Kritiken zu "Die Wände/Les Paravents" von Jean Genet, inszeniert

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Kritiken zu "Die Wände/Les Paravents" von Jean Genet, inszeniert
am Theater an der Ruhr in Mülheim durch Roberto Ciulli
(WiSe 2003/2004)
Einem Stück über Gewalt wird Gewalt angetan
Ciulli und Schäfer inszenieren am Mülheimer Theater an der Ruhr „Die
Wände/Les Paravents“ von Jean Genet. (Amrei Beck)
Spannungsvolle Erwartung kurz vor Beginn der Inszenierung Roberto
Ciullis im Theater an der Ruhr: Wie bringt man ein Stück auf die Bühne,
welches siebzehn Bilder und mehr als 35 Rollen umfasst, dessen Aufbau
nicht chronologisch verläuft, dessen Autor akribische Regieanweisungen
vorgegeben hat? „Die Wände“, im Mai 1961 in Berlin uraufgeführt,
thematisieren den Kolonialismus in Algerien und die damit verbundene
Unterdrückung der Algerier durch die Franzosen. Viele verschiedene
Handlungsstränge werden hier miteinander verflochten, wobei im
Mittelpunkt des Geschehens ein junger und armer Araber, Said, seine
Mutter und seine Frau Leila stehen.
Die Realisierung dieses verworrenen und komplizierten Dramas machten
sich Regisseur Roberto Ciulli und Dramaturg Helmut Schäfer relativ
einfach, indem sie das Stück stark kürzten und Genets liebevolle
Regieanweisungen überwiegend ignorierten; die Authentizität ist verloren
gegangen, gezeigt wurde eine sehr freie Variation des Stückes. Die (Stell)Wände, durch die Genet seine Handlungsstränge verbindet und die für
ihn eine wichtige Bedeutung haben, werden auf einen einzelnen Paravent
reduziert. Aber während diese Streichung nicht die Qualität der
Inszenierung beeinflusst, wird der Aufführung durch den verwendeten Ton
vom Band - eine schlechte und viel zu leise Kassettenaufnahme - ihre
Stärke genommen. An anderen Stellen gelingen Abwandlungen
vorgeschriebener Regieanweisungen, welche z.B. die Aktualität der
Geschichte verdeutlichen können: Als die Araber die Plantagen ihrer
arroganten Kolonialherren anzünden,wollte Genet, dass seine Schauspieler
Flammen auf einen Baumstamm malten. Bei Ciulli stellen verschleierte
Gestalten lautlos Fässer mit Brandsätzen auf die Bühne.
Besonders herausragend unter den Schauspielern ist die Darstellerin der
Leila, Simone Thoma. Ihr maskulines Aussehen, ihre unterwürfige
Haltung, zusammen mit dem Schicksal ihrer Figur, (sie ist die Hässlichste,
von dem ärmsten Mann genommen und von ihrer Schwiegermutter
verachtet) wirken beklemmend und fast unerträglich auf den Zuschauer.
Die Konflikte der verschiedenen Religionen und die damit verbundenen
Machtbestrebungen und gewaltsamen Unterdrückungen in Genets Stück
könnten nicht aktueller sein. Nachdem die Mutter einen französischen
Soldaten erwürgt hat und zum Ende hin immer öfter Leichen von der
Bühne gezogen werden, fühlt man sich gequält von so viel Gewalt, von
der man sonst nur abstrakt in den Nachrichten erfährt.
An den Grenzen des Darstellbaren
Roberto Ciulli und Helmut Schäfer zeigen Jean Genets „Die Wände“ in
stark gekürzter Fassung am Mülheimer Theater an der Ruhr
(Vera Lotte Böcker)
„Die erste Leiche, die er sah, war die eines Mannes. Ein Teil des schwarz
gewordenen Gehirns klebte am Boden neben dem Kopf.“ - Hinter einem
durchscheinenden Paravent sitzt der Regisseur selbst, Roberto Ciulli. Als
„Mund“ der Toten spricht er Fragmente aus Genets Text „Vier Stunden in
Chatila“; Genet beschreibt darin die Toten des Massakers im Libanon, bei
dem die israelische Armee unter Leitung des Generals Scharon 1982
nichts tuend zugegen war. Die Verbindung des Dramas mit dem IsraelKonflikt enthüllt die Aktualität der über 40 Jahre alten „Wände“ sofort.
Die Inszenierung ist Teil des „Seidenstraßen-Projektes“ des Mülheimer
Theater an der Ruhr. Monatelang spielte das Ensemble um Ciulli in
Ländern entlang der alten Handelsstraßen Theater und auch in Mühlheim
sind alljährlich eigene Produktionen der Länder zu sehen.
„Die Wände“ handeln vom algerischen Aufstand gegen die französischen
Besatzer, der 1962 zur Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonie führte. Die
Betrachtung der Globalisierung als Re-Kolonialisierung (Dramaturg Helmut
Schäfer), führt zu einem Verständnis von weiter historischer Dimension
für den Terrorismus unserer Zeit.
Das Stück ist in 18 einzelnen Bildern angeordnet, eine durchlaufende
Handlung gibt es nicht. Das Bühnenbild ist schlicht und eindrucksvoll:
Zwei Kreuze, gefüllt mit schwarzer Asche sind in den Bühnenboden
eingelassen, die Schädel und Knochen der Toten scheinen wie
nebensächlich daraus hervor.
Zwei Gruppen lassen sich unterscheiden: Die Unterdrücker und die
Unterdrückten: die Kolonialherren auf einer Seite, die den algerischen
Kämpfern andererseits auf einer erotischen Ebene bereits verfallen sind.
Ebenso gelungen ist das Bordell um die stolze, schöne Hure Warda
(Christine Sohn) gezeichnet. Zwei Menschen jedoch gehören keiner
Gesellschaft an:
Said, „der ärmste Sohn des Landes“, bleibt nur der Verrat: er hilft den
Kolonialisten ebenso wie den algerischen Kämpfern, er ist die Negation der
politischen Allianz selbst, da, wo er ist, greifen unsere Begriffe von Moral
nicht mehr. Er wählt stets das abgrundtief Böse und gerade durch diese
Entmenschlichung wird er in der Genet´schen Dialektik zum Heiligen.
Hinter der Maske des ursprünglich aus der Hölle kommenden Harlekin der
Commedia dell´ arte versteckt, füllt Ferhade Feqi die Rolle des Said voll
aus.
Seine Braut, die hässlichste und billigste Tochter des Landes, Leila, wird
von Simone Thoma erschütternd dargestellt. Äußerlich sich wie
wahnsinnig gebärdend, scheint sie tiefer zu blicken, als die anderen. Sie
stirbt einzig durch ihren Willen. Said und Leila sind still miteinander
verbunden, nicht aus Liebe, sondern aus Einsamkeit. Das gesamte
Ensemble spielt ungeheuerlich mutig, bewegt sich an den Grenzen des
überhaupt Darstellbaren.
Die Inszenierung ist derartig vielschichtig, dass sie sich einer
eindimensionalen Deutung entzieht. Die überbordende Fülle der
Bezugspunkte ist das Großartige dieser Arbeit. Die schwer
entschlüsselbaren Elemente erheben den Zuschauer zu einem im
existentialistischen Sinne verantwortlichen „vierten Autor“.
„Dunkel war’s, der Mond schien helle …“
‚Kriegswirren‘ im Mülheimer „Theater an der Ruhr“: Regisseur Roberto
Ciulli & Dramaturg Helmut Schäfer liefern sich schwerverdauliche
‚Materialschlacht‘ mit Jean Genets „Les Paravents“.
(Christian Consten)
Unordnung. Vielleicht wäre Unordnung das richtige Wort, eine Art WeltUnordnung. Da sitzt mindestens ein Zuschauer, wahrscheinlich aber ein
Vielfaches, im Mülheimer Theater an der Ruhr und sucht. Sucht das
Durchgehende. Sucht die Struktur. Ahnt Bruchstücke davon. Aber steht
vor einem Rätsel, beinah zermürbende zweieinhalb Stunden lang.
Ja, lieber Herr Ciulli, gewiss ist dem Jean Genet sein „Les paravents“ („Die
Wände“) mit dieser zusammengestrichenen Fassung endgültig ‚entrissen‘:
ganz wie Sie meinen – die Frage, ob ein niemals umgearbeiteter Autor
„mundtot“ wird, ist aber wohl eine abendfüllende. Ebenso gewiss spielt
das Ensemble unter Ihrer Regie ganz fabelhaft, ja, fast läßt sich sagen, es
spielt – verrückt. Denn dies ist ja gleichsam Gespenstertheater, ein Toten, wenigstens Todgeweihtentanz unter jener Sonne, die über den im Staub
liegenden Opfern des Algerienkriegs seinerzeit glühte wie noch heute über
denen des Nahostkonflikts.
Was Genet damals wollte – die Uraufführung war ein Ereignis der
Sechziger –, scheint schwierig, aber vielleicht angesichts der Nähe des
Stoffs zur politischen Wirklichkeit, einer gewissen Möglichkeit der
Zuordnung von auftretenden Typen zu bestimmten französischen oder
algerischen Gruppierungen noch lokalisierbar. Die aktuelle Mülheimer
Reduktion des Materials aber, das für mehr als zehn Stunden Theaterspiel
ausreichte, beweist Mut zur Neuerung und Umformung wohl in dem
gleichen Maß wie es leider der Zusammenhanglosigkeit anheimfällt.
Zeitweise umgeben von dem Ekstatischen nordafrikanischer Musik,
erleben wir Lust- und Unlustwandeln verfremdeter Gestalten, auf von
vielen Richtungen her zugänglicher Bühne ein ständiges „Auf“ und „Ab“.
Es soll nicht verschwiegen werden, dass wir, trotz allem, durchaus
hervorragende schauspielerische Leistungen zu beobachten Gelegenheit
haben. Wir sehen als französische Soldaten Gemeinte brüllen, befehlen,
strammstehen (skurril: Rupert J. Seidl); algerische Huren breitbeinig
obszön fluchen (unwiderstehlich kaputt: Christine Sohn); ein fragwürdiges
Liebespaar zärtlich sich verachten, bis dass sie, Leila (Simone Thoma),
fortwährend eine eigenschaftslose mannsgroße Puppe als Surrogat für
ihren Said (Ferhade Feqi) im Arm, vor Zorn freiwillig stirbt, weil er nicht
bei ihr bleibt. Und immer wieder „Der Mund“ (Roberto Ciulli selbst),
leichenbergskommentierender pudergesichtiger Alter mit langer Perücke in
18.Jh.-Aufklärermontur – im Schlussbild vielleicht als Nietzschescher
„unbedenklicher Künstler-Gott“, die Gesten aller Figuren eigenhändig
lenkend.
Aber wie in solchen Kriegswirren versprengt, müssen sich die
Zuschauergedanken in den undeutlichen Beziehungen und kryptischen
Dialogen verirren. Die Menge der Figuren zerfällt in Einzelbezirke, und
dennoch scheint hier und da irgendwie alles miteinander verzahnt: es
stirbt die Hure, und es legt die stahlhelmtragende Kolonialistenfrau ihr
Rosen auf die Brust, dem Dirnenduft nachhängend, den ihr ihr Mann so oft
nach Hause trug. – Aber unübersichtlich. Überfrachtet.
„Nehmen Sie nicht Verstehen immer als etwas Positives“, sagt Ciulli
hinterher mit vielsagendem Lächeln, abgeschminkt, aber immer noch ein
‚Rätsel-Mund‘. „Sehen Sie, ich schaue Theater am liebsten in Sprachen,
die ich nicht verstehe.“
Ein Hauch von Sokrates liegt da in der Luft: ‚Ich verstehe, dass ich nichts
verstehe.‘ Und auf heimwärtsgewandten Publikumszungen ein
Beigeschmack wie Schierling. „Aber nur einen wönzigen Schlock!“ heißt es
anderswo. Und: „Ich stehe vor einem Rätsel!“
„Theater ist der Ort, an dem Rätsel entstehen“
Roberto Ciulli inszeniert Genets „Die Wände“ im Theater an der Ruhr.
(Julia Falck)
„Theater ist der Ort, an dem Rätsel entstehen.“ Recht hat er, der große
Roberto Ciulli – Regisseur und Intendant des Mülheimer Theater an der
Ruhr - mit dieser Aussage. Rätsel hat seine eindrucksvolle Interpretation
von Jean Genets Meisterwerk „Die Wände“ aufgegeben, und derer nicht
gerade wenige.
Zunächst einmal stellt sich dem interessierten Theaterbesucher natürlich
die Frage, wie man die Komplexität und Tiefe der „Wände“ überzeugend
und möglichst mit Aktualitätsbezug auf die Bühne bringen mag - hält man
sich an Genets zahlreich vorhandene, detaillierte Regieanweisungen und
hat kaum Einfluss auf die Inszenierung oder löst man sich stark davon und
kann so dem Stück seine persönliche Note verleihen? Ciulli entschied sich
für Letzteres und zeigte während des gesamten Stückes, mal
offensichtlich durch das Auftreten arabischer Terroristen, von denen
Polizeifotos gemacht wurden, mal hintergründig durch den Verfall der
„Familie der Brennesseln“ um Said und Leila, die permanente Bedrohung
des Friedens durch die Macht des Terrors. Genet und auch Ciulli stellen
das Verhältnis von Herrschern und Beherrschten thematisch in den
Vordergrund. Die Kolonialherren und das arabische Volk bilden zunächst
zwei klar voneinander getrennte Ebenen, die sich später vermischen. Die
Macht der Beherrschten wird stärker; mit Gewalt finden sie Wege und
Möglichkeiten, sich für die Morde und Folterungen zu rächen. Die
Darstellungen der Morde in Ciullis Inszenierung stehen bezeichnend für die
Atmosphäre des gesamten Stückes: schrecklich und doch irgendwie
spannend, beängstigend und doch lustvoll; gemordet wird aus tiefster
Überzeugung und doch wie nebenbei. Jede Szene wirkt unglaublich
intensiv, manchmal zu sehr; man fühlt sich überfordert. Das Bühnenbild
variiert; ein einziges Paravent (bei Genet sind es bis zu acht Wänden in
einer Szene) wird vielseitig verwendet: mal dient es als Fotoschirm, vor
dem Fotos ge- und Menschen erschossen werden, mal als Zimmertür, mal
als Trennwand im Polizeipräsidium.
Ciulli selbst tritt zwischen oder auch während der Szenen auf die Bühne,
beobachtet, gekleidet im Stil des 18. Jahrhunderts, das Geschehen und
stellt Bezüge zu heutigen Terrorakten her. Gerade die Gefahr des
Terrorismus, der durch das heutige neokolonialistische Verhalten der
westlichen Welt zum Äußersten getrieben wird, ist ein sehr aktuelles sowie
brisantes Thema. Das Stück erscheint nicht als zusammenhängender
Handlungsstrang, sondern wie viele bunte, intensive Fragmente; in der
Mimik und Gestik der Schauspieler zeigen sich extreme Gefühle wie Hass,
Wut, Trauer und Resignation; Said als Verkörperung des Bösen ??, als
einziges Mittel gegen den völligen Verfall trägt bezeichnenderweise eine
Maske - am Ende sterben sowohl Herrscher als auch Beherrschte. Der
Zuschauer ist wie betäubt, applaudiert, muss erst einmal die vielen
Gedanken und Eindrücke sortieren - und kann hinterher vielleicht einige
Rätsel des Theaters lösen, bestimmt aber nicht alle.
Am Ende sind alle tot
Roberto Ciulli inszeniert Jean Genets Drama „Die Wände“ im Theater an
der Ruhr. (Gregor Kühn)
Der Franzose Jean Genet (1910-1986) schrieb mit „Die Wände“ Ende der
50er-Jahre gegen Frankreichs Krieg in Algerien an, der die
Kolonialherrschaft bewahren sollte. Der Schriftsteller musste aufgrund
seiner aufrührerischen Texte wiederholt ins Gefängnis. Jetzt nimmt sich
der italienische Regisseur Roberto Ciulli, Intendant des Mülheimer Theater
an der Ruhr, des Dramas an, das auf subtile Weise Parallelen etwa zu USSoldaten im Irak erkennen lässt. In der parabelhaften Geschichte, die
1961 in Berlin uraufgeführt wurde, geht es um die bewusste
Auseinandersetzung mit der Legitimation und den Folgen der
Kolonialisierung. Eingebettet ist die Inszenierung von „Die Wände“ in das
1997 vom Theater an der Ruhr initiierte Seidenstraßenprojekt, das den
Austausch mit Ländern des Maghreb und Iran fördert. Zusammen mit
Dramaturg Helmut Schäfer kürzte Ciulli Genets Vorlage radikal und zeigte
Mitte Dezember 2003 eine Aufführung, die sich selbst von der eigenen
Premiere am 16. Oktober schon wieder erheblich unterschied. Erstmals
verkörpert Ciulli selbst den „Mund“, einen französischen Geist des 18.
Jahrhunderts in einem weißen Rokokogewand. Trotz Zensur durch die
Erben Genets, rezitiert er nun Stellen aus dem 1982 erschienenen Werk
„Vier Stunden in Chatila“, das über die Massaker in Beirut berichtet.
Gerade durch das zynische, fast genussvolle Erzählen über verstümmelte
Leichen wird der Zuschauer schockiert. Das Bühnenbild von Gralf-Edzard
Habben zeigt, dass sich Ciulli bewusst von den Regievorgaben Genets
emanzipieren wollte: Es gibt keine Podeste mehr, und die Wände sind
durch lichtdurchlässige Paravents ersetzt, die immer noch Grenzen
markieren zwischen Klassen und Rassen, Christen und Moslems, Arabern
und Europäern, Lebenden und Toten.
Die drei Hauptfiguren Leila, ihr Freund Said und dessen Mutter gehören
zum Sub-Proletariat der algerischen Bevölkerung. Alle versuchen sie, sich
vom Joch der Unterdrückung zu befreien. Mit entrückter Gestik und vollem
Körpereinsatz brilliert Simone Thoma in der Rolle der hässlichen Leila. Die
traumatisierte Frau trägt stets eine lebensgroße, gesichtslose Sackpuppe
mit sich herum, an der sie ihre unterdrückten Gefühle ausagiert. Sie
entscheidet sich selbst für den Tod in der heißen Wüstensonne. Der
maskierte Said, verkörpert durch Ferhade Feqi, ist ein Dieb, der „die Welt
in Brand sehen“ will. Leila, die er heiraten soll, hält zu ihm, bis er seine
Landsleute an die Franzosen verrät und dafür erschossen wird. Einzig für
die stets gekrümmt laufende Mutter von Said (Maria Neumann) scheint
keine Rache an den Unterdrückern möglich – weder durch Aufstand noch
durch Selbstvernichtung. Die Visionen etwa der Dirnen Warda (Christine
Sohn) und Malika (Nicola Thomas) sind ebenfalls pessimistisch; die Welt
scheint sinnlos, und selbst das Bordell fungiert nur noch als Metapher für
den Verfall. Die Machthaber verteidigen die Glorie und Disziplin der Armee
mit Brutalität. Der Kinder mordende Unteroffizier (Fabio Menéndez), der
von Kostümbildner Leo Kulas als Engel mit Flügeln, Brustpanzer und
riesigem Schwert ausgestattet wurde, wird der Lächerlichkeit
preisgegeben. Dabei werden Verbrechen und Sünde gleichsam als
göttliches Prinzip ironisiert. Im Hintergrund knattern immer wieder
Maschinengewehrsalven, was das Stück in die Nähe einer Militärfarce
rückt. Am Ende sind alle tot: Die Kolonialherren, die den Status Quo
absichern wollten und die Araber in ihrem Aufstand. Im doppelten Sinne
beleuchten auch Scheinwerfer diese melancholische Groteske, die ohne
erhobenen Zeigefinger politische Manipulation anzuprangern sucht.
Der Betrachter bleibt nach 150 Minuten Aufführung ohne Pause
gleichermaßen verstört und erschlafft zurück – hat das Publikum den 15
Schauspielern deshalb nur einen mäßigen Applaus gezollt?
Ein Tod, leicht und durchdringlich wie ein weißer Paravent
Roberto Ciulli inszeniert in Mühlheim Jean Genets „Die Wände“.
(Verena Meis)
Ein einziger, hell beleuchteter „Paravent“. Ein einziger Schatten des
„Mundes“ Ein einziges Foto der Wandertruppe: „Das Foto erfasst nicht die
Fliegen, nicht den fahlen Geruch, und es macht den Tod undurchdringlich.
Roberto Ciullis Inszenierung zweier Texte von Jean Genet – „Die Wände“
und „Vier Stunden in Chatila“ - am Mühlheimer Theater an der Ruhr
erfasst die Fliegen und auch den fahlen Geruch, und der Tod ist
durchdringlich wie ein Paravent aus weißem durchsichtigem Papier.
Uraufgeführt im Jahre 1961 in Berlin, feierte Genets „Die Wände“ am 16.
Oktober 2003 seine Premiere im Mühlheimer Theater an der Ruhr. Ciulli
und sein Dramaturg Helmut Schäfer schafften es, das AntikolonialismusStück der 50er Jahre in drei Stunden mit heutigem Leben zu füllen. In
seinem geisterhaften weißen Rokoko-Kostüm berichtet Intendant und
Regisseur Roberto Ciulli als „Der Mund“ von Leichen, schwarz
gewordenem Hirn und Blutlachen: Immer wieder rezitiert er Passagen aus
Genets Text „Vier Stunden in Chatila“, einem Bericht der Massaker in den
Palästinenserlagern Sabra und Chatila angefertigt von Jean Genet 1982 in
Beirut. „Der Mund“ ist es, der seine Figuren am Faden führt, sie ins
richtige Licht setzt und als Spielmacher eine nicht auszuhaltende Ruhe
ausstrahlt, die den Figuren gänzlich fehlt und nie gehören wird:
Da ist Said (Ferhade Feqi), „der ärmste Sohn des Landes“, der Leila
(Simone Thoma), „die hässlichste Tochter des Landes“, heiraten muss.
Beide beschreiten den Weg der Selbstauslöschung und spielen uns das
Lied, die Geschichte vom Tod, die im Algerienkrieg spielt. „Das Land hat
so was wie eine Gänsehaut.“ Macht- und Ohnmachtsgefühle sind heute
wie früher die gleichen geblieben, sie haben Kostüm- und Zeitwechsel
überdauert.
Fast autistisch, quälend wahnsinnig vor Hässlichkeit und Einsamkeit räkelt
sich Simone Thoma als Leila mit ihrem einzigen Besitz, einer anonymen
Stoffpuppe, auf der von Dreck und Menschenknochen übersäten Bühne
(Gralf-Edzard Habben). „Die Einsamkeit der Toten im Lager war noch
deutlicher, weil sie Posen und Haltungen einnahmen, die nicht die ihren
waren.“ Sind Leilas Bewegungen ihre eigenen? Der Araber Said (Ferhade
Feqi), Antiheld mit Gummimaske und französischem Akzent, bewohnt eine
Mülltonne und hat sich mit der Rolle des Geächteten abgefunden. Mit Stolz
in der Stimme verkündet er: „Ich habe gestohlen. Ich bin ein Dieb.“ Die
Mutter (Maria Neumann), eine Figur ebenfalls gestraft durch Abartigkeit,
erwürgt mit gekrümmtem Rücken und gekrümmter Würde den besoffenen
französischen Soldaten Pierre (Steffen Reuber).
Auf der anderen Seite Herr Blankensee (Klaus Herzog), einer der
Kolonialisten, der von seiner Rosenzucht schwärmt und nicht ohne sein
Polster an Bauch und Hintern vor die Tür geht: „Wegen der Symmetrie“.
Außerdem der Unteroffizier (Fabio Menéndez) mit Engelsflügeln, der vor
allem wohl gefallener Engel ist: „Aus dem Bauch, den ich aufschlitze, soll
das Blut sprudeln. Blut, Herr Leutnant!“. Führen wir etwa einen heiligen
Krieg?
Mittendrin und zwischen den Fronten die beiden Huren Malika (Nicola
Thomas) und Warda (Christine Sohn), deren Betten auch dazu benutzt
werden, die Toten zu waschen. Das Bordell als „Verschiebebahnhof der
Gesellschaft“ zeigt somit das Bild des Weltverfalls.
Sind all diese Figuren auf der Suche nach einer Identität? Nein, sie
besitzen bereits eine. Diese wurzelt im Bösen, im Gegenteil des Guten,
diese führt jedoch zum Heiligen. Trösten können sie sich nur mit dem Tod,
und der ist leicht und durchdringlich wie der weiße Paravent.
Ästhetik des Amoralen
Roberto Ciulli inszeniert am Mülheimer Theater an der Ruhr „Die
Wände/Les paravents“ von Jean Genet. (Daniel Myslinski)
„Rimbaud wollte das Leben und Marx die Gesellschaft ändern. Genet will
gar nichts ändern. Er tut alles, um die soziale Ordnung, aus der er
ausgeschlossen ist, lebensfähig zu erhalten.“ So beschrieb Jean-Paul
Sartre das Werk des „schwarzen Magiers“ Jean Genet.
Sein letztes und wahrscheinlich komplexestes Bühnenstück, „Les
Paravents – Die Wände“, wurde nun von Roberto Ciulli – im Rahmen
seines Projektes der `Seidenstraße´ - inszeniert.
Die Hauptarbeit der Inszenierung bestand darin, das Stück dem Autor zu
entreißen und es spielbar zu machen, so Dramaturg Helmut Schäfer. In
der Tat erscheint Genets Stück im Original mit etwa einhundert
Darstellern, zahlreichen Spielebenen (auf denen teilweise parallel gespielt
werden solle), dem fast unüberschaubaren Handlungsstrang und der zu
benötigenden Aufführungszeit, die an zehn Stunden heranreichte auch auf
den zweiten Blick unspielbar. Auch scheint es noch immer so, als halte der
Autor sein Stück fest umklammert in seinen Händen. Ausführlichst
umschreibt er Szene um Szene, jede Kleinigkeit wird penibelst detailliert
erläutert. Mimiken, Bewegungen, die Anordnung der Requisiten. Der Regie
werden kaum Entfaltungsmöglichkeiten gegeben. Zu Lebzeiten
überwachte Genet jede Inszenierung, war kaum zu Kompromissen bereit.
Im Stück stehen sich Welten gegenüber, nur durch Wände getrennt.
Besetzer, Rebellen, Besetzte gleich sind sie sich nur im Bordell, vereinigt
nur im Reich der Toten.
In der rigorosen Mülheimer Strichfassung der „Wände“ bleiben noch zwei
dieser Ebenen übrig. Ciulli und Schäfer stellen Kolonialisten den
Kolonialisierten gegenüber. Nicht zufällig. Anlässlich einer Matinee stellt
Ciulli seinem Publikum die Frage: „Was soll ein Iraker denken, wenn die
Engländer wieder da sind?“. Konkrete Anspielungen im Stück sind
unübersehbar. „Wir sind mit der Kultur zu euch gekommen.“ Sie sollen
auch nicht übersehen werden, aktuelle Bezüge sind gewollt. Man betreibe
politisches Theater, so Ciulli. Schäfer wird noch konkreter, das Zeitalter
der Globalisierung ähnele verdächtig einem Rekolonialismus.
Imperialismus mit anderen Strukturen. In der Tat: militärische Gewalt
weicht zunehmend einer wirtschaftlichen, ist sie doch `notwendig´, so
heißt die derzeit immer passende Rechtfertigung: Terrorismus.
Ciullis Inszenierung besticht durch die erschaffenen, vollkommen
ästhetischen Bilder. Am Ende bleiben dann doch Rätsel und Fragen offen,
wie beispielsweise wen oder was denn nun der „Mund“, einer
Erzählerfigur, die Textauszüge eines Genetschen Massakerberichts („4
Stunden in Chatila“, Beirut 1982) rezitiert und immer wieder
inszenatorisch ins Spielgeschehen eingreift, darstelle.
Interpretationsansätze reichen von de Sade über Voltaire bis Goldoni.
Keine dieser Figuren sei gemeint, so Schäfer, aber man dürfe es
annehmen. Die Versendung einer Botschaft, die man lediglich richtig zu
deuten habe, sei nicht die Aufgabe des Theaters. Die Anregung zum
Denken stehe im Vordergrund. Eine gewisse Ohnmacht bleibt jedoch
bestehen, die auch Genet erkannte. „Die Künstler haben nicht die
Aufgabe, die praktische Lösung zu finden. Sie sollten akzeptieren
Verdammte zu sein. Sie werden bei ihrer Arbeit die Seele verlieren.“
Phantastische Verwirrung oder „Europa ist am Arsch“
„Die Wände“ von Jean Genet inszeniert am Mülheimer Theater an der Ruhr
(Melanie Schya)
Roberto Ciulli bringt im Oktober 2003 „Die Wände“, ein 1959 von Jean
Genet geschriebenes Stück, welches den algerischen Befreiungskrieg
thematisiert, auf die Bühne des Theater an der Ruhr in Mülheim. Ist der
mit dem Werk bereits vertraute Zuschauer vor der Aufführung
misstrauisch, ob es Ciulli schaffen wird, die komplizierte Geschichte um
Krieg und Verrat verständlich aufzuführen, so wird der unbelesene
Zuschauer vielleicht auch nach Ende des Schauspiels nicht genau sagen
können, was er da gesehen hat. Dramaturg Helmut Schäfer erklärt, das
Stück sei „aus der Perspektive des Endes heraus geschrieben“. „Vom Ende
her“ sei es „logisch“, aber dahin zu gelangen sei „schwierig“.
Damit hat er offensichtlich Recht behalten, denn nicht wenige Zuschauer
verließen während der mehr als zweistündigen Aufführung den Saal. Ciulli
war wohl klar, dass er die Zuschauer mit Schockeffekten fesseln musste:
Gleich zu Beginn zeigt er einen splitternackten Mann, später wird der
Zuschauer mit lauten Schüssen „aufgeweckt“.
Mit Ende des Stückes wird demjenigen, der durchgehalten hat, klar sein,
dass Genet den algerisch-französischen Konflikt darzustellen versuchte.
Aufgezeigt wird, wie Bordelle aus dem Krieg ihren Profit schlagen und
nicht unterscheiden, ob Feind oder Freund, solange das Geld stimmt, - wir
sehen, dass der junge Said ein Verräter ist, dass Leila dumm und hässlich,
aber trotzdem so schlau ist, zu erkennen, dass „Europa am Arsch“ ist.
Herr Blankensee versucht durch Bauch- und Popolster imposanter zu
wirken und wird letztlich ohne Verkleidung von seiner Frau erschossen.
Schließlich ist alles ein großes Durcheinander, niemand kann dem anderen
mehr trauen. Vieles wird mit Humor genommen, so ähnelt der Krieger,
der wie Gott wirken soll, eher einem schwulen Engel an Karneval.
Das Bühnenbild ist ebenso einfach wie beeindruckend. Links und rechts
jeweils drei gleichgroße, schwarze Wandelemente, so dass man den
Eindruck gewinnen kann, bei den noch bestehenden Wandelementen
handele es sich um Säulen. Doch beim Mord an Herrn Blankensee fällt nur
auf der linken Seite Licht durch die drei Freiräume, so dass die
Räumlichkeit betont wird, indem man den Eindruck von Fenstern mit
einfallendem Mondlicht gewinnt.
Eine abschließende Bewertung dieses Inszenierung fällt schwer, fest steht
jedoch, dass Bühnenbild, Inszenierung und schauspielerische Leistung den
Applaus zum (lang herbeigesehnten) Schluss verdient hatten.
Opulenter Todesreigen
„Die Wände“ von Jean Genet am Theater an der Ruhr
(Diane Sellenmerten)
Düster ist es. Schwarze Wände, schwarzer Boden. Zwei flache Kiesgruben.
In diesen wird gestorben und geliebt - genauer gesagt verreckt und
kopuliert und die brutale Nähe von beidem besticht. Roberto Ciulli
inszeniert das gewaltverherrlichende Alterswerk Jean Genets als
eigentümlich traumwandlerische Mischung aus Pantomime, Satire und
absurdem Theater. Der Tod ist dabei immer allgegenwärtig: Schon in der
ersten Szene werden alle Figuren, gerade auf der Bühne installiert, von
dem Schuss eines photographischen Apparats hinweggefegt. Später findet
im Bordell eine Leichenwaschung statt, es wird gemordet, Suizid
begangen, symbolisch eine archäologische Ausgrabungsstätte beackert,
Puppen beerdigt.
Das eigentliche Thema, der Algerienkonflikt, der 1958, zur Entstehung des
Stückes hochaktuell war, tritt angesichts dieser existentiellen Ebene etwas
in den Hintergrund. Eine Parteinahme des Zuschauers für die Araber, allen
voran für Said (Ferhade Feqi), fällt jedoch nicht schwer. Werden doch die
Kolonialherren als oberflächliche, verweichlichte, anzüglich-schwülstige
Homosexuelle karikiert. „Wir haben ihnen die Kultur gebracht“ bekennen
sie stolz und beweisen dabei ständig Un-Kultur, deren Lächerlichkeit in
einer Männerballetteinlage auf die Spitze getrieben wird. Said, einer der
Ärmsten, mit der hässlichen Leila (Simone Thoma) verheiratet, wird zum
Dieb und Totalverweigerer. Er verrät sie alle: die Rebellen der eigenen
Seite und die Feinde, und lässt sich paradoxerweise gerade dadurch von
niemandem korrumpieren. Stattdessen will er den Weg eines Märtyrers
gehen, der nicht aus Liebe zu Gott, sondern aus tiefstem Hass, den Tod
sucht. In seiner Absolutheit weckt er Assoziationen zu aktuellen
Selbstmordattentätern. Er wählt freiwillig „das Böse (..) und immer nur
das Böse“ wie es seine Frau Leila formuliert. - eine der rührendsten und
gleichzeitig absurdesten Figuren des Stückes. Sie gehört nicht nur zu der
Gruppe der Opfer, sondern ist auch innerhalb dieser ein Außenseiter. In
ihrer Verzweiflung liegen hospitalistische Züge und ihr Gesicht, mit den
dunklen Augenhöhlen bleibt dem Zuschauer unweigerlich im Gedächtnis.
Said hingegen trägt eine Gesichtsmaske und ist mehr Typus als
Individuum. Doch auch er bleibt ein Rätsel, wie letztlich auch die gesamte
Inszenierung. Die teilweise unerträgliche Langsamkeit der Szenen,
entfernt an Robert Wilson erinnernd, bildet einen fremdartigen, aber
höchst faszinierenden Kontrast zu der oft harten Fäkalsprache der Figuren.
Symbole treten jedoch so gehäuft auf und machen die Inszenierung so
unglaublich dicht, dass sie den Zuschauer auch erschlagen und
überfordern können. Ciulli aber - so offenbart er im Gespräch - will den
Zuschauer von dem eigenen Leistungsdruck befreien und propagiert die
Offenheit des Kunstwerkes. Wie etwas wahrgenommen und entschlüsselt
wird, soll unbedingt subjektiv bleiben.
Was in mir – ganz subjektiv - zurückbleibt sind scheinbar widersprüchliche
Gefühlseindrücke wie Verzauberung und Ekel und berückende Bilder, die
sich zu einem Gesamteindruck verweben: Poesie.
Provokative Rätselhaftigkeit
Roberto Ciulli inszeniert im Müllheim an der Ruhr Jean Genets Stück „Die
Wände“ (Reka Török)
„Normalerweise, sagt man, hätten die Stücke einen Sinn: dieses nicht.
Dies ist ein Fest, dessen Teile nicht zusammenpassen, es ist eine Feier
von nichts.“ (Genet 1966)
Nach einer Oktober-Premiere im Rahmen des Festivals
„Theaterlandschaften Seidenstraße“ wurden Jean Genets „Les paravents“
unter der Regie von Roberto Ciulli am 15. Dezember erneut und in wieder
vollständiger Fassung im Mülheimer Theater an der Ruhr präsentiert.
Genets umfangreiches Bühnenwerk bezieht sich thematisch auf den
Algerienkrieg und Kolonialismus. Ende der 50-er Jahre geschrieben, teilt
das Drama die Personen in zwei Gruppen: Die Unterdrücker und die
Unterdrückten, französische Kolonialherren und Algerier. Die Hauptfigur
ist Said (Ferhade Feqi) „der ärmste Sohn des Landes“, dem keine andere
Frau zum Heiraten bleibt, als die „hässlichste und billigste Tochter des
Landes“, Leila (Simone Thoma). Saids Schicksal ist von Anfang an
festgelegt. Sein Lebensweg ist ein kontinuierlicher Abstieg vom Dieb zum
Verräter. Am Ende wird er erschossen.
Genets Theater und dessen ästhetischen Spiel sind auch heute noch eine
Provokation. Genet inszeniert beim Schreiben sein eigenes Stück, hält sich
so stark an seinem Text fest, dass Regisseur Roberto Ciulli und Dramaturg
Helmut Schäfer sich zunächst von allen Regieanweisungen des Autors
befreien müssen, um ein individuelles Kunstwerk zu schaffen, um ihre
eigenen politischen und künstlerischen Statements abzugeben. Sie sehen
„Die Wände“ nicht als Stück im klassischen Sinne. Eher als
Materialsammlung, als Parabel. Es zeigt die Absurdität des Lebens und des
Todes. Die Realität ist damit in ein Phantasiefeld oder Spiegelkabinett
verwandelt, in dem der Mensch in seiner gebrochener Erscheinung in die
Irre geht.
Die Friedhof-Szene mit Totenköpfe und die Bordell-Szene mit den Huren
Warda und Malika schaffen ein tristes Bild der Verfallenheit. Die Moralität
der Welt hat ihre Stabilität verloren. Was bleibt ist die Schönheit des
Amoralischen. Roberto Ciuli tritt mehrmals während des Stückes auf, mal
als Kommentator („Mund“), mal als Beobachter in seinem weißen Kostüm
aus dem 18. Jahrhundert, vielleicht sogar darauf wartend, am Ende die
Seele der Theaterfiguren in die Unterwelt zu bringen. Der „Mund“ spricht
Textfragmente aus einem späteren Werk von Genet, „4 Tage in Chatila“,
einem Bericht der Massaker in Beirut von 1982.
Die Aktualität des Stückes liegt in seiner politischen Thematik: ReKolonialismus als eine Spielart der Globalisierung. In Saids Figur
konkretisiert sich die Theorie der Verweigerung, der Widerstand gegen
jedes politische System, die totale Absage. Trotz aller aktuellen
weltpolitischen Brisanz, ist Genets Stück nicht leicht interpretierbar. Das
Stück stellt Fragen, deren Antworten nicht unbedingt das Rätsel lösen.
Politisch-philosophische Gewandtheit und Assoziationsvermögen verlangt
Ciuli von jedem Zuschauer, um eine eigene Interpretation zu finden. Ein
monumentales Stück mit provokativen Bildern (Gralf-Edzard Habben) und
erschütternden Sprachgebilden.
Theatergenuss für Fortgeschrittene
Roberto Ciulli bringt in Mülheim Jean Genets Epos „Die Wände“ auf die
Bühne. (Henry Wahlig)
„Normalerweise, sagt man, hätten die Stücke einen Sinn: Dieses nicht.
Dies ist ein Fest, dessen Teile nicht zusammenpassen, es ist ein Feier von
nichts.“
Es klingt schon fast wie eine Warnung, die uns der französische
Schriftsteller Jean Genet zu seinem letzten Drama „Die Wände“
hinterlassen hat. Und tatsächlich stellt das 1962 in Berlin uraufgeführte
und nun vom Theater an der Ruhr in Mülheim neu inszenierte Werk in
jeder Beziehung eine Herausforderung für die Zuschauer dar.
Schon der äußere Rahmen macht dem Betrachter schnell klar, dass er an
diesem Abend alles vergessen kann, was er im Theater über das Theater
zu wissen glaubte. Einen linearen Handlungsverlauf lassen die Wände
genauso vermissen wie Leitfiguren und Charaktere, die eine Entwicklung
durchmachen. Wir bewegen uns mit den Schauspielern in einem zeit- wie
ereignislosen Raum.
Diesen siedelt Genet in Algerien zur Zeit des Befreiungskrieges gegen die
französischen Besatzer an. Auf der Bühne gruppieren sich zwei Klassen
von Figuren, die Unterdrücker und die Unterdrückten: Auf der einen Seite
der Kolonialist Blankensee, dem die Aufzucht seiner Rosenzucht wichtiger
als das Schicksal der Einheimischen geworden ist – auf der anderen die
Araberin Kadidja, die sich mit Benzin übergießt und fest davon überzeugt
ist, „das Böse“ tun zu müssen. Zwischen ihnen steht Said, der als
„Ärmster von allen“ in seinem eigenen Dorf ausgegrenzt ist und von den
Kolonialherren benutzt und verlacht wird. Er steht zwischen allen Stühlen
und so bleibt ihm als letzter Stolz sein offener Widerstand, seine Absage
gegen die ganze Welt – für die er am Ende mit dem Leben bezahlen muss.
Genet lässt seine Personen in Traumwelten agieren, die aus ihren
Symboliken heraus lebt. Der Zuschauer muss sich deshalb in ein wahres
Dickicht von szenischen Fragmenten, Anspielungen und Bildern begeben,
in denen viel geschürzt, aber wenig gelöst wird - der unerfahrene
Theaterbesucher kann da schnell die Übersicht verlieren.
Dramaturg Helmut Schäfer hat diese Gefahr erkannt und das Stück für
das Theater an der Ruhr entwirrt, „überhaupt erst spielbar gemacht“, wie
er selbst sagt. Komplette Passagen des Stückes hat er gestrichen, dadurch
die Spieldauer von sechs auf erträgliche zweieinhalb Stunden gesenkt.
Damit strafft er Genets Traumwelt, auflösen kann und will er sie aber
nicht. Das Stück bleibt eine Herausforderung für die Imaginationskraft der
Zuschauer.
Und dennoch wagt Schäfer mit Regisseur und Darsteller Roberto Ciulli das
„Nichts“ der Handlung mit der Gegenwart zu verknüpfen - der blutigen
Gegenwart des israelisch-palästinensischen Konfliktes. So liest Ciulli zu
Beginn einiger Szenen Passagen aus Genets letztem Buch „Vier Stunden in
Chatila“, in dem er die israelische Mitschuld am Massaker christlicher
Milizen an Palästinensern im Libanon 1982 thematisiert.
Damit lenkt Ciulli den Blick auf die Herkunft der heutigen
Terroristengeneration, die in den palästinensischen Flüchtlingslagern
herangewachsen ist. Sie, so macht uns Ciulli deutlich, hatte in ihrer
Ausweglosigkeit kaum eine andere Wahl, als sich wie Kadidja für „das
Böse“ zu entscheiden. In einer Phase wachsender Re-Kolonialisierung der
dritten Welt, verpackt unter dem Deckmantel des Schlagworts der
ökonomischen Globalisierung, setzt diese Inszenierung damit einen
wohltuenden Kontrapunkt. Und wird, wenn man es schafft in die
Traumwelten Genets und Schäfers einzutauchen, doch zu einem echten
Theatergenuss – für Fortgeschrittene.
„Europa macht sich dünne.“
Jean Genet – Die Wände am Theater an der Ruhr in Mülheim
(Katrin Wiesemann)
Ein Photoapparat klickt und die 14 Personen auf der Bühne kippen wie tot
um, das Klirren eines Schlüsselbunds und alle erwachen wieder zum
Leben: Eines von vielen Rätseln in dem Stück „Die Wände“, welches zur
Zeit in Mühlheim gezeigt wird. Genau diese Rätsel will Regisseur Roberto
Ciulli aber hervorrufen: „Je mehr Chancen wir haben vor einem Rätsel zu
stehen, desto mehr Chancen haben wir.“
Und die sind in dieser Inszenierung des Stückes von Jean Genet zur
Genüge zu finden. Dramaturg Helmut Schäfer und Ciulli ließen sich nicht
durch die strengen Regieanweisungen des Autors einschränken. Schäfer:
„Den Text eines Autors aus Verehrung unverändert zu lassen, hieße den
Autor mundtot zu machen.“ Denn jeder Text müsse in „unserer“ jeweiligen
Zeit gedacht werden. So entsprechen weder das karge Bühnenbild noch
die Kostüme den Originalanweisungen. Auch der Text wurde erheblich
gekürzt. Hinzugefügt aber wurden Textstücke aus Genets Buch „Vier
Stunden in Chatila“, einem Bericht der Massaker in Beirut aus dem Jahr
1982, in dem Genet auf ästhetische Weise tote Körper beschreibt.
Das Stück dreht sich um Said, seine hässliche Frau und seine Mutter: die
„Brennnesselfamilie“. Algerien ist in kolonialer Hand, “der ärmste Sohn
des Landes“ schlägt sich mit Diebstahl durch, verrät seine Landsleute wie
auch die Engländer und wird durch Genets Umkehrung der Werte zum
Helden. Wichtige Rollen spielen u.a. die Araber, die Kolonialherren, die
Legionäre und die Huren. Ein Soldat mit Flügeln, ein Messdiener, der einen
Leutnant ankleidet und der pantomimische Empfang der Hostie sind nur
drei der Zeichen, welche Ciulli und Schäfer bewusst in die Inszenierung
einbauten. Sie sind Symbole für das, was „wir“, Europa, exportiert haben:
die christliche Politisierung. Doch bei den im Moment anstehenden
Problemen im Nahen Osten entziehe sich Europa der Verantwortung. Alle
Rätsel der Inszenierung zu verstehen, wäre für Ciulli ein „Stehenbleiben“.
Deshalb gibt es für ihn auch keinen ultimativen Sinn, jeder Zuschauer
nimmt sich seinen eigenen Sinn mit nach Hause.
Brüchige Fassaden zwischen Kindlichkeit und Wahnsinn
Das Mülheimer Theater an der Ruhr inszeniert „Die Wände/Les Paravents“
von Jean Genet. (Frank Zimmermann)
In einem Kostüm des späten 18. Jahrhunderts, aus der Zeit also, aus der
auch das Wort `Terror´ stammt, wandelt Regisseur Roberto Ciulli über die
Bühne und spielt einen Regisseur des Terrors. In der Fassung von Helmut
Schäfer zeigt das Theater an der Ruhr Jean Genets „Wände“ als einen
bunten Bilderbogen der Gewalt, gespickt mit Anspielungen und Symbolen,
die von der Zeit der Kreuzzüge bis in die Gegenwart reichen. Das Leben
als Kampf zwischen Gesellschaften, Religionen, Geschlechtern und
Hierarchien, wird ausgetragen auf dem maroden Parkett des
Kolonialismus. Den Holzboden hat Bühnenbildner Garf-Edzard Habben
durch zwei mit Rollsplitt gefüllte Kuhlen unterbrochen, die im Laufe der
Inszenierung mal als Schützengraben fungieren, mal als Sandkasten, mal
als Wüstensand, der sich gegen die Bebauung der Besatzer durchsetzt.
Unter dem Personal des Stücks finden sich alle möglichen Menschentypen;
nur eines gibt es nicht: Sieger! Die ausgemergelten Huren geben sich
ihren Freiern wahllos hin und waschen bei Bedarf auch deren Leichen. Der
arme Said (Ferhade Feqi) kann sich nur jeglicher Verstrickung entziehen,
indem er alle verrät, auch seine Frau Leila, „die hässlichste Tochter des
Landes“. Diese oszilliert, beeindruckend eindringlich gespielt von Simone
Thoma, zwischen Kindlichkeit und Wahnsinn und findet schließlich in
einem suizidalen Tanz ihr Ende. Die Besatzer glänzen mit Siegelring,
Reitstiefeln und goldenem Harnisch. Eine brüchige Fassade, hinter der sie
sich alkoholisiert in schwülstigen, homoerotischen Soldatenspielen
verlieren, während die Gattinnen zum Negligé Stahlhelm tragen müssen.
Um Genets Dramenungetüm spielbar zu machen, wurde das Stück von
Dramaturg Helmut Schäfer stark gekürzt. Durch die Ergänzung von
Textpassagen aus Genets „Vier Stunden in Chatila“ wird der Blick von den
historischen Zuständen in Algerien hin zu der aktuellen Situation des
Nahen Ostens gelenkt. Genets Prosatext beschreibt seine Eindrücke, die er
beim Besuch im Palästinenserlager Chatila im September 1982 sammelte,
kurz nachdem dort christliche Milizen unter den Augen der israelischen
Besatzer ein Massaker angerichtet hatten. Dass diese Textpassagen nach
der Premiere zunächst – auf Anweisung des Verlages - gestrichen werden
mussten, rief bei einigen Zuschauern den Verdacht politischer Zensur
hervor, doch tatsächlich waren lizenzrechtliche Auseinandersetzungen
Hintergrund dieser Maßnahme. Als „ästhetische Dummheit“ bezeichnete
Schäfer verärgert im Gespräch die Haltung der Lizenzeigentümer, die
seiner Fassung des Textes kein grünes Licht gaben. In Anbetracht der
Menge von Hintergrundwissen, das nötig ist, um die Inszenierung in all
ihren Facetten zu verstehen, ist die Bezeichnung „Theater für
Fortgeschrittene“ sicher berechtigt. „Theater ist ein Ort an dem Rätsel
entstehen!“, erklärt Ciulli dagegen seine Auffassung des Dramas und
macht dem Publikum damit das Angebot sich von den eigenen
Impressionen und Interpretationen leiten zu lassen und auch das
Unerklärliche als anregendes Bestandteil des Rätsels zu genießen.
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