APOLLINISCH UND DIONYSISCH Ursprung, Anwendung und Paarung der Kunsttriebe in der Literatur Masterarbeit Literaturwissenschaften, im Februar 2008 Florence Kuhlemeier Stud.nr. 0211435 Begleiterin: Kiene Brillenburg-Wurth Kurs: Intermedialities Universität Utrecht 1 1. EINFÜHRUNG ........................................................................................................................ 3 2. URSPRUNG DER GOTTHEITEN ....................................................................................... 6 3. PHILOSOPHISCHER HINTERGRUND ............................................................................ 9 SCHOPENHAUER ............................................................................................................................ 9 PHILOSOPHIE IN DER MUSIK ..................................................................................................... 11 DIE BEETHOVENSCHRIFT ........................................................................................................... 12 DER SCHÖNE SCHEIN UND DER WILLE ..................................................................................... 13 DIE WAHRE SEELE DER MUSIK .................................................................................................. 15 VORBILD, FREUND, FEIND: NIETZSCHE UND WAGNER .......................................................... 19 4. DIE KUNSTTRIEBE BEI NIETZSCHE ............................................................................. 22 DAS APOLLINISCHE .................................................................................................................... 22 DAS DIONYSISCHE ...................................................................................................................... 23 DER GEGENSATZ AUF EINEN BLICK .......................................................................................... 24 NIETZSCHES SPÄTERE KRITIK ZUM EIGENEN WERK ............................................................... 25 5. DER GENIALE IRRTUM.................................................................................................... 28 6. LITERARISCHE VERARBEITUNG .................................................................................. 31 NIETZSCHE IN DER TOD IN VENEDIG....................................................................................... 32 HERMANN HESSE ........................................................................................................................ 34 NIETZSCHE IM DEMIAN ................................................................................................................ 39 DER TRAUM IN DEMIAN .............................................................................................................. 39 ZWEI WELTEN: ORDNUNG UND CHAOS..................................................................................... 41 GEFÄHRLICHE FLUT: FRANZ KROMER........................................................................................ 44 DAS GUTE AM BÖSEN UND DAS BÖSE AM GUTEN ..................................................................... 45 ABRAXAS – VEREINIGUNG DES DIONYSISCHEN MIT DEM APOLLINISCHEN ............................. 47 DER STEPPENWOLF ..................................................................................................................... 52 REINHEIT, ORDNUNG................................................................................................................... 53 ERNÄHRUNG ................................................................................................................................ 55 MUSIK ........................................................................................................................................... 57 LICHT UND DUNKEL .................................................................................................................... 59 DAS UNBESTIMMTE ...................................................................................................................... 61 7. SCHLUSSWORT ................................................................................................................... 65 2 1. EINFÜHRUNG Das Hauptinteresse der vorliegenden philosophisch-literarischen Masterarbeit sind die von Friedrich Nietzsche und Richard Wagner aufgestellten apollinischen und dionysischen Kunsttriebe. Die Arbeit gliedert sich in zwei Hauptteile, wobei im ersten theoretischen Kapitel dem Ursprung des so genannten „ungeheuren Gegensatzes“ nachgegangen werden soll. Nach einer kurzen Beschreibung der beiden wichtigen Gottheiten des Altertums, Dionysos und Apollon, auf die der „ungeheure Gegensatz“ zurückzuführen ist, soll der philosophische Hintergrund erläutert werden. Eine der wichtigsten Inspirationsquellen Wagners und Nietzsches war mit Sicherheit der deutsche Denker Arthur Schopenhauer. Sein dualistisches Gedankengut prägt die Generationen nach ihm; so zieht sich zum Beispiel sein Denken über Musik und Kunst teilweise wie ein roter Faden durch das Werk Wagners und Nietzsches. Aus diesem Grunde sollen im theoretischen Teil dieser Arbeit Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik sowie Wagners Beethoven Essay besprochen werden. Es ist bekannt, dass sich der spätere Nietzsche gegen den um viele Jahre älteren Freund Richard Wagner gekehrt hat und sich in Werken wie Der Fall Wagner gegen dessen Kunstauffassung (die gemeinsame Kunstauffassung der beiden Männer) ausgesprochen hat. Es soll hier jedoch bei der Behandlung der beiden Kunsttriebe „apollinisch“ und „dionysisch“ vor allem von der Geburt der Tragödie ausgegangen werden; Nietzsches Kritik am eigenen Werk soll, der Übersicht wegen, nur am Rande angesprochen werden. Kritische Stimmen bleiben aber nicht vollständig aus. Die beiden Nietzsche- und Wagnerstudien des Musikwissenschaftlers Martin Vogel werden in einem weiteren Kapitel besprochen. Seine Bücher Nietzsche&Wagner und Apollinisch und Dionysisch, Geschichte eines genialen Irrtums bezweifeln und hinterfragen die absolute Spaltung der beiden Kunsttriebe und zeigen diese anhand von Beispielen in einem neuen Licht. Im praktischen zweiten Teil der vorliegenden Arbeit sollen Philosophie und Literatur miteinander verknüpft werden. Kritik an dem lang bewährten musikalischphilosophischen Konzept wie sie beispielsweise Martin Vogel geliefert hat, erweist sich 3 in der Literatur indirekt und als unabhängige Kunstäusserung. Nietzsches Erbe ist bekanntlich beim deutschen Schriftsteller Thomas Mann vorzufinden und wurde zum Beispiel im Zauberberg gründlich verarbeitet, wie verschiedene Studien zeigen. Nach einer kurzen Analyse der Novelle Tod in Venedig und einer ebenfalls kurzen biographischen Einführung wende ich mich meinem Hauptinteresse zu: Dem Werk Hermann Hesses. Spuren des Philosophen Friedrich Nietzsche sind in den Schriften dieses süddeutschen Autoren deutlich spürbar. Was mich hinsichtlich dieser intertextuellen Verbindungen am meisten interessierte, war die Frage nach dem Gegensatz des Apollinischen und des Dionysischen. Es galt zu untersuchen, wie der Gegensatz Nietzsches von Hesse aufgefasst und verarbeitet wurde, und ob gewisse Abweichungen oder Entwicklungen vorzufinden sind. Diesbezüglich habe ich sowohl die Auffassungen der drei Philosophen/Schriftsteller (Nietzsche, Wagner und Hesse) einander gegenübergestellt, als auch die beiden Werke Hesses Demian und Steppenwolf miteinander verglichen. Ich habe mich an untenstehenden Fragen orientiert und folglich eine Hypothese formuliert. Untersuchungsfragen: Woher kommt der „ungeheure Gegensatz“? Wie findet man ihn im Altertum, wie bei Schopenhauer/Nietzsche/Wagner beschrieben? Wie äussern sich Schopenhauer, Nietzsche, Wagner und Hesse zur Musik und in welchem Verhältnis steht dies zum Apollinischen und zum Dionysischen? Ist die Aufspaltung in zwei Kunsttriebe absolut oder gibt es weitere Meinungen? Was sagen kritische Stimmen wie Martin Vogel zu Nietzsches „ungeheurem Gegensatz“? Wie wird das musikalisch-philosophische Konzept in der Literatur angewendet? Welche Auffassungen haben Thomas Mann und Hermann Hesse bezüglich des griechischen Gegensatzes und stimmen diese überein mit den Auffassungen Nietzsches und Wagners? 4 Gibt es eine Entwicklung im Werke von Hesse? Sind Unterschiede zwischen Demian und dem Steppenwolf festzustellen bezüglich Interpretation und Repräsentation der apollinischen und dionysischen Kunsttriebe? Hypothese: In der Literatur Hermann Hesses werden die von Nietzsche und Wagner aufgestellten Gegensätze „dionysisch und apollinisch“ als unzertrennliche Einheit aufgefasst. Ich gehe davon aus, dass sich die Kunsttriebe gegenseitig bedingen, und dass nicht, so wie es Wagners Wunsch war, ein Trieb dem anderen vorgezogen werden kann. Diese Annahme werde ich anhand von Argumenten und überzeugenden Literaturbeispielen zu unterstützen versuchen. 5 2. URSPRUNG DER GOTTHEITEN In diesem Kapitel möchte ich gerne eine Beschreibung der Gottheiten Apollon und Dionysos geben, wie sie in Classical Mythology, welches von Mark Morford verfasst wurde, zu finden sind. Ich hoffe, hierdurch ein kurzes, aber auf ursprünglichen Überlieferungen basierendes Porträt zu erhalten. Morford kommentiert verschiedene altgriechische Literaturquellen und zitiert Schriftsteller wie Homer und Ovid. Ein objektives Bild der beiden Kunstgötter zu erhalten schien mir für die Beschäftigung mit den umstrittenen Werken Nietzsches und Wagners sehr wichtig. Bei Morford lesen wir, dass aus der Paarung von Zeus mit Leto die beiden göttlichen Zwillinge Artemis und Apollon entstehen. Das Land Delos verhandelt mit Leto und will die Geburt Apollos nur akzeptieren, wenn sie ihm verspricht, das Apollon ihm einen Tempel und einen Altar errichtet und dem Land Treue gewährt. Unter grossen Schmerzen, die neun Tage anhalten, bringt Leto Apollon zur Welt, der sogleich das Licht aufsucht. Auf Delos freuen sich die Götter und das Land steht in voller Blüte. Wie wir später sehen werden, müsste Apollon, von Nietzsche ausgehend, vorwiegend helle, positive Charaktereigenschaften aufweisen. Im Kapitel The Nature of Apollo in Classical Mythology stossen wir jedoch auf folgende Beschreibungen der Gottheit Apollon: The facets of Apollo’s character are many and complex. His complex nature sums up the many contradictions in the tragic dilemma of human existence. He is gentle and vehement, compassionate and ruthless, guilty and guiltless, healer and destroyer. The extremes of his emotion are everywhere apparent.1 Die Überlieferungen sind jedoch genau so widersprüchlich und vielfältig wie Apollon selbst. An einer weiteren Stelle in Classical Mythology heisst es, Apollon sei die Personifizierung griechischer Proverben wie „Kenne Dich selbst“ und „Von nichts sollte man zuviel haben.“ Die Redewendungen sprechen für Apollos angeborenes Gefühl für das rechte Mass. 1 Morford, Mark P.O. Classical Mythology, S. 244 6 He knows by experience the dangers of excess.2 Wie der Kult des Apollos entstanden ist, ist unklar, man nimmt an, dass er im Jahre 2000 vor Christus durch die Überlieferung von nordischen Eindringern nach Griechenland gelangte. Er gilt als Schäfer, als Sonnengott und als Gott der Musik und der Medizin. Da er für die Disziplin steht und für das beherrschen seiner Leidenschaften bekannt ist, wird er oft als Gegenpol von Dionysos gesehen. Der Mythos um Dionysos entstand jedoch erst viel später. Wie Apollon ist auch Dionysos ein Kind von Zeus und entstand aus dessen Paarung mit Semele, einer Tochter von Cadmus. Nach einem Streit tötet Zeus die schwangere Semele, lässt ihrer Asche jedoch das ungeborene Kind entnehmen. Dieses bindet er sich in seinen Schenkel ein und bringt eigenständig und zum angemessenen Zeitpunkt den Sohn Dionysos zur Welt. Die Aufgabe des kleinen Gottes ist es, denen, die sich ihm fügen, Glück zu bringen, und diejenigen, welche sich ihm widersetzen, zu bestrafen. Er gilt des weiteren als ein Gott der Vegetation im allgemeinen und der Weinrebe im besonderen, steht für die Produktion und das Trinken von Wein. Feindlichkeit gegenüber denen, die ihm nicht gut gesinnt sind, und die Fähigkeit, sich in Tiere zu verwandeln, zeichnen ihn ebenfalls aus. In Classical Mythology lesen wir über Dionysos: “Dionysus represents the sap of life, the coursing of the blood through the veins, the throbbing excitement and mystery of sex and of nature; thus he is a god of ecstasy and mysticism.” 3 Was aus den ursprünglichen Quellen spricht, ist die Tatsache, dass es nebst den Unterschieden zwischen Dionysos und Apollon durchaus auch viele Zusammenhänge und Ähnlichkeiten gibt. In Classical Mythology findet sich die Bemerkung, dass die beiden womöglich den gleichen Ursprung haben und dass es sich bei den beiden, trotz der Unterschiede, um zwei Bezeichnungen für den gleichen Gott handelt. In der vorliegenden Arbeit soll in einem späteren Kapitel mit dem Titel Der geniale Irrtum diese 2 3 Morford, Mark P.O. Classical Mythology, S. 245 Morford, Mark P.O. Classical Mythology, S. 293 7 Problematik wieder aufgegriffen und mithilfe der Studie des Nietzsche-Kritikers Martin Vogel besprochen werden. 8 3. PHILOSOPHISCHER HINTERGRUND Die Aufstellung der duplizistischen Kunsttheorie durch das Zusammentreffen zweier vielseitig talentierter Herren hat eine Vorgeschichte. Selbstverständlich wurden Nietzsche und Wagner von ihrer Zeit geprägt. Geprägt wurden sie allerdings auch von ihren Vorgängern, von Philosophen wie Schopenhauer und Komponisten wie Beethoven. Diese intellektuelle und musikalische Spur soll in den folgenden Kapiteln zurückverfolgt werden. Schopenhauer Nebst der griechischen Mythologie gab es noch eine wichtige Inspirationsquelle für Nietzsches und Wagners „ungeheuren Gegensatz“: Die Welt als Wille und Vorstellung – wohl das bekannteste Werk des im Jahre 1788 in Danzig geborenen Arthur Schopenhauer. Es entstand als der junge Philosoph noch in seinen Zwanzigern war. Den Rest seines Lebens verbrachte er laut Schriftsteller Christopher Janaway damit, die Gedanken in seinem Meisterwerk zu ergänzen und nach aussen hin zu verteidigen. Er scheut es nicht, seine Meinung offen und direkt auszusprechen. Dies kann er sich ohne weiteres erlauben, da sein in jungen Jahren erworbenes grosses Erbe ihm eine lebenslange finanzielle Unabhängigkeit ermöglicht. Im Jahre 1809 fängt Schopenhauer an der Universität Göttingen an zu studieren. Seine Wahl ist Medizin, aber recht bald wechselt er zur Philosophie und entscheidet sich für ein Studium in Berlin. Dort besucht er Vorlesungen von Schleiermacher und Fichte, aber geprägt wird er vor allem vom schriftlichen Nachlass der Philosophen Plato und Kant. Ein zweiter Faktor der von grosser Bedeutung gewesen ist für sein Werk, ist die Auseinandersetzung mit östlichen Weisheiten und Philosophien der Hindu. Diese sind die Quellen für die führende Duplizität in Die Welt als Wille und Vorstellung. Darin geht Schopenhauer davon aus, dass es im menschlichen Bewusstsein eine Trennlinie gibt zwischen dem normalen Bewusstsein und dem besseren, höheren Bewusstsein. Einen Hauch von Religiosität erhält die Theorie, indem den Künstlern und den Heiligen ein höheres Bewusstsein zugeschrieben wird. Dieses höhere Bewusstsein zeichnet sich aus 9 als Wille, der sich fundamental von der Vorstellung unterscheidet. Die Welt der Vorstellung begnügt sich mit dem Sichtbaren, dem oberflächlich Feststellbaren. Sie gliedert sich in Objekt und Subjekt, wobei die Welt das Objekt ist, das vom wissenden, kennenden Menschen (Subjekt) wahrgenommen wird. Die Welt des Willens hingegen bezeichnet das Leben An Sich, ist das Leben hinter der äusseren Fassade der Dinge und schliesst den Menschen als Betrachter nicht mit ein.4 Anstelle der traditionellen Zweiteilung des Menschen in Einheiten des Physischen und des Mentalen, stellt Schopenhauer den Begriff des Willens dem Intellekt und der Rationalität gegenüber. Zu Eigenschaften des Willens gehören alle Tätigkeiten die sich mit Leidenschaft und Gefühl verbinden lassen: begehren, streben, wünschen, verlangen, hoffen, lieben, sich freuen, jubeln, aber auch alles was dem entgegenstrebt: nicht wollen, verabscheuen, flüchten, fürchten, erbost sein, hassen, Schmerz erleiden und so weiter. Die genannten Zustände wirken sich ihrerseits auf den Körper aus, das Herz fängt an, schneller zu klopfen, die Pupillen verengen oder weiten sich, die Röte schiesst uns ins Gesicht oder aber unserem Gesicht wird Farbe entzogen. Jegliche heftige Bewegung des Willens hat, so Schopenhauer, einen direkten Einfluss auf den Körper. Mit diesem Gedanken ist eine Identifikation des Willens mit dem Körper hergestellt. Schopenhauer spricht in diesem Zusammenhang vom Körper als einem objektivierten Willen: Zähne, Speiseröhre und Darmkanal seien beispielsweise objektivierter Hunger, die Genitalien der objektivierte Sexualtrieb.5 Hieraus wird abgeleitet, dass jeder Wille aus einem Bedürfnis entsteht. Nichterfülltsein eines Bedürfnisses bringt eine Spannung mit sich, eine Unzufriedenheit, ein Leiden. Der Wille strebt also danach, das Leiden zu neutralisieren, das Bedürfnis zu befriedigen. Allerdings, sagt Schopenhauer, ist eine solche Befriedigung nicht mehr als eine vorübergehende Rückkehr in einen neutralen Zustand, den wir als Glück empfinden. Wenig später meldet sich ein neues Bedürfnis, der Wille wird wieder spürbar. Die Ästhetik Schopenhauers richtet sich gegen dieses „Hin und Herschiessen“ im genannten Spannungsfeld, zielt darauf hin, ein Glückgefühl ausserhalb dieser Bedingungen zu erreichen. Er sucht nach dem beruhigenden Effekt der eintritt, wenn es einem gelingt, sich der starken Macht des Willens zu entziehen. Als Lösung sieht Schopenhauer die 4 5 Janaway, Christopher. Schopenhauer, S. 16 Janaway, Christopher. Schopenhauer, S. 55 10 Objektivierung des Subjekts. Der Betrachter soll seine eigenen Zielsetzungen während der Kunstanschauung völlig aufgeben, soll seine eigene Persönlichkeit an die Seite stellen, um nur noch als reines Objekt des Kennens zu fungieren, „helles Auge der Welt“ zu sein.6 Philosophie in der Musik Auch Schopenhauers Musikauffassung ist nach dem im vorherigen Kapitel besprochenen Prinzip aufgebaut, und Wagner und Nietzsche haben sich später von folgenden Gedanken leiten lassen, und somit das Gesamtkunstwerk im Schopenhauerschen Sinne geprägt: „Das Wesen des Menschen besteht darin, dass sein Wille strebt, folglich befriedigt wird, und abermals strebt, in immer fortwährender Wiederholung; ja sein Glück und Wohlergehen sind nichts anderes als der schnelle Übergang von Wunsch zur Befriedigung und von der Befriedigung wieder zum neuen Wunsche...Im gleichen Sinn ist das Wesen einer Melodie ein fortwährendes Abweichen, ein sich Entfernen vom Grundton auf tausend verschiedene Arten...Auf all diesen Wegen bringt die Melodie das vielförmige Streben des Willens zum Ausdruck, aber auch dessen Befriedigung durch das schliessliche Wiederfinden eines harmonischen Intervalls, und a fortefiori des Grundtones.“ 7 Je mehr Übergangsnoten in einem Stück vorkommen, je mehr das Erreichen des Grundtones herausgezögert wird, desto heftiger ist also die Befriedigung des Willens. Dieses Konzept wurde bei Wagners Tristan und Isolde konstatiert und ausgiebig analysiert. In der Tristan-Studie The Tragic and the Ecstatic von Eric Chafe werden die Aussagen Wagners mit denen Schopenhauers verglichen, und aus dem folgenden Zitat von Richard Wagner über die Universalität der Musik lässt sich deutlich das Gedankengut Schopenhauers zu der Welt an Sich erkennen. 6 Janaway, Christopher. Schopenhauer, S. 93 Janaway, Christopher. Schopenhauer, S. 101, Zitat aus die Welt als Wille und Vorstellung, hier diente die holländische, kommentierte Version als Quelle und ist frei übersetzt ins Deutsche 7 11 What music expresses is eternal, infinite and ideal. It speaks not of passion, love and longing of this or that individual in this or that situation, but of passion, love and longing in themselves, and furthermore in all the infinite variety of motivations which arise from the exclusive nature of music and which are strange to, and beyond the expression of, every other form of language.8 Die Musik ist also, im Gegensatz zur Bilderkunst, nicht eine Kopie einer Idee im Platonischen Sinne. In (Un)forgetfulness, dem fünften Kapitel aus Musically Sublime von Kiene Brillenburg, wird das Verhältnis der Musik zur Welt folgendermassen beschrieben: “Indeed, as a direct gateway to – or mouthpiece of – the Will music already points through itself to the absolute in merely pointing to itself as the embodiment of that absolute. It relates to the absolute just as Jesus Christ relates to God in Western religion…in both instances, the former is an incarnation of the latter, moving within embodiment…”9 Hier wird eine Parallele hergestellt zwischen Musik und Glauben. Sowie Jesus Christus eine Incarnation von Gott ist, ist die Musik eine Incarnation des Willens und der Welt an sich. Jede Frage nach Gott wird vom Christen mit Jesus beantwortet. Letzerer ist (im Westen) eine logische Konsequenz des Ersteren, ist ihm gleich und doch fällt er nicht vollständig mit ihm zusammen. Das Gleiche gilt für die Musik. In ihr manifestiert sich die Welt als Wille, die Musik ist die Welt, birgt sie in sich, währenddem sie gleichzeitig auch nur ein Teil von ihr ist. Als Beispiel eines Komponisten der sich der wahrhaftigen Aussagekraft der Musik bewusst war und sich ihrer in vorbildlicher Weise bediente, nennt und rühmt Wagner seinen Vorgänger Ludwig van Beethoven. Ihm zu Ehren verfasst er einen 200 seitigen Essay, die Beethoven Schrift, von der im folgenden Abschnitt die Rede sein wird. Die Beethovenschrift Gerne möchte ich in diesem Kapitel die Hauptpunkte aus der im Jahre 1870 von Richard Wagner verfassten Beethovenschrift besprechen. Schopenhauersche Grundsätze sind in dieser Schrift eingeflochten, und zudem werden Gedanken zu den gegensätzlichen 8 9 Chafe, Eric. The Tragic and the Ecstatic. New York: Oxford University Press, 2005 Brillenburg, Kiene. The Musically Sublime, S.125 12 Kunsttrieben erläutert. Es ist aus Studien nie ganz deutlich hervorgegangen, ob die Anfänge der dionysischen und apollinischen Kunsttheorien bei Nietzsche oder bei Wagner zu suchen sind. Es ist deshalb auch nicht im Entferntesten mein Ziel, mich der Frage nach dem geistigen Eigentum zu stellen und schon gar nicht, das Problem zu lösen versuchen. Ich möchte mit den ursprünglichen Aussagen von Richard Wagner das Schopenhauersche Gedankengut aufspüren und zudem einen Eindruck vermitteln von Wagners Haltung gegenüber dem Thema des ungeheuren Gegensatzes. Der schöne Schein und der Wille Sich auf Schopenhauer und Kant beziehend stellt Wagner in seiner Beethovenschrift eine Zwei- oder vielleicht sogar eine Dreiteilung her in seiner Kunstauffassung. Die visuelle, bewusste Art der bildenden Künste teilt er dem Ästhetischen zu, die nach seiner Meinung viel detailliertere und ungreifbare Welt der Musik gehört dagegen für ihn zum Schopenhauerschen Ding An Sich. Er zitiert diesen mit der Aussage, dass die Position der Musik als Kunst erst hergestellt wurde, als Schopenhauer ihr nachsagte, eine unabhängige Haltung zu haben, da sie jeden Zuhörer unabhängig von seiner Kultur oder Sprache und ohne jeglichen abstrakten Zwischenschritt zu erreichen imstande ist. Die Musik widerspiegelt also, im Gegensatz zu der um vieles expliziteren Kunst des Schreibens und der bildlichen Darstellung, auf direktem Wege die ursprüngliche Welt der Ideen (Hat gewisse Ähnlichkeiten, ist aber nicht zu verwechseln mit dem Ideenreich bei Platon). Rein durch ihre universelle Form hat die Musik Zugang zur individuellen, subjektiven Bedeutung der Welt, von Schopenhauer Wille genannt. Die Musik erringt durch die oben genannten Qualitäten einen besonderen Platz inmitten der Künste. Sie dringt durch zum Kern der Dinge, während dem die übrigen Künste sich auf die weit abstraktere Darstellungsweise ihrer Disziplin begrenzen und sich mit einer der äusseren, objektiveren Schichten der Dinge begnügen müssen. Nach Schopenhauer hat das menschliche Gehirn zwei Teilbereiche, eines für die nach innen gekehrte Tätigkeit, und eine für die Konzeption anderer, äusserer Gegebenheiten. Wagner bezieht diese Teilbereiche auf die Weise, wie die verschiedenen Künste wahrgenommen werden und schreibt: 13 Eine nicht minder bestimmte Erfahrung ist nun aber diese, dass neben der im Wachen wie im Traume als sichtbar sich darstellenden Welt eine zweite, nur durch das Gehör wahrnehmbare, durch den Schall sich kundgebende Welt also recht eigentlich eine Schallwelt neben der Lichtwelt, für unser Bewusstsein vorhanden ist, von welcher wir sagen können, sie verhalte sich zu dieser wie der Traum zum Wachen: sie ist uns nämlich ganz so deutlich wie jene, wenngleich wir sie als gänzlich verschieden von ihr erkennen müssen...Dieses innere Leben ist es nun aber, durch welches wir der ganzen Natur unmittelbar verwandt, somit des Wesens der Dinge in einer Weise teilhaftig sind, dass auf unsere Relationen zu ihm die Formen der äusseren Erkenntnis, Zeit und Raum, seine keine Anwendung mehr finden können; woraus Schopenhauer so überzeugend auf die Entstehung der vorausverkündenden oder das Fernste wahrnehmbar machenden, fatiditen Träume, ja für seltene äusserste Fälle den Eintritt der sonnambulen Hellsichtigkeit schliesst. Hier steht also der Wachzustand auf der Seite des Bildlichen, Erfassbaren und doch Abstand bewahrenden der Ästhetischen Weltanschauung. Die Welt der Musik formt diesbezüglich den grossen Gegensatz und wird mit einem Zustand verglichen bei dem, losgelöst vom Bekannten, von Raum und Zeit jegliche Konventionen und Massnahmen der Übersicht wegfallen. Auffälligerweise wird dieser Zustand oft aus dem Traum heraus hervorgerufen, was im Widerspruch ist mit dem Apollinischen (Traum) bei Nietzsche. Wagner argumentiert jedoch, dass das Erwachen aus einem solchen Traume oft mit einem Schrei erfolgt, was der Beweis dafür ist dass die nonverbale Welt des Traumes nur durch Klang erfasst und als sich als unmittelbar geängstigten Willen manifestiert.10 Hieraus resultiert letztendlich die wunderliche Kunstgattung der Musik. Wo die bildenden Künste mittels Illusion und schönem Schein versuchen, die intellektuelle Auffassung der Ideen ins Visuelle zu übersetzen, bleibt die Musik echt, ehrlich, direkt und frei von illusorischen Absichten: Wollen wir nun den Schrei, in allen Abschwächungen seiner Heftigkeit bis zur zartesten Klage des Verlangens und als das Grundelement jeder menschlichen Kundgebung an das Gehör denken, und müssen wir finden, dass er die allerunmittelbarste Äusserung des Willens ist, durch welche er sich am schnellsten und sichersten nach aussen wendet, so dürfen wir uns weniger über dessen 10 Richard Wagner. Beethoven, S. 13 14 unmittelbare Verständlichkeit, als über die Entstehung einer Kunst aus diesem Elemente verwundern, da andererseits ersichtlich ist, dass sowohl künstlerisches Schaffen als künstlerische Anschauung nur aus der Abwendung des Bewusstseins von den Erregungen des Willens hervorgehen kann. Die wahre Seele der Musik In der Musik wird also über verschiedene Sinne intensiviert wahrgenommen und die Ästhetik dieser Kunst unterscheidet sich von der der anderen Gattungen. Unsere Einheit mit der Natur, schreibt Wagner, erkennen und fühlen wir ausschliesslich in der Welt des Klanges.11 Jedoch wird die Musik oft abgeschwächt in ihrer Aussagekraft, dadurch dass sie sich der Formen anderer Disziplinen bedient. Zum Beispiel durch das Anbringen eines Rhythmus bekommt die Harmonie eine innere Struktur und gleicht sich mehr und mehr der ordnenden Kraft der Architektur und der Bilderwelt an. Ordnung schafft zwar eine Übersicht, hat jedoch ebenfalls notgedrungen eine grössere Oberflächlichkeit zufolge. Wagner bedauert diesen Effekt, tut ihn als unwürdig ab. Gleichzeitig ehrt er Beethoven als den einzig wahren und würdigen Komponisten der die Musik wieder zu ihrer ursprünglichen Bedeutung verholfen hat, indem er ihre innere Aussagekraft, ihren Willen nach aussen brachte und, nach Nietzsche, dem Dionysischen freien Lauf gewährte. Auch den Komponisten Palestrina lobt Wagner, und schreibt seiner Musik die folgenden Qualitäten jenseits von Raum und Zeit zu: Hier ist der Rhythmus nur erst noch durch den Wechsel der harmonischen Akkordfolgen wahrnehmbar, während er ohne diese, als symmetrische Zeitfolge für sich, gar nicht existiert; hier ist demnach die Zeitfolge noch so unmittelbar an das an sich raum- und zeitlose Wesen der Harmonie gebunden, dass die Hilfe der Gesetze der Zeit für das Verständnis einer solchen Musik noch gar nicht zu verwenden ist. Die einzige Zeitfolge in einem solchen Tonstücke äussert sich fast nur in den zartesten Veränderungen einer Grundfarbe, welche die mannigfaltigen Übergänge im Festhalten ihrer weitesten Verwandtschaft und vorführt, ohne dass wir eine Zeichnung von Linien in diesem Wechsel wahrnehmen können. Da nun diese Farbe selbst aber nicht imraume erscheint, so erhalten wir ein fast ebenso zeit- als raumloses Bild , eine durchaus geistige Offenbarung, von welcher wir daher mit so unsäglicher Rührung ergriffen werden, weil 11 Richard Wagner. Beethoven, S. 15 15 sie und zugleich deutlicher als alles andere das innerste Wesen der Religion, frei von jeder dogmatischen Begriffsfiktion, zum Bewusstsein bringt.12 Sehr deutlich wird auch hier wieder das Innere und das Äussere erörtert, das Unerfassbare wird zugänglich gemacht, dadurch dass es nicht durch eine zu erfassende Form in seiner Aussagekraft begrenzt und verstört wird. Dies gilt sowohl für die Musik, wie auch für den Glauben, für die tiefer liegende Metaphysik, die erst ihren vollen Wert erhält, wenn sie, befreit von jeglichen Dogmas in ihrer Ganzheit erfasst und entwickelt werden kann. Aus diesem Grunde bezeichnet Wagner diesen Gegensatz mit den Begriffen secular und spiritual 13. Das gegensätzliche Begriffenpaar, bei dem sich secular auf die konventionelle, gefestigte Art des Glaubens und des Musizierens bezieht und spiritual die freiere, individuelle Art zu denken bezeichnet, hat meiner Meinung nach Parallelen mit der negativen Theologie des mittelalterlichen Meister Eckhards. Bei Eckhard werden dogmatische Schichten die am gefestigten Glauben haften entfernt, bis ein ehrlicher, echter Kern ersichtlich ist. Gegebenenfalls könnte man womöglich mit einer Bezeichnung aus der Philosophie Derridas von einer Destruktion der Bibel sprechen; nur über sie führt der Weg zu echter Religiosität. Im Falle der Musik sind die Dogmata herkömmliche Strukturen in der Harmonie und der Rhythmik. Im Laufe der Zeit wurden dies formellen Aspekte beispielweise unter Bach und Händel immer wichtiger. Sie wurden sogar so sehr in den Vordergrund gerückt, dass man im Sinne Wagners vielleicht sogar behaupten könnte, dass die Form den Inhalt verdrängte. Festigkeit, „dogmatische“ Strukturiertheit manifestiert sich mit einer Beharrlichkeit, die der Musik ihre universelle Aussagekraft und Dynamik raubt. Einen Wechsel in diesem musikalischen Formalismus glaubt Wagner also bei Beethoven, dem Begründer der „echten Musik“, festzustellen. Wie aus obigem Zitat über Palestrina herauszulesen ist, ist der Rhythmus nicht mehr so vorhersagbar wie zu Zeiten Mozarts, sonder beschränkt sich lediglich auf Farbtonwechsel und Harmoniefolgen, welche den Zuhörer in eine Art Schwebezustand versetzen. Jenseits von Raum und Zeit bezeichnet Wagner diese neuen musikalischen Eindrücke, und es ist aus diesem Grunde auch nicht verwunderlich, dass er sie mit Religiosität in Verbindung setzt. Im bereits erwähnten 12 13 Richard Wagner. Beethoven, S.27 Richard Wagner. Beethoven, S.23 16 (Un)forgetfulness weist Kiene Brillenburg darauf hin, dass der Behauptung Wagner bezüglich der Abwesenheit einer Rhythmik bei der sogenannt sublimen Musik des achzehnten Jahrhunderts eine gewisse Naivität zugrunde liegt. Auch wenn die Harmonie jetzt die ordnende Instanz ist und nicht mehr der Rhythmus, geht das architektonisch – ordnende Element keinesfalls verloren. Prioritäten verschieben sich und die rhythmische Ordnung kommt auf anderem als auf dem herkömmlichen Wege zu stande: “Within the dominant structure of tonality and sonata form, harmony is the formative principle, making for a movement of tension and resolution, whereby rhythmic symmetry is made dependent on the oscillation of consonance and dissonance.“14 Wir müssen die Beethovenschrift allerdings auch im Rahmen ihrer Zeit betrachten. Selbstverständlich sind rhythmische Strukturen oder Strukturen allgemein im Vergleich zu Musik der Klassik oder des Barocks nur bedingt vorhanden. Erweitern wir aber den Zeitraum und ziehen wir auch die Moderne und Postmoderne in Betracht, so müssen wir erkennen, dass die Musik Beethovens und gar Wagner im Vergleich zu einem Benjamin Britten oder John Cage gar nicht abgehoben oder unstrukturiert erscheint. Es also eine Frage der Gewöhnung des Ohres, und die Aussagen Wagners beschränken sich auf den Vergleich mit der reinen Formmusik der von ihm so verhassten, oft italienischen Vorgänger wie Rossini, aber auch Mozart oder Händel. Wie ist es nun aber möglich, mittels einer Kunst, die so universell ist, dass sie jeden Menschen, unabhängig von seiner kulturellen Herkunft, erreichen und berühren kann, trotzdem an das Nationalgefühl zu appellieren? Schon im ersten Paragraphen stellt sich Wagner diese Frage. Der Musiker kann sich nicht, wie der Dichter, einer nationalen Sprache bedienen oder wie der Maler regional bedingte Abbildungen anfertigen, sondern er bedient sich ausschliesslich aus dem allgemeingültigen Reich der Klänge. Wagner rühmt Beethoven als Komponisten des Deutschen Volkes, da er sich mit seiner nach innen gekehrten Haltung auf Ehrlichkeit und Reinheit ausrichtet. Obwohl er zwar seines Berufes bedarf, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ist er nicht darauf 14 Brillenburg, Kiene. The Musically Sublime, S.131 17 ausgerichtet, sich mit materiellen Gütern zu bereichern. Sein kostbarster Besitz ist die Freiheit seines Geistes und er lässt sich nicht dazu verführen, mit schnellen, oberflächlichen, formbedingten Kompositionen Geld zu machen, richtet sich nicht nach aussen, sondern nach innen. Neben dieser nach innen gerichteten Haltung nimmt zudem Beethovens Seh- und Hörvermögen ab, was ihn sich noch mehr von der Aussenwelt lösen lässt. Der Vergleich mit dem blinden Seher Tiresias fällt an, und Wagner bezeichnet Beethoven als eigentliche Verkörperung, als Menschwerdung der Schopenhauerschen Welt An-Sich. Ein gehörloser Musiker! – Ist ein erblindeter Maler zu denken? Aber den erblindeten Seher kennen wir. Dem Tiresias, dem die Welt der Erscheinung sich verschlossen und der dafür nun mit dem inneren Auge den Grund aller Erscheinungen gewahrt – ihm gleicht jetzt der ertäubte Musiker, der ungestört vom Geräusche des Lebens nun einzig noch den Harmonien seines Inneren lauscht, aus seiner Tiefe nur einzig noch zu jener Welt spricht, die ihm – nichts mehr zu sagen hat. So ist der Genius von jedem Ausser-sich befreit, ganz bei sich und in sich. Wer Beethoven damals mit dem Blicke des Tiresias gesehen hätte, welches Wunder müsste sich dem erschlossen haben : eine unter Menschen wandelnde Welt – das An-Sich der Welt als wandelnder Mensch!15 Während er die italienischen Opernkomponisten des vorigen Jahrhunderts Sklaven der Mode nennt, rühmt und ehrt Wagner Beethoven stattdessen wie einen Gott. Mit seinem klaren (erleuchteten) Auge ist Beethoven imstande, seine eigene Aufrichtigkeit in der Form von Musik nach aussen hin auf die Welt der Erscheinung zu projizieren, die ihm dann in neuer, reiner Gestalt widerspiegelt wird. Der Zuhörer wird in einen paradiesähnlichen Zustand versetzt, indem es ihm vorkommt, von jeglicher irdischer Schuld befreit zu werden. Wagner führt das von ihm so oft benutzte Wortpaar des Sublimen und des Schönen ein und bevorzugt deutlich den erstgenannten Begriff wenn er schreibt: Hier ist einzig der ästhetische Begriff des Erhabenen anzuwenden : denn eben die Wirkung des Heiteren geht hier sofort über alle Befriedigung durch das Schöne weit hinaus 16 15 16 Richard Wagner. Beethoven, S.43 Richard Wagner. Beethoven, S.45 18 Mit dem gegensätzlichen Wortpaar des Erhabenen und des Schönen befasst sich folglich auch der Philosoph Friedrich Nietzsche. Wie er zusammen mit seinem Zeitgenossen Richard Wagner eine umfassende Kunsttheorie aufstellt und entwickelt und welche Folgen dies für ihre Freundschaft hatte ist im folgenden Kapitel zu lesen. Vorbild, Freund, Feind: Nietzsche und Wagner Die ausserordentliche Begabung und die Intelligenz Friedrich Nietzsches wurden innerhalb seiner Familie und vom akademischen Kreis in dem er sich bewegte, schon sehr frühzeitig festgestellt. An der Universität in Bonn fing Nietzsche im Jahre 1864 ein Studium der klassischen Philologie. Als sein Lehrer Friedrich Ritschl allerdings nach Leipzig ging, folgte ihm sein bester Schüler bald darauf. Nietzsche bekam in jungen Jahren bereits eine Stelle im Rheinischen Museum für Philologie, und Ritschl publizierte frühe Schriften seines Schülers in einer von ihm geleiteten Zeitschrift. Aus dem obligatorischen Militär wurde Nietzsche wegen eines Unfalls entlassen, wodurch schon im Jahre 1868 mit der Universität verhandelt werden konnte über eine Stelle für den jungen Philologen. Obwohl es sehr schwierig war, sich einen Lehrestuhl an einer Universität zu ergattern hielt der 24-jährige im Jahre 1869 seine ersten Vorlesungen in Basel. Dafür hatte er weder einem Habilitationsverfahren noch einem Promotionsverfahren stellen müssen, und auch die Abfassung einer Dissertation war ihm erlassen worden. Die Tatsache, dass Nietzsche erst mit 20 sein Abitur gemacht hatte, aber sich schon mit 24 Jahren Universitätsprofessor nennen konnte, nannte man ein einmaliges Datum der deutschen Gelehrtengeschichte.17 Privat spielte Nietzsche sehr gerne Klavier und als ihm die Musiknoten von Tristan in die Hände gerieten, machte ihn dies auf der Stelle zu einem grossen Verehrer Richard Wagners. In einem Brief schreibt er: „Ich bringe es nicht übers Herz, mich dieser Musik gegenüber kritisch kühl zu verhalten; jede Faser, jeder Nerv zuckt an mir, und ich habe lange nicht ein solches andauerndes Gefühl der Entrücktheit gehabt als bei letztgenannter Ouvertüre.“18 17 18 Vogel, Martin. Nietzsche und Wagner, S.13 Vogel, Martin. Nietzsche und Wagner, S.18 19 Bald darauf standen sich die beiden Männer an einer Aufführung der Meistersinger in Leipzig persönlich gegenüber. Nietzsche, der sich vorgenommen hat, sich mehr den zwischenmenschlichen Kontakten zu widmen, trifft sich mit seinem Vorbild Wagner schon bald darauf zu tiefen und langen Gesprächen über Schopenhauer und dessen Philosophie. Zehn Tage nachdem Wagner mit der Verarbeitung der Schopenhauerschen Musikauffassung in seiner Beethovenschrift begonnen hatte, fing auch Nietzsche an zu schreiben und verfasste seine Dionysische Weltanschauung. Wagner diente ihm als Schrittmacher. Nietzsche fasste sein Verhältnis zu Wagner als einen geistigen Wettkampf auf. 19 In diesem intellektuellen Konkurrenzkampf war eine Unterordnung Nietzsches wegen dem grossen Altersunterschied zwischen den beiden Männern schon zu Beginn der Freundschaft recht klar. Obwohl er mit seiner Geburt der Tragödie Wagner aus dem Herze sprach, und dieser auch vorerst nichts anderes im Sinne hatte, als dem jungen Freund Mut zu machen und ihn zu unterstützen, wurden von verschiedenen Seiten her kritische Stimmen laut. Schon vor dem Bruch der beiden stand Cosima Wagner nicht immer eindeutig hinter Nietzsche und macht ihren Mann und andere auf Nietzsches leichte Beeinflussbarkeit hin. Nach dem Bruch war Boshaftigkeit vorprogrammiert, und Cosima schreibt an einen Freund: Ich glaube, man könnte bei jedem Ausspruch von Nietzsche einen Nachweis liefern, woher er ihn hat.20 Auch Wagner begann den ehemaligen Freund in seiner Abhängigkeit zu sehen, aber Nietzsches Schwester, Elisabeth Förster, nahm den Kampf des Bruders in die eigene Hand und rüstete sich mit gleich aggressiven Argumenten wie die Frau an der anderen Seite der WagnerNietzsche Front. Die Schwester behauptet, dass es eben Wagner gewesen sei, der sich bei Nietzsche Anregungen geholt habe, und dass er ohne ihn niemals die Umsetzung des Dionysischen und Apollinischen Problems in ein Kunstprinzip hätte ausführen können. Sie beteuert sogar, Wagner habe vor der Bekanntschaft mit Nietzsche noch gar nichts mit dem „ungeheuren Gegensatz“ zu tun gehabt, und er habe sich diesen fälschlicherweise angeeignet: Wagner hatte die Begriffe „dionysisch“ und „apollinisch“ von meinem Bruder übernommen, woran er selbst nicht gedacht hatte; er nahm leicht fremde Gedanken an.21 19 Vogel, Martin. Nietzsche und Wagner, S. 61 R. Graf du Moulin Echkart. Cosima Wagner, zitiert von Vogel, Martin : Nietsche und Wagner, S. 65 21 Vogel, Martin. Nietzsche und Wagner, S. 63 20 20 Sowie die Schwester den Bruder und dessen mögliches geistiges Eigentum zu schützen versucht, gibt es von der anderen Seite her arge Vorwürfe. In einem späteren Teil dieser Arbeit wird die Kritik des Musikwissenschaftlers Martin Vogel an Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik behandelt werden. Mit Argumenten und Beispielen ist Vogel geschickt und überzeugend; ausserdem schreckt er nicht davor zurück, den bekanntesten und wohl meistgelesenen Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts alt aussehen zu lassen. Halbwegs des fünften Kapitels, das sich auf biographische Daten und insbesondere auf die Beziehung zwischen Wagner und Nietzsche konzentriert, stockt dem Leser der Atem. Einer der Untertitel lautet: Wagners wahrhaft göttlicher Gedanke. In diesem Absatz ist die Rede von der geistigen Abhängigkeit Friedrich Nietzsches von Richard Wagner und davon, wie leicht der Erstgenannte zu beeinflussen gewesen sei. Obwohl sich das Gedankengut bezüglich des ungeheuren Gegensatzes aus gemeinsamen Gesprächen und dem regen Briefwechsel ergeben haben muss, unterlässt es Wagner nicht, sich auch in intellektueller Hinsicht seinem um viele Jahre jüngeren Freund überzuordnen. Innerhalb seines Familienkreises beansprucht er den Hauptgedanken der Geburt der Tragödie für sich und behauptet: „Hat ihn mein Einfluss hierbei geleitet, so kann niemand besser als ich beurteilen, wie tief innerlich mein Gedanke das Eigentum dieses wissenschaftlich, mit allem dem, was ich in mir ungepflegt lassen musste, so ernsthaft und tüchtig ausgerüsteten Mannes geworden ist.“22 Anderenorts drückt er sich noch kräftiger aus indem er sagt, der Mann (Nietzsche) habe keinen einzigen Tropfen eigenen Blutes gehabt und die Ideen habe man ihm alle einflössen müssen. Vogels Kommentar dazu lautet: Nach diesen Worten ist Wagners wahrhaft göttlicher Gedanke Nietzsches Eigentum geworden, nicht aber gewesen.23 22 Wagner an seinen Neffen Clemens Brockhaus, 18. 1. 1872; Die Briefe Cosima Wagners an Friedrich Nietzsche, zitiert von: Vogel, Martin, Apollinisch und Dionysisch. Geschichte eines genialen Irrtums, S.118 23 Vogel, Martin, Apollinisch und Dionysisch. Geschichte eines genialen Irrtums, S. 118 21 4. DIE KUNSTTRIEBE BEI NIETZSCHE Im Vorwort an Richard Wagner sagt Nietzsche, seine Gedanken zum Dualismus des Dionysischen und des Apollinischen seien etwa zur gleichen Zeit entstanden wie Wagners Festschrift für den Komponisten Beethoven, in der er sich den gleichen Fragen widmet. Es kann also angenommen werden, dass die Entwicklung des Konzepts der beiden gegensätzlichen Kunsttriebe ein intellektuelles Gemeingut des Philosophen Friedrich Nietzsche und des Musikers Richard Wagner gewesen ist. Was war nun aber das Ziel der Geburt der Tragödie und wie hat Nietzsche die beiden griechischen Götter aus ihrem Kontext befreit und zu seinen Zwecken eingesetzt? Er spricht davon, dass die Fortentwicklung der Kunst sich dazu bedingt, sich an der Duplizität des Apollinischen und des Dionysischen zu orientieren, währenddem die Versöhnung beider nur periodisch24 eintritt. Er geht davon aus, dass sie die bis anhin getrennten Götter in der griechischen Tragödie zusammentreffen um sich in immer neuen aufeinander folgenden Geburten gegenseitig zu steigern.25 Wie charakterisiert sich nun aber dieser so genannte ungeheure Gegensatz, von dem die Namen den Griechen entlehnt wurden? Und wie könnte eine Versöhnung der beiden Pole in Theorie und Praxis aussehen? Das Apollinische Allererst veranschaulicht Nietzsche in seinem Werk die beiden Kunsttriebe durch sie mit verschiedenen Zuständen des Bewusstseins zu vergleichen. Das Apollinische weist die folgenden Merkmale auf: Nach Nietzsches Meinung soll Apollon der Gott aller bildnerischen Kräfte gewesen sein und nennt sich Lichtgott oder der Scheinende. Scheinend ist er im doppelten Sinne des Begriffes, leuchtend nämlich, jedoch verkörpert er auch Schein im Sinne des Wortes Betrug. Phoibos Apollon, der Sonnengott, steht zwar für alles Schöne, aber Nietzsche verwendet ihn ebenfalls als Herrscher des schönen Scheines, des Traumes und der Phantasiewelten. Einen respektierten Stellenwert erhält Apollon durch 24 25 Nietzsche, Friedrich. Geburt der Tragödie, S. 27 Nietzsche, Friedrich. Geburt der Tragödie, S. 47 22 die Fähigkeit der Wahrsagekunst und der heilenden Wirkung von Schlaf und Traum. Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang von höherer Wahrheit und vom höchsten Leben der Traumwirklichkeit.26 Der Gott Apollon deckt sich aber auch mit der Ordnung und dem rechten Mass, währenddem aber die so genannten wilderen Regungen von Nietzsche nicht zum Traumbegriff gerechnet werden. In der Psychoanalyse werden diese Regungen zum Zentrum des Traumes, bei Nietzsche aber läuft eine zarte Linie als massvolle Begrenzung27 durch die Welt des Traumes. Wichtig ist hier der Begriff der Kontemplation, im Traume ist der Mensch bloss ein Zuschauer, gegebenenfalls ein Betrachter seiner selbst. In jedem Fall manifestiert sich ihm die Welt durch das Medium der Bilder. Aus diesem Grunde werden die bildenden Künste als apollinische Künste gegenüber der nicht bildlichen Welt der Musik bezeichnet. Nietzsche dachte sich also den Traum als einen Zustand der Kontemplation; als wenn sich der Mensch im Traume wie ein Zuschauer verhielte, der in die Betrachtung eines Schauspiels versunken sei, wie ein Zuschauer, der wunsch- und willenlos dem Glück des Schauens hingegeben sei.28 Das Dionysische Der Gott des Rausches unterscheidet sich bei Nietzsche vom Gott des Traumes dadurch, dass er dazu verführe, sich zu berauschen, um letztendlich die Individualität gegen völlige Selbstvergessenheit einzutauschen. Nicht nur vom sich Verstehen und vom Einswerden der Menschen ist hier die Rede, sondern auch die erneute Beziehung zur Natur ist hier gemeint. Nietzsche erklärt seinem Leser den Gegensatz in Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik und umschreibt das Dionysische folgendermassen: Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung. Wie jetzt die Tiere reden, und 26 Vogel, Martin. Nietzsche und Wagner, S.25 Nietzsche, Friedrich. Geburt der Tragödie, S.30 28 Vogel, Martin. Nietzsche und Wagner, S.25, Zitat aus N.v. Bubnoff: Friedrich Nietsches Kulturphilosophie und Umwertungslehre 27 23 die Erde Milch und Honig gibt, so tönt auch aus ihm etwas Übernatürliches: als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wandeln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches.29 Doch auch eine lange Reihe von Begriffen wie wildeste Bestien der Natur, Wollust, Grausamkeit, Strudel, barbarisch, orgiastisch und Selbstvergessenheit tauchen im Werk Nietzsches auf. Diese Begriffe charakterisieren das Dionysische und unterscheiden es somit klar vom apollinischen Schönheitstrieb und der Urbegierde nach dem Schein.30 Der Gegensatz auf einen Blick Durch die Jahre hindurch sind verschiedene Tabellen aufgestellt worden, mit Charakterisierungen der beiden Kunsttriebe. Im Vergleich enthalten die meisten Tabellen in einer Zeitspanne von 1912 bis 1963 oft ähnliche Beschreibungen. Die untenstehende Liste soll einen Einblick gewähren in die Arbeit von den unter anderem im philosophischem Bereich tätigen Herren Prinzhorn31, Hildebrandt (1912), Hübscher (1922), Sieber (1946) Schröder (1954), Abendroth (1963) und anderen Wissenschaftlern, von denen weitere Angaben leider fehlen. Entgegen der von mir in der Hypothese formulierten Behauptung, dass das Dionysische und das Apollinische eine Einheit bilden, wird hier versucht, sie als klare gegensätzliche Pole darzustellen und ihnen Stimmungen und Eigenschaften zuzuordnen. Die Auswahl ist gross und die folgende Auflistung ist nicht mehr als eine Selektion aufgestellten Unterscheidungsmerkmale nach meinem persönlichen Gutdünken. Apollinisch Dionysisch Aufklärung Romantik 29 30 31 Nietzsche, Friedrich. Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, S. 32 Nietzsche, Friedrich. Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, S. 43 Keine Angabe Verfassdatum bei Martin Vogel 24 denkend fühlend nüchtern rauschvoll bestimmt unbestimmt hell dunkel begrenzt unendlich plastisch musikalisch koordinierend subordinierend Abel Kain introvertiert extravertiert Bewusstsein Instinkt Auffällig ist das von Hocker aufgestellte biblische Gegensatzpaar, bei dem Kain sich mit dem Dionysischen deckt und Abel mit dem Apollinischen. In meiner für diese Arbeit verfassten Literaturanalyse von Hesses Demian, in dem die biblische Erzählung eine grosse Rolle spielt, wird dieser Gegensatz noch mal aufgegriffen und tiefer ausgearbeitet. Nietzsches spätere Kritik zum eigenen Werk Schon in der wenige Seiten umfassenden Selbstkritik die von Nietzsche als Vorwort zu seiner Geburt der Tragödie gedacht war, finden sich als Vorbereitung auf die Schilderungen des Dionysischen und des Apollinischen fortwährend Gegensätze. Nietzsche schreibt wie er selbst sich, zur aufregenden Zeit des Deutsch – Französischen Krieges in eine Alphütte zum Schreiben zurückgezogen hat. Sehr vergrübelt und verrätselt, und als bekümmert und zur selben Zeit unbekümmert empfindet er sich. Dem Leser, der sich auf die Erörterung des Dionysisch- Apollinischen Gegensatzes eingestellt hat, fällt ein solcher Wortgebrauch sofort auf. Lesen wir weiter, so finden wir einen erstaunten Kommentar Nietzsches, indem er sich über die Unbeschwertheit und 25 Leichfertigkeit, mit denen er das griechische Problem ist jungen Jahren angegangen ist, wundert. Auffällig ist, dass er seine dionysische Lehre als eine Gegenlehre zum Leben beschreibt. Nietzsche gibt also gewissermassen zu, dass seine Theorie, da sie vom richtigen Leben losgelöst ist, eher fantastisch als realistisch ist. In der Behandlung des Steppenwolfes von Hermann Hesse im praktischen Teil der Arbeit wird auf diesen Punkt weiter eingegangen werden. Gegen die Moral also kehrte sich damals, mit diesem fragwürdigen Buche, mein Instinkt des Lebens, und erfand sich eine grundsätzliche Gegenlehre und Gegenwertung des Lebens, eine rein artistische, eine antichristliche. Wie sie nennen? Als Philologe und Mensch der Worte taufte ich sie, nicht ohne einige Freiheit – denn wer wüsste den rechten Namen des Antichrist? – auf den Namen des griechischen Gottes: ich hiess sie die dionysische. In der im Nachhinein verfassten Selbstkritik, die in der Ausgabe von 1886 als Vorwort zu der im Jahre 1871 verfassten Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik diente, bestempelt Nietzsche sein eigenes Erstlingswerk als fragwürdig. Die Zweifel an seinem fünfzehn Jahre zuvor geschriebenen Werk haben mehrere Ursachen. Als ersten Grund betrauert Nietzsche es, dass er nicht über den Mut oder die Entschlossenheit verfügt habe, mehr eigene Begriffe in seine Philosophie einzuflechten. Aus Respekt oder Unmut habe er sich „mühselig“32 mit Schopenhauerschen und Kantischen Formeln herumgeschlagen, obwohl diese seiner eigenen Auffassung völlig widersprachen. Im Gegensatz zur lebensbejahenden Philosophie Nietzsches bezogen sich die Gedanken Schopenhauers zur griechischen Tragödie auf die Resignation. Doch erst fünfzehn Jahre später wagt es Nietzsche, Folgendes zuzugeben: „O wie anders redete doch Dionysos zu mir! O wie ferne war mir damals gerade der ganze Resignationismus!“33 Allerdings gibt es noch einen Grund, den Nietzsche angibt für das unbefriedigende Resultat seiner Geburt der Tragödie. Er bereut es, dass er sich als junger Philosoph in seinen Vornehmen durch eine Mode-Erscheinung hat täuschen und von seinem 32 33 Nietzsche, Friedrich. Geburt der Tragödie, S. 18 Nietzsche, Friedrich. Geburt der Tragödie, S. 19 26 eigentlichen Ziel hat ablenken lassen. Das grandiose griechische Problem34 habe er sich durch Einmischung der modernen Dinge verderben lassen. Für Richard Wagner hat er kein gutes Wort mehr übrig und Nietzsche stellt den ehemaligen Freund als Lügner dar. Sein starker Glaube an Wagner und dessen Lebenswerk hat sich in Luft aufgelöst und einem hämischen Spott Platz gemacht. Der folgende Satz fasst seine Gedanken zusammen: Dass ich Hoffnungen anknüpfte, wo nichts zu hoffen war, wo alles allzudeutlich auf ein Ende hinwies.35 Folglich macht Nietzsche eine Unterscheidung, eine deutliche Trennung der beiden Begriffe berauscht und benebelt. Obwohl es sich in beiden Fällen um eine Art Ekstase handelt, um ein Aufgeben der Individualität, ist beim Rausch, der ins Reich des Gottes Dionysos gehört, eine wesentlich positivere Ladung spürbar als beim Konzept des sich Benebelns. Letzterer Begriff beinhaltet zusätzlich das Aufgeben der eigenen Verantwortung. Nietzsche wirft Wagner vor, dieser ziele mit seiner Idee vom deutschen Wesen und von der deutschen Musik auf eine Vermittelmässigung, auf ein Abstumpfen seiner Zuhörer. Er nennt die Deutschen ein Volk, das den Trunk liebt36, und weist hin auf die grosse Gefahr, die narkotisierende Wirkung welche die Musik Wagners auf „sein“ Volk ausübt. Weit entfernt sei dieses Konzept Wagners, das Konzept das Nietzsche auch mal sein Eigenes nannte, von den Werten der alten Griechen. So weit entfernt sogar, dass sie von ihm als romantisch und zur gleichen Zeit als die ungriechischste aller Kunstformen37 abgetan wird. 34 Nietzsche, Friedrich. Geburt der Tragödie, S. 19 Nietzsche, Friedrich: Geburt der Tragödie, S. 19 36 Nietzsche, Friedrich: Geburt der Tragödie, S. 20 37 Nietzsche, Friedrich: Geburt der Tragödie, S. 20 35 27 5. DER GENIALE IRRTUM Der deutsche Schriftsteller, Musikwissenschaftler und Nietzsche-Kritiker Martin Vogel widerlegt in seinem Buch Apollinisch-dionysisch: Geschichte eines genialen Irrtums die Befindungen Nietzsches zu dessen Ungeheurem Gegensatz, indem er den griechischen Mythen auf den Grund geht. Dem Hauptteil der Untersuchung liegt die Frage zugrunde, wie es dazu kommen konnte, dass der Altphilologe Friedrich Nietzsche einen Gegensatz aufstellen wollte den es, so Vogel, im Altertum gar nicht gab. Dafür bedient er sich biographischer Daten und demonstriert er anhand von zahlreichen Beispielen, dass Nietzsche zu gewagt vorgegangen sei bei der Schöpfung seiner zwei Kunstgottheiten. Nietzsche habe sich seiner Meinung nach und seinen gründlichen Untersuchungen zufolge nicht genug in die Materie eingearbeitet. Hätte er dies nämlich getan, so wäre er von alleine auf die Nichtexistenz eines solchen Gegensatzes gekommen und hätte sich nicht dazu verführen lassen, diese zu einer derart umfassenden Kunsttheorie auszuarbeiten. Obwohl es nicht im geringsten meine Absicht ist, in der vorliegenden Arbeit die Schriften und Thesen Nietzsches zu widerlegen, möchte ich hier doch Martin Vogel miteinbeziehen, da seine Beispiele die Zusammengehörigkeit und Unzertrennlichkeit des Apollons und des Dionysos demonstrieren. In vielen Fällen beschäftigt sich Vogel beispielsweise mit Fähigkeiten, die er beim Apollon vorfindet, die aber bei Nietzsche dem Typus des Dionysischen zugeschrieben werden würden, oder umgekehrt. Eben genanntes unterstützt meine Hypothese und dient als Inspiration für die im übernächsten Kapitel folgenden Literaturanalyse. Im Kapitel Apollon und Dionysos befasst sich Vogel zuallererst mit dem Phänomen des rechten Masses und dem der Musik. Schon 1953 lautet der Kommentar des NietzscheKritikers Kerényi in seinen Studien über antike Religion und Humanität, Apollon sei nicht nur der Gott des Traumes, sondern sei, wie ihn Nietzsche geschaffen und verwendet hat, selbst zu einem Traumbild geworden. Mit der antiken Wirklichkeit habe er nichts mehr zu tun.38 Bekanntlich wird auch das rechte Mass dem Apollon zugeschrieben, die 38 Kerényi, K. Studien über antike Religion und Humanität, Düsseldorf 1953, S. 40 zitiert von Vogel, Martin, Apollinisch und Dionysisch, Geschichte eines genialen Irrtums, S.37 28 Musik hingegen ist das „Metier“ des Dionysos. Nur die Musik vermag es nämlich – wie es auch Schopenhauer in seinem Konzept des Willens ausdrückte - direkt aus der Seele zu sprechen, ohne sich eines formellen Zwischenschrittes zu bedienen. Die Musik ihrerseits entspringt jedoch einem strikten Mass, einer absoluten Ordnung: dem geometrisch-harmonikalen Strahlensatz. Im Altertum verwendete man diese mathematischen Gesetzmässigkeiten um anhand des Lichtes der Sonne die Zeit zu bestimmen. Jedoch wurden sie auch zum Bau und zum Stimmen von Musikinstrumenten eingesetzt. Zur Sonnenuhr, die im Altertum Gnomon genannt wurde, konkludiert Martin Vogel: Am Gnomon liessen sich also in gleicher Weise optische und harmonikale Gesetzmässigkeiten demonstrieren. Schon hieraus erklärt sich, dass der Lichtgott Apollon zugleich auch Schirmherr der Musik war. Die antike Mousikê war allerdings wesentlich weiter gefasst als das, was man heute unter Musik versteht. Zur Mousikê rechnete alles, was nach Mass und Zahl eingerichtet war. „Mousikê“ hiess die Lehre von den Relationen und den Proportionen. Zusammen mit Arithmetik, Geometrie und Astronomie bildete sie das so genannte „Quadrivium“. 39 Apollon repräsentierte in der Antike weitaus mehr, als Nietzsche in seiner Geburt der Tragödie mit ihm als Gott der Bilder und des Traumes ausdrücken möchte und Vogel meint, die antiken Götterkulte seien so differenziert gewesen, dass die Götter nicht jeweils auf einen Hauptnenner beschränkt werden dürfen. Ursprünglich wurde der Gott Apollon, der schon durch das Spannen und Entspannen seines Bogens mit dem musikalischen Tone in Kontakt kam, folgendermassen beschrieben: Apollon hält mit den Klängen seiner Lyra das Weltall in harmonischer Bewegung; und das Plektron, mit dem er die Saiten schlägt, ist das Licht der Sonne.40 In den obigen Zitaten ist überdeutlich die Rede von apollinischen sowie von dionysischen Qualitäten wie sie Nietzsche festgelegt hat. Die Wörter Klängen und Bewegung sind bacchische Elemente, harmonisch und Licht der Sonne gehören zum Bereich des Apollon. Die übrigen Worte lassen sich hingegen beiden Kategorien zuteilen. Das Weltall ist als das Entstehen von Klang (dionysisch) aus der Anordnung (apollinisch) der Planeten zu verstehen. Das Plektron bringt Musik hervor, aber nur durch das regelmässige, ordnungsgemässe anschlagen der Saiten, die wiederum in harmonischem 39 40 Vogel, Martin. Apollinisch und Dionysisch. Geschichte eines genialen Irrtums, S. 39 Vogel, Martin. Apollinisch und Dionysisch. Geschichte eines genialen Irrtums, S. 39 29 Verhältnis zueinander gestimmt werden müssen. In diesem Beispiel Vogels liegt der Ursprung des Dionysischen in der apollinischen Gesetzmässigkeit beschlossen. Wenn wir uns nun mit der lichtbringenden Qualität Apollos befassen, so lesen wir bei Vogel ebenfalls, dass viele Quellen vom Gegenteil berichten. Wir kennen ihn, Apollon, als Gott der Erkenntnis, als Gott des rechten Masses, als Musenführer und Lichtbringer, aber Apollon, dessen Beinamen „Deiradiotes“ und „Tortor“ lauten, werden auch dunklere Seiten zugeschrieben. In der Illias erscheint er als ein düsterer Rachegott, der Tod und Verderben mit sich bringt. Aber auch auf anderen Ebenen verschwimmt die so klare Grenzlinie, die Nietzsche zwischen den beiden Gotteinheiten aufgespannt hat. So wird der Efeu als Pflanze des Dionysos bezeichnet, der Lorbeer gilt als Gewächs des Apollon. Von beiden Pflanzen werden in der antiken Überlieferung berichtet, sie verfügten über die Möglichkeit, einen durch das Kauen der Blätter in einen Zustand der Trance zu versetzen.41 Die Eigenschaften werden im Altertum nicht immer konsequent zugeordnet; Apollon wird zeitweilen mit dem Ekstase verschaffenden Efeu abgebildet, und von Homer sowie von Euripides wird ein Zusammenhang zwischen Dionysos und der Lorbeerpflanze hergestellt.42 In der Odyssee ist zudem die Rede von einem erlesenen, berauschenden Wein. Die Trauben für diesen so selig machenden Trunk stammen aus Ismaros, einem Weinort in Griechenland, der jedoch Apollon gehört. 43 Wiederum finden wir Apollon an einem Ort, wo wir nach Nietzsches These eigentlich Dionysos zu erwarten hätten. Wer sich auf Nietzsches philologisches Gespür verliesse, wäre fast immer genarrt. Nietzsches „ungeheurer Gegensatz“ ist das Schulbeispiel einer schlecht fundierten und nicht weiter überprüften Hypothese, die an Ort und Stelle ständig versagt.44 Mit dieser Aussprache auf Seite 62 konkludiert Vogel ziemlich direkt und nahezu aggressiv, dass die genannten Beispiele an der Glaubwürdigkeit Nietzsches rütteln. Seine Theorie des Apollinischen und des Dionysischen ist, so Vogel, so gut wie nichtig erklärt. 41 Vogel, Martin. Apollinisch und Dionysisch. Geschichte eines genialen Irrtums, S. 59 Roscher, W.H. in: Berliner philologische Wochenschrift 40, 1920, zitiert von: Vogel, Martin: Apollinisch und Dionysisch. Geschichte eines genialen Irrtums, S. 39 43 Schrade, H. Götter und Menschen Homers, S. 112 zitiert von: Vogel, Martin: Apollinisch und Dionysisch. Geschichte eines genialen Irrtums, S. 62, 44 Vogel, Martin. Apollinisch und Dionysisch. Geschichte eines genialen Irrtums, S. 62 42 30 6. LITERARISCHE VERARBEITUNG Im folgenden Kapitel ist die Rede von der literarischen Erscheinungsform des vom Philosophen Nietzsche und des Musikers Wagner aufgestellten Gegensatzes. Komponisten sowie Denker haben sich von den beiden Genies des neunzehnten Jahrhunderts inspirieren lassen, aber auch in der Literatur ist das Erbe deutlich spürbar. Viele Schriftsteller können sich dem erheblichen Einfluss Nietzsches nicht entziehen, und wo Nietzsche wirkt, ist auch Wagner nicht weit zu suchen. So finden sich zum Beispiel im zusammengestellten Briefwechsel zwischen den beiden Autoren Hermann Hesse und Thomas Mann verschiedene Aussagen, aus denen man tiefen Respekt und Bewunderung für Nietzsche und Wagner herauslesen kann. Vor allem Thomas Mann spricht sich darüber aus, sich wohl nie ganz von Nietzsche lösen zu können. In vielen Reden und Essays bekennt er sich zum Nietzsche-Bewunderer und beschwört, „dass an Nietzsche keiner vorbei könne.“45 „Nietzsche nennt er eine der wichtigsten Gestalten des neunzehnten Jahrhunderts, welches er später in seiner Rede über Richard Wagner als „gross und leidend“ charakterisiert. In Nietzsche kulminiert die Selbstverneinung des Geistens zugunsten des Lebens“, die erotisch berauschte Unterwerfung des Geistes unter die Macht“. 46 Trotzdem behauptet Meindert Evers in seinem Essay zu Thomas Mann & Nietzsche, dass Thomas Mann nicht ohne weiteres als purer Nietzscheaner einzustufen ist. Es sei nicht bloss die Rede von einem „hysterischen Macht-, Schönheits- und Lebenskult, sowie er bei vielen anderen Schriftstellern, die sich mit dem Gedankengut Nietzsches verbrüdern, zu finden ist. Nach Evers verneint Thomas Mann zwar auch den Geist zugunsten des Lebens, jedoch nicht ohne Ironie und Selbstreflektion. Die Einordnung Manns sei detaillierter, was natürlich einleuchtet. 45 Evers, Meindert. Thomas Mann &Nietzsche in Zur Wirkung Nietzsches, Centrum voor DuitslandStudies Katholieke Universiteit Nijmegen, Künigshausen und Neumann GmbH, Würzburg, 2001 46 Evers, Meindert. Thomas Mann &Nietzsche in Zur Wirkung Nietzsches 31 Nietzsche in Der Tod in Venedig Es sind viele Studien gemacht worden zum Erbe Nietzsches bei Thomas Mann. Thomas Kluggeist hat sich zum Beispiel in seiner über sechshundert Seiten zählenden Sehnsuchtskosmogenie mit der Nietzsche und Wagner-Rezeption in Thomas Manns Doktor Faustus auseinandergesetzt. Eine weitere Thomas Mann-Studie stammt von Erkme Joseph und trägt den Namen Nietzsche im Zauberberg. Bei der Lektüre von Tod in Venedig scheint die Auseinandersetzung Manns mit der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik stattzufinden. In seinem Werke ist die Rede von einem älteren Mann der, nachdem er sein ganzes Leben pflichtgetreu und ordnungsgemäss gelebt und gearbeitet hat, sich bewusst oder unbewusst dafür entscheidet aus der herkömmlichen Struktur auszubrechen. Seine Reise nach Venedig symbolisiert ein sich Ausliefern an eine höhere Macht, das Wasser das während des ganzen Buches ein wichtiges Motiv darstellt, ist Zeichen für diese dionysische Unbestimmtheit und Tiefe. Die Reise fängt schon damit an, dass sich die Hauptperson Aschenbach in fremde Hände begibt, die ihn per Schiff an sein Ziel bringen sollen. Er traut ihnen nicht, hätte selbst eigentlich anders gedacht und gehandelt. Jedoch ist hier die Rede von einem Übergang von einer gewohnten apollinischen Ordnung in eine neue, wenn auch kurze, dionysische Lebensphase. Der Höhepunkt des Romans ist sehr verblüffend und rührend. Aschenbach hat die rationelle Welt hinter sich gelassen und geht am Ferienort ganz seinen Gefühlen und Trieben nach. Er verliebt sich in den jungen, wunderschönen exotischen Burschen Tadzio, wessen Name ihm wie Musik in den Ohren klingt. Diesen Vergleich macht auch Erkme Joseph in seiner Studie am Zauberberg. Er hat einen Satz, der von Mann in den Nietzsche Schriften angestrichen wurde, herausgehoben und kommentiert ihn im Zusammenhang mit der Romanfigur Castorp aus dem Zauberberg: So ist denn dies Zeitalter von Rausch-Mitteln am erfinderischsten. Wir kennen alle den Rausch, als Musik. (Nietzsche, von Mann unterstrichen) Kommentar Erkme Josephs: Hans Castorp vertauscht im Abschnitt Fülle des Wohllauts Schläfrigkeit mit traumhafter Betäubung durch Musik. Die Hände gefaltet, den Kopf auf der 32 Schulter, den Mund geöffnet, liess er sich von Wohllaut überströmen. Oder er erlebt sich träumend als Faun auf der Sommerwiese.47 Wie im Tod in Venedig ist auch im Zauberberg der griechische Gegensatz eingearbeitet. Der Faun auf der Sommerwiese scheint Ausdruck eines Zustandes zu sein, bei dem die Hauptperson sich nicht mehr als eindeutig definierte, beobachtende Instanz wahrnimmt, sondern als Objekt inmitten des geschehens, als Teil eines funktionierenden Ganzen. Joseph schreibt dazu: Der Grund aber ist das dionysische Chaos, das damit entbunden und aus der Kontrolle entlassen wird, damit es schliesslich die losgelöste Idealität als Wirklichkeit einholt und überwältigt. Aus der Zucht der apollinischen Form entlassen, von Zucht und Haltung erlöst, und von der sittlichen Welt isoliert, entartet der dionysische Grund zur Barbarei und verselbständigt sich.48 Aus diesem Zitat spricht eine Bejahung des Ausbrechens aus der Struktur, aber gleichzeitig wird eine gewisse Vorsicht bezüglich des Dionysischen signalisiert. Man wird durch die Kraft des Dionysischen zwar aus der zucht befreit, Worte wie entarten, verselbständigen und Barbarei weisen jedoch hin auf die Zügellosigkeit und die Unberechenbarkeit dieses Kunsttriebes. Unberechenbar ist auch das Wasser in dem man versinken kann, darf und soll. Dieses Motiv wird im Tod in Venedig eingesetzt und die stets wiederholten Einflechtungen der Musik und der Klänge in die Umgebung beruhen im Tod in Venedig auf die verschiedenen dionysischen Konzepte der Vorgänger Manns. Das Wasser ist ja, wenn auch nicht immer positiv, bei Nietzsche ein Begriff wenn er einen dionysischen Zustand beschreibt. Im dionysischen Zustand läuft man nicht, man tanzt, man schwimmt. Und im Bezug auf Wagner eben leider bis hin zum Ertrinken. Das Motiv der Musik ist offensichtlich und braucht nicht ausgiebig erklärt zu werden. Es findet seinen Ursprung schon bei Schopenhauer, der diese Kunstform als diejenige beschreibt, die direkt aus der Seele zu sprechen vermag, direkter Bote aus der Welt an Sich. Thomas Mann greift dieses Konzept, das er sich über Wagner angeeignet hat auf. Meiner Meinung nach ist Tod in Venedig ein deutliches Plädoyer für das Leben, erleben und ausleben der Dionysischen Triebe. 47 48 Joseph, Erkme. Nietzsche im Zauberberg, S. 276 Joseph, Erkme. Nietzsche im Zauberberg, S. 281 33 Hermann Hesse Hermann Hesse, Manns Zeitgenosse und Freund hat sich auch ausgiebigen NietzscheStudien gewidmet und dieser in seiner Literatur verarbeitet. Jedoch nicht ohne eine Verbindung herzustellen zum Erbe seiner eher problematischen Jugend und dem eindrücklichen Aufenthalt in Indien, wo er sich mit östlichen Weisheiten hat bereichern lassen. Nach einer kurzen Lebensbeschreibung des süddeutschen Autors möchte ich in den nächsten Kapiteln übergehen zum Hauptinteresse der vorliegenden Arbeit. Ich habe mich der Lektüre zweierlei Bücher von Hesse gewidmet und möchte diese im Lichte des Nietzscheschen Erbes besprechen. Bei Hesse handelt es sich meiner Meinung nach anders als bei Wagner nicht um das alleinige Streben zum Dionysischen hin, sondern ist die Paarung beider Kunsttriebe der Idealfall und Ziel des menschlichen Lebens. Ob sich allerdings zwischen Demian und dem Steppenwolf Unterschiede bezüglich der Nietzsche- und Wagner Rezeption bemerkbar machen, soll sich nach der in diesem Kapitel durchgeführten Analyse herausstellen. Vorerst gehe ich von der Hypothese aus, dass sich die Kunsttriebe gegenseitig bedingen, und dass nicht, so wie es Wagners Wunsch war, ein Trieb dem anderen vorgezogen werden kann. Diese Annahme werde ich, nach einer biographischen Einführung, anhand von Argumenten und überzeugenden Literaturbeispielen zu unterstützen versuchen. 34 Ein Leben in Rausch und Askese Dionysischer Opiumrausch Apollinische Kontemplation Hesse schaut mit berauschtem Blick zu tief ins Glas. Hesse beim Nacktklettern. Hesse beraucht und benebelt. Hesse in Indischen Kleidern. In allen Werken von Herman Hesse ist von einem deutlichen Dualismus die Rede. Narziss und Goldmund bilden ein gegensätzliches Paar, Siddharta und Govinda ergänzen sich und Demian hat dasjenige, was Sinclair sich wünscht. Diese Aufspaltung der Persönlichkeit in zwei oder mehrere sich ergänzende Teilbereiche ist auch beim Lesen der Hesse-Biographie deutlich spürbar. Es ist die Rede von einem ständigen Wechsel zwischen einem Leben in Rausch und Vergessenheit einerseits, und einer unermüdlichen Selbstbeherrschung und Strukturierung andererseits. Was man durchaus bei den gegensätzlichen Begriffen apollinisch beziehungsweise dionysisch unterbringen könnte, ergibt sich schon in den jüngsten Jahren unseres süddeutschen Autoren. Ähnlich wie bei vielen seiner Romanfiguren beginnt auch Hermann Hesses Leben in einem Elternhaus in dem Schutz und Ordnung, Ehrlichkeit und Zurückhaltung herrschen. Wie Sinclair hat auch Hesse mehrere Schwestern und ist er derjenige zuhause der sich auflehnt, der dem Vater süsse Feigen stiehlt, dem letztendlich nichts anderes übrig bleibt als ein Wohnortwechsel, und zwar ins Internat. Hesses Eltern sind beide 35 Missionare, zuhause sind die ewig wiederkehrenden Themen Glaube, Liebe und Hoffnung. Schon beim Frühstück lesen die Eltern im Alten Testament und beten. Dem Jungen fällt es vor allem in der Pubertät schwer, seinem individuellen Erleben einen Platz zu geben. Gefühle des Widerstands gegen die elterliche Frömmigkeit und tiefe Schamhaftigkeit wechseln sich ab. „Gott? Wer war denn das? War denn nicht Gott ein Scheusal, ein Wahnsinniger, ein dummer, widerlicher Hanswurst? Ach, was für qualvolle Zeiten waren das. Und immer Angst gehabt, immer Angst vor Strafe und Angst vor den eigenen Gedanken, die er als verboten und verbrecherisch empfand.“ 49 Als Kind liebt er die Märchen, die im Kinderzimmer erzählt werden. Er wird ganz still und liebevoll schmiegt er sich an seine Mutter. In anderen Momenten lehnt er sich auf, bringt gewaltsam Schmetterlinge um, stiehlt und fürchtet gleichzeitig die Sünde und die darauf folgende Strafe. In der Schule ist er gut, er ist sogar erster in Griechisch, die Eltern finden, das sei ordentlich.50 Dann wieder meldet sich der gewaltsamere Teil in ihm, er geht sogar pyromanischen Neigungen nach. Manchmal hat er die Zwangsvorstellung, er müsse das ganze Haus anzünden, da er meint, an der Welt Rache nehmen zu müssen. Seine Eltern schicken ihn weg auf eine Missionarsschule, wo abnorme Buben wie er hingehören. Briefe aus denen völliges Unverständnis der Eltern spricht, bekommt Hermann ins Internat geschickt: Wir wissen nicht, was mit dir ist. Wir grüssen dich aber im Namen Gottes unseres Heilandes und tragen dich auf Händen der Fürbitte. Es ist tragisch, aber auch etwas komisch, dass Hermann folglich antwortet, und in diesen Briefen seine Eltern gegen die herrschende Gewohnheit mit „Sie“ anzusprechen beginnt. Es folgen Hilfeschreie, Selbstmorddrohungen sogar, aber die Eltern bleiben ratlos. Auch Hermanns Leidenschaft fürs Schreiben ordnen sie den „brodlosen Künsten“ zu und bringen ihn mit siebzehn schliesslich soweit, ausser Haus eine Lehre anzufangen. Ganz unglücklich ist er darüber allerdings nicht. Auch wenn er noch nicht dort angelangt ist wo er gern möchte, er kann jetzt selber über sein Leben bestimmen. Er ist frei. Die Lehre in einer Buchhandlung bezeichnet Hesse anfänglich als das Sprungbrett, als einen Umweg der letztendlich zu seinem geliebten Beruf des Schriftstellers führen muss. Jedoch fühlt er sich in der Studentenstadt Tübingen bald ausgeschlossen. Er bereut es, 49 50 Lahann, Birgit Hermann Hesse, Dichter für die Jugend der Welt, Suhrkamp, Frankfurt, 2002 Lahann, Birgit. Hermann Hesse, Dichter für die Jugend der Welt 36 dass er nie das Abitur gemacht hat, sieht ein, dass ihm auf diese Weise viele Wege verschlossen bleiben. Als Buchhändlerlehrling dient er der akademischen Welt, ist aber nicht Teil von ihr. Trotzdem schreibt er nach seinen langen Arbeitstagen abends noch Gedichte, die sogar ab und zu in kleineren Zeitschriften abgedruckt werden. Für die paar Verse bekommt er zwar auch ein Honorar, aber der grosse „Traum“ bleibt aus; „Aber sein Traum? Sein Morgen? Der Sonnenaufgang seines Geistes? Morgen – der Tag der nie heute sein wird, schreibt er in sein Tagebuch.“51 Auch in der Liebe bleibt der ersehnte Erfolg vorerst noch aus. In den Gedichten und Briefen weiss Hermann zwar was er will, wenn es drauf ankommt ist er jedoch zurückhaltend und schüchtern. Mit seiner Nietzschelektüre im Gepäck zieht er um nach Basel, wo er eine feste Anstellung als Antiquar und Buchhändler bekommt. Auch gelingt es ihm dort, in einen Kreis von für ihn und sein Vorhaben wichtigen Leuten zu geraten. In der stimulierenden Umgebung mit viel umringender Natur gelingt es ihm schliesslich, seinen ersten echten Roman zu schreiben: Camenzind. Die griechische Duplizität ist schon hier zu spüren, und in der Biographie von Birgit Lahann heisst es über Camenzind: „Ein Aufschneider ist er, ein Lügenbold, ein Teufelskerl, der Satan nach Schopenhauer und Nietzsche fragt, der mit dem Kopf im Gras wühlt, der an Bäumstämmen rüttelt, der nackt mit seinem Freund Richard im Bergbach badet und Touristen erschreckt, der Richard küsst und von ihm zurückgeküsst wird, der lacht und weint und jodelt. Er jodelt wie verrückt in allen Tonarten und Brechungen und seine Jodelei ist eine Antwort auf "Tristan“, den Wagner hier um die Ecke in Tribschen komponiert hat. Und abends schluckt Camenzind in der Kneipe reichlich vom süssen Gott...Sein Lebenswerk hat er in die Schublade gestopft. Es sind die Anfänge all seiner Romane.“52 Kurz nach seinem Erfolg mit Camenzind heiratet Hesse, zieht mit der um einige Jahre älteren Maria aufs Land, bekommt drei Söhne mit ihr und wird langsam aber sicher ein berühmter Schriftsteller. Seine Frau aber erkrankt bald an Rheuma uns Ischias, ist oft übel gelaunt und Hermann Hesse fühlt sich eingeengt, gefangen. Durch seine vielen Reisen versucht er dem alltäglichen Familienleben auszuweichen, trifft Menschen wie Thomas Mann. Hesse, der eigentlich keinen Tag ohne Alkohol übersteht, gibt sich 51 52 Lahann, Birgit. Hermann Hesse, Dichter für die Jugend der Welt, S. 44 Lahann, Birgit. Hermann Hesse, Dichter für die Jugend der Welt, S.52 37 ebenfalls in eine streng vegetarische und genussmittelfreie Entziehungskur für „Hungerapostel, Sexualasketen, Sonnenanbeter, falsche Hindus und Masseure“ 53durch welche seine apollinische Ader genährt, und seine wilde Steppenwolfnatur trockengelegt wird. Die familiären Schwierigkeiten und die Abstinenz sind Auslöser für ein neues, grosses Projekt, das später zum Thema für seinen Roman Siddharta werden soll: Hesse begibt sich in den Osten um sich in Indien mit der buddhistischen Lehre vertraut zu machen und dem so genannt Apollinischen in ihm selbst Ausdruck zu verleihen. Wie Siddharta ist auch Hesse selbst ein Suchender, und in Indien machen ihm viele Aspekte schwer zu schaffen. Die Klassenunterschiede zu verstehen fällt ihm nicht leicht, und auch die fehlende Hygiene und die tropischen Krankheiten belasten ihn. Doch gut und böse, Ekel und Freude, Last und Liebe wechseln sich ab und Hesse sowie Siddharta begreifen, das „alles zusammen das Ziel, der Fluss des Geschehens ist.“54 Immer öfter und deutlicher rückt diese Einheit von gegensätzlichen Polen in Hesses Werk in den Mittelpunkt. Wo es bei Camenzind, den Hesse Anfang zwanzig geschrieben hatte, noch um das Ausleben der dionysischen Aspekte handelte, ist bei Siddharta, Demian, Narziss und Goldmund die Suche, das Abwägen und das Gleichgewicht Mittelpunkt seines Denkens und Schreibens. Das Ausleben der ordnenden Kräfte aber auch der zerstreuenden Kräfte kann man mit einem Schwanken zwischen den Apollinischen und Dionysischen Kunsttrieben bei Nietzsche und Wagner gleichsetzen. Dass Hesse auf ein Ausprobieren beider Triebe besteht, schliesslich auf ein selbstständiges Zusammenfassen und Ausbalancieren hinzielt, ist was ich in der vorliegenden Arbeit demonstrieren möchte. Die hervorragende Literatur, die ich mir zu diesem Zwecke zum Arbeitsmaterial gemacht habe, sind die beiden Romane Demian und Der Steppenwolf. In meiner Arbeitsweise habe ich mir bei der Lektüre von Demian chronologisch und kapitelweise Argumente zurechtgelegt, währenddem im Teil zu Der Steppenwolf Themen und Motive die Strukturierung hervorgebracht haben. 53 54 Lahann, Birgit. Hermann Hesse, Dichter für die Jugend der Welt, S.66 Lahann, Birgit. Hermann Hesse, Dichter für die Jugend der Welt, S.76 38 Nietzsche im Demian In Demian von Hermann Hesse ist Nietzsches Erbe klar festzustellen, er wird auch mehrere Male im Buch erwähnt. Eine der Hauptfacetten des Buches ist die Suche nach dem Selbst, der kontinuierlichen Bewegung zwischen den Polen des Dionysischen und des Apollinischen, wessen Paarung in der Figur Demian vollzogen wird. Gerne möchte ich in den folgenden Kapiteln versuchen anhand von Beispielen die meiner Meinung nach bei Hesse notwendige Fusion der dionysischen und apollinischen Elemente zu illustrieren. Zuallererst werde ich mich, nach einer allgemeinen Einleitung, dem Konzept des Traumes zuwenden, das bei Nietzsche als klar apollinisch gegolten hat. Bei Hesse ist, sowie bei Wagner auch, eine so leichte und klare Einteilung etwas schwieriger zu machen. In den nächsten Abschnitten werde ich mich damit auseinandersetzen, ob der Traum nur als apollinisch gilt und somit meine Hypothese, dass das Dionysische und das Apollinische sich auf einem beweglichen Kontinuum befinden und nicht voneinander zu trennen sind, zu unterstützen versuchen. Der Traum in Demian In den einleitenden zwei Seiten von Hermann Hesses Demian macht die Hauptperson Sinclair den Versuch, mit Worten das Echte vom Unechten zu unterscheiden. Er meint, er möchte hier und jetzt seine Geschichte erzählen, nicht die Geschichte eines erfundenen, eines möglichen oder eines idealen Menschen, sondern die Geschichte eines wirklichen, einmaligen, lebenden Menschen. Er wirft der Gesellschaft vor, dass sie nicht mehr weiss, was ein echter Mensch ist, dass sie sich zuviel damit beschäftigt, zu tun als ob. Hier können und sollten Aussagen Wagners aus der Beethovenschrift zum Vergleich herbeigezogen werden. Im Leben wie auch in der Musik widersetzt sich Wagner gegen den gängigen „Trend“ der Gesellschaft, sich an äusseren Erscheinungsformen und formellen Aspekten zu orientieren. Er zieht Beethoven Bach und Mozart vor, weil diese sich nach seinem Geschmack viel zu viel von der Eszenz der Dinge entfernen und sich mit formbedingten Spielchen begnügen. Eine solche generalisierende und gleichzeitig wenig tiefgründige Lebenseinstellung verwirft auch Sinclair, er nennt sich einen Suchenden und möchte sich davon fernhalten, erlogene Geschichten zu erzählen mit 39 überflüssiger Süsse und übertriebener Harmonie. In seiner Lebensgeschichte trifft man auch auf Verwirrung, auf Unsinn, auf Wahnsinn und Traum. Dieser Gegenüberstellung von Worten ist in Bezug auf die beiden Kunsttriebe, das Dionysische und das Apollinische, sowie sie bei Nietzsche angewendet werden, etwas widersprüchlich. In Nietzsches Geburt der Tragödie deckt sich das Apollinische mit dem Geordneten, dem Süssen und Harmonischen. Es deckt sich ebenfalls mit der Lüge. Und mit dem Traume. Der Traum ist das Medium der Bilder und formt den Gegensatz zum dionysischen Gebiet des Rausches. Meint Hesse hier vielleicht nicht eher den Rausch? Oder hat sich der Begriff entwickelt und wird er hier anders als bei Nietzsche angewendet? Jedenfalls nimmt der Traum eine zentrale Stellung ein in der Erzählung Hesses, und für Sinclair hat er in verschiedenen Lebensabschnitten verschiedene Bedeutungen. Diesen Wandlungen des Traumbegriffes möchte ich im nächsten Kapitel meine Aufmerksamkeit schenken und sie auf der Spanne zwischen den zwei Polen des Dionysischen und des Apollinischen bei Nietzsche anzuordnen versuchen. Sinclair träumt immerzu von Kromer, dem gemeinen Jungen und in seinen Träumen werden ihm von diesem Handlungen erzwungen, Sinclair wird misshandelt, vergewaltigt, unterliegt völlig der Macht Kromers. In meinen Träumen lebte er wie ein Schatten mit, und was er mir nicht im wirklichen Leben antat, das liess meine Phantasie ihn in diesen Träumen tun, in denen ich ganz und gar sein Sklave wurde. Ich lebte in diesen Träumen – ein starker Träumer war ich immer – mehr als im Wirklichen, ich verlor Kraft und Leben an diese Schatten.55 Als nun Demian den Kontakt sucht zu Sinclair, weil er auf dessen Stirn ein geheimnisvolles Zeichen wahrnimmt, wie sich später herausstellen sollte, lassen die Träume von Kromer nach und werden bald abgelöst von Träumen, in denen Max Demian die Hauptrolle übernimmt. Auch von ihm wird Sinclair durchdrungen, eingenommen, aber die begleitenden Gefühle sind nicht mehr Angst und Erdrückung, sondern finden sich in der Mitte. Sowohl Furcht wie auch tiefe Wonne empfindet Sinclair bei diesen Träumen, und lässt sich von Demian alles gerne gefallen. Im richtigen Leben klärt ihn Demian darüber auf, dass Kromer ein schlechter Kerl ist, und 55 Hesse, Hermann: Demian, S. 35 40 die Tatsache, dass ihn Sinclair fürchtet, bedeutet, dass er ihm Macht über sich selbst eingeräumt hat. Die Träume werden also milder und es scheint als ob mit dem Auftreten Demians alles etwas mehr in ein Gleichgewicht gerückt wird. Er ist der Vermittler zwischen Furcht und Glückseligkeit, hell und dunkel, zwischen Gott und dem Teufel. Nicht mehr abgrundtiefe Furcht und das Gefühl, zu ertrinken herrschen über Sinclair, sondern er erfährt eine angeregt interessierte Spannung. Eine vermittelnde Funktion hat Demian, wessen Name passenderweise das französische Wort demi für halb enthält. Ob dieser Name von Hesse nun bewusst so gewählt wurde oder nicht, Fakt ist, dass sich Demian nur allzu oft als Halbgott und Halbteufel aufstellt. So auch im Falle einer überwiegend apollinischen Phase Sinclairs. Zwei Welten: Ordnung und Chaos Im ersten Kapitel schon erzählt uns die Hauptperson Sinclair von seiner Jugend. Er nimmt schon in seinem Elternhaus zwei verschiedene Welten wahr, zwei andersartige Einflüsse, die aus gegensätzlichen Polen auf ihn einwirken. Von einer Seite her fühlt er sich vollkommen eingebettet in der warmen und doch strengen Struktur die ihm seine Eltern anbieten: Sie hiess Liebe und Strenge, Vorbild und Schule. Zu dieser Welt gehörte milder Glanz, Klarheit und Sauberkeit, hier waren sanfte freundliche Reden, gewaschene Hände, reine Kleider, gute Sitten daheim. Hier wurde der Morgenchoral gesungen, hier wurde Weihnachten gefeiert. In dieser Welt gab es gerade Linien und Wege, die in die Zukunft führten, es gab Pflicht und Schuld, schlechtes Gewissen und Beichte, Verzeihung und gute Vorsätze, Liebe und Verehrung, Bibelwort und Weisheit. Zu dieser Welt musste man sich halten, damit das Leben klar und reinlich, schön und geordnet sei.56 Viele Begriffe werden hier aufgelistet, und sie alle haben eines gemeinsam: Ob es sich nun um die ausgesproche, buchstäbliche Reinlichkeit und Ordnung der Kleider handelt oder um die Selbstverständlichkeit der schulischen Laufbahn, hier herrscht Ordnung. Das Aufeinanderfolgen von freundliche Reden, gewaschene Hände, reine Kleider und gute 56 Hesse, Hermann: Demian, S. 9 41 Sitten ist nicht zufällig so gewählt. Sorgfältig aber unmissverständlich wird somit das Motiv der Reinlichkeit mit der Moral gleichgesetzt, die das elterliche Haus und alles was damit in Zusammenhang steht, repräsentiert. Von den Händen wird jeder von aussen stammender Schmutz abgewaschen und auch der Morgenchoral und das Bibelwort beziehen sich auf etwas, das wiederkehrt, worauf man sich verlassen kann, an dem man sich orientieren kann, etwas das Struktur schafft. Ganz im Gegensatz zur ordentlichen und warmen Welt der Eltern steht die für den kleinen Sinclair zum Ergreifen nahe Welt der Dienstmagd Lina. Ist sie bei der Arbeit, so gehört sie zur sogenannten hellen Welt, befindet sie sich hingegen ausserhalb des Hauses, im Stall beispielsweise, so verwandelt sie sich in eine Figur die der anderen, dunklen Welt angehört. Linas schauerliche Geschichten von der Welt ausserhalb des elterlichen Schutzes handeln von toten Tieren, Betrunkenen, Gefängnissen, Einbrüchen, Totschlägen, Selbstmorden. Sinclair empfindet diese Welt als gefährlich, vielleicht schlecht sogar, aber trotzdem auch als unendlich verlockend. Und obwohl es ihm nur recht ist, dass er jederzeit in die heile Welt der warmen Stube zurückflüchten kann, fällt ihm auf und ist er davon begeistert, dass die beiden Welten sich trotzdem so dicht beieinander befinden. Und das Seltsamste war, wie die beiden Welten aneinander grenzten, wie nah sie beisammen waren!57 Die heile Welt der elterlichen Ordnung ist ziemlich deutlich als eine apollinische Instanz zu deuten. Die Verben betrinken, bezaubern, locken und so weiter auf Seite zehn, deuten wiederum eher auf eine dionysische Kraft. Obiges Zitat über die nahe Angrenzung der beiden Welten ist die Einleitung zu dem, worum es sich im Laufe des Buches handeln wird: Die Paarung oder Vereinigung der beiden Triebe des Dionysischen und des Apollinischen, die Manifestation der Unzertrennlichkeit der beiden gegensätzlichen Pole. Obwohl sich Sinclair in seiner Kindheit durchaus dem Guten und Hellen zugehörig fühlt, ist er, viel mehr als seine beiden Schwestern, hellhörig und offen für die Einflüsse der anderen, dunkleren Welt: Gewiss, ich gehörte zur hellen und richtigen Welt, ich war meiner Eltern Kind, aber wohin ich Aug und Ohr richtete, überall war das andere da, und ich 57 Hesse, Hermann: Demian, S. 10 42 lebte auch im anderen, obwohl es mir oft fremd und unheimlich war, obwohl man dort regelmässig ein schlechtes Gewissen und Angst bekam. Ich lebte sogar zuzeiten am allerliebsten in der verbotenen Welt, und oft war die Heimkehr ins Helle – so notwendig und gut sie sein mochte – fast wie eine Rückkehr ins weniger Schöne, ins Langweiligere und Ödere. Manchmal wusste ich: mein Ziel im Leben war, so wie mein Vater und meine Mutter zu werden, so hell und rein, so überlegen und geordnet; aber bis dahin war der Weg weit, bis dahin musste man Schulen absitzen und studieren und Proben und Prüfungen ablegen, und der Weg führte immerzu an der anderen, dunkleren Welt vorbei, durch sie hindurch, und es war gar nicht unmöglich, dass man bei ihr blieb und in ihr versank. Hier ruft uns Hesse die Geschichte des verlorenen Sohnes in Erinnerung: Der kleine Junge Sinclair fühlt wie er von Vertretern einer Moralvorstellung umgeben wird, die er als richtig empfindet und zu der er sich auch dazu rechnet. Als gefährlich aber durchaus realistisch sieht er auch die Möglichkeit, sich im Getriebe der verbotenen Welt zu verstricken. Das Wort das Hesse in diesem Kontext gebraucht ist versinken, welches stark an Nietzsches Der Fall Wagner erinnert, worin er die rein dionysischen Kräfte als eine Gefahr und Krankheit abstempelt, zu deren Musik man nicht tanzen kann, sondern in deren Fluten man sich selbst verliert, in denen man schwimmt, versinkt, ertrinkt. Obwohl Sinclair in eine Schule für „artige“ und bevorrechtete Buben geht und fühlt, dass er dieser Bevölkerungsschicht angehört, pflegt er Umgang mit einigen weniger bevorrechteten Schülern aus der Volksschule, die wir sonst verachteten.58 Das Wort wir in diesem Zusammenhang lässt darauf schliessen, dass sich Sinclair im Namen einer Gruppe ausspricht, in die er hineingeboren wurde, deren Meinung er für sich aber nicht hundertprozentig vertritt. Schon an dieser Stelle lässt sich der enorme Entwicklungsprozess vermuten, der von den elterlichen Geboten wegführt mit dem Ziel, vom verlogenen und naiven wir zu einem vollständigeren und ehrlicheren Ich zu gelangen. 58 Hesse, Hermann. Demian, S. 13 43 Gefährliche Flut: Franz Kromer Das erste Zusammentreffen mit einer Person aus der dunklen Welt ist Franz Kromer, von dem sich Sinclair gewaltig sein bis dahin beschütztes harmonisches Gleichgewicht zerstören lässt. Kromer ist ein übler Bursche dessen dionysische Natur durch die Aussage angekündigt wird, bei seinem Vater handle es sich um einen Säufer. Was auffällt ist, dass die Gruppe um Kromer herum ihm gehorcht, sie hält sich strikt daran wenn er Befehle erteilt wie zum Beispiel beim Stehlen von Obst. Er ist definitiv ein Führer, die Kinder haben Angst vor ihm und im Zusammensein mit ihm gehen sie auf im Gruppenzwang, verlieren sich in der Masse und in ihrer eigenen Angst. Auch Sinclair gerät in seinen Bann, lässt sein Leben buchstäblich durch einen Andern führen, verliert seine Lebenslust. Dieses Aufgeben der Individualität ist ein sehr veranschaulichendes Beispiel Hesses um eine negative dionysische Kraft neben der hellen, schönen, apollinischen Kraft des Vaterhauses zu demonstrieren. Der entscheidende Punkt ist die Situation in der Sinclair Kromer vorlügt, er habe einen Nachbarn bestohlen und sich mit dieser Tat rühmen und von Seiten Kromers Gutachtung erarbeiten will. Kromer glaubt Sinclair nicht, und trägt ihm auf, zu schwören. Obwohl Sinclair erschrickt, zögert er keinen Moment und sagt: Bei Gott und Seligkeit.59 Mit diesen Worten hat er sein strukturiertes, beschützendes Elternhaus verraten und sich dem Teufel verkauft. Eine feindliche Hand hat sich von aussen her den Zugang verschafft zum beschützten Ganzen. Dessen ist sich auch Sinclair bewusst und ihm fällt auf, dass es bei ihm zuhause nicht länger nach Frieden und Sicherheit riecht, sondern dass ihm mit der oben beschriebenen Tat alle Schrecken des Chaos drohen. Alles Hässliche und Gefährliche war gegen mich aufgeboten... Mein Leben war zerstört.60 Wieder bedient sich Hesse der Metapher des Wassers in der folgenden Passage: Aber das alles gehörte mir jetzt nicht mehr, das alles war lichte Vater und Mutterwelt, und ich war tief und schuldvoll in die fremde Flut versunken, in Abenteuer und Sünde verstrickt, vom Feind bedroht und von Gefahren, Angst und Schande erwartet.61 59 Hesse, Hermann. Demian, S. 15 Hesse, Hermann. Demian, S. 19 61 Hesse, Hermann. Demian, S.19 60 44 Der Riss und die emotionale Trennung von seinen Eltern tun ihm weh, aber irgendwo ist es auch eine Genugtuung für Sinclair, dass er dem Puren, Reinen, Angelernten trotzt, darüber hinaussteigt. Anfänglich empfindet Sinclair die zwei Welten als vollkommen gegensätzlich, als unvereinbar. Bis Max Demian seinen Weg kreuzt. Das Gute am Bösen und das Böse am Guten Sinclair hat das Glück, dass der um einige Jahre ältere Max Demian im gleichen Schullokal wie seine Klasse unterrichtet wird. Sie haben Religionsunterricht, und am Ende der Lektion spricht Demian Sinclair auf die Geschichte von Kain und Abel an, die Sinclair eher mit mässigem Interesse an sich hat vorüber gehen lassen. Die kurze Fassung der Geschichte lautet, dass der ältere Kain aus Eifersucht auf die Aufmerksamkeit die Gott Abel zukommen liess, den jüngeren Bruder erschlug. Seither trägt er ein besonderes Zeichen, das Kainszeichen genannt und wird von der Masse verachtet und ausgeschlossen, aber auch in Ruhe gelassen. Kain hat sich von Gott abgewandt und gilt deshalb als schlecht. Max Demian spricht Sinclair also auf die Geschichte an und meint, sie könnte auch ganz anders interpretiert werden. Dass er für seine Tat und, wie Demian sagt, seine Feigheit, von Gott mit einem besonderen Zeichen versehen wird, wodurch sich die Menschen von ihm fernhalten, anstatt ihn zu bestrafen, scheint dem weisen Schüler Demian äusserst sonderbar. Er meint, die Geschichte frage förmlich um eine neue, frische Wendung, die sich folgendermassen anhören könnte: Am Anfang war das Zeichen! Demian schildert wie jemand, Kain in diesem Fall, ein Zeichen auf sich trug und den anderen Menschen deshalb Furcht ein flösste, sie unsicher machte. Dem jüngeren Sinclair erklärt er, es handle sich bei dem Zeichen höchst wahrscheinlich nicht um ein sichtbares Merkmal, viel grösser sei die Chance, dass der Mann einfach über herausragende seelische Qualitäten verfüge, wodurch er den andern überlegen sei und über eine gewisse Macht verfüge. Die ganze Geschichte von Kain und Abel sei also möglicherweise von der sich fürchtenden Menschenmasse bloss erfunden worden, um sich für die unterlegene Position zu rächen. Hesse erlöst hier Kain von seinem jahrhundertelangen „Image“ als Bösewicht und Mörder und relativiert somit die Begriffe Gut und Böse. Kain könnte also 45 sogar als „der Gute“ angesehen werden, die anderen Menschen sollen wiederum nicht mit dem Guten identifiziert werden, sonder erhalten eher die Bezeichnung Mitläufer, Angsthasen oder Massentiere. Kain symbolisiert in diesem Beispiel die Position des Individualisten, des Furchtlosen, des Zarathustra: es ist eine Position die Demian bereits erreicht hat, und das Ziel des Weges, den Sinclair noch antreten muss. Er zweifelt anfänglich an den Worten des Freundes, empfindet seine Geschichten als absurd. Gleichzeitig bemerkt er aber auch, dass etwas an ihm zu ziehen beginnt, ihn wachrüttelt. Er erinnert sich an den Schwur den er für Kromer abgelegt hat, an die Gotteslästerung und kann sie plötzlich in einem gänzlich neuen Licht sehen. Es wird ihm auch klar, dass das Urteil der Eltern, ihre Vergebung und ihre Gutachtung ihm niemals mehr die Erlösung geben werden, nach der er auf der Suche ist: Etwas war freilich mit mir selbst nicht in Ordnung, war sogar sehr in Unordnung. Ich hatte in einer lichten und sauberen Welt gelebt, ich war selber eine Art von Abel gewesen, und jetzt stak ich so tief im „andern“, war so sehr gefallen und gesunken, und doch konnte ich im Grunde nicht so sehr viel dafür! Wie war es denn nun damit? Ja, und jetzt blitzte eine Erinnerung in mir herauf, die mir für einen Augenblick fast den Atem nahm. An jenem üblen Abend, wo mein jetziges Elend angefangen hatte, da war das mit meinem Vater gewesen, da hatte ich, einen Augenblick lang, ihn und seine lichte Welt und Weisheit auf einmal wie durchschaut und verachtet.62 Das Elternhaus verliert seinen absoluten Stellenwert und die andersartige Darstellung einer gewohnten biblischen Erzählung eröffnet Sinclair eine neue Weltanschauung. Menschen mit dem Kainszeichen, und Demian rechnet Sinclair zu diesen Menschen, sind halt anders als andere Leute, und brauchen sich nicht einer Seite anzuschliessen. Kain und Demian ermutigen Sinclair dazu, seinen Weg zwischen den zwei Welten, jenseits von Gut und Böse, zu suchen. Nach dem Erlebnisse mit Demian verschwindet dieser für einige Zeit aus Sinclairs Leben. Dieser wird nicht mehr von Kromer belästigt, und die Verlockung ist nur allzu gross, sich wieder in die gesellige, harmonische und paradiesische Umgebung der Eltern zu verkriechen. Demian bleibt jedoch in seinem Hinterkopf und Sinclair ist sich 62 Hesse, Hermann. Demian, S. 33 46 bewusst, dass dieser sich auf keinerlei Weise in die herkömmliche Struktur des elterlichen Hauses einordnen oder einfügen lassen würde. Er bestempelt ihn als einen Verführer. Das Hauptkennzeichen eines Verführers ist es ja, einen aus der Reserve zu locken, jemanden sich nach aussen hin ausrichten zu lassen und ihn aus seinem vertrauten Umfeld zu entreissen oder ihm neue Wege anzubieten. Obwohl Demian rein gar nichts mit Kromer zu tun hat, und Sinclair nur gute und richtige Gefühle vermittelt, verbindet er ihn trotz allem mit der bösen, schlechten Welt.63 Das schlechte Gewissen das die Verführung mit sich bringt bleibt noch eine Weile, und auch der Urtrieb64 nach dem Apollinischen, der harmonischen Ordnung, bleibt bestehen. Jedoch vergleicht Sinclair sein Verstecken in dieser Ordnung mit dem Hausen in einer Kinderwelt, und da sie sich immer unwirklicher und verlogener anfühlt weiss er, dass er über sie hinausgewachsen ist. Abraxas – Vereinigung des Dionysischen mit dem Apollinischen Auf Seite 64 des Buches Demian findet sich ein Satz der, so simpel er auch ist, das ganze Werk zusammenfasst und sich ausspricht für eine Berücksichtigung der dionysischen und der apollinischen Triebe und einer Vereinigung beider: Nur das Denken, dass wir leben, hat einen Wert. Das Denken als rationelle, reflexive65 Aktivität deckt sich mit dem Geordneten und Beherrschten des apollinischen Triebes. Bleiben wir in dieser Reflexivität stecken, so findet sich keine Gelegenheit zur Ausführung unserer Gedanken und Wünsche. Die dionysische Art „sich dem Leben zu schenken“ als rein pre- reflexive Angelegenheit birgt wiederum die Gefahr, sich selbst als Individuum zu verlieren, zu ertrinken.66 Verbinden wir nun das eine mit dem anderen, kann das Leben in ganzer Fülle mit Struktur ausgekostet werden. Diese Regel, die Nietzsche ja später vorschreibt und beispielsweise auch in der Musik Bizets vorfindet67 und bewundert, trifft auch im Falle 63 Hesse, Hermann. Demian, S.47 Hesse, Hermann. Demian, S.49, auffälliger Wortgebrauch: Urtrieb, vergleiche weiter oben mit Nietzsche und Wagner: das Apollinische als Kunsttrieb 65 Sartre, Valéry 66 Nietzsche, Friedrich. Der Fall Wagner 67 Nietzsche, Friedrich. Der Fall Wagner, S.13 64 47 von Sinclair und Demian zu. Ganz trocken kommentiert Demian die aktuelle Lage Sinclairs und erklärt ihm, was dieser eigentlich in seinem Innern schon weiss: „Du hast gewusst dass deine „erlaubte Welt“ bloss die Hälfte der Welt war, und du hast versucht, die zweite Hälfte dir zu unterschlagen, wie es die Pfarrer und Lehrer tun. Es wird dir nicht glücken! Es wird keinem glücken, wenn er einmal das Denken angefangen hat!“68 Und genau so geschieht es dann auch. Der letzte Versuch Sinclairs, sich im väterlichen Hause wohl zu fühlen und glücklich zu sein hatte lange gedauert, war zeitweise nahezu geglückt, und schliesslich doch völlig gescheitert.69Auch klärt Demian Sinclair auf über den in ihm erwachenden fremden Trieb und erzählt ihm von den griechischen Dionysosfeiern: Du hast jetzt zum Beispiel, seit einem Jahr etwa, einen Trieb in dir, der ist stärker als alle andern, und er gilt für verboten. Die Griechen und viele andere Völker haben im Gegenteil diesen Trieb zu einer Gottheit gemacht und ihn in grossen Festen verehrt. „Verboten“ ist also nichts Ewiges, es kann wechseln.70 Hier ist die Rede vom dionysischen Kunsttrieb wie wir ihn bei Nietzsche finden und er ist bei Sinclair an eben genannter Stelle im Buch sehr anwesend und manifestiert sich stärker als alle anderen Triebe in ihm. Der apollinische Ordnungstrieb mit dem er durch den Einfluss seiner Eltern aufgewachsen ist, ist in dieser Phase seines Lebens vollständig von ihm gewichen. Im Moment stürzt sich der junge Student in alles, was verboten ist, um die ganze Palette der Extreme am eigenen Leibe zu fühlen und auch um sich von den ewigen aufgelegten Verboten und Moralvorstellungen zu befreien. Demian hat an dieser Stelle wieder die vermittelnde Funktion zugeteilt bekommen. Obwohl er den rein dionysischen Zustand nicht als gut bestempelt, sieht er darin eine wichtige und unverzichtbare Entwicklungsstufe für Sinclair. In weisen Worten spricht er von Leuten, denen es zu bequem ist, selber für sich zu denken. Er meint damit wohl auch die Eltern Sinclairs, die sich in der von andern aufgestellten, hellen Welt des Erlaubten aufhalten, in der niemand ihnen etwas nachsagen kann. Jedoch, spricht Demian, gibt es auch Leute die diese Verbote, oder vielleicht sind es eher Gebote, in sich selbst spüren. So stellen sie ihre eigenen Massstäbe auf, lernen, auf die Stimme in ihrem Innern zu hören und 68 Hermann Hesse. Demian, S.64 Hermann Hesse. Demian, S.69 70 Hermann Hesse. Demian, S.64 69 48 erlauben sich lauter Sachen, die anderen Leuten verboten sind. Es kann aber auch sein, dass ihnen Sachen vorenthalten bleiben, die jedermann täglich mit gutem Gewissen macht. Auf diese Art relativiert er wieder die Begriffe des Guten und des Bösen und Demian bekräftigt Sinclair in seinem Abrücken von der apollinischen, heuchlerischen und unvollständigen Ordnung. Auch sein Übertritt in das Dionysische ist gar kein Übertritt in eine vollständige Welt, und das sieht Demian natürlich auch so. Es ist jedoch ein Anfang, ein Vortasten zur anderen Hälfte, ein Abtasten der gesamten Bandbreite, der Bandbreite die vom Guten zum Bösen, vom männlichen zum weiblichen, vom hellen zum dunklen und vom dionysischen zum apollinischen reicht. Sinclairs Weg zum Ausgleich der Triebkräfte führt, so wie es scheint, über ein Mädchen zu führen. Vom Sehen her kennt er es und fällt von einer anfänglichen Verliebtheit in eine tiefgründige Anbetung. Es ist schon fast ein Kult, den er für das Mädchen mit den knabenhaften Zügen errichtet. Es ist auch kein Zufall, dass sie Merkmale beider Geschlechter aufweist. Beatrice ist in Person weniger wichtig als in ihrer Rolle, in der sie Sinclair, ohne je ein Wort mit ihm gesprochen zu haben, abbringt von der schiefen Bahn die er mit seinen Säufereien und seinem „unreinen Leben“ eingeschlagen ist. Wieder hat Sinclair eine einseitige, apollinische Lebensform gewählt, aber diesmal nicht ohne eine nicht unwichtige Entwicklung durchzumachen die von grossem Einfluss auf seine Situation und Lebenseinstellung zu sein scheint. Durch das errichten eines privaten Heiligtums lernt Sinclair das Helle, Gute, Liebenswürdige von einer völlig neuen Seite kennen. Er braucht nicht mehr zurückzuflüchten in sein Elternhaus, um sich von der dunklen Welt abzukehren, sonder findet seinen Schutz in der Form seiner Verehrung einer selbst gewählten Person schon etwas näher bei sich selbst: Den Lebensanteil, den ich den finsteren Mächten entzog, brachte ich den lichten zum Opfer. Nicht Lust war mein Ziel, sondern Reinheit, nicht Glück, sondern Schönheit und Geistigkeit.71 Sinclair sucht das Asketische in allem und wendet es an auf Essen, Trinken, Sprache und Kleidung. Im Kapitel dem der knabenhaft schönen Beatrice geweiht ist, kehrt sich Sinclair mit einem Heiligenkult gegen seine vorhergehende dionysische Trinkphase und verliert sich in der Vorstellung von Liebe die er für das Mädchen, das er nur vom Sehen 71 Hermann Hesse. Demian, S.81 49 kennt, fühlt. Er lebt in einer Enthaltung die sich im Geschlechtlichen, aber auch in anderen Teilbereichen des Lebens äussert. Seine Schulfreunde lachen Sinclair aus, er aber lässt sich nicht in seinem, von ihm selbst erwählten Wege beirren. Er fängt an, zu malen und wiederum zu träumen. In diesem Stadium befindet er sich auf der extremsten apollinischen Seite des apollinisch-dionysischen Kontinuums. Jedoch befindet er sich nicht in dem vom Elternhause auferlegten Moralsystem sondern hat diesmal die Werte für sich selbst definiert, ist zum ersten Mal sein eigener Richter. Trotzdem überfällt ihn bald wieder die Sehnsucht nach Max Demian, und wenn er ihn endlich trifft, scheint der Freund ihm unverändert, gleich alt, gleich jung wie immer.72 Diese Merkmale beschreiben die innere Stabilität Demians, die auch auf seinen Körper übergreifen. Er ist fertig, ausgeglichen, erleuchtet, und die allgemeinen Gegensätze haben zusammengefunden und sich in ihm versöhnt. So wirkt er gleichzeitig jung und alt. Die Konfrontation mit dem alten Schulkollegen löst Erinnerungen in Sinclair aus, und auch er wird sich noch mehr den ihm gestellten Gegensätzen bewusst: Bis zu meiner Geschichte mit Kromer zurück suchte ich alle Erinnerungen an Max Demian in mir hervor. Wie vieles klang da wieder auf, was er mir einst gesagt hatte, und alles hatte heut noch Sinn, war aktuell, ging mich an! Auch das, was er bei unserem letzten, so wenig erfreulichen Zusammentreffen über den Wüstling und den Heilligen gesagt hatte, stand mir plötzlich hell vor der Seele. War es nicht genauso mit mir gegangen? Hatte ich nicht in Rausch und Schmutz gelebt, in Berauschung und Verlorenheit, bis mit einem neuen Lebensantrieb gerade das Gegenteil in mir lebendig geworden war, das Verlangen nach Reinheit, die Sehnsucht nach dem Heiligen?73 Diese Einsicht Sinclairs bestätigt sich später noch in einem von ihm selbst gemalten Bild. Das Bild stellt einen Sperber dar, einen Vogel, der halb in einer dunklen Weltkugel steckt und sich mit halbem Leib schon herausgearbeitet hat aus dem Ei. Die zweite Hälfte des Körpers sticht hervor gegen den blauen Himmel. Der Vogel als Tier ist ja mit seinem Flug schon ein Symbol für die rechte Mitte, die Verbindung von Himmel und Erde, von Heiligem und von Sünde. 72 73 Hermann Hesse. Demian, S.85 Hermann Hesse. Demian, S.87 50 Das Göttliche und das Teuflische zu vereinigen, lehrt ihn Demian, und so hallt es in Sinclair nach. „Demian hatte damals gesagt, wir hätten wohl einen Gott, den wir verehrten, aber der stelle nur eine willkürlich abgetrennte Hälfte der Welt dar (es war die offizielle, erlaubte, lichte Welt). Man müsse aber die ganze Welt verehren können, also müsse man entweder einen Gott haben, der auch Teufel sei, oder man müsse neben dem Gottesdienst auch einen Dienst des Teufels einrichten. – Und nun war also Abraxas der Gott, der sowohl Gott wie Teufel war.“74 In Abraxas vereinigen sich also Gott oder das Apollinische und der Teufel, sprich: das Dionysische. In einem Gespräch mit dem Pfarrer Pistorius erfährt Sinclair mehr über die Verbindung dieser Kräfte. Der Mann schildert ihm Situationen, in denen das Apollinische vorherrscht, aber erzählt ihm auch von Menschen, die sich der Bodenlosigkeit des Dionysischen hingeben. In beiden Fällen ist das Verhältnis des Menschen zur Welt schief und fehlerhaft und nicht sehr viel versprechend. Im Zusammentreffen der beiden Kräfte kommt es aber zu einem Ruhepunkt, der Mensch bekommt ein Steuer, was Pistorius und auch Hesse als die ideale Seinsform für sich sehen. Der Schwung, der Sie fliegen macht, das ist unser grosser Menschheitsbesitz, den jeder hat. Es ist das Gefühl des Zusammenhangs mit den Wurzeln jeder Kraft, aber es wird einem dabei bald bange! Es ist verflucht gefährlich! Darum verzichten die meisten so gerne auf das Fliegen und ziehen es vor, an Hand gesetzlicher Vorschriften auf dem Bürgersteige zu wandeln. Aber Sie nicht. Sie fliegen weiter, wie es sich für einen tüchtigen Burschen gehört. Und siehe, da entdecken Sie das Wunderliche, dass Sie allmählich Herr darüber werden, dass zu einer grossen allgemeinen Kraft, die Sie fortreisst, eine feine, kleine, eigene Kraft kommt, ein Organ, ein Steuer! Das ist famos. Ohne das ginge man willenlos in die Lüfte, das tun zum Beispiel die Wahnsinnigen. Ihnen sind tiefere Ahnungen gegeben als den Leuten auf dem Bürgersteig, aber sie haben keinen Schlüssel dazu, und sausen ins Bodenlose.75 Der Vergleich der hier mit dem Fliegen gemacht wird, erinnert stark an die Worte Nietzsches im obigen Theorieteil. Im Zusammenhang mit dem Euphorismus Wagners für das rein Dionysische sprach Nietzsche in späteren Jahren vom nicht mehr gehen können, vom Ertrinken. Anhänger des pur Dionysischen Kunsttriebes nannte er, wie es Hesse hier auch tut, waghalsig, wahnsinnig, krank. Seinen ehemaligen Freund Richard 74 75 Hermann Hesse. Demian, S.93 Hermann Hesse. Demian, S.107 51 Wagner selbst bezeichnete er auch nur als eine vorübergehende Zeiterscheinung, als eine Krankheit von der er glücklich war, endlich geheilt zu sein. Die obigen Zitate tragen eine klare, eindeutige Aussage in sich. Über Demian, Pistorius und Sinclair sind in den Worten Hermann Hesses ganz klar eigene Gedanken zum Gegensatz des Apollinischen und des Dionysischen ausgearbeitet. Beide Triebe werden voneinander isoliert präsentiert und zum Beispiel als gegensätzliche Motive von Reinheit und Ordnung verarbeitet. Auch Mischformen werden besprochen, sowie die Askese Sinclairs, die sich, obwohl sie dem Ordnungstrieb angehört, ganz klar vom apollinischen Trieb der bei seinen Eltern herrschte, unterscheidet. Das letzte Zitat spricht deutlich an auf das Steuern mit zwei verschiedenen Kräften, denen man sich hingeben muss und ihnen gleichzeitig Herr werden kann. Zwischen diesen apollinischen und dionysischen Kräften muss man für sich eine Balance finden. Anhand dieser Zitate glaube ich meine Hypothese für das Buch Demian genügend unterstützen zu können, und kann mit Überzeugung von einer Paarung des Dionysischen mit dem Apollinischen bei Hesse sprechen. Wie steht es mit diesem Gegensatz in anderen Werken Hermann Hesses? Im folgenden und letzten Teil der vorliegenden Arbeit werde ich den Steppenwolf auf dieselben Kriterien hin analysieren. Allerdings ist der Aufbau bei dieser Besprechung anders als bei der vorigen. Anstatt wie bei Demian kapitelweise und chronologisch vorzugehen, möchte ich im Steppenwolf thematisch vorgehen und verschiedene Motive besprechen. Der Steppenwolf Im Steppenwolf ist im Zusammenhang mit der Verarbeitung der beiden Kunsttriebe grob gesehen eine thematische Dreiteilung zu erkennen. In den ersten fünfzig Seiten des Buches finden wir eine kurze Einleitung des Verfassers, in welcher die Hauptperson Harry Haller beschrieben wird. Darauf folgt das erste Kapitel aus der Sicht von Harry selbst, in der er dem Leser Einblicke in seinen normalen Tagesablauf gewährt. Zudem führt er uns in seine gegenwärtige Denkweise ein, die sich ganz deutlich zwischen den beiden apollinischen und dionysischen Extremen abspielt. Harry Haller bezeichnet sich 52 selbst als Steppenwolf und damit grenzt er sich aus der bürgerlichen Gesellschaft aus. Er merkt zwar, dass in ihm auch eine ruhigere, angepasstere Seite schlummert, schafft es aber nie, seine zwei Persönlichkeiten miteinander zu versöhnen. Genau diese Duplizität nennt er sein grosses Problem, mit dem er sich tagtäglich herumschlägt. Eines späten Abends begegnet ihm etwas sehr Merkwürdiges: Auf der Strasse bekommt er ein kleines Büchlein in die Finger dessen Inhalt genaustens auf ihn, Harry, zuzutreffen scheint. Es ist der Tractat vom Steppenwolf. Die horoskopartige Anleitung richtet sich an Künstler und sensible Menschen und ist einerseits sehr verständnisvoll geschrieben. Auf der anderen Seite zeigt sich der Verfasser des Büchleins äusserst kritisch gegen die Art des Steppenwolfes und verwirft dessen dualistische Denkweise. Die Spaltung des Seins in Mensch und Tier mit der sich Harry sein Leben zu vereinfachen und zu verständlichen versucht, wird im Traktat als ein Vergewaltigung des Wirklichen abgetan. Mit folgenden Sätzen propagiert Hesse das Leben in Vielfalt und kehrt sich gleichzeitig gegen die vereinfachenden, durch Nietzsche und Wagner aufgestellten Begriffe. Die Welt selbst kennt noch oben noch unten.76 Harry besteht nicht aus zwei Wesen, sondern aus hundert, aus tausenden. Sein Leben schwingt (wie jedes Menschen Leben) nicht bloss zwischen zwei Polen, etwa dem Trieb und dem Geist, oder dem Heiligen und dem Wüstling, sondern es schwingt zwischen tausenden, zwischen unzählbaren Polpaaren.77 Reinheit, Ordnung Aus der anderen Welt, der Welt der Reinheit und der Ordnung, von der im Demian so häufig die Rede ist, stammen die ersten Seiten aus dem Steppenwolf: Im Vorwort des Herausgebers gibt der Neffe der alten Dame, bei der Harry Haller fast ein Jahr gewohnt hat, seinen Eindruck von dem älteren Manne wieder und es ist deutlich, dass die Lebensweise des Steppenwolfes sich ganz und gar nicht mit der seinigen verträgt. Er rät 76 77 Hesse, Hermann. Der Steppenwolf, S. 65 Hesse, Hermann. Der Steppenwolf, S. 67 53 der Tante im ersten Moment ja auch ab, den Herrn, der von Anfang an einen „sehr zwiespältigen Eindruck“78 auf ihn macht, bei sich aufzunehmen. Harry scheint aus einer fremden Welt zu stammen, und der Neffe sorgt sich darüber, dass er ein unanständiger Mensch sein könnte, der nachts besoffen nach Hause kommt und die Wohnung verdreckt. Das Motiv der Sauberkeit gegenüber dem Unreinen wird hier zu Beginn des Romans aufgegriffen, und die Tante reagiert entgegengesetzt und voller Vertrauen auf die Sorgen des Neffen: „Es riecht bei uns nach Sauberkeit und nach einem freundlichen und anständigen Leben, und das hat ihm gefallen. Er sieht aus, wie wenn er daran nicht mehr gewöhnt wäre und es entbehrt hätte.“79 Tatsächlich sucht der Steppenwolf Harry Haller die Nähe des Bürgerlichen, des Geordneten, nicht aber ohne ein begleitendes Gefühl von Unbehagen, Widerwillen und Verachtung gegen sich und die Welt um ihn herum zu spüren. „Nun ja, und ich habe auch den Kontrast gern, in dem mein Leben, mein einsames, liebloses und gehetztes, durch und durch unordentliches Leben, zu diesem Bürgermilieu steht. Ich habe das gern, auf der Treppe diesen Geruch von Stille, Ordnung Sauberkeit, Anstand und Zahmheit zu atmen, der trotz meines Bürgerhasses immer etwas Rührendes für mich hat, und habe es gern, dann über die Schwelle meines Zimmers zu treten, wo das alles aufhört, wo zwischen den Bücherhaufen die Zigarrenreste liegen und die Weinflaschen stehen, wo alles unordentlich, unheimisch und verwahrlost ist und wo alles, Bücher, Manuskripte, Gedanken, gezeichnet und durchtränkt ist von der Not der Einsamen, von der Problematik des Menschseins, von der Sehnsucht nach einer neuen Sinngebung für das sinnlos gewordene Menschenleben.“80 Harry verleugnet oft seine wölfische Art indem er sich eine bürgerliche Zwangsjacke anzuziehen versucht. Manchmal setzt er sich nach einer wilden Nacht oder einem Tag an dem er ziellos und voller Unruhe durch die Gegend gezogen ist auf eine Stufe im Treppenhaus. Im Stock der Vermieterin setzt er sich dann hin, weil es dort so sehr nach Putzmittel riecht. Sogar die Pflanzen im Gang sehen aus, als würden sie jeden Tag gereinigt. Manchmal schaut er von der Treppe aus in kleinen geordneten Garten, faltet die Hände über soviel Reinlichkeit fast so als würde er beten, beichten, sein so genannt 78 Hesse, Hermann. Der Steppenwolf, S.6 Hesse, Hermann. Der Steppenwolf, S.11 80 Hesse, Hermann. Der Steppenwolf, S.34 79 54 sündiges, wölfisches Leben auszugleichen versuchen. Den „Garten der Ordnung“ sowie er ihn nennt, rührt ihn auf eine Art, auch wenn er seinen Anstand, seine Gesundheit gleichzeitig als geradezu lächerlich empfindet. Hinter der Ordnung des Vorplatzes vermutet Harry ein „Leben voll Anstand“81 und damit bringt er weitere Begriffe wie Gesundheit, Frühaufstehen, Pflichterfüllung, gemässigt heitere Familienfeste (ja nicht allzu ausgelassene Feste, das würde ja auf eine dionysische Natur hinweisen, die den Leuten hier ganz bestimmt fremd ist), sonntäglicher Kirchgang und frühes Schlafengehen in Verbindung. Diese Charakteristiken stimmen mit den Begriffen überein die in der Tabelle weiter oben in dieser Arbeit in der linken Spalte zu finden sind. Apollinische Merkmale wie Begrenzung und Nüchternheit ordnet Harry seinen bürgerlichen Mitmenschen zu, er selbst jedoch fällt nicht in diese Kategorie, obwohl ihm die so genannt apollinischen Triebe gar nicht fremd sind. Wenn Harry an seine Jünglingsjahre zurückdenkt, so erfüllt ihn ein Gefühl der Sehnsucht und des Schmerzes. Gleichzeitig fühlt er eine fast masochistische Genugtuung bei der Feststellung des, sowie es ihm scheint, unüberbrückbaren Kontrastes zwischen der hellen und der dunklen Seite in ihm. Genugtuung, weil ihm dieser Schmerz die Möglichkeit bietet, eine Einteilung der Welt in gut und schlecht herzustellen. Ernährung Bemerkenswert im Steppenwolf sind die vielen verschiedenen Hinweise auf die Ernährung Harrys. In seinen wilden Stunden in denen der Steppenwolf regiert, könnte man ihn einen Säufer nennen. Doch auch im Allgemeinen fällt sein unregelmässiges Essverhalten auf. Als eines der ersten Grundbedürfnisse des Menschen ist das Essen ein wichtiger Indikator für die Gesundheit eines Einzelnen. Werden Mahlzeiten regelmässig und mit Appetit eingenommen, so spricht dies für Einheit und Ordnung, Zusammenhang und Sicherheit eines Individuums. Hesse braucht das Motiv des Essens 81 Hesse, Hermann. Der Steppenwolf, S.35 55 immer wieder in kürzeren, aber eindeutigen Kommentaren um die von der Norm abweichende Lebenseinstellung seiner Hauptfigur zu illustrieren. Harry Haller ist ein in eine fremde, ihm unverständliche Welt verirrtes Tier, das seine Heimat, Luft und Nahrung nicht mehr findet.82 Der Neffe der Vermieterin beschreibt seine widersprüchlichen Eindrücke von Harry. Eines Tages trifft er ihn vergnügt auf der Treppe an und sie plaudern sogar etwas, kurz darauf fällt Harry Haller jedoch in eine schwere Depression, ohne Essen zu begehren.83 Der Zusammenhang zwischen Ernährung und seelischem Zustand wird mit diesem Zitat der Depression Harrys hergestellt. Ebenfalls aus der Beobachtung des Neffen erfährt der Leser, dass Harry oft viele Flaschen Wein mit sich nach Hause nimmt, sie nahezu alle innert kürzester Zeit leer trinkt, um die restlichen Flaschen folglich verstauben zu lassen. Er bewegt sich also immerzu zwischen Übergabe und Enthaltung, zwischen Dionysos und Apollon. Als der Neffe ihn darauf anspricht und ihm erzählt, dass er selber keinen Alkohol mag, antwortet Harry typischerweise: „Ich habe auch jahrelang enthaltsam gelebt und auch lange Zeiten gefastet, aber zur Zeit stehe ich wieder im Zeichen des Wassermanns, einem dunklen und feuchten Zeichen.“84 Harrys jetziger Lebensabschnitt ist durch dass viele trinken ein feuchter, und gleichzeitig ist er dunkel, was darauf schliessen lässt, dass er diese dionysische Seite seiner Persönlichkeit verurteilt und verachtet. Nachdem er mit Hermine zusammengetroffen ist und sich mit ihr angefreundet hat, stellt sich recht schnell eine Hierarchie zwischen den beiden ein. Harry scheint darum zu flehen, den Genuss des leichteren Lebens erlernen zu dürfen, Hermine erkennt diesen seinen stillen Wunsch und wird seine Lehrerin. Sie erkennt: „Gehorchen ist wie Essen und Trinken – wer es lang entbehrt hat, dem geht nichts darüber.“85 Er ergibt sich ihr vollkommen, sie drängt ihn zum tanzen, zum schlafen, zum lieben. Ebenfalls drängt sie ihn zum essen, was ihm besonders schwer fällt. Sowie man einen kleinen ungehorsamen Jungen dazu bringt, durch die regelmässige Nahrungsaufnahme ein Gefühl für Struktur zu entwickeln, so bringt Hermine Harry dazu, sich der täglichen Disziplin des Essens zu stellen. 82 Hesse, Hermann. Der Steppenwolf, S.37 Hesse, Hermann. Der Steppenwolf, S.25 84 Hesse, Hermann. Der Steppenwolf, S.23 85 Hesse, Hermann. Der Steppenwolf, S. 96 83 56 Musik Im Steppenwolf hat die Musik eine wichtige Position und die Beschreibung verschiedener Stile zu verschiedenen Zeitpunkten dient meiner Meinung nach dazu, der jeweiligen Situation im Buche eine charakteristische Färbung zu geben. Die musikalische Untermalung hat zwei Pole: Einen apollinischen und einen dionysischen Pol. Harry sehnt sich oft nach seinen jüngeren Jahren in denen er noch im Schutz des elterlichen Hauses stand und sich in apollinischer Ordnung sicher fühlen konnte. Jetzt ist er auf sich selbst angewiesen, hat sich für die Einsamkeit entschiedenen und sinnt verwirrt und verstört dem Sinne des Lebens nach. In solchen Momenten von absoluter Orientierungslosigkeit kommt dann doch ab und zu ein günstiger Wind daher, der ihm eine süsse Erinnerung, eine Spur von Ordnung bringt. So denkt er auf Seite 35 zum Beispiel an ein Konzert an dem eine „herrliche alte Musik“ gespielt wird. Wer etwas über Nietzsche und Wagner gelesen hat weiss, dass die alte Musik von Bach oder Händel sich zum Dionysischen musikalischen Ideal genau gegensätzlich verhält. Die Komponisten des Barocks hielten sich bezüglich Harmonie und Rhythmus an strenge, genaustens festgelegte Regeln. Ihre Musik ist vorhersagbar und wirkt beruhigend aufs Gemüt, im Gegensatz zur Musik Wagners, deren unendliche melodische Linienführung ein unbegrenztes, unbekanntes und unerforschtes Gebiet an Möglichkeiten suggeriert. Auf Seite 43 des Steppenwolfes finden wir einen Textausschnitt der illustriert, wie strukturierte Musik der „Alten“ wie Mozart, der Harry ein Ewiger, ein Weiser zu sein scheint, sich deckt mit dem Zustand des Dionysischen: Hätte ich in diesem Augenblick über einen Wunschzauber verfügt, so hätte sich mir nun ein kleiner, hübscher Saal dargeboten, Stil Louis Seize, wo ein paar gute Musiker mir zwei, drei gute Stücke von Händel und Mozart gespielt hätten. Dazu wäre ich jetzt gestimmt gewesen und hätte die kühle, edle Musik geschlürft, wie Götter Nektar schlürfen. Oh, wenn ich jetzt einen Freund gehabt hätte, einen Freund in irgendeiner Dachkammer, der bei einer Kerze grübelt und die Violine daneben liegen hat! Wie hätte ich ihn in seiner Nachtstille beschlichen, wäre lautlos durchs winklige Treppenhaus empor geklettert und hätte ihn überrascht, und wir hätten mit Gespräch und Musik ein paar überirdische Nachtstunden gefeiert.86 86 Hesse, Hermann: Der Steppenwolf, S.43 57 Obiges Zitat erinnert sehr an die Worte Nietzsches wenn er voller Bewunderung an seinen Freund Richard Wagner schreibt, er wolle ihn besuchen und dann solle es bei Gespräch, Wein und guter Musik „dionysisch hergehen“. Beim Steppenwolf ist das Grübeln des imaginären Freundes mit der Philosophie der beiden Denker gleichzusetzen, währenddem die Geige das musikalische Element des dionysischen Rauschzustandes symbolisiert. Nur stammt die Musik, die in diesen Zustand versetzen soll nun eben nicht von Wagner, Beethoven oder Strauss, sondern entspringt der stilsicheren Kompositionsweise der „Alten“. Auch der Freund, den sich Harry wünscht, ist nicht da, und so versucht er die goldene Spur bei sich selbst aufzuspüren. Auch hier braucht Harry seinen eigenen regelmässigen Atempuls, um bei sich das Gefühl, das Wagner Essenz aller Dinge genannt wird, bei sich hervorzurufen: „...so klang jene holde Melodie doch in mir innen, und ich konnte sie, leise summend im rhythmischen Atemholen, doch andeutend mir selber vorspielen.“87 Nebst dieser Verbindung von alter Musik und dionysischer Hingabe, weist die genannte Stelle noch eine andere Widersprüchlichkeit auf. Auch im Traum kann Harry dieses Gefühl der Hingabe und des Auflösens hervorrufen. Aus den Schriften Nietzsches und Wagners lernen wir jedoch, dass die Traumwelt apollinisch ist, da sie sich nur mittels Bilder manifestiert. Es ist die Rede von einer goldenen Spur, der sich Harry anzunähern versucht, und im Traumzustand gelingt es ihm. Eine goldene Spur hinterlassen auch die im Traumzustand zu Harry gekommenen Verse, und eben diese Verse sind „...viel zu schön und viel zu wunderlich als dass ich daran hätte denken dürfen, sie aufzuschreiben, die ich am Morgen nicht mehr wusste und die doch in mir verborgen lagen, wie eine alte schwere Nuss in einer brüchigen Schale.88 Harrys goldene Spur hat deutliche Parallelen zu dem Schopenhauerschen Ding an sich, und der Wagnerschen Essence of Things (siehe oben). Wie bei Hesse besteht auch bei Wagner die Möglichkeit, sich diesem Kern der Dinge durch den Traumzustand zu nähern. Bei Wagner ist die Musik ganz klar die einzige Disziplin, mit der diese aufrichtige Welt der Ideen vermittelt werden kann. Hesse erinnert im Namen Harry 87 88 Hesse, Hermann: Der Steppenwolf, S.43 Hesse, Hermann: Der Steppenwolf, S.36 58 Hallers noch an einen grossen französischen Philosophen: Bataille. Harry beteuert, auch beim Zusammensein mit seiner Geliebten sei es ihm möglich, sich der goldenen Spur, der Essenz der Dinge, zu nähern. Bataille schreibt in L’ Erotisme, dass der Orgasmus, der im Französischen auch la petite mort genannt wird, die ultimative Form der Selbstauflösung ist, weil er uns Sterblichen mit einem Vorgeschmack des Todes beglückt. Dies macht die seelisch-körperliche Liebe zu einer Alternative der dionysischen Musik. Licht und Dunkel Wie in Demian auch, ist im Steppenwolf immerzu die Rede von den „zwei Welten”. Nach meiner Auseinandersetzung mit beiden Werken Hesses kam ich zur Schlussfolgerung, dass nicht in beiden Fällen das Gleiche gemeint ist. Demian befindet sich im Streit zweier Kräfte, der dionysischen und der apollinischen und versucht für sich einen Mittelweg zu finden, indem er sich selbst treu bleibt. Mit den zwei Welten illustriert Hesse an Hand von typischen Merkmalen wie Struktur, und Sauberkeit einerseits, und Chaos und Säufertum andererseits die beiden gegensätzlichen Pole. Im Steppenwolf ist eine Entwicklung dieses dualistischen Denkens spürbar. Die Entwicklung wird mit der bereits erwähnten Dreiteilung des Buches deutlich gemacht. Zu Beginn des Buches muss sich der Leser mit der doppelschichtigen Existenz des bald fünfzigjährigen Harry Hallers auseinandersetzen. Die Hauptfigur im Steppenwolf fühlt sich mal sittlicher Mensch, mal wildes Raubtier. Im Traktat, das Harry von einem geheimnisvoll wirkenden Mann in die Hände gedrückt bekommt, wird versucht, mit der dualistischen Denkweise aufzuräumen. Ab diesem Moment kommt Harry immer wieder in Kontakt mit dem, was er die andere Welt nennt. Hierbei spielt das Motiv des Lichts eine nicht unwichtige Rolle. Wir müssen uns bewusst sein, dass das Licht von Nietzsche sowie von Wagner in den besprochenen Schriften dem Apollon zugeordnet wird. In der Beethovenschrift wird zudem geschildert, dass man durch die Musik in eine andere Welt gelangen kann. In diesem Falle aber geschieht es durch das Licht und Harry befindet sich oft zwischen Licht und Dunkel, zwischen dem 59 dionysischen und dem apollinischen Symbol, wenn er Zeichen aus der Welt erhält, die gerade diese Dualität aufheben möchte. Ins dunkelste Viertel der Stadt zieht sich Harry zurück und kommt einer alten, grauen Steinmauer vorbei, die ihm einen angenehmen Kontrast gibt zur hektischen Welt der modernen Innenstadt. Plötzlich sieht Harry wie leuchtende Buchstaben auf der dunklen Mauer erscheinen: „Magisches Theater – Eintritt nicht für jedermann - Nur für Verrückte!“ 89Diese Worte sind nur an Harry gerichtet und sind die erste Einladung die er aus der „anderen Welt“ erhält. Kurz darauf bekommt er wieder ein Zeichen, und wieder wird die Botschaft begleitet von Licht, als wäre es ein Kontrast zum späten, dunklen Abend: Da, als ich es aufgab und schon auf den Bürgersteig zurückgekehrt war, tropften vor mir her ein paar farbige Lichtbuchstaben über den spiegelnden Asphalt: Ich las: Nur für Verrückte.90 Harry begegnet einem Mann auf der Strasse, der allerlei Waren anbietet. Harry kann an dem dunklen Abend nicht richtig sehen was auf seinem Anhängeschild geschrieben steht und versucht dieses im Licht einer Strassenlaterne zu entziffern. Im Licht der Laterne versuchte ich seine Standkarte zu lesen, sein rotes Plakat an der Stange, aber es schwankte hin und her, ich konnte nichts entziffern. Da rief ich ihn an und bat ihn, mir das Plakat zu zeigen. Und wieder wird ihm unter Einfluss des Laternenlichts eine Botschaft vermittelt: Der Mann drückt Harry das Traktat vom Steppenwolf in die Hand. Später im Bett liegt Harry schon im Halbschlaf, und da blitzen plötzlich bestimmte Stellen aus dem Traktat vor ihm auf, glänzen und vermitteln ihm das Gefühl des Unsterblichen. In allen genannten Beispielen wird das Zusammentreffen von Licht und Dunkel beschrieben, aus welchem folglich eine Spur des Unsterblichen hervorgeht. Im vorhergehenden Kapitel über die Musik ist ja die Gottesspur, die goldene Spur schon erwähnt worden und ich glaube, dass sie im Zusammenhang mit dem Lichtmotiv im Steppenwolf eine grosse Bedeutung hat. Durch Figuren aus der „anderen Welt“ wird Harry aus seiner schwarz-weissen Steppenwolfwirklichkeit entrissen. Im Traktat und später auch durch Begegnungen mit Hermine, der er wie einem Stern folgt (Lichtmotiv) und Mozart wird Harry vor Augen geführt, dass er sich wie ein Tor benimmt, wenn er 89 90 Hesse, Hermann: Der Steppenwolf, S.39 Hesse, Hermann: Der Steppenwolf, S.39 60 glaubt, seine Welt in zwei Hälften teilen zu müssen. Er ist deshalb so ein Tor, weil er sich alle Nuancen des Lebens vorenthält, indem er zu viel und zu grob kategorisiert. Im Traktat steht geschrieben: Betrachten wir von diesem Standpunkt aus den Steppenwolf, so wird uns klar, warum er so sehr unter seiner lächerlichen Zweiheit leidet. Er glaubt, wie Faust, dass zwei Seelen für eine einzige Brust schon zuviel seien und die Brust zerreissen müssten. Sie sind aber im Gegenteil viel zu wenig, und Harry vergewaltigt seine arme Seele furchtbar, wenn er sie in einem so primitiven Bilde zu begreifen sucht. Harry kommt also in Kontakt mit einer anderen Welt, die Welt der Nuancen, der Welt in der alles echt und doch unbeschreiblich ist. Einer Welt in der es keine eindeutigen Antworten gibt, und die zur gleichen Zeit wirklich und unwirklich ist, sodass man ihr, so Mozart und Goethe, nur mit Humor entgegentreten kann. Das Unbestimmte Mit Humor versuchen die verschiedenen Figuren der Unsterblichkeit ihren Schüler Harry dazu zu bringen, sich selbst nicht mehr so ernst zu nehmen und sich allmählich zu lösen von der Fixierung auf seine eigene, wie er meint, doppelte Persönlichkeit. Es ist auffällig, dass Harry durch Hermine und Pablo in Kontakt tritt mit dem Jazz, den er eigentlich verachtet und als Unterhaltungsmusik abtut, währenddem die klassischen Komponisten ihm heilig sind. Harry bestempelt den eher schweigsamen Pablo als dumm und ungebildet, weil er sich nicht an der von Harry initiierten Debatte über Kunst und Kultur beteiligen will. Was auffällt, ist dass Harry geradezu davon besessen scheint, von seinem Gegenüber eine Antwort, eine Stellungnahme zu bekommen. „Ich habe mehrmals den Versuch gemacht, mit Ihnen über Musik zu sprechen – es hätte mich interessiert, Ihre Meinung, Ihren Widerspruch, Ihr Urteil zu hören; aber Sie haben es verschmäht, mir auch nur die geringste Antwort zu geben.“ Aus diesem Zitat ist ersichtlich, dass Harry Haller es gewohnt ist, ja, selbst danach süchtig ist, zu kategorisieren und eine Seite zu wählen, so wie er in sich ja auch die zwei Seiten des Bürgers und des Steppenwolfes erfunden hat. Diese Erfindung, diese Sucht versucht er im Gespräch mit Pablo zu nähren, aber der junge Mann aus dem Magischen Theater fällt nicht auf Harrys zwanghafte Schwarzweissmalerei rein. Stattdessen 61 antwortet er ihm, dass es bei Musik nicht darauf ankommt, ob man Recht hat oder nicht, sondern dass es darum geht dass man musiziert. Mit diesen Worten tötet Pablo die Dualität gut/schlecht und plädiert für den Reichtum der zwischen beiden entsteht, oder der entsteht, wenn man jegliches Urteil fallen lässt und einfach handelt. Natürlich versucht Harry, sich noch für die klassischen Komponisten einzusetzen, als ihm aber bald Mozart und auch Goethe erscheinen, bringen sie ihn mit ihrem schallenden Gelächter und ihrem Selbstspott komplett aus der Fassung. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen sinnlicher und geistiger Musik. Keiner scheint recht zu haben und keiner Unrecht. Nur reichlich viel Humor haben sie alle. Eine andere Vertreterin dieser tiefgründigeren Welt ist Hermine, in der sich Harry vollkommen gespiegelt sieht und die, auch mit wenig Bildung, genaustens in seiner Seele zu lesen weiss. Sie ist sein Stern, dem er blind folgen möchte, und auf den er seine ganze Hoffnung setzt. Sie ist ein kleines Mädchen, verfügt aber über das Wissen eines weisen alten Mannes. Ihre mütterliche Fürsorge und ihr knabenhaftes Aussehen scheinen ebenfalls einen Widerspruch zu bilden. Jedoch vereint Hesse auch in Hermine allerlei möglichen Triebe. Sie, die Harry vor dem Selbstmord schützen soll und ihm mit gutem Essen und Tanz etwas von ihrer Leichtlebigkeit abschneiden will, birgt auch tiefe Schwermütigkeit in sich, eine Todessehnsucht, die im Befehl zum Mord kulminieren soll. Wie schön war ihr Gesicht, wie überirdisch und hell schwamm wissende Trauer, diese Augen schienen schon alles irgend erdenkliche Leid gelitten und ja dazu gesagt zu haben. Der Mund sprach schwer und wie behindert, etwa so, wie man spricht, wenn einem grosser Frost die Lippen erstarrt hat; aber zwischen den Lippen, in den Mundwinkeln, im Spiel der nur selten sichtbar werdenden Zungenspitze floss, im Widerspruch zu Blick und Stimme, lauter süsse spielende Sinnlichkeit, inniges Lustverlangen. In die stille glatte Stirn hing eine kurze Locke herab, von dort aus, von dieser Stirnecke mit der Locke her, strömte von Zeit zu Zeit wie lebendiger Atem jene Welle von Knabenähnlichkeit, von hermaphroditischer Magie.91 Ebenfalls einen vereinten Widerspruch verkörpert die umwerfend schöne Frau, die Hermine für Harry organisiert hat. Ihr biblischer Name lautet Maria und sollte für Reinheit und Jungfräulichkeit stehen. Dies deckt sich nun aber gar nicht mit ihrem 91 Hesse, Hermann. Der Steppenwolf, S. 120 62 Beruf. Sie ist Liebeskünstlerin. Sie ist zwar auch nicht hoch gebildet im herkömmlichen und für Harry so wichtigen Sinne. Er erkennt aber, dass es auch andere Formen von Intelligenz gibt und geniesst in vollen Zügen die Weisheit seiner Freundin. Wiederum sind die Bezeichnungen sinnlich und geistig nicht von einander zu trennen und die Körperlichkeit kann als Kultiviertheit aufgefasst werden. ...sie sprach mit einer Hingerissenheit, einer Bewunderung und Liebe, die mich rührte und ergriff weit mehr als die Ekstasen irgendeines Hochgebildeten über ausgesucht vornehme Kunstgenüsse...Maria hatte keine Bildung, sie hatte diese Umwege und Ersatzwelten nicht nötig...Schon bei jenem ersten schüchternen Tanz mit ihr hatte ich das empfunden, hatte diesen Duft einer genialen, entzücken hochkultivierten Sinnlichkeit gewittert und war von ihr bezaubert gewesen.92 Die Besessenheit Harrys, die Welt in zwei Teile zu spalten wird ihm spätestens durch die Erfahrungen im Magischen Theater und in der Liebe mit Marias abgewöhnt. Es wird ihm vor Augen geführt, dass man nicht immer und bei jeder Gelegenheit Stellung beziehen oder eine gewisse Haltung annehmen muss. Ganz deutlich ist eine Entwicklung im Denken Hesses spürbar bezüglich seiner Meinung zu Nietzsche und Wagner. Im Demian wird eine Vereinigung, ein sich Vertragen der Kunsttriebe herbei gewünscht. Im ersten Teil des Steppenwolfes wird diese Thematik aufgegriffen mit dem Steppenwolf- Bürgermotiv. Das Lesen des Steppenwolfbüchleins bringt jedoch Bewegung in Harrys Leben und seine dualistische Denkweise wird mit Fragezeichen versehen. Im Magischen Theater kämpft der alte Harry gegen den jungen Harry an. Hier handelt es sich jedoch nicht um einen apollinischen Harry und einen dionysischen, nein. Der alte Harry der im dualistischen Konzept feststeckt, erfährt durch die vielen Formen, die der junge, neue Harry annehmen kann, die Freiheit des Unbestimmten. Auf diese Weise also scheint Hesse im Steppenwolf die Auflösung des Apollinischen und das Dionysischen zugunsten des Unbestimmten, „Unsterblichen“ zu propagieren. Es kommt mir so vor, dass Hesse die Einteilung und den Gedanken überhaupt, gewisse Gegebenheiten einem apollinischen oder auch dionysischen Trieb zuzuordnen, als nichtig erklären will. Wenn wir nämlich einteilen, Stellung beziehen, sei es auch zum 92 Hesse, Hermann. Der Steppenwolf, S.145 63 Dionysischen, so bewegen wir uns paradoxerweise immer im Gebiet des Apollinischen, weil wir ordnen, Form anbringen. In Demian wird Nietzsche oft positiv erwähnt. Im Steppenwolf finden wir aber das folgende Zitat, welches der Annahme, dass eine Entwicklung stattgefunden hat, die von Nietzsche wegführt, dienlich ist. Hatten wir Kenner und Kritiker nicht alle als Jünglinge Kunstwerke und Künstler glühend geliebt, die uns heute zweifelhaft und fatal erschienen? War es und nicht mit Liszt, mit Wagner, vielen sogar mit Beethoven so ergangen?93 Obwohl meine Hypothese der Prüfung in Demian standgehalten hat muss ich zugeben, dass sie auf den Steppenwolf nicht zutrifft und ergänzt werden müsste. Wie man am letzten Zitat sehen kann, hat sich Hesses Denken entwickelt und er spricht sich gegen das Erstellen einer dualistischen Kunsttheorie aus. 93 Hesse, Hermann. Der Steppenwolf, S.150 64 7. SCHLUSSWORT Im ersten theoretischen Teil meiner Arbeit habe ich Ursprung, philosophischen Hintergrund und Anwendung des durch Nietzsche und Wagner aufgestellten griechischen Gegensatzes vorgestellt. In der Besprechung der Beethovenschrift sollte der rote Faden, der sich vom Werk Schopenhauers aus auch durch die Gedanken Wagners zieht, ersichtlich werden. In dieser Schrift Wagners wird auf den Gegensatz des Dionysischen und des Apollinischen eingegangen, wovon im Kapitel über Nietzsche eine klare Umschreibung aus seiner Geburt der Tragödie gegeben ist. Auch habe ich kurz über die Selbstkritik Nietzsches berichtet, und Argumente aus den Nietzsche- und Wagnerstudien von Martin Vogel mit einbezogen. Hieraus sollte hervorgehen, dass die dionysisch-apollinische Kunsttheorie sich entwickelt hat und auch nicht immer allen Fragen standgehalten hat. Im zweiten und wichtigsten Teil der Arbeit wurde der ungeheure Gegensatz in der Literatur angewendet. Ich wollte wissen, wie die Schriftsteller Thomas Mann und sein Zeitgenosse Hermann Hesse dieses Thema in ihrem Werk verarbeitet haben und ob auch hier Unterschiede und Entwicklungen festzustellen sind. Es hat sich herausgestellt, dass im Tod in Venedig eine apollinische Lebensweise gegen eine kurze aber kräftige dionysische Hochphase eingetauscht wird. In Demian werden die beiden Kunsttriebe als gleichwertig vorgestellt. Hesse schildert verschiedene Stationen im Leben des Suchenden Emil Sinclair mit der seiner jeweiligen Phase entsprechenden Ausrichtung zum Dionysischen oder zum Apollinischen hin. Hesse stellt in Demian die absoluten Werte „gut“ und „böse“ in Frage, und zeigt dass sich alle Gegensätze bedingen und dass nach einem guten Gleichgewicht gesucht werden sollte. Der Steppenwolf bewegt sich nicht mehr im bipolaren System des Apollinischen und des Dionysischen sondern im Gebiet des Unbestimmten. Die Thematik aus Demian wird zwar aufgegriffen und mit verschiedenen gegensätzlichen Motiven wie Tier/Mensch Ordnung/Chaos und Licht/Dunkel schön ausgearbeitet. Hauptziel des Buches ist aber eine Demonstration der Irrelevanz einer solchen dualistischen Denkweise. Eine Einteilung in die zwei Begriffe „dionysisch“ und „apollinisch“ ist nur vom 65 Apollinischen Ordnungstrieb aus erreichbar. Aus diesem Grunde wird im Steppenwolf eine Auslöschung des gesamten dualistischen Systems propagiert. War der „ungeheure Gegensatz“ vielleicht doch ein genialer Irrtum? 66 Literaturverzeichnis Brillenburg Wurth, Kiene. The Musically Sublime. Infinity, Indeterminacy, Irresolvability. Groningen: 2002 Chafe, Eric. The Tragic and the Ecstatic. The Musical Revolution of Wagner’s Tristan and Isolde. New York: Oxford University Press, 2005 Evers, Meindert und Ester, Hans. Zur Wirkung Nietzsches. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann GmbH, 2001 Hesse, Hermann. Demian. Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend. Gesammelte Werke. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1987 Hesse, Hermann. Der Steppenwolf. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 2007 Janaway, Christopher. Schopenhauer. Übersetzung ins Niederländische durch Jos den Bekker. Rotterdam: Lemniscaat, 2000 Jang, Sung-Hyun. Nietzsche-Rezeption im Lichte des Faschismus: Thomas Mann und Menno ter Braak. Hildesheim: Georg Olms Verlag, 1994 Joseph, Erkme. Nietzsche im „Zauberberg“. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann GmbH, 1996 Klugkist, Thomas. Sehnsuchtskosmogonie. Thomas Manns Doktor Faustus im Umkreis seiner Schopenhauer-, Nietzsche- und Wagner Rezeption. Würzburg: Königshausen & Neumann GmbH, 2000 Lahann, Birgit. Hermann Hesse. Dichter für die Jugend der Welt. Ein Lebensbild. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 2002 67 Morford, Mark P.O. Classical Mythology. New York: Oxford University Press, Oxford University Press, 2003 Nietzsche, Friedrich. Die Geburt der Tragödie. Frankfurt am Main: Insel Taschenbuch Verlag, 2000 Safranski, Rüdiger. Schopenhauer. Vogel, Martin. Nietzsche und Wagner. Bonn: Verlag für systematische Musikwissenschaft, 1984 Vogel Martin. Apollinisch und Dionysisch. Regensburg: Gustav Bosse Verlag, 1966 Wagner, Richard. Beethoven-Essay. http://users.belgacom.net/wagnerlibrary/prose/wlpr0133.htm 68