich die androgyne Identität auf die Sexualität
auswirken? Die einen fürchten: Abstumpfung und öde Gleichmacherei an Stelle faszinierender Gegensätzlichkeit. Andere
vertreten die These, die Identitätsprobleme dadurch aus der
Welt zu schaffen, dass die Androgynie in praktizierter Bisexualität realisiert wird. So der Modemacher Joop in einem Spiegelinterview und auch der Komponist Lennart Bernstein.
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Konträre Positionen. Ich stimme Elisabeth Badinter zu. Sie
schreibt: „Das androgyne Modell...erspart uns...nicht, dass jeder
von uns - und besonders die Männer - ein sicheres Gefühl der
geschlechtlichen Eigenart entwickeln muss. Erst wenn sie
dieses Gefühl entwickelt haben, können Männer und Frauen
gemeinsam weitergehen“.
Meine Damen und Herren, Identität und Selbstwert sind so eng
miteinander verbunden, das man grundsätzlich sagen kann: ein
Mensch, der eine gute Identität gefunden hat, der wird auch ein
solides Selbstwertgefühl haben. Problematisch ist die Beziehung von Identität und Selbstwertgefühl bei pathologischem Erleben. So empfinden sich viele Menschen mit einer Perversion
in ihrer Identität als „normal“. Die Frau eines masochistischen
Juristen sagte mir, ihr Mann bedaure alle Männer, die seine
sexuellen Wonnen nicht erleben könnten. Dementsprechend
fehlen Leidensdruck, Selbstwertdefizit und eben auch Motivation für eine Therapie. Ähnlich sieht es aus bei Charakterneurosen. Während eine Frau mit einer „Symptomneurose“, etwa
einem Waschzwang, sehr leidet, erlebt sich eine Frau mit einer
Charakterneurose, die als „Putzteufel“ ihre Familie tyrannisiert,
als normal, der Identität gemäß, als „ichsynton“. Ein Zwangsneurotiker erlebt seine Zwangssymptome zumeist als „ich22
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fremd“, also ichdyston, als nicht zur Identität gehörend. Wir
wissen natürlich, dass sie durchaus zu ihm gehören, zu seiner
Identität, wenn auch auf unbewusster Ebene.
Ja, vieles, sehr vieles, was unsere Identität ausmacht, ist unbewusst und Teil unserer „negativen Identität“. Man hat das lange
nicht wahrhaben wollen. Noch im Jahre 1952 schrieb der bedeutende Psychiater Gruhle: „Es ist zu bedenken, dass die ganze Sexualsphäre in der Persönlichkeit …..eine Art Fremdkörper ist. Sie hat zu den übrigen Seiten des Seelenlebens keine
bindenden Bezüge.“ Heute kaum mehr zu verstehen. Wir konfrontieren den Patienten mit nicht bewusst-seinsfähigen Anteilen seiner Identität. Und das kann für sein Selbstwertgefühl
bedrohlich sein. Da sollen ein engagierter Pädagoge oder der
ehrenamtliche Trainer einer Jugendmannschaft akzeptieren,
dass ihr Engagement seine Energie auch aus nicht gelebter
Homophilie bezieht, für uns ja eine wertvolle Sublimierung im
pädagogischen Eros. Die Psychoanalyse sagt knallhart, dass in
der beruflichen Faszination des engagierten Chirurgen ein
sublimiertes Stück Sadismus steckt. Ich hatte einmal einen tüchtigen Zahnarzt in Analyse, der an einem schönen Sommerabend
Schwierigkeiten hatte, der Grundregel gemäß vorbehaltlos zu
sagen, was ihm so durch den Kopf geht. Schließlich brachte er
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zögernd vor, am Vormittag habe eine Urlauberin aus Bayern
beim Bohren eines kariösen Zahns einen - wie er sagte - „Jodlerischen Aufschrei“ von sich gegeben, von dem er so fasziniert
gewesen sei, dass er den Bohrer noch einmal angesetzt habe,
um den Jodler noch einmal zu genießen. Diese kleine Episode
erwies sich als wertvoller Ansatz zur Bearbeitung des Identitättätswiderstandes. So nennt Erikson die Furcht des Patienten, der
Therapeut könnte seine Identität zerstören und seine eigene an
dessen Stelle setzen.
Identität ist immer unter zwei Aspekten zu sehen: einmal als
Produkt der Umwelt, in der wir aufwachsen und leben. Wir alle
entsprechen mehr oder minder den gesellschaftlichen Erwartungen. Damit sind wir untereinander in vieler Hinsicht identisch.
Zum anderen aber ist jeder von uns unter den 6½ Milliarden,
die die Welt bevölkern, einmalig mit unaustauschbarer Identität.
Mit diesem Doppelaspekt ist ein Spannungsfeld gegeben: auf
der einen Seite die geforderte soziale Rolle (Anpassung an die
Gesellschaft), und auf der anderen unsere Besonderheiten, unser individuelles „So-sein“, unsere erlebte Identität. Gelingt die
Integration dieser beiden Aspekte nicht oder nur unvollständig,
dann sind Störungen im Zwischenmenschlichen die Folge,
immer auch mit Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls. Mag
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ein kontaktgestörter Sonderling sein Singledasein noch so
bejubeln und entsprechende Sprüche produzieren („Der Starke
ist am mächtigsten allein“, „Adler fliegen immer einsam“) - wir
wissen: hinter der narzisstischen Fassade steckt das ganze Elend
einer kümmerlichen Beziehungsidentität. Ziel der Therapie ist
ja die Integration im sozialen Umfeld , ohne dabei aber als
konturlose Anpaßlinge die Kernidentität zu gefährden und als
armselige Opportunisten das Fähnchen stets nach dem Winde
zu richten.
Zur Zeit des Angelus Silesius dürfte - ungeachtet seiner Worte
(„Ich bin, ich weiß nicht wer..“) - die Identität für die Menschen
weit problemloser gewesen sein als heute. Für sie war die Welt
klar strukturiert: Kirche, Großfamilie, geistliche und weltliche
Obrigkeit – alles Institutionen, deren Normen und Wertvorstellungen nicht hinterfragt wurden und Elemente der eigenen Identität waren.
Und das hat sich grundsätzlich gewandelt! Ständiger Wandel
bestimmt unser Leben. Und das in allen Lebensbereichen. Ein
Tischler, ein Schmied, arbeitete 1650 genau so und in gleicher
beruflicher Identität wie sein Großvater hundert Jahre früher. In
Familien wurden über Generationen gleiche Vornamen gege25
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ben, auch als Dokumentation einer stabilen Familienidentität.
Kontinuität nicht nur in Familie und Arbeitswelt. Die gesellschaftlichen Strukturen waren zeitübergreifend stabil - der
König, der Fürst, die Zünfte, die kirchlichen Autoritäten, man
wusste stets, wer man war und wo man hin gehörte. Die religiöse Identität war über Generationen unantastbar. Heute ist auch
da alles im Fluss. Die Enkel lächeln über die fromme Großmama und sind längst aus der Kirche ausgetreten, lächeln auch
über die verstaubten Moralvorstellungen der Eltern. Wir alle
sind einer Informationsflut ausgesetzt, die kaum mehr zu bewältigen ist. Gestern brandneu, morgen schon „ein alter Hut“.
Mehrfacher Berufswechsel - für unsere Vorfahren kaum vorstellbar. Berufliche Identität ist kein stabiler Fixpunkt mehr.
Berufliche Mobilität ist mit Ortswechsel verbunden, damit oft
auch mit Abbruch von Beziehungen. Moden wechseln schneller als Jahreszeiten. Mein Computer, vor 6 Jahren gekauft, ist
hoffnungslos veraltet.
Diese Schnelllebigkeit, die ständige Umstellung und Neuorientierung, hat natürlich Auswirkungen auf unsere Identität. Unsicherheit, Orientierungslosigkeit, „Identitätsdiffusion“ sind die
Folge. Viele Menschen geraten in Identitätskrisen. Zum Menschen gehört aber das Identitätsbedürfnis, bis hin zum „Identi26
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tätszwang“. Deshalb verständlich: gegenwärtig erleben spirituelle Ideologien und fundamentalistische Strömungen
Boom. Esoteriker verschiedenster Couleur
einen
versprechen eine
stabile Identität, die Sicherheit, Klarheit und Eindeutigkeit gibt.
Ideologisch fundierte Identitätsmodelle werden auch von manchen Therapeuten angeboten. Bitte, verstehen Sie mich nicht
falsch: selbstverständlich hat jeder Therapeut ein Welt- und
Menschenbild, das nicht ohne Einfluss auf seine Arbeit ist. Ist
er
überzeugter Christ, dann wird er von der Überzeugung
ausgehen: „Anima humana naturaliter christiana“, die menschliche Seele ist von Natur aus christlich. Damit ist das Therapieziel klar: zu diesem Fundament finden, die Kompassnadel der
Anima christiana weist dann schon den Weg zur Identität. Das
erinnert ein wenig an das geheimnisvolle Selbst bei C.G. Jung,
das als Schatztruhe des kollektiven Unbewussten mit Erfahrungen aus Jahrtausenden den Suchenden auf den Weg zur wahren Identität geleitet.
Entscheidend ist bei all’ dem, dass der Therapeut um seine
eigene Identität weiß und dass er seine Sicht der Dinge in aller
Bescheidenheit auch zu relativieren weiss. Er sollte sich nicht,
wie J.H. Schultz vor Jahrzehnten sagte, „als Weltanschauungshändler und Ideologiekrämer“ betätigen.
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Wir müssen Identitätssuchende davor bewahren,
dubiosen
Heilspredigern zu verfallen, die ein naht- und fugenloses Weltbild versprechen, in dem die großen Fragen des Daseins ihre
Antwort finden und alle Widersprüchlichkeiten sich auflösen.
Wir alle müssen mit Widersprüchen und Ungereimtheiten
leben. Plus 2 und Minus 2 heben sich in der Mathematik auf zu
Null – nicht aber in der menschlichen Seele. Da können sie
nebeneinander und gegeneinander stehen und bestehen. Wenn
Martin Luther von sich sagt: „Simul justus et peccator“, er sei
zugleich ein Gerechter und ein Sünder, dann ist das noch keine
gespaltene Identität. Widersprüche können auch fruchtbar,
kreativ sein! Die Conjunctio oppositorum, die Integration des
Widersprüchlichen, ist ein zentraler Aspekt der gelungenen
Identitätsfindung.
Für ein gutes Selbstgefühl kann es sogar nötig sein, dem
Patienten zu helfen, Negativa seiner Biographie - reales Fehlverhalten, reale Schuld - in die Lebensidentität zu integrieren.
Es gibt keine gesunde Identität, wenn man sich nicht selbst
verzeihen kann, sich nicht akzeptiert und trotz allem „lieb hat“,
natürlich ohne kritiklose narzisstische Selbstverliebtheit. Ohne
gesunden Narzissmus keine gesunde Identität!
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Oft wird übersehen: Viele Menschen haben - meist nicht voll
bewusst - das Bedürfnis, eine Identität zu finden, die ihnen
Eindeutigkeit im Selbstverständnis gibt und Klarheit in fundamentalen Daseinsfragen. Dieses Bedürfnis ist hoch zu veranschlagen. Vor allem junge Menschen sind oft erfüllt von Identitätssehnsucht, einem Identitätshunger, der sie eben auch
anfällig macht für extreme Ideologien.
So wichtig es ist, im Identitätserleben nicht autistisch eingeengt
zu sein, sondern mitmenschlich integriert, so bedenklich, ja
bedrohlich kann es sein, die eigene Identität aufzugeben und in
einer mystisch erlebten kollektiven Identität aufzugehen –
gleichviel, ob bei den Zeugen Jehovas oder den Neonazis. In
der Nazizeit gehörte zum ideologischen Repertoire der Spruch
„Du bist nichts, Dein Volk ist alles“. Damit verbunden die
Vorstellung einer Identität des edlen Altruismus. Das Resultat
waren Mörder mit gutem Gewissen. Das Extrem der verhängnisvollen Fusion von kollektiver Identität und eigenem Selbstwerterleben erleben wir bei den islamistischen Selbstmordattentätern, die mit narzisstischem Triumphgefühl in den Tod gehen.
Wir stehen ratlos vor ihrem Verhalten. Zu verstehen ist es aber
auf dem Hintergrund der Identitätskrise dieser jungen Men29
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schen, die konfrontiert werden mit dem Wertepluralismus
unserer kulturellen Identität - in weiten Bereichen konträr zu
ihrer kulturellen Identität: die Rolle des Mannes, die Stellung
der Frau, die Sexualmoral, das kapitalistische Profitdenken, die
Auflösung der patriarchalischen Strukturen - all’ das ist absolut
inkompatibel mit den Traditionen des Islam. Die Rückbesinnung auf das Wertesystem des Islam bietet eine klare Identität persönlich und sozial - , überdies die Gewissheit, als Märtyrer
im Gedächtnis der Mitmenschen fortzuleben (ein grandioses
Selbstwerterlebnis!), ganz abgesehen von den Wonnen des
Paradieses, die im Jenseits auf sie warten.
Bei aller Wertschätzung einer stabilen Identität dürfen wir aber
nicht vergessen: im Lebensalltag ist eine „bewegliche Identität“
gefordert. Unsere Seele ist halt kein starrer Mechanismus, kein
logisch strukturierter Roboter. Zum Menschen gehört eine
Vielfalt von Tendenzen, Phantasien, heimlichen Wünschen, die
widersprüchlich und auch bedrohlich sein können, ohne aber
die Einheit der Identität zu zerstören.
Schließlich steht und fällt ja auch die Psychotherapie mit der
Überzeugung, dass - bei aller Würdigung der „Kernidentität“ Menschen sich fundamental ändern und entwickeln können.
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Nicht allein durch Psychotherapie. Im Fernsehen wurde vor
Jahren ein ehemaliger Ganove der St. Pauli-Rotlichtszene
vorgestellt, der sich zu einem führenden Mann der Heilsarmee
gewandelt hatte. Er ist sozusagen ein anderer Mensch geworden, ohne seine Kernidentität zu verlieren - ja, er hat vielleicht
jetzt erst zu seiner eigentlichen Identität gefunden. Ein Theologe würde sagen: jetzt ist er so, wie ihn Gott gedacht hat. Das
uralte Thema: aus Saulus kann ein frommer Paulus werden.
Gewiss - ein ungewöhnlicher Fall! Aber auch im Alltag der
Psychotherapie begegnen wir immer wieder Menschen, die vor
der lebensgeschichtlichen Aufgabe eines Identitätswandels
stehen. In den „Geschichten des Herrn Keuner“ schildert Bert
Brecht eine kleine Szene, in der Herr K. erbleichte, als ihm
gesagt wurde, er habe sich gar nicht verändert. Ja, der Mensch
einer abgelebten und überlebten Identität muss sterben (symbolisch), um dann gleichsam wiedergeboren zu werden auf einer
höheren Stufe der Identität. Und so ist auch Goethe zu verstehen, wenn er sagt:
„Wenn du dies nicht hast,
Dieses Stirb und Werde,
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.“
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In Identitätskrisen wird diese Wandlung in Traum und Phantasie oft mit dem Tod gleichgesetzt oder auch mit einer Fahrt über
ein Gewässer, einer „Nachtmeerfahrt“, einem uralten Symbol
für Tod und Wiedergeburt. Also durchaus analog den
Gedankengängen, die Goethe seinen Faust phantasieren lässt,
der vor dem Selbstmordversuch ausruft: „Zu neuen Ufern lockt
ein neuer Tag“! Bei Selbstmorden ist immer an diese Zusammenhänge zu denken, vor allem bei Jugendlichen. Da nimmt ein
junger Mensch in suizidaler Absicht Tabletten ein, wird glücklicherweise gerettet - und nun erfahren wir, dass ihm der Tod in
seiner ganzen Realität gar nicht wirklich bewusst war, dass er
eigentlich nur „Abschied nehmen wollte“ von allem, was gewesen ist, von seiner Kindheit, von allem Bisherigen. Er hatte
diese Reise angetreten in der Hoffnung, am anderen Ufer mit
einer neuen Identität anzukommen, gerüstet für die Welt der
Erwachsenen. Ganz so wie Faust, der ja auch vom Aufbruch zu
neuen Ufern und einem neuen Tag spricht!
Ja, zu neuen Ufern aufbrechen! Aufgabe und Zielsetzung der
Psychotherapie lassen sich im Hinblick auf Identität und
Selbstwertgefühl ganz schlicht formulieren: wir müssen dem
Patienten helfen, seine genetisch und lebensgeschichtlich vorgegebene Identität zu finden, zugleich aber auch die Defekte
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und Deformierungen zu bewältigen, die vielleicht zu einem
kranken Identitätsgefühl geführt haben und damit zu einem
Identitätswiderstand - besonders groß bei ichsynton erlebten
Störungen, z.B. der Anorexia nervosa. Mit guter Identität ist
zugleich ein gutes Selbstwertgefühl verbunden.
Ich möchte nun schließen. Mein Problem war, aus der Fülle der
Themen auszuwählen. Nicht behandelt wurde u.a.:
- die Diskussion über die multiple Persönlichkeit,
- die Identitätsproblematik der Transvestiten und Transsexuellen,
- die Wichtigkeit von Ritualen, vor allem in der Kindheit, die als
Erinnerungsschatz die Identität untermauern,
- die Möglichkeit, in gefährlichen Grenzsituationen (riskante
Sportarten) ein intensives Identitätsgefühl zu erleben,
- oder durch Selbstverletzungen die Identität zu stabilisieren,
- oder auch durch forcierte Sexualität. Ein Patient mit einer
Zwangsonanie sagte: „Wenn man außer sich ist, kommt man
dadurch wieder zu sich.
- Und dann sind da noch die unterschiedlichen Identitätsthemen
der einzelnen Lebensstufen: ein alter Mensch hat seine Identität
gefunden, wenn er rückblickend sein Leben mit allen Höhen
und Tiefen als sinnvoll erlebt und nicht in depressiver Resignation versinkt; ein Mensch in der Lebensmitte dann, wenn er 33
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wie Heimito von Doderer sagt - nicht mehr auf sich selbst
hereinfällt.
Ja, all’ das und vieles andere hätte noch behandelt werden
müssen. Ich denke aber, dass die weiteren Vorträge die Lücken
und Mängel meines Referates ausgleichen werden.
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