Das Apollinische - Utrecht University Repository

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APOLLINISCH UND DIONYSISCH
Ursprung, Anwendung und Paarung der Kunsttriebe in der Literatur
Masterarbeit Literaturwissenschaften, im Februar 2008
Florence Kuhlemeier
Stud.nr. 0211435
Begleiterin: Kiene Brillenburg-Wurth
Kurs: Intermedialities
Universität Utrecht
1
1. EINFÜHRUNG ........................................................................................................................ 3
2. URSPRUNG DER GOTTHEITEN ....................................................................................... 6
3. PHILOSOPHISCHER HINTERGRUND ............................................................................ 9
SCHOPENHAUER ............................................................................................................................ 9
PHILOSOPHIE IN DER MUSIK ..................................................................................................... 11
DIE BEETHOVENSCHRIFT ........................................................................................................... 12
DER SCHÖNE SCHEIN UND DER WILLE ..................................................................................... 13
DIE WAHRE SEELE DER MUSIK .................................................................................................. 15
VORBILD, FREUND, FEIND: NIETZSCHE UND WAGNER .......................................................... 19
4. DIE KUNSTTRIEBE BEI NIETZSCHE ............................................................................. 22
DAS APOLLINISCHE .................................................................................................................... 22
DAS DIONYSISCHE ...................................................................................................................... 23
DER GEGENSATZ AUF EINEN BLICK .......................................................................................... 24
NIETZSCHES SPÄTERE KRITIK ZUM EIGENEN WERK ............................................................... 25
5. DER GENIALE IRRTUM.................................................................................................... 28
6. LITERARISCHE VERARBEITUNG .................................................................................. 31
NIETZSCHE IN DER TOD IN VENEDIG....................................................................................... 32
HERMANN HESSE ........................................................................................................................ 34
NIETZSCHE IM DEMIAN ................................................................................................................ 39
DER TRAUM IN DEMIAN .............................................................................................................. 39
ZWEI WELTEN: ORDNUNG UND CHAOS..................................................................................... 41
GEFÄHRLICHE FLUT: FRANZ KROMER........................................................................................ 44
DAS GUTE AM BÖSEN UND DAS BÖSE AM GUTEN ..................................................................... 45
ABRAXAS – VEREINIGUNG DES DIONYSISCHEN MIT DEM APOLLINISCHEN ............................. 47
DER STEPPENWOLF ..................................................................................................................... 52
REINHEIT, ORDNUNG................................................................................................................... 53
ERNÄHRUNG ................................................................................................................................ 55
MUSIK ........................................................................................................................................... 57
LICHT UND DUNKEL .................................................................................................................... 59
DAS UNBESTIMMTE ...................................................................................................................... 61
7. SCHLUSSWORT ................................................................................................................... 65
2
1. EINFÜHRUNG
Das Hauptinteresse der vorliegenden philosophisch-literarischen Masterarbeit sind die
von Friedrich Nietzsche und Richard Wagner aufgestellten apollinischen und
dionysischen Kunsttriebe. Die Arbeit gliedert sich in zwei Hauptteile, wobei im ersten
theoretischen Kapitel dem Ursprung des so genannten „ungeheuren Gegensatzes“
nachgegangen werden soll. Nach einer kurzen Beschreibung der beiden wichtigen
Gottheiten des Altertums, Dionysos und Apollon, auf die der „ungeheure Gegensatz“
zurückzuführen ist, soll der philosophische Hintergrund erläutert werden. Eine der
wichtigsten Inspirationsquellen Wagners und Nietzsches war mit Sicherheit der
deutsche Denker Arthur Schopenhauer. Sein dualistisches Gedankengut prägt die
Generationen nach ihm; so zieht sich zum Beispiel sein Denken über Musik und Kunst
teilweise wie ein roter Faden durch das Werk Wagners und Nietzsches. Aus diesem
Grunde sollen im theoretischen Teil dieser Arbeit Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem
Geiste der Musik sowie Wagners Beethoven Essay besprochen werden.
Es ist bekannt, dass sich der spätere Nietzsche gegen den um viele Jahre älteren Freund
Richard Wagner gekehrt hat und sich in Werken wie Der Fall Wagner gegen dessen
Kunstauffassung (die gemeinsame Kunstauffassung der beiden Männer) ausgesprochen
hat. Es soll hier jedoch bei der Behandlung der beiden Kunsttriebe „apollinisch“ und
„dionysisch“ vor allem von der Geburt der Tragödie ausgegangen werden; Nietzsches
Kritik am eigenen Werk soll, der Übersicht wegen, nur am Rande angesprochen werden.
Kritische Stimmen bleiben aber nicht vollständig aus. Die beiden Nietzsche- und
Wagnerstudien des Musikwissenschaftlers Martin Vogel werden in einem weiteren
Kapitel besprochen. Seine Bücher Nietzsche&Wagner und Apollinisch und Dionysisch,
Geschichte eines genialen Irrtums bezweifeln und hinterfragen die absolute Spaltung der
beiden Kunsttriebe und zeigen diese anhand von Beispielen in einem neuen Licht.
Im praktischen zweiten Teil der vorliegenden Arbeit sollen Philosophie und Literatur
miteinander verknüpft werden. Kritik an dem lang bewährten musikalischphilosophischen Konzept wie sie beispielsweise Martin Vogel geliefert hat, erweist sich
3
in der Literatur indirekt und als unabhängige Kunstäusserung. Nietzsches Erbe ist
bekanntlich beim deutschen Schriftsteller Thomas Mann vorzufinden und wurde zum
Beispiel im Zauberberg gründlich verarbeitet, wie verschiedene Studien zeigen. Nach
einer kurzen Analyse der Novelle Tod in Venedig und einer ebenfalls kurzen
biographischen Einführung wende ich mich meinem Hauptinteresse zu: Dem Werk
Hermann Hesses. Spuren des Philosophen Friedrich Nietzsche sind in den Schriften
dieses süddeutschen Autoren deutlich spürbar. Was mich hinsichtlich dieser
intertextuellen Verbindungen am meisten interessierte, war die Frage nach dem
Gegensatz des Apollinischen und des Dionysischen. Es galt zu untersuchen, wie der
Gegensatz Nietzsches von Hesse aufgefasst und verarbeitet wurde, und ob gewisse
Abweichungen oder Entwicklungen vorzufinden sind. Diesbezüglich habe ich sowohl
die Auffassungen der drei Philosophen/Schriftsteller (Nietzsche, Wagner und Hesse)
einander gegenübergestellt, als auch die beiden Werke Hesses Demian und Steppenwolf
miteinander verglichen. Ich habe mich an untenstehenden Fragen orientiert und folglich
eine Hypothese formuliert.
Untersuchungsfragen:

Woher kommt der „ungeheure Gegensatz“?

Wie findet man ihn im Altertum, wie bei Schopenhauer/Nietzsche/Wagner
beschrieben?

Wie äussern sich Schopenhauer, Nietzsche, Wagner und Hesse zur Musik und in
welchem Verhältnis steht dies zum Apollinischen und zum Dionysischen?

Ist die Aufspaltung in zwei Kunsttriebe absolut oder gibt es weitere Meinungen?
Was sagen kritische Stimmen wie Martin Vogel zu Nietzsches „ungeheurem
Gegensatz“?

Wie wird das musikalisch-philosophische Konzept in der Literatur angewendet?
Welche Auffassungen haben Thomas Mann und Hermann Hesse bezüglich des
griechischen Gegensatzes und stimmen diese überein mit den Auffassungen
Nietzsches und Wagners?
4

Gibt es eine Entwicklung im Werke von Hesse? Sind Unterschiede zwischen
Demian und dem Steppenwolf festzustellen bezüglich Interpretation und
Repräsentation der apollinischen und dionysischen Kunsttriebe?
Hypothese: In der Literatur Hermann Hesses werden die von Nietzsche und Wagner
aufgestellten Gegensätze „dionysisch und apollinisch“ als unzertrennliche Einheit
aufgefasst. Ich gehe davon aus, dass sich die Kunsttriebe gegenseitig bedingen, und
dass nicht, so wie es Wagners Wunsch war, ein Trieb dem anderen vorgezogen
werden kann. Diese Annahme werde ich anhand von Argumenten und
überzeugenden Literaturbeispielen zu unterstützen versuchen.
5
2. URSPRUNG DER GOTTHEITEN
In diesem Kapitel möchte ich gerne eine Beschreibung der Gottheiten Apollon und
Dionysos geben, wie sie in Classical Mythology, welches von Mark Morford verfasst
wurde, zu finden sind. Ich hoffe, hierdurch ein kurzes, aber auf ursprünglichen
Überlieferungen basierendes Porträt zu erhalten. Morford kommentiert verschiedene
altgriechische Literaturquellen und zitiert Schriftsteller wie Homer und Ovid.
Ein objektives Bild der beiden Kunstgötter zu erhalten schien mir für die Beschäftigung
mit den umstrittenen Werken Nietzsches und Wagners sehr wichtig.
Bei Morford lesen wir, dass aus der Paarung von Zeus mit Leto die beiden göttlichen
Zwillinge Artemis und Apollon entstehen. Das Land Delos verhandelt mit Leto und will
die Geburt Apollos nur akzeptieren, wenn sie ihm verspricht, das Apollon ihm einen
Tempel und einen Altar errichtet und dem Land Treue gewährt. Unter grossen
Schmerzen, die neun Tage anhalten, bringt Leto Apollon zur Welt, der sogleich das Licht
aufsucht. Auf Delos freuen sich die Götter und das Land steht in voller Blüte.
Wie wir später sehen werden, müsste Apollon, von Nietzsche ausgehend, vorwiegend
helle, positive Charaktereigenschaften aufweisen. Im Kapitel The Nature of Apollo in
Classical Mythology stossen wir jedoch auf folgende Beschreibungen der Gottheit
Apollon:
The facets of Apollo’s character are many and complex. His complex nature sums up the many
contradictions in the tragic dilemma of human existence. He is gentle and vehement,
compassionate and ruthless, guilty and guiltless, healer and destroyer. The extremes of his
emotion are everywhere apparent.1
Die Überlieferungen sind jedoch genau so widersprüchlich und vielfältig wie Apollon
selbst. An einer weiteren Stelle in Classical Mythology heisst es, Apollon sei die
Personifizierung griechischer Proverben wie „Kenne Dich selbst“ und „Von nichts sollte
man zuviel haben.“ Die Redewendungen sprechen für Apollos angeborenes Gefühl für
das rechte Mass.
1
Morford, Mark P.O. Classical Mythology, S. 244
6
He knows by experience the dangers of excess.2
Wie der Kult des Apollos entstanden ist, ist unklar, man nimmt an, dass er im Jahre 2000
vor Christus durch die Überlieferung von nordischen Eindringern nach Griechenland
gelangte. Er gilt als Schäfer, als Sonnengott und als Gott der Musik und der Medizin. Da
er für die Disziplin steht und für das beherrschen seiner Leidenschaften bekannt ist,
wird er oft als Gegenpol von Dionysos gesehen.
Der Mythos um Dionysos entstand jedoch erst viel später. Wie Apollon ist auch
Dionysos ein Kind von Zeus und entstand aus dessen Paarung mit Semele, einer Tochter
von Cadmus. Nach einem Streit tötet Zeus die schwangere Semele, lässt ihrer Asche
jedoch das ungeborene Kind entnehmen. Dieses bindet er sich in seinen Schenkel ein
und bringt eigenständig und zum angemessenen Zeitpunkt den Sohn Dionysos zur
Welt. Die Aufgabe des kleinen Gottes ist es, denen, die sich ihm fügen, Glück zu
bringen, und diejenigen, welche sich ihm widersetzen, zu bestrafen. Er gilt des weiteren
als ein Gott der Vegetation im allgemeinen und der Weinrebe im besonderen, steht für
die Produktion und das Trinken von Wein. Feindlichkeit gegenüber denen, die ihm
nicht gut gesinnt sind, und die Fähigkeit, sich in Tiere zu verwandeln, zeichnen ihn
ebenfalls aus. In Classical Mythology lesen wir über Dionysos:
“Dionysus represents the sap of life, the coursing of the blood through the veins, the throbbing
excitement and mystery of sex and of nature; thus he is a god of ecstasy and mysticism.” 3
Was aus den ursprünglichen Quellen spricht, ist die Tatsache, dass es nebst den
Unterschieden zwischen Dionysos und Apollon durchaus auch viele Zusammenhänge
und Ähnlichkeiten gibt. In Classical Mythology findet sich die Bemerkung, dass die
beiden womöglich den gleichen Ursprung haben und dass es sich bei den beiden, trotz
der Unterschiede, um zwei Bezeichnungen für den gleichen Gott handelt. In der
vorliegenden Arbeit soll in einem späteren Kapitel mit dem Titel Der geniale Irrtum diese
2
3
Morford, Mark P.O. Classical Mythology, S. 245
Morford, Mark P.O. Classical Mythology, S. 293
7
Problematik wieder aufgegriffen und mithilfe der Studie des Nietzsche-Kritikers Martin
Vogel besprochen werden.
8
3. PHILOSOPHISCHER HINTERGRUND
Die Aufstellung der duplizistischen Kunsttheorie durch das Zusammentreffen zweier
vielseitig talentierter Herren hat eine Vorgeschichte. Selbstverständlich wurden
Nietzsche und Wagner von ihrer Zeit geprägt. Geprägt wurden sie allerdings auch von
ihren Vorgängern, von Philosophen wie Schopenhauer und Komponisten wie
Beethoven. Diese intellektuelle und musikalische Spur soll in den folgenden Kapiteln
zurückverfolgt werden.
Schopenhauer
Nebst der griechischen Mythologie gab es noch eine wichtige Inspirationsquelle für
Nietzsches und Wagners „ungeheuren Gegensatz“: Die Welt als Wille und Vorstellung –
wohl das bekannteste Werk des im Jahre 1788 in Danzig geborenen Arthur
Schopenhauer. Es entstand als der junge Philosoph noch in seinen Zwanzigern war. Den
Rest seines Lebens verbrachte er laut Schriftsteller Christopher Janaway damit, die
Gedanken in seinem Meisterwerk zu ergänzen und nach aussen hin zu verteidigen. Er
scheut es nicht, seine Meinung offen und direkt auszusprechen. Dies kann er sich ohne
weiteres erlauben, da sein in jungen Jahren erworbenes grosses Erbe ihm eine
lebenslange finanzielle Unabhängigkeit ermöglicht.
Im Jahre 1809 fängt Schopenhauer an der Universität Göttingen an zu studieren. Seine
Wahl ist Medizin, aber recht bald wechselt er zur Philosophie und entscheidet sich für
ein Studium in Berlin. Dort besucht er Vorlesungen von Schleiermacher und Fichte, aber
geprägt wird er vor allem vom schriftlichen Nachlass der Philosophen Plato und Kant.
Ein zweiter Faktor der von grosser Bedeutung gewesen ist für sein Werk, ist die
Auseinandersetzung mit östlichen Weisheiten und Philosophien der Hindu. Diese sind
die Quellen für die führende Duplizität in Die Welt als Wille und Vorstellung. Darin geht
Schopenhauer davon aus, dass es im menschlichen Bewusstsein eine Trennlinie gibt
zwischen dem normalen Bewusstsein und dem besseren, höheren Bewusstsein. Einen
Hauch von Religiosität erhält die Theorie, indem den Künstlern und den Heiligen ein
höheres Bewusstsein zugeschrieben wird. Dieses höhere Bewusstsein zeichnet sich aus
9
als Wille, der sich fundamental von der Vorstellung unterscheidet. Die Welt der
Vorstellung begnügt sich mit dem Sichtbaren, dem oberflächlich Feststellbaren. Sie
gliedert sich in Objekt und Subjekt, wobei die Welt das Objekt ist, das vom wissenden,
kennenden Menschen (Subjekt) wahrgenommen wird. Die Welt des Willens hingegen
bezeichnet das Leben An Sich, ist das Leben hinter der äusseren Fassade der Dinge und
schliesst den Menschen als Betrachter nicht mit ein.4 Anstelle der traditionellen
Zweiteilung des Menschen in Einheiten des Physischen und des Mentalen, stellt
Schopenhauer den Begriff des Willens dem Intellekt und der Rationalität gegenüber. Zu
Eigenschaften des Willens gehören alle Tätigkeiten die sich mit Leidenschaft und Gefühl
verbinden lassen: begehren, streben, wünschen, verlangen, hoffen, lieben, sich freuen,
jubeln, aber auch alles was dem entgegenstrebt: nicht wollen, verabscheuen, flüchten,
fürchten, erbost sein, hassen, Schmerz erleiden und so weiter. Die genannten Zustände
wirken sich ihrerseits auf den Körper aus, das Herz fängt an, schneller zu klopfen, die
Pupillen verengen oder weiten sich, die Röte schiesst uns ins Gesicht oder aber unserem
Gesicht wird Farbe entzogen. Jegliche heftige Bewegung des Willens hat, so
Schopenhauer, einen direkten Einfluss auf den Körper. Mit diesem Gedanken ist eine
Identifikation des Willens mit dem Körper hergestellt. Schopenhauer spricht in diesem
Zusammenhang vom Körper als einem objektivierten Willen: Zähne, Speiseröhre und
Darmkanal seien beispielsweise objektivierter Hunger, die Genitalien der objektivierte
Sexualtrieb.5
Hieraus wird abgeleitet, dass jeder Wille aus einem Bedürfnis entsteht. Nichterfülltsein
eines Bedürfnisses bringt eine Spannung mit sich, eine Unzufriedenheit, ein Leiden. Der
Wille strebt also danach, das Leiden zu neutralisieren, das Bedürfnis zu befriedigen.
Allerdings, sagt Schopenhauer, ist eine solche Befriedigung nicht mehr als eine
vorübergehende Rückkehr in einen neutralen Zustand, den wir als Glück empfinden.
Wenig später meldet sich ein neues Bedürfnis, der Wille wird wieder spürbar. Die
Ästhetik Schopenhauers richtet sich gegen dieses „Hin und Herschiessen“ im genannten
Spannungsfeld, zielt darauf hin, ein Glückgefühl ausserhalb dieser Bedingungen zu
erreichen. Er sucht nach dem beruhigenden Effekt der eintritt, wenn es einem gelingt,
sich der starken Macht des Willens zu entziehen. Als Lösung sieht Schopenhauer die
4
5
Janaway, Christopher. Schopenhauer, S. 16
Janaway, Christopher. Schopenhauer, S. 55
10
Objektivierung des Subjekts. Der Betrachter soll seine eigenen Zielsetzungen während
der Kunstanschauung völlig aufgeben, soll seine eigene Persönlichkeit an die Seite
stellen, um nur noch als reines Objekt des Kennens zu fungieren, „helles Auge der Welt“
zu sein.6
Philosophie in der Musik
Auch Schopenhauers Musikauffassung ist nach dem im vorherigen Kapitel
besprochenen Prinzip aufgebaut, und Wagner und Nietzsche haben sich später von
folgenden Gedanken leiten lassen, und somit das Gesamtkunstwerk im
Schopenhauerschen Sinne geprägt:
„Das Wesen des Menschen besteht darin, dass sein Wille strebt, folglich befriedigt wird, und
abermals strebt, in immer fortwährender Wiederholung; ja sein Glück und Wohlergehen sind
nichts anderes als der schnelle Übergang von Wunsch zur Befriedigung und von der
Befriedigung wieder zum neuen Wunsche...Im gleichen Sinn ist das Wesen einer Melodie ein
fortwährendes Abweichen, ein sich Entfernen vom Grundton auf tausend verschiedene
Arten...Auf all diesen Wegen bringt die Melodie das vielförmige Streben des Willens zum
Ausdruck, aber auch dessen Befriedigung durch das schliessliche Wiederfinden eines
harmonischen Intervalls, und a fortefiori des Grundtones.“ 7
Je mehr Übergangsnoten in einem Stück vorkommen, je mehr das Erreichen des
Grundtones herausgezögert wird, desto heftiger ist also die Befriedigung des Willens.
Dieses Konzept wurde bei Wagners Tristan und Isolde konstatiert und ausgiebig
analysiert. In der Tristan-Studie The Tragic and the Ecstatic von Eric Chafe werden die
Aussagen Wagners mit denen Schopenhauers verglichen, und aus dem folgenden Zitat
von Richard Wagner über die Universalität der Musik lässt sich deutlich das
Gedankengut Schopenhauers zu der Welt an Sich erkennen.
6
Janaway, Christopher. Schopenhauer, S. 93
Janaway, Christopher. Schopenhauer, S. 101, Zitat aus die Welt als Wille und Vorstellung, hier diente
die holländische, kommentierte Version als Quelle und ist frei übersetzt ins Deutsche
7
11
What music expresses is eternal, infinite and ideal. It speaks not of passion, love and longing of
this or that individual in this or that situation, but of passion, love and longing in themselves,
and furthermore in all the infinite variety of motivations which arise from the exclusive nature of
music and which are strange to, and beyond the expression of, every other form of language.8
Die Musik ist also, im Gegensatz zur Bilderkunst, nicht eine Kopie einer Idee im
Platonischen Sinne. In (Un)forgetfulness, dem fünften Kapitel aus Musically Sublime von
Kiene Brillenburg, wird das Verhältnis der Musik zur Welt folgendermassen
beschrieben:
“Indeed, as a direct gateway to – or mouthpiece of – the Will music already points through itself
to the absolute in merely pointing to itself as the embodiment of that absolute. It relates to the
absolute just as Jesus Christ relates to God in Western religion…in both instances, the former is
an incarnation of the latter, moving within embodiment…”9
Hier wird eine Parallele hergestellt zwischen Musik und Glauben. Sowie Jesus Christus
eine Incarnation von Gott ist, ist die Musik eine Incarnation des Willens und der Welt an
sich. Jede Frage nach Gott wird vom Christen mit Jesus beantwortet. Letzerer ist (im
Westen) eine logische Konsequenz des Ersteren, ist ihm gleich und doch fällt er nicht
vollständig mit ihm zusammen. Das Gleiche gilt für die Musik. In ihr manifestiert sich
die Welt als Wille, die Musik ist die Welt, birgt sie in sich, währenddem sie gleichzeitig
auch nur ein Teil von ihr ist.
Als Beispiel eines Komponisten der sich der wahrhaftigen Aussagekraft der Musik
bewusst war und sich ihrer in vorbildlicher Weise bediente, nennt und rühmt Wagner
seinen Vorgänger Ludwig van Beethoven. Ihm zu Ehren verfasst er einen 200 seitigen
Essay, die Beethoven Schrift, von der im folgenden Abschnitt die Rede sein wird.
Die Beethovenschrift
Gerne möchte ich in diesem Kapitel die Hauptpunkte aus der im Jahre 1870 von Richard
Wagner verfassten Beethovenschrift besprechen. Schopenhauersche Grundsätze sind in
dieser Schrift eingeflochten, und zudem werden Gedanken zu den gegensätzlichen
8
9
Chafe, Eric. The Tragic and the Ecstatic. New York: Oxford University Press, 2005
Brillenburg, Kiene. The Musically Sublime, S.125
12
Kunsttrieben erläutert. Es ist aus Studien nie ganz deutlich hervorgegangen, ob die
Anfänge der dionysischen und apollinischen Kunsttheorien bei Nietzsche oder bei
Wagner zu suchen sind. Es ist deshalb auch nicht im Entferntesten mein Ziel, mich der
Frage nach dem geistigen Eigentum zu stellen und schon gar nicht, das Problem zu
lösen versuchen. Ich möchte mit den ursprünglichen Aussagen von Richard Wagner das
Schopenhauersche Gedankengut aufspüren und zudem einen Eindruck vermitteln von
Wagners Haltung gegenüber dem Thema des ungeheuren Gegensatzes.
Der schöne Schein und der Wille
Sich auf Schopenhauer und Kant beziehend stellt Wagner in seiner Beethovenschrift
eine Zwei- oder vielleicht sogar eine Dreiteilung her in seiner Kunstauffassung. Die
visuelle, bewusste Art der bildenden Künste teilt er dem Ästhetischen zu, die nach
seiner Meinung viel detailliertere und ungreifbare Welt der Musik gehört dagegen für
ihn zum Schopenhauerschen Ding An Sich. Er zitiert diesen mit der Aussage, dass die
Position der Musik als Kunst erst hergestellt wurde, als Schopenhauer ihr nachsagte,
eine unabhängige Haltung zu haben, da sie jeden Zuhörer unabhängig von seiner
Kultur oder Sprache und ohne jeglichen abstrakten Zwischenschritt zu erreichen
imstande ist. Die Musik widerspiegelt also, im Gegensatz zu der um vieles expliziteren
Kunst des Schreibens und der bildlichen Darstellung, auf direktem Wege die
ursprüngliche Welt der Ideen (Hat gewisse Ähnlichkeiten, ist aber nicht zu verwechseln
mit dem Ideenreich bei Platon). Rein durch ihre universelle Form hat die Musik Zugang
zur individuellen, subjektiven Bedeutung der Welt, von Schopenhauer Wille genannt.
Die Musik erringt durch die oben genannten Qualitäten einen besonderen Platz inmitten
der Künste. Sie dringt durch zum Kern der Dinge, während dem die übrigen Künste
sich auf die weit abstraktere Darstellungsweise ihrer Disziplin begrenzen und sich mit
einer der äusseren, objektiveren Schichten der Dinge begnügen müssen. Nach
Schopenhauer hat das menschliche Gehirn zwei Teilbereiche, eines für die nach innen
gekehrte Tätigkeit, und eine für die Konzeption anderer, äusserer Gegebenheiten.
Wagner bezieht diese Teilbereiche auf die Weise, wie die verschiedenen Künste
wahrgenommen werden und schreibt:
13
Eine nicht minder bestimmte Erfahrung ist nun aber diese, dass neben der im Wachen wie im
Traume als sichtbar sich darstellenden Welt eine zweite, nur durch das Gehör wahrnehmbare,
durch den Schall sich kundgebende Welt also recht eigentlich eine Schallwelt neben der Lichtwelt,
für unser Bewusstsein vorhanden ist, von welcher wir sagen können, sie verhalte sich zu dieser
wie der Traum zum Wachen: sie ist uns nämlich ganz so deutlich wie jene, wenngleich wir sie als
gänzlich verschieden von ihr erkennen müssen...Dieses innere Leben ist es nun aber, durch
welches wir der ganzen Natur unmittelbar verwandt, somit des Wesens der Dinge in einer Weise
teilhaftig sind, dass auf unsere Relationen zu ihm die Formen der äusseren Erkenntnis, Zeit und
Raum, seine keine Anwendung mehr finden können; woraus Schopenhauer so überzeugend auf
die Entstehung der vorausverkündenden oder das Fernste wahrnehmbar machenden, fatiditen
Träume, ja für seltene äusserste Fälle den Eintritt der sonnambulen Hellsichtigkeit schliesst.
Hier steht also der Wachzustand auf der Seite des Bildlichen, Erfassbaren und doch
Abstand bewahrenden der Ästhetischen Weltanschauung. Die Welt der Musik formt
diesbezüglich den grossen Gegensatz und wird mit einem Zustand verglichen bei dem,
losgelöst vom Bekannten, von Raum und Zeit jegliche Konventionen und Massnahmen
der Übersicht wegfallen. Auffälligerweise wird dieser Zustand oft aus dem Traum
heraus hervorgerufen, was im Widerspruch ist mit dem Apollinischen (Traum) bei
Nietzsche. Wagner argumentiert jedoch, dass das Erwachen aus einem solchen Traume
oft mit einem Schrei erfolgt, was der Beweis dafür ist dass die nonverbale Welt des
Traumes nur durch Klang erfasst und als sich als unmittelbar geängstigten Willen
manifestiert.10 Hieraus resultiert letztendlich die wunderliche Kunstgattung der Musik.
Wo die bildenden Künste mittels Illusion und schönem Schein versuchen, die
intellektuelle Auffassung der Ideen ins Visuelle zu übersetzen, bleibt die Musik echt,
ehrlich, direkt und frei von illusorischen Absichten:
Wollen wir nun den Schrei, in allen Abschwächungen seiner Heftigkeit bis zur zartesten Klage
des Verlangens und als das Grundelement jeder menschlichen Kundgebung an das Gehör denken,
und müssen wir finden, dass er die allerunmittelbarste Äusserung des Willens ist, durch welche
er sich am schnellsten und sichersten nach aussen wendet, so dürfen wir uns weniger über dessen
10
Richard Wagner. Beethoven, S. 13
14
unmittelbare Verständlichkeit, als über die Entstehung einer Kunst aus diesem Elemente
verwundern, da andererseits ersichtlich ist, dass sowohl künstlerisches Schaffen als künstlerische
Anschauung nur aus der Abwendung des Bewusstseins von den Erregungen des Willens
hervorgehen kann.
Die wahre Seele der Musik
In der Musik wird also über verschiedene Sinne intensiviert wahrgenommen und die
Ästhetik dieser Kunst unterscheidet sich von der der anderen Gattungen. Unsere Einheit
mit der Natur, schreibt Wagner, erkennen und fühlen wir ausschliesslich in der Welt des
Klanges.11 Jedoch wird die Musik oft abgeschwächt in ihrer Aussagekraft, dadurch dass
sie sich der Formen anderer Disziplinen bedient. Zum Beispiel durch das Anbringen
eines Rhythmus bekommt die Harmonie eine innere Struktur und gleicht sich mehr und
mehr der ordnenden Kraft der Architektur und der Bilderwelt an. Ordnung schafft zwar
eine Übersicht, hat jedoch ebenfalls notgedrungen eine grössere Oberflächlichkeit
zufolge. Wagner bedauert diesen Effekt, tut ihn als unwürdig ab. Gleichzeitig ehrt er
Beethoven als den einzig wahren und würdigen Komponisten der die Musik wieder zu
ihrer ursprünglichen Bedeutung verholfen hat, indem er ihre innere Aussagekraft, ihren
Willen nach aussen brachte und, nach Nietzsche, dem Dionysischen freien Lauf
gewährte. Auch den Komponisten Palestrina lobt Wagner, und schreibt seiner Musik die
folgenden Qualitäten jenseits von Raum und Zeit zu:
Hier ist der Rhythmus nur erst noch durch den Wechsel der harmonischen Akkordfolgen
wahrnehmbar, während er ohne diese, als symmetrische Zeitfolge für sich, gar nicht existiert; hier
ist demnach die Zeitfolge noch so unmittelbar an das an sich raum- und zeitlose Wesen der
Harmonie gebunden, dass die Hilfe der Gesetze der Zeit für das Verständnis einer solchen Musik
noch gar nicht zu verwenden ist. Die einzige Zeitfolge in einem solchen Tonstücke äussert sich
fast nur in den zartesten Veränderungen einer Grundfarbe, welche die mannigfaltigen
Übergänge im Festhalten ihrer weitesten Verwandtschaft und vorführt, ohne dass wir eine
Zeichnung von Linien in diesem Wechsel wahrnehmen können. Da nun diese Farbe selbst aber
nicht imraume erscheint, so erhalten wir ein fast ebenso zeit- als raumloses Bild , eine durchaus
geistige Offenbarung, von welcher wir daher mit so unsäglicher Rührung ergriffen werden, weil
11
Richard Wagner. Beethoven, S. 15
15
sie und zugleich deutlicher als alles andere das innerste Wesen der Religion, frei von jeder
dogmatischen Begriffsfiktion, zum Bewusstsein bringt.12
Sehr deutlich wird auch hier wieder das Innere und das Äussere erörtert, das
Unerfassbare wird zugänglich gemacht, dadurch dass es nicht durch eine zu erfassende
Form in seiner Aussagekraft begrenzt und verstört wird. Dies gilt sowohl für die Musik,
wie auch für den Glauben, für die tiefer liegende Metaphysik, die erst ihren vollen Wert
erhält, wenn sie, befreit von jeglichen Dogmas in ihrer Ganzheit erfasst und entwickelt
werden kann. Aus diesem Grunde bezeichnet Wagner diesen Gegensatz mit den
Begriffen secular und spiritual 13. Das gegensätzliche Begriffenpaar, bei dem sich secular
auf die konventionelle, gefestigte Art des Glaubens und des Musizierens bezieht und
spiritual die freiere, individuelle Art zu denken bezeichnet, hat meiner Meinung nach
Parallelen mit der negativen Theologie des mittelalterlichen Meister Eckhards. Bei
Eckhard werden dogmatische Schichten die am gefestigten Glauben haften entfernt, bis
ein ehrlicher, echter Kern ersichtlich ist. Gegebenenfalls könnte man womöglich mit
einer Bezeichnung aus der Philosophie Derridas von einer Destruktion der Bibel
sprechen; nur über sie führt der Weg zu echter Religiosität.
Im Falle der Musik sind die Dogmata herkömmliche Strukturen in der Harmonie und
der Rhythmik. Im Laufe der Zeit wurden dies formellen Aspekte beispielweise unter
Bach und Händel immer wichtiger. Sie wurden sogar so sehr in den Vordergrund
gerückt, dass man im Sinne Wagners vielleicht sogar behaupten könnte, dass die Form
den Inhalt verdrängte. Festigkeit, „dogmatische“ Strukturiertheit manifestiert sich mit
einer Beharrlichkeit, die der Musik ihre universelle Aussagekraft und Dynamik raubt.
Einen Wechsel in diesem musikalischen Formalismus glaubt Wagner also bei Beethoven,
dem Begründer der „echten Musik“, festzustellen. Wie aus obigem Zitat über Palestrina
herauszulesen ist, ist der Rhythmus nicht mehr so vorhersagbar wie zu Zeiten Mozarts,
sonder beschränkt sich lediglich auf Farbtonwechsel und Harmoniefolgen, welche den
Zuhörer in eine Art Schwebezustand versetzen. Jenseits von Raum und Zeit bezeichnet
Wagner diese neuen musikalischen Eindrücke, und es ist aus diesem Grunde auch nicht
verwunderlich, dass er sie mit Religiosität in Verbindung setzt. Im bereits erwähnten
12
13
Richard Wagner. Beethoven, S.27
Richard Wagner. Beethoven, S.23
16
(Un)forgetfulness weist Kiene Brillenburg darauf hin, dass der Behauptung Wagner
bezüglich der Abwesenheit einer Rhythmik bei der sogenannt sublimen Musik des
achzehnten Jahrhunderts eine gewisse Naivität zugrunde liegt. Auch wenn die
Harmonie jetzt die ordnende Instanz ist und nicht mehr der Rhythmus, geht das
architektonisch – ordnende Element keinesfalls verloren. Prioritäten verschieben sich
und die rhythmische Ordnung kommt auf anderem als auf dem herkömmlichen Wege
zu stande:
“Within the dominant structure of tonality and sonata form, harmony is the formative principle,
making for a movement of tension and resolution, whereby rhythmic symmetry is made
dependent on the oscillation of consonance and dissonance.“14
Wir müssen die Beethovenschrift allerdings auch im Rahmen ihrer Zeit betrachten.
Selbstverständlich sind rhythmische Strukturen oder Strukturen allgemein im Vergleich
zu Musik der Klassik oder des Barocks nur bedingt vorhanden. Erweitern wir aber den
Zeitraum und ziehen wir auch die Moderne und Postmoderne in Betracht, so müssen
wir erkennen, dass die Musik Beethovens und gar Wagner im Vergleich zu einem
Benjamin Britten oder John Cage gar nicht abgehoben oder unstrukturiert erscheint. Es
also eine Frage der Gewöhnung des Ohres, und die Aussagen Wagners beschränken
sich auf den Vergleich mit der reinen Formmusik der von ihm so verhassten, oft
italienischen Vorgänger wie Rossini, aber auch Mozart oder Händel.
Wie ist es nun aber möglich, mittels einer Kunst, die so universell ist, dass sie jeden
Menschen, unabhängig von seiner kulturellen Herkunft, erreichen und berühren kann,
trotzdem an das Nationalgefühl zu appellieren? Schon im ersten Paragraphen stellt sich
Wagner diese Frage. Der Musiker kann sich nicht, wie der Dichter, einer nationalen
Sprache bedienen oder wie der Maler regional bedingte Abbildungen anfertigen,
sondern er bedient sich ausschliesslich aus dem allgemeingültigen Reich der Klänge.
Wagner rühmt Beethoven als Komponisten des Deutschen Volkes, da er sich mit seiner
nach innen gekehrten Haltung auf Ehrlichkeit und Reinheit ausrichtet. Obwohl er zwar
seines Berufes bedarf, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ist er nicht darauf
14
Brillenburg, Kiene. The Musically Sublime, S.131
17
ausgerichtet, sich mit materiellen Gütern zu bereichern. Sein kostbarster Besitz ist die
Freiheit seines Geistes und er lässt sich nicht dazu verführen, mit schnellen,
oberflächlichen, formbedingten Kompositionen Geld zu machen, richtet sich nicht nach
aussen, sondern nach innen. Neben dieser nach innen gerichteten Haltung nimmt
zudem Beethovens Seh- und Hörvermögen ab, was ihn sich noch mehr von der
Aussenwelt lösen lässt. Der Vergleich mit dem blinden Seher Tiresias fällt an, und
Wagner bezeichnet Beethoven als eigentliche Verkörperung, als Menschwerdung der
Schopenhauerschen Welt An-Sich.
Ein gehörloser Musiker! – Ist ein erblindeter Maler zu denken?
Aber den erblindeten Seher kennen wir. Dem Tiresias, dem die Welt der Erscheinung sich
verschlossen und der dafür nun mit dem inneren Auge den Grund aller Erscheinungen gewahrt
– ihm gleicht jetzt der ertäubte Musiker, der ungestört vom Geräusche des Lebens nun einzig
noch den Harmonien seines Inneren lauscht, aus seiner Tiefe nur einzig noch zu jener Welt
spricht, die ihm – nichts mehr zu sagen hat. So ist der Genius von jedem Ausser-sich befreit,
ganz bei sich und in sich. Wer Beethoven damals mit dem Blicke des Tiresias gesehen hätte,
welches Wunder müsste sich dem erschlossen haben : eine unter Menschen wandelnde Welt – das
An-Sich der Welt als wandelnder Mensch!15
Während er die italienischen Opernkomponisten des vorigen Jahrhunderts Sklaven der
Mode nennt, rühmt und ehrt Wagner Beethoven stattdessen wie einen Gott. Mit seinem
klaren (erleuchteten) Auge ist Beethoven imstande, seine eigene Aufrichtigkeit in der
Form von Musik nach aussen hin auf die Welt der Erscheinung zu projizieren, die ihm
dann in neuer, reiner Gestalt widerspiegelt wird. Der Zuhörer wird in einen
paradiesähnlichen Zustand versetzt, indem es ihm vorkommt, von jeglicher irdischer
Schuld befreit zu werden. Wagner führt das von ihm so oft benutzte Wortpaar des
Sublimen und des Schönen ein und bevorzugt deutlich den erstgenannten Begriff wenn
er schreibt:
Hier ist einzig der ästhetische Begriff des Erhabenen anzuwenden : denn eben die Wirkung des
Heiteren geht hier sofort über alle Befriedigung durch das Schöne weit hinaus 16
15
16
Richard Wagner. Beethoven, S.43
Richard Wagner. Beethoven, S.45
18
Mit dem gegensätzlichen Wortpaar des Erhabenen und des Schönen befasst sich folglich
auch der Philosoph Friedrich Nietzsche. Wie er zusammen mit seinem Zeitgenossen
Richard Wagner eine umfassende Kunsttheorie aufstellt und entwickelt und welche
Folgen dies für ihre Freundschaft hatte ist im folgenden Kapitel zu lesen.
Vorbild, Freund, Feind: Nietzsche und Wagner
Die ausserordentliche Begabung und die Intelligenz Friedrich Nietzsches wurden
innerhalb seiner Familie und vom akademischen Kreis in dem er sich bewegte, schon
sehr frühzeitig festgestellt. An der Universität in Bonn fing Nietzsche im Jahre 1864 ein
Studium der klassischen Philologie. Als sein Lehrer Friedrich Ritschl allerdings nach
Leipzig ging, folgte ihm sein bester Schüler bald darauf. Nietzsche bekam in jungen
Jahren bereits eine Stelle im Rheinischen Museum für Philologie, und Ritschl publizierte
frühe Schriften seines Schülers in einer von ihm geleiteten Zeitschrift.
Aus dem obligatorischen Militär wurde Nietzsche wegen eines Unfalls entlassen,
wodurch schon im Jahre 1868 mit der Universität verhandelt werden konnte über eine
Stelle für den jungen Philologen. Obwohl es sehr schwierig war, sich einen Lehrestuhl
an einer Universität zu ergattern hielt der 24-jährige im Jahre 1869 seine ersten
Vorlesungen in Basel. Dafür hatte er weder einem Habilitationsverfahren noch einem
Promotionsverfahren stellen müssen, und auch die Abfassung einer Dissertation war
ihm erlassen worden. Die Tatsache, dass Nietzsche erst mit 20 sein Abitur gemacht
hatte, aber sich schon mit 24 Jahren Universitätsprofessor nennen konnte, nannte man
ein einmaliges Datum der deutschen Gelehrtengeschichte.17
Privat spielte Nietzsche sehr gerne Klavier und als ihm die Musiknoten von Tristan in
die Hände gerieten, machte ihn dies auf der Stelle zu einem grossen Verehrer Richard
Wagners. In einem Brief schreibt er:
„Ich bringe es nicht übers Herz, mich dieser Musik gegenüber kritisch kühl zu verhalten; jede
Faser, jeder Nerv zuckt an mir, und ich habe lange nicht ein solches andauerndes Gefühl der
Entrücktheit gehabt als bei letztgenannter Ouvertüre.“18
17
18
Vogel, Martin. Nietzsche und Wagner, S.13
Vogel, Martin. Nietzsche und Wagner, S.18
19
Bald darauf standen sich die beiden Männer an einer Aufführung der Meistersinger in
Leipzig persönlich gegenüber. Nietzsche, der sich vorgenommen hat, sich mehr den
zwischenmenschlichen Kontakten zu widmen, trifft sich mit seinem Vorbild Wagner
schon bald darauf zu tiefen und langen Gesprächen über Schopenhauer und dessen
Philosophie. Zehn Tage nachdem Wagner mit der Verarbeitung der Schopenhauerschen
Musikauffassung in seiner Beethovenschrift begonnen hatte, fing auch Nietzsche an zu
schreiben und verfasste seine Dionysische Weltanschauung. Wagner diente ihm als
Schrittmacher. Nietzsche fasste sein Verhältnis zu Wagner als einen geistigen
Wettkampf auf. 19 In diesem intellektuellen Konkurrenzkampf war eine Unterordnung
Nietzsches wegen dem grossen Altersunterschied zwischen den beiden Männern schon
zu Beginn der Freundschaft recht klar. Obwohl er mit seiner Geburt der Tragödie Wagner
aus dem Herze sprach, und dieser auch vorerst nichts anderes im Sinne hatte, als dem
jungen Freund Mut zu machen und ihn zu unterstützen, wurden von verschiedenen
Seiten her kritische Stimmen laut. Schon vor dem Bruch der beiden stand Cosima
Wagner nicht immer eindeutig hinter Nietzsche und macht ihren Mann und andere auf
Nietzsches leichte Beeinflussbarkeit hin. Nach dem Bruch war Boshaftigkeit
vorprogrammiert, und Cosima schreibt an einen Freund: Ich glaube, man könnte bei jedem
Ausspruch von Nietzsche einen Nachweis liefern, woher er ihn hat.20 Auch Wagner begann
den ehemaligen Freund in seiner Abhängigkeit zu sehen, aber Nietzsches Schwester,
Elisabeth Förster, nahm den Kampf des Bruders in die eigene Hand und rüstete sich mit
gleich aggressiven Argumenten wie die Frau an der anderen Seite der WagnerNietzsche Front. Die Schwester behauptet, dass es eben Wagner gewesen sei, der sich
bei Nietzsche Anregungen geholt habe, und dass er ohne ihn niemals die Umsetzung
des Dionysischen und Apollinischen Problems in ein Kunstprinzip hätte ausführen
können. Sie beteuert sogar, Wagner habe vor der Bekanntschaft mit Nietzsche noch gar
nichts mit dem „ungeheuren Gegensatz“ zu tun gehabt, und er habe sich diesen
fälschlicherweise angeeignet:
Wagner hatte die Begriffe „dionysisch“ und „apollinisch“ von meinem Bruder übernommen,
woran er selbst nicht gedacht hatte; er nahm leicht fremde Gedanken an.21
19
Vogel, Martin. Nietzsche und Wagner, S. 61
R. Graf du Moulin Echkart. Cosima Wagner, zitiert von Vogel, Martin : Nietsche und Wagner, S. 65
21
Vogel, Martin. Nietzsche und Wagner, S. 63
20
20
Sowie die Schwester den Bruder und dessen mögliches geistiges Eigentum zu schützen
versucht, gibt es von der anderen Seite her arge Vorwürfe. In einem späteren Teil dieser
Arbeit wird die Kritik des Musikwissenschaftlers Martin Vogel an Nietzsches Geburt der
Tragödie aus dem Geiste der Musik behandelt werden. Mit Argumenten und Beispielen ist
Vogel geschickt und überzeugend; ausserdem schreckt er nicht davor zurück, den
bekanntesten und wohl meistgelesenen Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts alt
aussehen zu lassen. Halbwegs des fünften Kapitels, das sich auf biographische Daten
und insbesondere auf die Beziehung zwischen Wagner und Nietzsche konzentriert,
stockt dem Leser der Atem. Einer der Untertitel lautet: Wagners wahrhaft göttlicher
Gedanke. In diesem Absatz ist die Rede von der geistigen Abhängigkeit Friedrich
Nietzsches von Richard Wagner und davon, wie leicht der Erstgenannte zu beeinflussen
gewesen sei. Obwohl sich das Gedankengut bezüglich des ungeheuren Gegensatzes aus
gemeinsamen Gesprächen und dem regen Briefwechsel ergeben haben muss, unterlässt
es Wagner nicht, sich auch in intellektueller Hinsicht seinem um viele Jahre jüngeren
Freund überzuordnen. Innerhalb seines Familienkreises beansprucht er den
Hauptgedanken der Geburt der Tragödie für sich und behauptet: „Hat ihn mein Einfluss
hierbei geleitet, so kann niemand besser als ich beurteilen, wie tief innerlich mein Gedanke das
Eigentum dieses wissenschaftlich, mit allem dem, was ich in mir ungepflegt lassen musste, so
ernsthaft und tüchtig ausgerüsteten Mannes geworden ist.“22 Anderenorts drückt er sich
noch kräftiger aus indem er sagt, der Mann (Nietzsche) habe keinen einzigen Tropfen
eigenen Blutes gehabt und die Ideen habe man ihm alle einflössen müssen. Vogels
Kommentar dazu lautet: Nach diesen Worten ist Wagners wahrhaft göttlicher Gedanke
Nietzsches Eigentum geworden, nicht aber gewesen.23
22
Wagner an seinen Neffen Clemens Brockhaus, 18. 1. 1872; Die Briefe Cosima Wagners an Friedrich
Nietzsche, zitiert von: Vogel, Martin, Apollinisch und Dionysisch. Geschichte eines genialen Irrtums, S.118
23
Vogel, Martin, Apollinisch und Dionysisch. Geschichte eines genialen Irrtums, S. 118
21
4. DIE KUNSTTRIEBE BEI NIETZSCHE
Im Vorwort an Richard Wagner sagt Nietzsche, seine Gedanken zum Dualismus des
Dionysischen und des Apollinischen seien etwa zur gleichen Zeit entstanden wie
Wagners Festschrift für den Komponisten Beethoven, in der er sich den gleichen Fragen
widmet. Es kann also angenommen werden, dass die Entwicklung des Konzepts der
beiden gegensätzlichen Kunsttriebe ein intellektuelles Gemeingut des Philosophen
Friedrich Nietzsche und des Musikers Richard Wagner gewesen ist. Was war nun aber
das Ziel der Geburt der Tragödie und wie hat Nietzsche die beiden griechischen Götter
aus ihrem Kontext befreit und zu seinen Zwecken eingesetzt? Er spricht davon, dass die
Fortentwicklung der Kunst sich dazu bedingt, sich an der Duplizität des Apollinischen
und des Dionysischen zu orientieren, währenddem die Versöhnung beider nur periodisch24
eintritt. Er geht davon aus, dass sie die bis anhin getrennten Götter in der griechischen
Tragödie zusammentreffen um sich in immer neuen aufeinander folgenden Geburten
gegenseitig zu steigern.25 Wie charakterisiert sich nun aber dieser so genannte ungeheure
Gegensatz, von dem die Namen den Griechen entlehnt wurden? Und wie könnte eine
Versöhnung der beiden Pole in Theorie und Praxis aussehen?
Das Apollinische
Allererst veranschaulicht Nietzsche in seinem Werk die beiden Kunsttriebe durch sie
mit verschiedenen Zuständen des Bewusstseins zu vergleichen. Das Apollinische weist
die folgenden Merkmale auf: Nach Nietzsches Meinung soll Apollon der Gott aller
bildnerischen Kräfte gewesen sein und nennt sich Lichtgott oder der Scheinende. Scheinend
ist er im doppelten Sinne des Begriffes, leuchtend nämlich, jedoch verkörpert er auch
Schein im Sinne des Wortes Betrug. Phoibos Apollon, der Sonnengott, steht zwar für alles
Schöne, aber Nietzsche verwendet ihn ebenfalls als Herrscher des schönen Scheines, des
Traumes und der Phantasiewelten. Einen respektierten Stellenwert erhält Apollon durch
24
25
Nietzsche, Friedrich. Geburt der Tragödie, S. 27
Nietzsche, Friedrich. Geburt der Tragödie, S. 47
22
die Fähigkeit der Wahrsagekunst und der heilenden Wirkung von Schlaf und Traum.
Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang von höherer Wahrheit und vom höchsten
Leben der Traumwirklichkeit.26 Der Gott Apollon deckt sich aber auch mit der Ordnung
und dem rechten Mass, währenddem aber die so genannten wilderen Regungen von
Nietzsche nicht zum Traumbegriff gerechnet werden. In der Psychoanalyse werden
diese Regungen zum Zentrum des Traumes, bei Nietzsche aber läuft eine zarte Linie als
massvolle Begrenzung27 durch die Welt des Traumes.
Wichtig ist hier der Begriff der Kontemplation, im Traume ist der Mensch bloss ein
Zuschauer, gegebenenfalls ein Betrachter seiner selbst. In jedem Fall manifestiert sich
ihm die Welt durch das Medium der Bilder. Aus diesem Grunde werden die bildenden
Künste als apollinische Künste gegenüber der nicht bildlichen Welt der Musik
bezeichnet. Nietzsche dachte sich also den Traum als einen Zustand der Kontemplation; als
wenn sich der Mensch im Traume wie ein Zuschauer verhielte, der in die Betrachtung eines
Schauspiels versunken sei, wie ein Zuschauer, der wunsch- und willenlos dem Glück des
Schauens hingegeben sei.28
Das Dionysische
Der Gott des Rausches unterscheidet sich bei Nietzsche vom Gott des Traumes dadurch,
dass er dazu verführe, sich zu berauschen, um letztendlich die Individualität gegen
völlige Selbstvergessenheit einzutauschen. Nicht nur vom sich Verstehen und vom
Einswerden der Menschen ist hier die Rede, sondern auch die erneute Beziehung zur
Natur ist hier gemeint. Nietzsche erklärt seinem Leser den Gegensatz in Geburt der
Tragödie aus dem Geiste der Musik und umschreibt das Dionysische folgendermassen:
Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat
das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte
emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung. Wie jetzt die Tiere reden, und
26
Vogel, Martin. Nietzsche und Wagner, S.25
Nietzsche, Friedrich. Geburt der Tragödie, S.30
28
Vogel, Martin. Nietzsche und Wagner, S.25, Zitat aus N.v. Bubnoff: Friedrich Nietsches
Kulturphilosophie und Umwertungslehre
27
23
die Erde Milch und Honig gibt, so tönt auch aus ihm etwas Übernatürliches: als Gott fühlt er
sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wandeln sah.
Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt der ganzen
Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern
des Rausches.29
Doch auch eine lange Reihe von Begriffen wie wildeste Bestien der Natur, Wollust,
Grausamkeit, Strudel, barbarisch, orgiastisch und Selbstvergessenheit tauchen im Werk
Nietzsches auf. Diese Begriffe charakterisieren das Dionysische und unterscheiden es
somit klar vom apollinischen Schönheitstrieb und der Urbegierde nach dem Schein.30
Der Gegensatz auf einen Blick
Durch die Jahre hindurch sind verschiedene Tabellen aufgestellt worden, mit
Charakterisierungen der beiden Kunsttriebe. Im Vergleich enthalten die meisten
Tabellen in einer Zeitspanne von 1912 bis 1963 oft ähnliche Beschreibungen. Die
untenstehende Liste soll einen Einblick gewähren in die Arbeit von den unter anderem
im philosophischem Bereich tätigen Herren Prinzhorn31, Hildebrandt (1912), Hübscher
(1922), Sieber (1946) Schröder (1954), Abendroth (1963) und anderen Wissenschaftlern,
von denen weitere Angaben leider fehlen. Entgegen der von mir in der Hypothese
formulierten Behauptung, dass das Dionysische und das Apollinische eine Einheit
bilden, wird hier versucht, sie als klare gegensätzliche Pole darzustellen und ihnen
Stimmungen und Eigenschaften zuzuordnen. Die Auswahl ist gross und die folgende
Auflistung ist nicht mehr als eine Selektion aufgestellten Unterscheidungsmerkmale
nach meinem persönlichen Gutdünken.
Apollinisch
Dionysisch
Aufklärung
Romantik
29
30
31
Nietzsche, Friedrich. Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, S. 32
Nietzsche, Friedrich. Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, S. 43
Keine Angabe Verfassdatum bei Martin Vogel
24
denkend
fühlend
nüchtern
rauschvoll
bestimmt
unbestimmt
hell
dunkel
begrenzt
unendlich
plastisch
musikalisch
koordinierend
subordinierend
Abel
Kain
introvertiert
extravertiert
Bewusstsein
Instinkt
Auffällig ist das von Hocker aufgestellte biblische Gegensatzpaar, bei dem Kain sich mit
dem Dionysischen deckt und Abel mit dem Apollinischen. In meiner für diese Arbeit
verfassten Literaturanalyse von Hesses Demian, in dem die biblische Erzählung eine
grosse Rolle spielt, wird dieser Gegensatz noch mal aufgegriffen und tiefer
ausgearbeitet.
Nietzsches spätere Kritik zum eigenen Werk
Schon in der wenige Seiten umfassenden Selbstkritik die von Nietzsche als Vorwort zu
seiner Geburt der Tragödie gedacht war, finden sich als Vorbereitung auf die
Schilderungen des Dionysischen und des Apollinischen fortwährend Gegensätze.
Nietzsche schreibt wie er selbst sich, zur aufregenden Zeit des Deutsch – Französischen
Krieges in eine Alphütte zum Schreiben zurückgezogen hat. Sehr vergrübelt und
verrätselt, und als bekümmert und zur selben Zeit unbekümmert empfindet er sich.
Dem Leser, der sich auf die Erörterung des Dionysisch- Apollinischen Gegensatzes
eingestellt hat, fällt ein solcher Wortgebrauch sofort auf. Lesen wir weiter, so finden wir
einen erstaunten Kommentar Nietzsches, indem er sich über die Unbeschwertheit und
25
Leichfertigkeit, mit denen er das griechische Problem ist jungen Jahren angegangen ist,
wundert. Auffällig ist, dass er seine dionysische Lehre als eine Gegenlehre zum Leben
beschreibt. Nietzsche gibt also gewissermassen zu, dass seine Theorie, da sie vom
richtigen Leben losgelöst ist, eher fantastisch als realistisch ist. In der Behandlung des
Steppenwolfes von Hermann Hesse im praktischen Teil der Arbeit wird auf diesen Punkt
weiter eingegangen werden.
Gegen die Moral also kehrte sich damals, mit diesem fragwürdigen Buche, mein Instinkt des
Lebens, und erfand sich eine grundsätzliche Gegenlehre und Gegenwertung des Lebens, eine rein
artistische, eine antichristliche. Wie sie nennen? Als Philologe und Mensch der Worte taufte ich
sie, nicht ohne einige Freiheit – denn wer wüsste den rechten Namen des Antichrist? – auf den
Namen des griechischen Gottes: ich hiess sie die dionysische.
In der im Nachhinein verfassten Selbstkritik, die in der Ausgabe von 1886 als Vorwort
zu der im Jahre 1871 verfassten Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik diente,
bestempelt Nietzsche sein eigenes Erstlingswerk als fragwürdig. Die Zweifel an seinem
fünfzehn Jahre zuvor geschriebenen Werk haben mehrere Ursachen. Als ersten Grund
betrauert Nietzsche es, dass er nicht über den Mut oder die Entschlossenheit verfügt
habe, mehr eigene Begriffe in seine Philosophie einzuflechten. Aus Respekt oder Unmut
habe er sich „mühselig“32 mit Schopenhauerschen und Kantischen Formeln
herumgeschlagen, obwohl diese seiner eigenen Auffassung völlig widersprachen. Im
Gegensatz zur lebensbejahenden Philosophie Nietzsches bezogen sich die Gedanken
Schopenhauers zur griechischen Tragödie auf die Resignation. Doch erst fünfzehn Jahre
später wagt es Nietzsche, Folgendes zuzugeben: „O wie anders redete doch Dionysos zu
mir! O wie ferne war mir damals gerade der ganze Resignationismus!“33
Allerdings gibt es noch einen Grund, den Nietzsche angibt für das unbefriedigende
Resultat seiner Geburt der Tragödie. Er bereut es, dass er sich als junger Philosoph in
seinen Vornehmen durch eine Mode-Erscheinung hat täuschen und von seinem
32
33
Nietzsche, Friedrich. Geburt der Tragödie, S. 18
Nietzsche, Friedrich. Geburt der Tragödie, S. 19
26
eigentlichen Ziel hat ablenken lassen. Das grandiose griechische Problem34 habe er sich
durch Einmischung der modernen Dinge verderben lassen. Für Richard Wagner hat er
kein gutes Wort mehr übrig und Nietzsche stellt den ehemaligen Freund als Lügner dar.
Sein starker Glaube an Wagner und dessen Lebenswerk hat sich in Luft aufgelöst und
einem hämischen Spott Platz gemacht. Der folgende Satz fasst seine Gedanken
zusammen:
Dass ich Hoffnungen anknüpfte, wo nichts zu hoffen war, wo alles allzudeutlich auf ein Ende
hinwies.35
Folglich macht Nietzsche eine Unterscheidung, eine deutliche Trennung der beiden
Begriffe berauscht und benebelt. Obwohl es sich in beiden Fällen um eine Art Ekstase
handelt, um ein Aufgeben der Individualität, ist beim Rausch, der ins Reich des Gottes
Dionysos gehört, eine wesentlich positivere Ladung spürbar als beim Konzept des sich
Benebelns. Letzterer Begriff beinhaltet zusätzlich das Aufgeben der eigenen
Verantwortung. Nietzsche wirft Wagner vor, dieser ziele mit seiner Idee vom deutschen
Wesen und von der deutschen Musik auf eine Vermittelmässigung, auf ein Abstumpfen
seiner Zuhörer. Er nennt die Deutschen ein Volk, das den Trunk liebt36, und weist hin auf
die grosse Gefahr, die narkotisierende Wirkung welche die Musik Wagners auf „sein“
Volk ausübt.
Weit entfernt sei dieses Konzept Wagners, das Konzept das Nietzsche auch mal sein
Eigenes nannte, von den Werten der alten Griechen. So weit entfernt sogar, dass sie von
ihm als romantisch und zur gleichen Zeit als die ungriechischste aller Kunstformen37
abgetan wird.
34
Nietzsche, Friedrich. Geburt der Tragödie, S. 19
Nietzsche, Friedrich: Geburt der Tragödie, S. 19
36
Nietzsche, Friedrich: Geburt der Tragödie, S. 20
37
Nietzsche, Friedrich: Geburt der Tragödie, S. 20
35
27
5. DER GENIALE IRRTUM
Der deutsche Schriftsteller, Musikwissenschaftler und Nietzsche-Kritiker Martin Vogel
widerlegt in seinem Buch Apollinisch-dionysisch: Geschichte eines genialen Irrtums die
Befindungen Nietzsches zu dessen Ungeheurem Gegensatz, indem er den griechischen
Mythen auf den Grund geht. Dem Hauptteil der Untersuchung liegt die Frage
zugrunde, wie es dazu kommen konnte, dass der Altphilologe Friedrich Nietzsche einen
Gegensatz aufstellen wollte den es, so Vogel, im Altertum gar nicht gab. Dafür bedient
er sich biographischer Daten und demonstriert er anhand von zahlreichen Beispielen,
dass Nietzsche zu gewagt vorgegangen sei bei der Schöpfung seiner zwei
Kunstgottheiten. Nietzsche habe sich seiner Meinung nach und seinen gründlichen
Untersuchungen zufolge nicht genug in die Materie eingearbeitet. Hätte er dies nämlich
getan, so wäre er von alleine auf die Nichtexistenz eines solchen Gegensatzes
gekommen und hätte sich nicht dazu verführen lassen, diese zu einer derart
umfassenden Kunsttheorie auszuarbeiten.
Obwohl es nicht im geringsten meine Absicht ist, in der vorliegenden Arbeit die
Schriften und Thesen Nietzsches zu widerlegen, möchte ich hier doch Martin Vogel
miteinbeziehen, da seine Beispiele die Zusammengehörigkeit und Unzertrennlichkeit
des Apollons und des Dionysos demonstrieren. In vielen Fällen beschäftigt sich Vogel
beispielsweise mit Fähigkeiten, die er beim Apollon vorfindet, die aber bei Nietzsche
dem Typus des Dionysischen zugeschrieben werden würden, oder umgekehrt. Eben
genanntes unterstützt meine Hypothese und dient als Inspiration für die im
übernächsten Kapitel folgenden Literaturanalyse.
Im Kapitel Apollon und Dionysos befasst sich Vogel zuallererst mit dem Phänomen des
rechten Masses und dem der Musik. Schon 1953 lautet der Kommentar des NietzscheKritikers Kerényi in seinen Studien über antike Religion und Humanität, Apollon sei nicht
nur der Gott des Traumes, sondern sei, wie ihn Nietzsche geschaffen und verwendet
hat, selbst zu einem Traumbild geworden. Mit der antiken Wirklichkeit habe er nichts
mehr zu tun.38 Bekanntlich wird auch das rechte Mass dem Apollon zugeschrieben, die
38
Kerényi, K. Studien über antike Religion und Humanität, Düsseldorf 1953, S. 40 zitiert von Vogel,
Martin, Apollinisch und Dionysisch, Geschichte eines genialen Irrtums, S.37
28
Musik hingegen ist das „Metier“ des Dionysos. Nur die Musik vermag es nämlich – wie
es auch Schopenhauer in seinem Konzept des Willens ausdrückte - direkt aus der Seele
zu sprechen, ohne sich eines formellen Zwischenschrittes zu bedienen. Die Musik
ihrerseits entspringt jedoch einem strikten Mass, einer absoluten Ordnung: dem
geometrisch-harmonikalen Strahlensatz. Im Altertum verwendete man diese
mathematischen Gesetzmässigkeiten um anhand des Lichtes der Sonne die Zeit zu
bestimmen. Jedoch wurden sie auch zum Bau und zum Stimmen von
Musikinstrumenten eingesetzt. Zur Sonnenuhr, die im Altertum Gnomon genannt
wurde, konkludiert Martin Vogel: Am Gnomon liessen sich also in gleicher Weise optische
und harmonikale Gesetzmässigkeiten demonstrieren. Schon hieraus erklärt sich, dass der
Lichtgott Apollon zugleich auch Schirmherr der Musik war. Die antike Mousikê war allerdings
wesentlich weiter gefasst als das, was man heute unter Musik versteht. Zur Mousikê rechnete
alles, was nach Mass und Zahl eingerichtet war. „Mousikê“ hiess die Lehre von den Relationen
und den Proportionen. Zusammen mit Arithmetik, Geometrie und Astronomie bildete sie das so
genannte „Quadrivium“. 39
Apollon repräsentierte in der Antike weitaus mehr, als Nietzsche in seiner Geburt der
Tragödie mit ihm als Gott der Bilder und des Traumes ausdrücken möchte und Vogel
meint, die antiken Götterkulte seien so differenziert gewesen, dass die Götter nicht
jeweils auf einen Hauptnenner beschränkt werden dürfen. Ursprünglich wurde der Gott
Apollon, der schon durch das Spannen und Entspannen seines Bogens mit dem
musikalischen Tone in Kontakt kam, folgendermassen beschrieben:
Apollon hält mit den Klängen seiner Lyra das Weltall in harmonischer Bewegung; und das
Plektron, mit dem er die Saiten schlägt, ist das Licht der Sonne.40
In den obigen Zitaten ist überdeutlich die Rede von apollinischen sowie von
dionysischen Qualitäten wie sie Nietzsche festgelegt hat. Die Wörter Klängen und
Bewegung sind bacchische Elemente, harmonisch und Licht der Sonne gehören zum Bereich
des Apollon. Die übrigen Worte lassen sich hingegen beiden Kategorien zuteilen. Das
Weltall ist als das Entstehen von Klang (dionysisch) aus der Anordnung (apollinisch) der
Planeten zu verstehen. Das Plektron bringt Musik hervor, aber nur durch das
regelmässige, ordnungsgemässe anschlagen der Saiten, die wiederum in harmonischem
39
40
Vogel, Martin. Apollinisch und Dionysisch. Geschichte eines genialen Irrtums, S. 39
Vogel, Martin. Apollinisch und Dionysisch. Geschichte eines genialen Irrtums, S. 39
29
Verhältnis zueinander gestimmt werden müssen. In diesem Beispiel Vogels liegt der
Ursprung des Dionysischen in der apollinischen Gesetzmässigkeit beschlossen.
Wenn wir uns nun mit der lichtbringenden Qualität Apollos befassen, so lesen wir bei
Vogel ebenfalls, dass viele Quellen vom Gegenteil berichten. Wir kennen ihn, Apollon,
als Gott der Erkenntnis, als Gott des rechten Masses, als Musenführer und Lichtbringer,
aber Apollon, dessen Beinamen „Deiradiotes“ und „Tortor“ lauten, werden auch
dunklere Seiten zugeschrieben. In der Illias erscheint er als ein düsterer Rachegott, der
Tod und Verderben mit sich bringt. Aber auch auf anderen Ebenen verschwimmt die so
klare Grenzlinie, die Nietzsche zwischen den beiden Gotteinheiten aufgespannt hat. So
wird der Efeu als Pflanze des Dionysos bezeichnet, der Lorbeer gilt als Gewächs des
Apollon. Von beiden Pflanzen werden in der antiken Überlieferung berichtet, sie
verfügten über die Möglichkeit, einen durch das Kauen der Blätter in einen Zustand der
Trance zu versetzen.41 Die Eigenschaften werden im Altertum nicht immer konsequent
zugeordnet; Apollon wird zeitweilen mit dem Ekstase verschaffenden Efeu abgebildet,
und von Homer sowie von Euripides wird ein Zusammenhang zwischen Dionysos und
der Lorbeerpflanze hergestellt.42 In der Odyssee ist zudem die Rede von einem
erlesenen, berauschenden Wein. Die Trauben für diesen so selig machenden Trunk
stammen aus Ismaros, einem Weinort in Griechenland, der jedoch Apollon gehört. 43
Wiederum finden wir Apollon an einem Ort, wo wir nach Nietzsches These eigentlich Dionysos
zu erwarten hätten. Wer sich auf Nietzsches philologisches Gespür verliesse, wäre fast immer
genarrt. Nietzsches „ungeheurer Gegensatz“ ist das Schulbeispiel einer schlecht fundierten und
nicht weiter überprüften Hypothese, die an Ort und Stelle ständig versagt.44
Mit dieser Aussprache auf Seite 62 konkludiert Vogel ziemlich direkt und nahezu
aggressiv, dass die genannten Beispiele an der Glaubwürdigkeit Nietzsches rütteln.
Seine Theorie des Apollinischen und des Dionysischen ist, so Vogel, so gut wie nichtig
erklärt.
41
Vogel, Martin. Apollinisch und Dionysisch. Geschichte eines genialen Irrtums, S. 59
Roscher, W.H. in: Berliner philologische Wochenschrift 40, 1920, zitiert von: Vogel, Martin:
Apollinisch und Dionysisch. Geschichte eines genialen Irrtums, S. 39
43
Schrade, H. Götter und Menschen Homers, S. 112 zitiert von: Vogel, Martin: Apollinisch und
Dionysisch. Geschichte eines genialen Irrtums, S. 62,
44
Vogel, Martin. Apollinisch und Dionysisch. Geschichte eines genialen Irrtums, S. 62
42
30
6. LITERARISCHE VERARBEITUNG
Im folgenden Kapitel ist die Rede von der literarischen Erscheinungsform des vom
Philosophen Nietzsche und des Musikers Wagner aufgestellten Gegensatzes.
Komponisten sowie Denker haben sich von den beiden Genies des neunzehnten
Jahrhunderts inspirieren lassen, aber auch in der Literatur ist das Erbe deutlich spürbar.
Viele Schriftsteller können sich dem erheblichen Einfluss Nietzsches nicht entziehen,
und wo Nietzsche wirkt, ist auch Wagner nicht weit zu suchen. So finden sich zum
Beispiel im zusammengestellten Briefwechsel zwischen den beiden Autoren Hermann
Hesse und Thomas Mann verschiedene Aussagen, aus denen man tiefen Respekt und
Bewunderung für Nietzsche und Wagner herauslesen kann. Vor allem Thomas Mann
spricht sich darüber aus, sich wohl nie ganz von Nietzsche lösen zu können. In vielen
Reden und Essays bekennt er sich zum Nietzsche-Bewunderer und beschwört, „dass an
Nietzsche keiner vorbei könne.“45
„Nietzsche nennt er eine der wichtigsten Gestalten des neunzehnten Jahrhunderts, welches er
später in seiner Rede über Richard Wagner als „gross und leidend“ charakterisiert. In Nietzsche
kulminiert die Selbstverneinung des Geistens zugunsten des Lebens“, die erotisch berauschte
Unterwerfung des Geistes unter die Macht“. 46 Trotzdem behauptet Meindert Evers in
seinem Essay zu Thomas Mann & Nietzsche, dass Thomas Mann nicht ohne weiteres als
purer Nietzscheaner einzustufen ist. Es sei nicht bloss die Rede von einem „hysterischen
Macht-, Schönheits- und Lebenskult, sowie er bei vielen anderen Schriftstellern, die sich
mit dem Gedankengut Nietzsches verbrüdern, zu finden ist. Nach Evers verneint
Thomas Mann zwar auch den Geist zugunsten des Lebens, jedoch nicht ohne Ironie und
Selbstreflektion. Die Einordnung Manns sei detaillierter, was natürlich einleuchtet.
45
Evers, Meindert. Thomas Mann &Nietzsche in Zur Wirkung Nietzsches, Centrum voor DuitslandStudies Katholieke Universiteit Nijmegen, Künigshausen und Neumann GmbH, Würzburg, 2001
46
Evers, Meindert. Thomas Mann &Nietzsche in Zur Wirkung Nietzsches
31
Nietzsche in Der Tod in Venedig
Es sind viele Studien gemacht worden zum Erbe Nietzsches bei Thomas Mann. Thomas
Kluggeist hat sich zum Beispiel in seiner über sechshundert Seiten zählenden
Sehnsuchtskosmogenie mit der Nietzsche und Wagner-Rezeption in Thomas Manns Doktor
Faustus auseinandergesetzt. Eine weitere Thomas Mann-Studie stammt von Erkme
Joseph und trägt den Namen Nietzsche im Zauberberg.
Bei der Lektüre von Tod in Venedig scheint die Auseinandersetzung Manns mit der
Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik stattzufinden. In seinem Werke ist die Rede
von einem älteren Mann der, nachdem er sein ganzes Leben pflichtgetreu und
ordnungsgemäss gelebt und gearbeitet hat, sich bewusst oder unbewusst dafür
entscheidet aus der herkömmlichen Struktur auszubrechen. Seine Reise nach Venedig
symbolisiert ein sich Ausliefern an eine höhere Macht, das Wasser das während des
ganzen Buches ein wichtiges Motiv darstellt, ist Zeichen für diese dionysische
Unbestimmtheit und Tiefe. Die Reise fängt schon damit an, dass sich die Hauptperson
Aschenbach in fremde Hände begibt, die ihn per Schiff an sein Ziel bringen sollen. Er
traut ihnen nicht, hätte selbst eigentlich anders gedacht und gehandelt. Jedoch ist hier
die Rede von einem Übergang von einer gewohnten apollinischen Ordnung in eine
neue, wenn auch kurze, dionysische Lebensphase. Der Höhepunkt des Romans ist sehr
verblüffend und rührend. Aschenbach hat die rationelle Welt hinter sich gelassen und
geht am Ferienort ganz seinen Gefühlen und Trieben nach. Er verliebt sich in den
jungen, wunderschönen exotischen Burschen Tadzio, wessen Name ihm wie Musik in
den Ohren klingt. Diesen Vergleich macht auch Erkme Joseph in seiner Studie am
Zauberberg. Er hat einen Satz, der von Mann in den Nietzsche Schriften angestrichen
wurde, herausgehoben und kommentiert ihn im Zusammenhang mit der Romanfigur
Castorp aus dem Zauberberg:
So ist denn dies Zeitalter von Rausch-Mitteln am erfinderischsten. Wir kennen alle den Rausch,
als Musik. (Nietzsche, von Mann unterstrichen)
Kommentar Erkme Josephs: Hans Castorp vertauscht im Abschnitt Fülle des Wohllauts
Schläfrigkeit mit traumhafter Betäubung durch Musik. Die Hände gefaltet, den Kopf auf der
32
Schulter, den Mund geöffnet, liess er sich von Wohllaut überströmen. Oder er erlebt sich
träumend als Faun auf der Sommerwiese.47
Wie im Tod in Venedig ist auch im Zauberberg der griechische Gegensatz eingearbeitet.
Der Faun auf der Sommerwiese scheint Ausdruck eines Zustandes zu sein, bei dem die
Hauptperson sich nicht mehr als eindeutig definierte, beobachtende Instanz
wahrnimmt, sondern als Objekt inmitten des geschehens, als Teil eines funktionierenden
Ganzen. Joseph schreibt dazu: Der Grund aber ist das dionysische Chaos, das damit
entbunden und aus der Kontrolle entlassen wird, damit es schliesslich die losgelöste Idealität als
Wirklichkeit einholt und überwältigt. Aus der Zucht der apollinischen Form entlassen, von
Zucht und Haltung erlöst, und von der sittlichen Welt isoliert, entartet der dionysische Grund
zur Barbarei und verselbständigt sich.48
Aus diesem Zitat spricht eine Bejahung des Ausbrechens aus der Struktur, aber
gleichzeitig wird eine gewisse Vorsicht bezüglich des Dionysischen signalisiert. Man
wird durch die Kraft des Dionysischen zwar aus der zucht befreit, Worte wie entarten,
verselbständigen und Barbarei weisen jedoch hin auf die Zügellosigkeit und die
Unberechenbarkeit dieses Kunsttriebes.
Unberechenbar ist auch das Wasser in dem man versinken kann, darf und soll. Dieses
Motiv wird im Tod in Venedig eingesetzt und die stets wiederholten Einflechtungen der
Musik und der Klänge in die Umgebung beruhen im Tod in Venedig auf die
verschiedenen dionysischen Konzepte der Vorgänger Manns. Das Wasser ist ja, wenn
auch nicht immer positiv, bei Nietzsche ein Begriff wenn er einen dionysischen Zustand
beschreibt. Im dionysischen Zustand läuft man nicht, man tanzt, man schwimmt. Und
im Bezug auf Wagner eben leider bis hin zum Ertrinken. Das Motiv der Musik ist
offensichtlich und braucht nicht ausgiebig erklärt zu werden. Es findet seinen Ursprung
schon bei Schopenhauer, der diese Kunstform als diejenige beschreibt, die direkt aus der
Seele zu sprechen vermag, direkter Bote aus der Welt an Sich. Thomas Mann greift
dieses Konzept, das er sich über Wagner angeeignet hat auf. Meiner Meinung nach ist
Tod in Venedig ein deutliches Plädoyer für das Leben, erleben und ausleben der
Dionysischen Triebe.
47
48
Joseph, Erkme. Nietzsche im Zauberberg, S. 276
Joseph, Erkme. Nietzsche im Zauberberg, S. 281
33
Hermann Hesse
Hermann Hesse, Manns Zeitgenosse und Freund hat sich auch ausgiebigen NietzscheStudien gewidmet und dieser in seiner Literatur verarbeitet. Jedoch nicht ohne eine
Verbindung herzustellen zum Erbe seiner eher problematischen Jugend und dem
eindrücklichen Aufenthalt in Indien, wo er sich mit östlichen Weisheiten hat bereichern
lassen. Nach einer kurzen Lebensbeschreibung des süddeutschen Autors möchte ich in
den nächsten Kapiteln übergehen zum Hauptinteresse der vorliegenden Arbeit. Ich habe
mich der Lektüre zweierlei Bücher von Hesse gewidmet und möchte diese im Lichte des
Nietzscheschen Erbes besprechen. Bei Hesse handelt es sich meiner Meinung nach
anders als bei Wagner nicht um das alleinige Streben zum Dionysischen hin, sondern ist
die Paarung beider Kunsttriebe der Idealfall und Ziel des menschlichen Lebens. Ob sich
allerdings zwischen Demian und dem Steppenwolf Unterschiede bezüglich der
Nietzsche- und Wagner Rezeption bemerkbar machen, soll sich nach der in diesem
Kapitel durchgeführten Analyse herausstellen. Vorerst gehe ich von der Hypothese aus,
dass sich die Kunsttriebe gegenseitig bedingen, und dass nicht, so wie es Wagners
Wunsch war, ein Trieb dem anderen vorgezogen werden kann. Diese Annahme werde
ich, nach einer biographischen Einführung, anhand von Argumenten und
überzeugenden Literaturbeispielen zu unterstützen versuchen.
34
Ein Leben in Rausch und Askese
Dionysischer Opiumrausch
Apollinische Kontemplation
Hesse schaut mit berauschtem Blick zu tief ins Glas. Hesse beim Nacktklettern. Hesse
beraucht und benebelt. Hesse in Indischen Kleidern. In allen Werken von Herman Hesse
ist von einem deutlichen Dualismus die Rede. Narziss und Goldmund bilden ein
gegensätzliches Paar, Siddharta und Govinda ergänzen sich und Demian hat dasjenige,
was Sinclair sich wünscht. Diese Aufspaltung der Persönlichkeit in zwei oder mehrere
sich ergänzende Teilbereiche ist auch beim Lesen der Hesse-Biographie deutlich
spürbar. Es ist die Rede von einem ständigen Wechsel zwischen einem Leben in Rausch
und Vergessenheit einerseits, und einer unermüdlichen Selbstbeherrschung und
Strukturierung andererseits. Was man durchaus bei den gegensätzlichen Begriffen
apollinisch beziehungsweise dionysisch unterbringen könnte, ergibt sich schon in den
jüngsten Jahren unseres süddeutschen Autoren.
Ähnlich wie bei vielen seiner Romanfiguren beginnt auch Hermann Hesses Leben in
einem Elternhaus in dem Schutz und Ordnung, Ehrlichkeit und Zurückhaltung
herrschen. Wie Sinclair hat auch Hesse mehrere Schwestern und ist er derjenige zuhause
der sich auflehnt, der dem Vater süsse Feigen stiehlt, dem letztendlich nichts anderes
übrig bleibt als ein Wohnortwechsel, und zwar ins Internat. Hesses Eltern sind beide
35
Missionare, zuhause sind die ewig wiederkehrenden Themen Glaube, Liebe und
Hoffnung. Schon beim Frühstück lesen die Eltern im Alten Testament und beten. Dem
Jungen fällt es vor allem in der Pubertät schwer, seinem individuellen Erleben einen
Platz zu geben. Gefühle des Widerstands gegen die elterliche Frömmigkeit und tiefe
Schamhaftigkeit wechseln sich ab.
„Gott? Wer war denn das? War denn nicht Gott ein Scheusal, ein Wahnsinniger, ein dummer,
widerlicher Hanswurst? Ach, was für qualvolle Zeiten waren das. Und immer Angst gehabt,
immer Angst vor Strafe und Angst vor den eigenen Gedanken, die er als verboten und
verbrecherisch empfand.“ 49
Als Kind liebt er die Märchen, die im Kinderzimmer erzählt werden. Er wird ganz still
und liebevoll schmiegt er sich an seine Mutter. In anderen Momenten lehnt er sich auf,
bringt gewaltsam Schmetterlinge um, stiehlt und fürchtet gleichzeitig die Sünde und die
darauf folgende Strafe. In der Schule ist er gut, er ist sogar erster in Griechisch, die
Eltern finden, das sei ordentlich.50 Dann wieder meldet sich der gewaltsamere Teil in ihm,
er geht sogar pyromanischen Neigungen nach. Manchmal hat er die Zwangsvorstellung,
er müsse das ganze Haus anzünden, da er meint, an der Welt Rache nehmen zu müssen.
Seine Eltern schicken ihn weg auf eine Missionarsschule, wo abnorme Buben wie er
hingehören. Briefe aus denen völliges Unverständnis der Eltern spricht, bekommt
Hermann ins Internat geschickt: Wir wissen nicht, was mit dir ist. Wir grüssen dich aber im
Namen Gottes unseres Heilandes und tragen dich auf Händen der Fürbitte. Es ist tragisch, aber
auch etwas komisch, dass Hermann folglich antwortet, und in diesen Briefen seine
Eltern gegen die herrschende Gewohnheit mit „Sie“ anzusprechen beginnt. Es folgen
Hilfeschreie, Selbstmorddrohungen sogar, aber die Eltern bleiben ratlos. Auch
Hermanns Leidenschaft fürs Schreiben ordnen sie den „brodlosen Künsten“ zu und
bringen ihn mit siebzehn schliesslich soweit, ausser Haus eine Lehre anzufangen. Ganz
unglücklich ist er darüber allerdings nicht. Auch wenn er noch nicht dort angelangt ist
wo er gern möchte, er kann jetzt selber über sein Leben bestimmen. Er ist frei.
Die Lehre in einer Buchhandlung bezeichnet Hesse anfänglich als das Sprungbrett, als
einen Umweg der letztendlich zu seinem geliebten Beruf des Schriftstellers führen muss.
Jedoch fühlt er sich in der Studentenstadt Tübingen bald ausgeschlossen. Er bereut es,
49
50
Lahann, Birgit Hermann Hesse, Dichter für die Jugend der Welt, Suhrkamp, Frankfurt, 2002
Lahann, Birgit. Hermann Hesse, Dichter für die Jugend der Welt
36
dass er nie das Abitur gemacht hat, sieht ein, dass ihm auf diese Weise viele Wege
verschlossen bleiben. Als Buchhändlerlehrling dient er der akademischen Welt, ist aber
nicht Teil von ihr. Trotzdem schreibt er nach seinen langen Arbeitstagen abends noch
Gedichte, die sogar ab und zu in kleineren Zeitschriften abgedruckt werden. Für die
paar Verse bekommt er zwar auch ein Honorar, aber der grosse „Traum“ bleibt aus;
„Aber sein Traum? Sein Morgen? Der Sonnenaufgang seines Geistes? Morgen – der Tag der nie
heute sein wird, schreibt er in sein Tagebuch.“51
Auch in der Liebe bleibt der ersehnte Erfolg vorerst noch aus. In den Gedichten und
Briefen weiss Hermann zwar was er will, wenn es drauf ankommt ist er jedoch
zurückhaltend und schüchtern. Mit seiner Nietzschelektüre im Gepäck zieht er um nach
Basel, wo er eine feste Anstellung als Antiquar und Buchhändler bekommt. Auch
gelingt es ihm dort, in einen Kreis von für ihn und sein Vorhaben wichtigen Leuten zu
geraten. In der stimulierenden Umgebung mit viel umringender Natur gelingt es ihm
schliesslich, seinen ersten echten Roman zu schreiben: Camenzind. Die griechische
Duplizität ist schon hier zu spüren, und in der Biographie von Birgit Lahann heisst es
über Camenzind:
„Ein Aufschneider ist er, ein Lügenbold, ein Teufelskerl, der Satan nach Schopenhauer und
Nietzsche fragt, der mit dem Kopf im Gras wühlt, der an Bäumstämmen rüttelt, der nackt mit
seinem Freund Richard im Bergbach badet und Touristen erschreckt, der Richard küsst und von
ihm zurückgeküsst wird, der lacht und weint und jodelt. Er jodelt wie verrückt in allen Tonarten
und Brechungen und seine Jodelei ist eine Antwort auf "Tristan“, den Wagner hier um die Ecke
in Tribschen komponiert hat. Und abends schluckt Camenzind in der Kneipe reichlich vom
süssen Gott...Sein Lebenswerk hat er in die Schublade gestopft. Es sind die Anfänge all seiner
Romane.“52
Kurz nach seinem Erfolg mit Camenzind heiratet Hesse, zieht mit der um einige Jahre
älteren Maria aufs Land, bekommt drei Söhne mit ihr und wird langsam aber sicher ein
berühmter Schriftsteller. Seine Frau aber erkrankt bald an Rheuma uns Ischias, ist oft
übel gelaunt und Hermann Hesse fühlt sich eingeengt, gefangen. Durch seine vielen
Reisen versucht er dem alltäglichen Familienleben auszuweichen, trifft Menschen wie
Thomas Mann. Hesse, der eigentlich keinen Tag ohne Alkohol übersteht, gibt sich
51
52
Lahann, Birgit. Hermann Hesse, Dichter für die Jugend der Welt, S. 44
Lahann, Birgit. Hermann Hesse, Dichter für die Jugend der Welt, S.52
37
ebenfalls in eine streng vegetarische und genussmittelfreie Entziehungskur für
„Hungerapostel, Sexualasketen, Sonnenanbeter, falsche Hindus und Masseure“ 53durch welche
seine apollinische Ader genährt, und seine wilde Steppenwolfnatur trockengelegt wird.
Die familiären Schwierigkeiten und die Abstinenz sind Auslöser für ein neues, grosses
Projekt, das später zum Thema für seinen Roman Siddharta werden soll: Hesse begibt
sich in den Osten um sich in Indien mit der buddhistischen Lehre vertraut zu machen
und dem so genannt Apollinischen in ihm selbst Ausdruck zu verleihen. Wie Siddharta
ist auch Hesse selbst ein Suchender, und in Indien machen ihm viele Aspekte schwer zu
schaffen. Die Klassenunterschiede zu verstehen fällt ihm nicht leicht, und auch die
fehlende Hygiene und die tropischen Krankheiten belasten ihn. Doch gut und böse, Ekel
und Freude, Last und Liebe wechseln sich ab und Hesse sowie Siddharta begreifen, das
„alles zusammen das Ziel, der Fluss des Geschehens ist.“54
Immer öfter und deutlicher rückt diese Einheit von gegensätzlichen Polen in Hesses
Werk in den Mittelpunkt. Wo es bei Camenzind, den Hesse Anfang zwanzig
geschrieben hatte, noch um das Ausleben der dionysischen Aspekte handelte, ist bei
Siddharta, Demian, Narziss und Goldmund die Suche, das Abwägen und das
Gleichgewicht Mittelpunkt seines Denkens und Schreibens. Das Ausleben der
ordnenden Kräfte aber auch der zerstreuenden Kräfte kann man mit einem Schwanken
zwischen den Apollinischen und Dionysischen Kunsttrieben bei Nietzsche und Wagner
gleichsetzen. Dass Hesse auf ein Ausprobieren beider Triebe besteht, schliesslich auf ein
selbstständiges Zusammenfassen und Ausbalancieren hinzielt, ist was ich in der
vorliegenden Arbeit demonstrieren möchte. Die hervorragende Literatur, die ich mir zu
diesem Zwecke zum Arbeitsmaterial gemacht habe, sind die beiden Romane Demian
und Der Steppenwolf. In meiner Arbeitsweise habe ich mir bei der Lektüre von Demian
chronologisch und kapitelweise Argumente zurechtgelegt, währenddem im Teil zu Der
Steppenwolf Themen und Motive die Strukturierung hervorgebracht haben.
53
54
Lahann, Birgit. Hermann Hesse, Dichter für die Jugend der Welt, S.66
Lahann, Birgit. Hermann Hesse, Dichter für die Jugend der Welt, S.76
38
Nietzsche im Demian
In Demian von Hermann Hesse ist Nietzsches Erbe klar festzustellen, er wird auch
mehrere Male im Buch erwähnt. Eine der Hauptfacetten des Buches ist die Suche nach
dem Selbst, der kontinuierlichen Bewegung zwischen den Polen des Dionysischen und
des Apollinischen, wessen Paarung in der Figur Demian vollzogen wird. Gerne möchte
ich in den folgenden Kapiteln versuchen anhand von Beispielen die meiner Meinung
nach bei Hesse notwendige Fusion der dionysischen und apollinischen Elemente zu
illustrieren.
Zuallererst werde ich mich, nach einer allgemeinen Einleitung, dem Konzept des
Traumes zuwenden, das bei Nietzsche als klar apollinisch gegolten hat. Bei Hesse ist,
sowie bei Wagner auch, eine so leichte und klare Einteilung etwas schwieriger zu
machen. In den nächsten Abschnitten werde ich mich damit auseinandersetzen, ob der
Traum nur als apollinisch gilt und somit meine Hypothese, dass das Dionysische und
das Apollinische sich auf einem beweglichen Kontinuum befinden und nicht
voneinander zu trennen sind, zu unterstützen versuchen.
Der Traum in Demian
In den einleitenden zwei Seiten von Hermann Hesses Demian macht die Hauptperson
Sinclair den Versuch, mit Worten das Echte vom Unechten zu unterscheiden. Er meint,
er möchte hier und jetzt seine Geschichte erzählen, nicht die Geschichte eines
erfundenen, eines möglichen oder eines idealen Menschen, sondern die Geschichte eines
wirklichen, einmaligen, lebenden Menschen. Er wirft der Gesellschaft vor, dass sie nicht
mehr weiss, was ein echter Mensch ist, dass sie sich zuviel damit beschäftigt, zu tun als
ob. Hier können und sollten Aussagen Wagners aus der Beethovenschrift zum Vergleich
herbeigezogen werden. Im Leben wie auch in der Musik widersetzt sich Wagner gegen
den gängigen „Trend“ der Gesellschaft, sich an äusseren Erscheinungsformen und
formellen Aspekten zu orientieren. Er zieht Beethoven Bach und Mozart vor, weil diese
sich nach seinem Geschmack viel zu viel von der Eszenz der Dinge entfernen und sich
mit formbedingten Spielchen begnügen. Eine solche generalisierende und gleichzeitig
wenig tiefgründige Lebenseinstellung verwirft auch Sinclair, er nennt sich einen
Suchenden und möchte sich davon fernhalten, erlogene Geschichten zu erzählen mit
39
überflüssiger Süsse und übertriebener Harmonie. In seiner Lebensgeschichte trifft man
auch auf Verwirrung, auf Unsinn, auf Wahnsinn und Traum.
Dieser Gegenüberstellung von Worten ist in Bezug auf die beiden Kunsttriebe, das
Dionysische und das Apollinische, sowie sie bei Nietzsche angewendet werden, etwas
widersprüchlich. In Nietzsches Geburt der Tragödie deckt sich das Apollinische mit dem
Geordneten, dem Süssen und Harmonischen. Es deckt sich ebenfalls mit der Lüge. Und
mit dem Traume. Der Traum ist das Medium der Bilder und formt den Gegensatz zum
dionysischen Gebiet des Rausches. Meint Hesse hier vielleicht nicht eher den Rausch?
Oder hat sich der Begriff entwickelt und wird er hier anders als bei Nietzsche
angewendet? Jedenfalls nimmt der Traum eine zentrale Stellung ein in der Erzählung
Hesses, und für Sinclair hat er in verschiedenen Lebensabschnitten verschiedene
Bedeutungen. Diesen Wandlungen des Traumbegriffes möchte ich im nächsten Kapitel
meine Aufmerksamkeit schenken und sie auf der Spanne zwischen den zwei Polen des
Dionysischen und des Apollinischen bei Nietzsche anzuordnen versuchen.
Sinclair träumt immerzu von Kromer, dem gemeinen Jungen und in seinen Träumen
werden ihm von diesem Handlungen erzwungen, Sinclair wird misshandelt,
vergewaltigt, unterliegt völlig der Macht Kromers. In meinen Träumen lebte er wie ein
Schatten mit, und was er mir nicht im wirklichen Leben antat, das liess meine Phantasie ihn in
diesen Träumen tun, in denen ich ganz und gar sein Sklave wurde. Ich lebte in diesen Träumen –
ein starker Träumer war ich immer – mehr als im Wirklichen, ich verlor Kraft und Leben an diese
Schatten.55 Als nun Demian den Kontakt sucht zu Sinclair, weil er auf dessen Stirn ein
geheimnisvolles Zeichen wahrnimmt, wie sich später herausstellen sollte, lassen die
Träume von Kromer nach und werden bald abgelöst von Träumen, in denen Max
Demian die Hauptrolle übernimmt. Auch von ihm wird Sinclair durchdrungen,
eingenommen, aber die begleitenden Gefühle sind nicht mehr Angst und Erdrückung,
sondern finden sich in der Mitte. Sowohl Furcht wie auch tiefe Wonne empfindet
Sinclair bei diesen Träumen, und lässt sich von Demian alles gerne gefallen. Im
richtigen Leben klärt ihn Demian darüber auf, dass Kromer ein schlechter Kerl ist, und
55
Hesse, Hermann: Demian, S. 35
40
die Tatsache, dass ihn Sinclair fürchtet, bedeutet, dass er ihm Macht über sich selbst
eingeräumt hat.
Die Träume werden also milder und es scheint als ob mit dem Auftreten Demians alles
etwas mehr in ein Gleichgewicht gerückt wird. Er ist der Vermittler zwischen Furcht
und Glückseligkeit, hell und dunkel, zwischen Gott und dem Teufel. Nicht mehr
abgrundtiefe Furcht und das Gefühl, zu ertrinken herrschen über Sinclair, sondern er
erfährt eine angeregt interessierte Spannung. Eine vermittelnde Funktion hat Demian,
wessen Name passenderweise das französische Wort demi für halb enthält. Ob dieser
Name von Hesse nun bewusst so gewählt wurde oder nicht, Fakt ist, dass sich Demian
nur allzu oft als Halbgott und Halbteufel aufstellt. So auch im Falle einer überwiegend
apollinischen Phase Sinclairs.
Zwei Welten: Ordnung und Chaos
Im ersten Kapitel schon erzählt uns die Hauptperson Sinclair von seiner Jugend. Er
nimmt schon in seinem Elternhaus zwei verschiedene Welten wahr, zwei andersartige
Einflüsse, die aus gegensätzlichen Polen auf ihn einwirken. Von einer Seite her fühlt er
sich vollkommen eingebettet in der warmen und doch strengen Struktur die ihm seine
Eltern anbieten:
Sie hiess Liebe und Strenge, Vorbild und Schule. Zu dieser Welt gehörte milder Glanz, Klarheit
und Sauberkeit, hier waren sanfte freundliche Reden, gewaschene Hände, reine Kleider, gute
Sitten daheim. Hier wurde der Morgenchoral gesungen, hier wurde Weihnachten gefeiert. In
dieser Welt gab es gerade Linien und Wege, die in die Zukunft führten, es gab Pflicht und
Schuld, schlechtes Gewissen und Beichte, Verzeihung und gute Vorsätze, Liebe und Verehrung,
Bibelwort und Weisheit. Zu dieser Welt musste man sich halten, damit das Leben klar und
reinlich, schön und geordnet sei.56
Viele Begriffe werden hier aufgelistet, und sie alle haben eines gemeinsam: Ob es sich
nun um die ausgesproche, buchstäbliche Reinlichkeit und Ordnung der Kleider handelt
oder um die Selbstverständlichkeit der schulischen Laufbahn, hier herrscht Ordnung.
Das Aufeinanderfolgen von freundliche Reden, gewaschene Hände, reine Kleider und gute
56
Hesse, Hermann: Demian, S. 9
41
Sitten ist nicht zufällig so gewählt. Sorgfältig aber unmissverständlich wird somit das
Motiv der Reinlichkeit mit der Moral gleichgesetzt, die das elterliche Haus und alles was
damit in Zusammenhang steht, repräsentiert. Von den Händen wird jeder von aussen
stammender Schmutz abgewaschen und auch der Morgenchoral und das Bibelwort
beziehen sich auf etwas, das wiederkehrt, worauf man sich verlassen kann, an dem man
sich orientieren kann, etwas das Struktur schafft.
Ganz im Gegensatz zur ordentlichen und warmen Welt der Eltern steht die für den
kleinen Sinclair zum Ergreifen nahe Welt der Dienstmagd Lina. Ist sie bei der Arbeit, so
gehört sie zur sogenannten hellen Welt, befindet sie sich hingegen ausserhalb des
Hauses, im Stall beispielsweise, so verwandelt sie sich in eine Figur die der anderen,
dunklen Welt angehört. Linas schauerliche Geschichten von der Welt ausserhalb des
elterlichen Schutzes handeln von toten Tieren, Betrunkenen, Gefängnissen, Einbrüchen,
Totschlägen, Selbstmorden. Sinclair empfindet diese Welt als gefährlich, vielleicht
schlecht sogar, aber trotzdem auch als unendlich verlockend. Und obwohl es ihm nur
recht ist, dass er jederzeit in die heile Welt der warmen Stube zurückflüchten kann, fällt
ihm auf und ist er davon begeistert, dass die beiden Welten sich trotzdem so dicht
beieinander befinden.
Und das Seltsamste war, wie die beiden Welten aneinander grenzten, wie nah sie beisammen
waren!57
Die heile Welt der elterlichen Ordnung ist ziemlich deutlich als eine apollinische Instanz
zu deuten. Die Verben betrinken, bezaubern, locken und so weiter auf Seite zehn, deuten
wiederum eher auf eine dionysische Kraft. Obiges Zitat über die nahe Angrenzung der
beiden Welten ist die Einleitung zu dem, worum es sich im Laufe des Buches handeln
wird: Die Paarung oder Vereinigung der beiden Triebe des Dionysischen und des
Apollinischen, die Manifestation der Unzertrennlichkeit der beiden gegensätzlichen
Pole.
Obwohl sich Sinclair in seiner Kindheit durchaus dem Guten und Hellen zugehörig
fühlt, ist er, viel mehr als seine beiden Schwestern, hellhörig und offen für die Einflüsse
der anderen, dunkleren Welt: Gewiss, ich gehörte zur hellen und richtigen Welt, ich war
meiner Eltern Kind, aber wohin ich Aug und Ohr richtete, überall war das andere da, und ich
57
Hesse, Hermann: Demian, S. 10
42
lebte auch im anderen, obwohl es mir oft fremd und unheimlich war, obwohl man dort
regelmässig ein schlechtes Gewissen und Angst bekam. Ich lebte sogar zuzeiten am allerliebsten
in der verbotenen Welt, und oft war die Heimkehr ins Helle – so notwendig und gut sie sein
mochte – fast wie eine Rückkehr ins weniger Schöne, ins Langweiligere und Ödere.
Manchmal wusste ich: mein Ziel im Leben war, so wie mein Vater und meine Mutter zu werden,
so hell und rein, so überlegen und geordnet; aber bis dahin war der Weg weit, bis dahin musste
man Schulen absitzen und studieren und Proben und Prüfungen ablegen, und der Weg führte
immerzu an der anderen, dunkleren Welt vorbei, durch sie hindurch, und es war gar nicht
unmöglich, dass man bei ihr blieb und in ihr versank.
Hier ruft uns Hesse die Geschichte des verlorenen Sohnes in Erinnerung:
Der kleine Junge Sinclair fühlt wie er von Vertretern einer Moralvorstellung umgeben
wird, die er als richtig empfindet und zu der er sich auch dazu rechnet. Als gefährlich
aber durchaus realistisch sieht er auch die Möglichkeit, sich im Getriebe der verbotenen
Welt zu verstricken. Das Wort das Hesse in diesem Kontext gebraucht ist versinken,
welches stark an Nietzsches Der Fall Wagner erinnert, worin er die rein dionysischen
Kräfte als eine Gefahr und Krankheit abstempelt, zu deren Musik man nicht tanzen
kann, sondern in deren Fluten man sich selbst verliert, in denen man schwimmt,
versinkt, ertrinkt.
Obwohl Sinclair in eine Schule für „artige“ und bevorrechtete Buben geht und fühlt,
dass er dieser Bevölkerungsschicht angehört, pflegt er Umgang mit einigen weniger
bevorrechteten Schülern aus der Volksschule, die wir sonst verachteten.58 Das Wort wir in
diesem Zusammenhang lässt darauf schliessen, dass sich Sinclair im Namen einer
Gruppe ausspricht, in die er hineingeboren wurde, deren Meinung er für sich aber nicht
hundertprozentig vertritt. Schon an dieser Stelle lässt sich der enorme
Entwicklungsprozess vermuten, der von den elterlichen Geboten wegführt mit dem
Ziel, vom verlogenen und naiven wir zu einem vollständigeren und ehrlicheren Ich zu
gelangen.
58
Hesse, Hermann. Demian, S. 13
43
Gefährliche Flut: Franz Kromer
Das erste Zusammentreffen mit einer Person aus der dunklen Welt ist Franz Kromer,
von dem sich Sinclair gewaltig sein bis dahin beschütztes harmonisches Gleichgewicht
zerstören lässt. Kromer ist ein übler Bursche dessen dionysische Natur durch die
Aussage angekündigt wird, bei seinem Vater handle es sich um einen Säufer. Was
auffällt ist, dass die Gruppe um Kromer herum ihm gehorcht, sie hält sich strikt daran
wenn er Befehle erteilt wie zum Beispiel beim Stehlen von Obst. Er ist definitiv ein
Führer, die Kinder haben Angst vor ihm und im Zusammensein mit ihm gehen sie auf
im Gruppenzwang, verlieren sich in der Masse und in ihrer eigenen Angst. Auch
Sinclair gerät in seinen Bann, lässt sein Leben buchstäblich durch einen Andern führen,
verliert seine Lebenslust. Dieses Aufgeben der Individualität ist ein sehr
veranschaulichendes Beispiel Hesses um eine negative dionysische Kraft neben der
hellen, schönen, apollinischen Kraft des Vaterhauses zu demonstrieren. Der
entscheidende Punkt ist die Situation in der Sinclair Kromer vorlügt, er habe einen
Nachbarn bestohlen und sich mit dieser Tat rühmen und von Seiten Kromers
Gutachtung erarbeiten will. Kromer glaubt Sinclair nicht, und trägt ihm auf, zu
schwören. Obwohl Sinclair erschrickt, zögert er keinen Moment und sagt:
Bei Gott und Seligkeit.59
Mit diesen Worten hat er sein strukturiertes, beschützendes Elternhaus verraten und
sich dem Teufel verkauft. Eine feindliche Hand hat sich von aussen her den Zugang
verschafft zum beschützten Ganzen. Dessen ist sich auch Sinclair bewusst und ihm fällt
auf, dass es bei ihm zuhause nicht länger nach Frieden und Sicherheit riecht, sondern
dass ihm mit der oben beschriebenen Tat alle Schrecken des Chaos drohen.
Alles Hässliche und Gefährliche war gegen mich aufgeboten... Mein Leben war zerstört.60
Wieder bedient sich Hesse der Metapher des Wassers in der folgenden Passage:
Aber das alles gehörte mir jetzt nicht mehr, das alles war lichte Vater und Mutterwelt, und ich
war tief und schuldvoll in die fremde Flut versunken, in Abenteuer und Sünde verstrickt, vom
Feind bedroht und von Gefahren, Angst und Schande erwartet.61
59
Hesse, Hermann. Demian, S. 15
Hesse, Hermann. Demian, S. 19
61
Hesse, Hermann. Demian, S.19
60
44
Der Riss und die emotionale Trennung von seinen Eltern tun ihm weh, aber irgendwo
ist es auch eine Genugtuung für Sinclair, dass er dem Puren, Reinen, Angelernten trotzt,
darüber hinaussteigt. Anfänglich empfindet Sinclair die zwei Welten als vollkommen
gegensätzlich, als unvereinbar. Bis Max Demian seinen Weg kreuzt.
Das Gute am Bösen und das Böse am Guten
Sinclair hat das Glück, dass der um einige Jahre ältere Max Demian im gleichen
Schullokal wie seine Klasse unterrichtet wird. Sie haben Religionsunterricht, und am
Ende der Lektion spricht Demian Sinclair auf die Geschichte von Kain und Abel an, die
Sinclair eher mit mässigem Interesse an sich hat vorüber gehen lassen. Die kurze
Fassung der Geschichte lautet, dass der ältere Kain aus Eifersucht auf die
Aufmerksamkeit die Gott Abel zukommen liess, den jüngeren Bruder erschlug. Seither
trägt er ein besonderes Zeichen, das Kainszeichen genannt und wird von der Masse
verachtet und ausgeschlossen, aber auch in Ruhe gelassen. Kain hat sich von Gott
abgewandt und gilt deshalb als schlecht.
Max Demian spricht Sinclair also auf die Geschichte an und meint, sie könnte auch ganz
anders interpretiert werden. Dass er für seine Tat und, wie Demian sagt, seine Feigheit,
von Gott mit einem besonderen Zeichen versehen wird, wodurch sich die Menschen von
ihm fernhalten, anstatt ihn zu bestrafen, scheint dem weisen Schüler Demian äusserst
sonderbar. Er meint, die Geschichte frage förmlich um eine neue, frische Wendung, die
sich folgendermassen anhören könnte: Am Anfang war das Zeichen! Demian schildert
wie jemand, Kain in diesem Fall, ein Zeichen auf sich trug und den anderen Menschen
deshalb Furcht ein flösste, sie unsicher machte. Dem jüngeren Sinclair erklärt er, es
handle sich bei dem Zeichen höchst wahrscheinlich nicht um ein sichtbares Merkmal,
viel grösser sei die Chance, dass der Mann einfach über herausragende seelische
Qualitäten verfüge, wodurch er den andern überlegen sei und über eine gewisse Macht
verfüge. Die ganze Geschichte von Kain und Abel sei also möglicherweise von der sich
fürchtenden Menschenmasse bloss erfunden worden, um sich für die unterlegene
Position zu rächen. Hesse erlöst hier Kain von seinem jahrhundertelangen „Image“ als
Bösewicht und Mörder und relativiert somit die Begriffe Gut und Böse. Kain könnte also
45
sogar als „der Gute“ angesehen werden, die anderen Menschen sollen wiederum nicht
mit dem Guten identifiziert werden, sonder erhalten eher die Bezeichnung Mitläufer,
Angsthasen oder Massentiere.
Kain symbolisiert in diesem Beispiel die Position des Individualisten, des Furchtlosen,
des Zarathustra: es ist eine Position die Demian bereits erreicht hat, und das Ziel des
Weges, den Sinclair noch antreten muss. Er zweifelt anfänglich an den Worten des
Freundes, empfindet seine Geschichten als absurd. Gleichzeitig bemerkt er aber auch,
dass etwas an ihm zu ziehen beginnt, ihn wachrüttelt. Er erinnert sich an den Schwur
den er für Kromer abgelegt hat, an die Gotteslästerung und kann sie plötzlich in einem
gänzlich neuen Licht sehen. Es wird ihm auch klar, dass das Urteil der Eltern, ihre
Vergebung und ihre Gutachtung ihm niemals mehr die Erlösung geben werden, nach
der er auf der Suche ist:
Etwas war freilich mit mir selbst nicht in Ordnung, war sogar sehr in Unordnung. Ich hatte in
einer lichten und sauberen Welt gelebt, ich war selber eine Art von Abel gewesen, und jetzt stak
ich so tief im „andern“, war so sehr gefallen und gesunken, und doch konnte ich im Grunde nicht
so sehr viel dafür! Wie war es denn nun damit? Ja, und jetzt blitzte eine Erinnerung in mir
herauf, die mir für einen Augenblick fast den Atem nahm. An jenem üblen Abend, wo mein
jetziges Elend angefangen hatte, da war das mit meinem Vater gewesen, da hatte ich, einen
Augenblick lang, ihn und seine lichte Welt und Weisheit auf einmal wie durchschaut und
verachtet.62
Das Elternhaus verliert seinen absoluten Stellenwert und die andersartige Darstellung
einer gewohnten biblischen Erzählung eröffnet Sinclair eine neue Weltanschauung.
Menschen mit dem Kainszeichen, und Demian rechnet Sinclair zu diesen Menschen,
sind halt anders als andere Leute, und brauchen sich nicht einer Seite anzuschliessen.
Kain und Demian ermutigen Sinclair dazu, seinen Weg zwischen den zwei Welten,
jenseits von Gut und Böse, zu suchen.
Nach dem Erlebnisse mit Demian verschwindet dieser für einige Zeit aus Sinclairs
Leben. Dieser wird nicht mehr von Kromer belästigt, und die Verlockung ist nur allzu
gross, sich wieder in die gesellige, harmonische und paradiesische Umgebung der Eltern
zu verkriechen. Demian bleibt jedoch in seinem Hinterkopf und Sinclair ist sich
62
Hesse, Hermann. Demian, S. 33
46
bewusst, dass dieser sich auf keinerlei Weise in die herkömmliche Struktur des
elterlichen Hauses einordnen oder einfügen lassen würde. Er bestempelt ihn als einen
Verführer. Das Hauptkennzeichen eines Verführers ist es ja, einen aus der Reserve zu
locken, jemanden sich nach aussen hin ausrichten zu lassen und ihn aus seinem
vertrauten Umfeld zu entreissen oder ihm neue Wege anzubieten. Obwohl Demian rein
gar nichts mit Kromer zu tun hat, und Sinclair nur gute und richtige Gefühle vermittelt,
verbindet er ihn trotz allem mit der bösen, schlechten Welt.63 Das schlechte Gewissen das
die Verführung mit sich bringt bleibt noch eine Weile, und auch der Urtrieb64 nach dem
Apollinischen, der harmonischen Ordnung, bleibt bestehen. Jedoch vergleicht Sinclair
sein Verstecken in dieser Ordnung mit dem Hausen in einer Kinderwelt, und da sie sich
immer unwirklicher und verlogener anfühlt weiss er, dass er über sie hinausgewachsen
ist.
Abraxas – Vereinigung des Dionysischen mit dem Apollinischen
Auf Seite 64 des Buches Demian findet sich ein Satz der, so simpel er auch ist, das ganze
Werk zusammenfasst und sich ausspricht für eine Berücksichtigung der dionysischen
und der apollinischen Triebe und einer Vereinigung beider:
Nur das Denken, dass wir leben, hat einen Wert.
Das Denken als rationelle, reflexive65 Aktivität deckt sich mit dem Geordneten und
Beherrschten des apollinischen Triebes. Bleiben wir in dieser Reflexivität stecken, so
findet sich keine Gelegenheit zur Ausführung unserer Gedanken und Wünsche. Die
dionysische Art „sich dem Leben zu schenken“ als rein pre- reflexive Angelegenheit
birgt wiederum die Gefahr, sich selbst als Individuum zu verlieren, zu ertrinken.66
Verbinden wir nun das eine mit dem anderen, kann das Leben in ganzer Fülle mit
Struktur ausgekostet werden. Diese Regel, die Nietzsche ja später vorschreibt und
beispielsweise auch in der Musik Bizets vorfindet67 und bewundert, trifft auch im Falle
63
Hesse, Hermann. Demian, S.47
Hesse, Hermann. Demian, S.49, auffälliger Wortgebrauch: Urtrieb, vergleiche weiter oben mit
Nietzsche und Wagner: das Apollinische als Kunsttrieb
65
Sartre, Valéry
66
Nietzsche, Friedrich. Der Fall Wagner
67
Nietzsche, Friedrich. Der Fall Wagner, S.13
64
47
von Sinclair und Demian zu. Ganz trocken kommentiert Demian die aktuelle Lage
Sinclairs und erklärt ihm, was dieser eigentlich in seinem Innern schon weiss:
„Du hast gewusst dass deine „erlaubte Welt“ bloss die Hälfte der Welt war, und du hast
versucht, die zweite Hälfte dir zu unterschlagen, wie es die Pfarrer und Lehrer tun. Es wird dir
nicht glücken! Es wird keinem glücken, wenn er einmal das Denken angefangen hat!“68
Und genau so geschieht es dann auch. Der letzte Versuch Sinclairs, sich im väterlichen
Hause wohl zu fühlen und glücklich zu sein hatte lange gedauert, war zeitweise nahezu
geglückt, und schliesslich doch völlig gescheitert.69Auch klärt Demian Sinclair auf über den
in ihm erwachenden fremden Trieb und erzählt ihm von den griechischen
Dionysosfeiern:
Du hast jetzt zum Beispiel, seit einem Jahr etwa, einen Trieb in dir, der ist stärker als alle andern,
und er gilt für verboten. Die Griechen und viele andere Völker haben im Gegenteil diesen Trieb
zu einer Gottheit gemacht und ihn in grossen Festen verehrt. „Verboten“ ist also nichts Ewiges,
es kann wechseln.70
Hier ist die Rede vom dionysischen Kunsttrieb wie wir ihn bei Nietzsche finden und er
ist bei Sinclair an eben genannter Stelle im Buch sehr anwesend und manifestiert sich
stärker als alle anderen Triebe in ihm. Der apollinische Ordnungstrieb mit dem er durch
den Einfluss seiner Eltern aufgewachsen ist, ist in dieser Phase seines Lebens vollständig
von ihm gewichen. Im Moment stürzt sich der junge Student in alles, was verboten ist,
um die ganze Palette der Extreme am eigenen Leibe zu fühlen und auch um sich von
den ewigen aufgelegten Verboten und Moralvorstellungen zu befreien. Demian hat an
dieser Stelle wieder die vermittelnde Funktion zugeteilt bekommen. Obwohl er den rein
dionysischen Zustand nicht als gut bestempelt, sieht er darin eine wichtige und
unverzichtbare Entwicklungsstufe für Sinclair. In weisen Worten spricht er von Leuten,
denen es zu bequem ist, selber für sich zu denken. Er meint damit wohl auch die Eltern
Sinclairs, die sich in der von andern aufgestellten, hellen Welt des Erlaubten aufhalten,
in der niemand ihnen etwas nachsagen kann. Jedoch, spricht Demian, gibt es auch Leute
die diese Verbote, oder vielleicht sind es eher Gebote, in sich selbst spüren. So stellen sie
ihre eigenen Massstäbe auf, lernen, auf die Stimme in ihrem Innern zu hören und
68
Hermann Hesse. Demian, S.64
Hermann Hesse. Demian, S.69
70
Hermann Hesse. Demian, S.64
69
48
erlauben sich lauter Sachen, die anderen Leuten verboten sind. Es kann aber auch sein,
dass ihnen Sachen vorenthalten bleiben, die jedermann täglich mit gutem Gewissen
macht. Auf diese Art relativiert er wieder die Begriffe des Guten und des Bösen und
Demian bekräftigt Sinclair in seinem Abrücken von der apollinischen, heuchlerischen
und unvollständigen Ordnung. Auch sein Übertritt in das Dionysische ist gar kein
Übertritt in eine vollständige Welt, und das sieht Demian natürlich auch so. Es ist jedoch
ein Anfang, ein Vortasten zur anderen Hälfte, ein Abtasten der gesamten Bandbreite,
der Bandbreite die vom Guten zum Bösen, vom männlichen zum weiblichen, vom
hellen zum dunklen und vom dionysischen zum apollinischen reicht.
Sinclairs Weg zum Ausgleich der Triebkräfte führt, so wie es scheint, über ein Mädchen
zu führen. Vom Sehen her kennt er es und fällt von einer anfänglichen Verliebtheit in
eine tiefgründige Anbetung. Es ist schon fast ein Kult, den er für das Mädchen mit den
knabenhaften Zügen errichtet. Es ist auch kein Zufall, dass sie Merkmale beider
Geschlechter aufweist. Beatrice ist in Person weniger wichtig als in ihrer Rolle, in der sie
Sinclair, ohne je ein Wort mit ihm gesprochen zu haben, abbringt von der schiefen Bahn
die er mit seinen Säufereien und seinem „unreinen Leben“ eingeschlagen ist. Wieder hat
Sinclair eine einseitige, apollinische Lebensform gewählt, aber diesmal nicht ohne eine
nicht unwichtige Entwicklung durchzumachen die von grossem Einfluss auf seine
Situation und Lebenseinstellung zu sein scheint. Durch das errichten eines privaten
Heiligtums lernt Sinclair das Helle, Gute, Liebenswürdige von einer völlig neuen Seite
kennen. Er braucht nicht mehr zurückzuflüchten in sein Elternhaus, um sich von der
dunklen Welt abzukehren, sonder findet seinen Schutz in der Form seiner Verehrung
einer selbst gewählten Person schon etwas näher bei sich selbst:
Den Lebensanteil, den ich den finsteren Mächten entzog, brachte ich den lichten zum Opfer.
Nicht Lust war mein Ziel, sondern Reinheit, nicht Glück, sondern Schönheit und Geistigkeit.71
Sinclair sucht das Asketische in allem und wendet es an auf Essen, Trinken, Sprache und
Kleidung. Im Kapitel dem der knabenhaft schönen Beatrice geweiht ist, kehrt sich
Sinclair mit einem Heiligenkult gegen seine vorhergehende dionysische Trinkphase und
verliert sich in der Vorstellung von Liebe die er für das Mädchen, das er nur vom Sehen
71
Hermann Hesse. Demian, S.81
49
kennt, fühlt. Er lebt in einer Enthaltung die sich im Geschlechtlichen, aber auch in
anderen Teilbereichen des Lebens äussert. Seine Schulfreunde lachen Sinclair aus, er
aber lässt sich nicht in seinem, von ihm selbst erwählten Wege beirren. Er fängt an, zu
malen und wiederum zu träumen. In diesem Stadium befindet er sich auf der
extremsten apollinischen Seite des apollinisch-dionysischen Kontinuums. Jedoch
befindet er sich nicht in dem vom Elternhause auferlegten Moralsystem sondern hat
diesmal die Werte für sich selbst definiert, ist zum ersten Mal sein eigener Richter.
Trotzdem überfällt ihn bald wieder die Sehnsucht nach Max Demian, und wenn er ihn
endlich trifft, scheint der Freund ihm unverändert, gleich alt, gleich jung wie immer.72 Diese
Merkmale beschreiben die innere Stabilität Demians, die auch auf seinen Körper
übergreifen. Er ist fertig, ausgeglichen, erleuchtet, und die allgemeinen Gegensätze
haben zusammengefunden und sich in ihm versöhnt. So wirkt er gleichzeitig jung und
alt. Die Konfrontation mit dem alten Schulkollegen löst Erinnerungen in Sinclair aus,
und auch er wird sich noch mehr den ihm gestellten Gegensätzen bewusst:
Bis zu meiner Geschichte mit Kromer zurück suchte ich alle Erinnerungen an Max Demian in
mir hervor. Wie vieles klang da wieder auf, was er mir einst gesagt hatte, und alles hatte heut
noch Sinn, war aktuell, ging mich an! Auch das, was er bei unserem letzten, so wenig
erfreulichen Zusammentreffen über den Wüstling und den Heilligen gesagt hatte, stand mir
plötzlich hell vor der Seele. War es nicht genauso mit mir gegangen? Hatte ich nicht in Rausch
und Schmutz gelebt, in Berauschung und Verlorenheit, bis mit einem neuen Lebensantrieb
gerade das Gegenteil in mir lebendig geworden war, das Verlangen nach Reinheit, die Sehnsucht
nach dem Heiligen?73
Diese Einsicht Sinclairs bestätigt sich später noch in einem von ihm selbst gemalten Bild.
Das Bild stellt einen Sperber dar, einen Vogel, der halb in einer dunklen Weltkugel
steckt und sich mit halbem Leib schon herausgearbeitet hat aus dem Ei. Die zweite
Hälfte des Körpers sticht hervor gegen den blauen Himmel. Der Vogel als Tier ist ja mit
seinem Flug schon ein Symbol für die rechte Mitte, die Verbindung von Himmel und
Erde, von Heiligem und von Sünde.
72
73
Hermann Hesse. Demian, S.85
Hermann Hesse. Demian, S.87
50
Das Göttliche und das Teuflische zu vereinigen, lehrt ihn Demian, und so hallt es in
Sinclair nach. „Demian hatte damals gesagt, wir hätten wohl einen Gott, den wir verehrten,
aber der stelle nur eine willkürlich abgetrennte Hälfte der Welt dar (es war die offizielle, erlaubte,
lichte Welt). Man müsse aber die ganze Welt verehren können, also müsse man entweder einen
Gott haben, der auch Teufel sei, oder man müsse neben dem Gottesdienst auch einen Dienst des
Teufels einrichten. – Und nun war also Abraxas der Gott, der sowohl Gott wie Teufel war.“74
In Abraxas vereinigen sich also Gott oder das Apollinische und der Teufel, sprich: das
Dionysische. In einem Gespräch mit dem Pfarrer Pistorius erfährt Sinclair mehr über die
Verbindung dieser Kräfte. Der Mann schildert ihm Situationen, in denen das
Apollinische vorherrscht, aber erzählt ihm auch von Menschen, die sich der
Bodenlosigkeit des Dionysischen hingeben. In beiden Fällen ist das Verhältnis des
Menschen zur Welt schief und fehlerhaft und nicht sehr viel versprechend. Im
Zusammentreffen der beiden Kräfte kommt es aber zu einem Ruhepunkt, der Mensch
bekommt ein Steuer, was Pistorius und auch Hesse als die ideale Seinsform für sich
sehen.
Der Schwung, der Sie fliegen macht, das ist unser grosser Menschheitsbesitz, den jeder hat. Es
ist das Gefühl des Zusammenhangs mit den Wurzeln jeder Kraft, aber es wird einem dabei bald
bange! Es ist verflucht gefährlich! Darum verzichten die meisten so gerne auf das Fliegen und
ziehen es vor, an Hand gesetzlicher Vorschriften auf dem Bürgersteige zu wandeln. Aber Sie
nicht. Sie fliegen weiter, wie es sich für einen tüchtigen Burschen gehört. Und siehe, da entdecken
Sie das Wunderliche, dass Sie allmählich Herr darüber werden, dass zu einer grossen allgemeinen
Kraft, die Sie fortreisst, eine feine, kleine, eigene Kraft kommt, ein Organ, ein Steuer! Das ist
famos. Ohne das ginge man willenlos in die Lüfte, das tun zum Beispiel die Wahnsinnigen. Ihnen
sind tiefere Ahnungen gegeben als den Leuten auf dem Bürgersteig, aber sie haben keinen
Schlüssel dazu, und sausen ins Bodenlose.75
Der Vergleich der hier mit dem Fliegen gemacht wird, erinnert stark an die Worte
Nietzsches im obigen Theorieteil. Im Zusammenhang mit dem Euphorismus Wagners
für das rein Dionysische sprach Nietzsche in späteren Jahren vom nicht mehr gehen
können, vom Ertrinken. Anhänger des pur Dionysischen Kunsttriebes nannte er, wie es
Hesse hier auch tut, waghalsig, wahnsinnig, krank. Seinen ehemaligen Freund Richard
74
75
Hermann Hesse. Demian, S.93
Hermann Hesse. Demian, S.107
51
Wagner selbst bezeichnete er auch nur als eine vorübergehende Zeiterscheinung, als
eine Krankheit von der er glücklich war, endlich geheilt zu sein.
Die obigen Zitate tragen eine klare, eindeutige Aussage in sich. Über Demian, Pistorius
und Sinclair sind in den Worten Hermann Hesses ganz klar eigene Gedanken zum
Gegensatz des Apollinischen und des Dionysischen ausgearbeitet. Beide Triebe werden
voneinander isoliert präsentiert und zum Beispiel als gegensätzliche Motive von
Reinheit und Ordnung verarbeitet. Auch Mischformen werden besprochen, sowie die
Askese Sinclairs, die sich, obwohl sie dem Ordnungstrieb angehört, ganz klar vom
apollinischen Trieb der bei seinen Eltern herrschte, unterscheidet. Das letzte Zitat spricht
deutlich an auf das Steuern mit zwei verschiedenen Kräften, denen man sich hingeben
muss und ihnen gleichzeitig Herr werden kann. Zwischen diesen apollinischen und
dionysischen Kräften muss man für sich eine Balance finden. Anhand dieser Zitate
glaube ich meine Hypothese für das Buch Demian genügend unterstützen zu können,
und kann mit Überzeugung von einer Paarung des Dionysischen mit dem Apollinischen
bei Hesse sprechen.
Wie steht es mit diesem Gegensatz in anderen Werken Hermann Hesses? Im folgenden
und letzten Teil der vorliegenden Arbeit werde ich den Steppenwolf auf dieselben
Kriterien hin analysieren. Allerdings ist der Aufbau bei dieser Besprechung anders als
bei der vorigen. Anstatt wie bei Demian kapitelweise und chronologisch vorzugehen,
möchte ich im Steppenwolf thematisch vorgehen und verschiedene Motive besprechen.
Der Steppenwolf
Im Steppenwolf ist im Zusammenhang mit der Verarbeitung der beiden Kunsttriebe grob
gesehen eine thematische Dreiteilung zu erkennen. In den ersten fünfzig Seiten des
Buches finden wir eine kurze Einleitung des Verfassers, in welcher die Hauptperson
Harry Haller beschrieben wird. Darauf folgt das erste Kapitel aus der Sicht von Harry
selbst, in der er dem Leser Einblicke in seinen normalen Tagesablauf gewährt. Zudem
führt er uns in seine gegenwärtige Denkweise ein, die sich ganz deutlich zwischen den
beiden apollinischen und dionysischen Extremen abspielt. Harry Haller bezeichnet sich
52
selbst als Steppenwolf und damit grenzt er sich aus der bürgerlichen Gesellschaft aus. Er
merkt zwar, dass in ihm auch eine ruhigere, angepasstere Seite schlummert, schafft es
aber nie, seine zwei Persönlichkeiten miteinander zu versöhnen. Genau diese Duplizität
nennt er sein grosses Problem, mit dem er sich tagtäglich herumschlägt.
Eines späten Abends begegnet ihm etwas sehr Merkwürdiges: Auf der Strasse bekommt
er ein kleines Büchlein in die Finger dessen Inhalt genaustens auf ihn, Harry,
zuzutreffen scheint. Es ist der Tractat vom Steppenwolf. Die horoskopartige Anleitung
richtet sich an Künstler und sensible Menschen und ist einerseits sehr verständnisvoll
geschrieben. Auf der anderen Seite zeigt sich der Verfasser des Büchleins äusserst
kritisch gegen die Art des Steppenwolfes und verwirft dessen dualistische Denkweise.
Die Spaltung des Seins in Mensch und Tier mit der sich Harry sein Leben zu
vereinfachen und zu verständlichen versucht, wird im Traktat als ein Vergewaltigung
des Wirklichen abgetan. Mit folgenden Sätzen propagiert Hesse das Leben in Vielfalt
und kehrt sich gleichzeitig gegen die vereinfachenden, durch Nietzsche und Wagner
aufgestellten Begriffe.
Die Welt selbst kennt noch oben noch unten.76
Harry besteht nicht aus zwei Wesen, sondern aus hundert, aus tausenden. Sein Leben schwingt
(wie jedes Menschen Leben) nicht bloss zwischen zwei Polen, etwa dem Trieb und dem Geist,
oder dem Heiligen und dem Wüstling, sondern es schwingt zwischen tausenden, zwischen
unzählbaren Polpaaren.77
Reinheit, Ordnung
Aus der anderen Welt, der Welt der Reinheit und der Ordnung, von der im Demian so
häufig die Rede ist, stammen die ersten Seiten aus dem Steppenwolf: Im Vorwort des
Herausgebers gibt der Neffe der alten Dame, bei der Harry Haller fast ein Jahr gewohnt
hat, seinen Eindruck von dem älteren Manne wieder und es ist deutlich, dass die
Lebensweise des Steppenwolfes sich ganz und gar nicht mit der seinigen verträgt. Er rät
76
77
Hesse, Hermann. Der Steppenwolf, S. 65
Hesse, Hermann. Der Steppenwolf, S. 67
53
der Tante im ersten Moment ja auch ab, den Herrn, der von Anfang an einen „sehr
zwiespältigen Eindruck“78 auf ihn macht, bei sich aufzunehmen. Harry scheint aus einer
fremden Welt zu stammen, und der Neffe sorgt sich darüber, dass er ein unanständiger
Mensch sein könnte, der nachts besoffen nach Hause kommt und die Wohnung
verdreckt. Das Motiv der Sauberkeit gegenüber dem Unreinen wird hier zu Beginn des
Romans aufgegriffen, und die Tante reagiert entgegengesetzt und voller Vertrauen auf
die Sorgen des Neffen:
„Es riecht bei uns nach Sauberkeit und nach einem freundlichen und anständigen Leben, und das
hat ihm gefallen. Er sieht aus, wie wenn er daran nicht mehr gewöhnt wäre und es entbehrt
hätte.“79
Tatsächlich sucht der Steppenwolf Harry Haller die Nähe des Bürgerlichen, des
Geordneten, nicht aber ohne ein begleitendes Gefühl von Unbehagen, Widerwillen und
Verachtung gegen sich und die Welt um ihn herum zu spüren.
„Nun ja, und ich habe auch den Kontrast gern, in dem mein Leben, mein einsames, liebloses und
gehetztes, durch und durch unordentliches Leben, zu diesem Bürgermilieu steht. Ich habe das
gern, auf der Treppe diesen Geruch von Stille, Ordnung Sauberkeit, Anstand und Zahmheit zu
atmen, der trotz meines Bürgerhasses immer etwas Rührendes für mich hat, und habe es gern,
dann über die Schwelle meines Zimmers zu treten, wo das alles aufhört, wo zwischen den
Bücherhaufen die Zigarrenreste liegen und die Weinflaschen stehen, wo alles unordentlich,
unheimisch und verwahrlost ist und wo alles, Bücher, Manuskripte, Gedanken, gezeichnet und
durchtränkt ist von der Not der Einsamen, von der Problematik des Menschseins, von der
Sehnsucht nach einer neuen Sinngebung für das sinnlos gewordene Menschenleben.“80
Harry verleugnet oft seine wölfische Art indem er sich eine bürgerliche Zwangsjacke
anzuziehen versucht. Manchmal setzt er sich nach einer wilden Nacht oder einem Tag
an dem er ziellos und voller Unruhe durch die Gegend gezogen ist auf eine Stufe im
Treppenhaus. Im Stock der Vermieterin setzt er sich dann hin, weil es dort so sehr nach
Putzmittel riecht. Sogar die Pflanzen im Gang sehen aus, als würden sie jeden Tag
gereinigt. Manchmal schaut er von der Treppe aus in kleinen geordneten Garten, faltet
die Hände über soviel Reinlichkeit fast so als würde er beten, beichten, sein so genannt
78
Hesse, Hermann. Der Steppenwolf, S.6
Hesse, Hermann. Der Steppenwolf, S.11
80
Hesse, Hermann. Der Steppenwolf, S.34
79
54
sündiges, wölfisches Leben auszugleichen versuchen. Den „Garten der Ordnung“ sowie
er ihn nennt, rührt ihn auf eine Art, auch wenn er seinen Anstand, seine Gesundheit
gleichzeitig als geradezu lächerlich empfindet. Hinter der Ordnung des Vorplatzes
vermutet Harry ein „Leben voll Anstand“81 und damit bringt er weitere Begriffe wie
Gesundheit, Frühaufstehen, Pflichterfüllung, gemässigt heitere Familienfeste (ja nicht
allzu ausgelassene Feste, das würde ja auf eine dionysische Natur hinweisen, die den
Leuten hier ganz bestimmt fremd ist), sonntäglicher Kirchgang und frühes
Schlafengehen in Verbindung. Diese Charakteristiken stimmen mit den Begriffen
überein die in der Tabelle weiter oben in dieser Arbeit in der linken Spalte zu finden
sind. Apollinische Merkmale wie Begrenzung und Nüchternheit ordnet Harry seinen
bürgerlichen Mitmenschen zu, er selbst jedoch fällt nicht in diese Kategorie, obwohl ihm
die so genannt apollinischen Triebe gar nicht fremd sind.
Wenn Harry an seine Jünglingsjahre zurückdenkt, so erfüllt ihn ein Gefühl der
Sehnsucht und des Schmerzes. Gleichzeitig fühlt er eine fast masochistische
Genugtuung bei der Feststellung des, sowie es ihm scheint, unüberbrückbaren
Kontrastes zwischen der hellen und der dunklen Seite in ihm. Genugtuung, weil ihm
dieser Schmerz die Möglichkeit bietet, eine Einteilung der Welt in gut und schlecht
herzustellen.
Ernährung
Bemerkenswert im Steppenwolf sind die vielen verschiedenen Hinweise auf die
Ernährung Harrys. In seinen wilden Stunden in denen der Steppenwolf regiert, könnte
man ihn einen Säufer nennen. Doch auch im Allgemeinen fällt sein unregelmässiges
Essverhalten auf. Als eines der ersten Grundbedürfnisse des Menschen ist das Essen ein
wichtiger Indikator für die Gesundheit eines Einzelnen. Werden Mahlzeiten regelmässig
und mit Appetit eingenommen, so spricht dies für Einheit und Ordnung,
Zusammenhang und Sicherheit eines Individuums. Hesse braucht das Motiv des Essens
81
Hesse, Hermann. Der Steppenwolf, S.35
55
immer wieder in kürzeren, aber eindeutigen Kommentaren um die von der Norm
abweichende Lebenseinstellung seiner Hauptfigur zu illustrieren. Harry Haller ist ein in
eine fremde, ihm unverständliche Welt verirrtes Tier, das seine Heimat, Luft und Nahrung nicht
mehr findet.82
Der Neffe der Vermieterin beschreibt seine widersprüchlichen Eindrücke von Harry.
Eines Tages trifft er ihn vergnügt auf der Treppe an und sie plaudern sogar etwas, kurz
darauf fällt Harry Haller jedoch in eine schwere Depression, ohne Essen zu begehren.83
Der Zusammenhang zwischen Ernährung und seelischem Zustand wird mit diesem
Zitat der Depression Harrys hergestellt. Ebenfalls aus der Beobachtung des Neffen
erfährt der Leser, dass Harry oft viele Flaschen Wein mit sich nach Hause nimmt, sie
nahezu alle innert kürzester Zeit leer trinkt, um die restlichen Flaschen folglich
verstauben zu lassen. Er bewegt sich also immerzu zwischen Übergabe und Enthaltung,
zwischen Dionysos und Apollon. Als der Neffe ihn darauf anspricht und ihm erzählt,
dass er selber keinen Alkohol mag, antwortet Harry typischerweise:
„Ich habe auch jahrelang enthaltsam gelebt und auch lange Zeiten gefastet, aber zur Zeit stehe
ich wieder im Zeichen des Wassermanns, einem dunklen und feuchten Zeichen.“84
Harrys jetziger Lebensabschnitt ist durch dass viele trinken ein feuchter, und
gleichzeitig ist er dunkel, was darauf schliessen lässt, dass er diese dionysische Seite
seiner Persönlichkeit verurteilt und verachtet.
Nachdem er mit Hermine zusammengetroffen ist und sich mit ihr angefreundet hat,
stellt sich recht schnell eine Hierarchie zwischen den beiden ein. Harry scheint darum zu
flehen, den Genuss des leichteren Lebens erlernen zu dürfen, Hermine erkennt diesen
seinen stillen Wunsch und wird seine Lehrerin. Sie erkennt:
„Gehorchen ist wie Essen und Trinken – wer es lang entbehrt hat, dem geht nichts darüber.“85
Er ergibt sich ihr vollkommen, sie drängt ihn zum tanzen, zum schlafen, zum lieben.
Ebenfalls drängt sie ihn zum essen, was ihm besonders schwer fällt. Sowie man einen
kleinen ungehorsamen Jungen dazu bringt, durch die regelmässige Nahrungsaufnahme
ein Gefühl für Struktur zu entwickeln, so bringt Hermine Harry dazu, sich der täglichen
Disziplin des Essens zu stellen.
82
Hesse, Hermann. Der Steppenwolf, S.37
Hesse, Hermann. Der Steppenwolf, S.25
84
Hesse, Hermann. Der Steppenwolf, S.23
85
Hesse, Hermann. Der Steppenwolf, S. 96
83
56
Musik
Im Steppenwolf hat die Musik eine wichtige Position und die Beschreibung
verschiedener Stile zu verschiedenen Zeitpunkten dient meiner Meinung nach dazu, der
jeweiligen Situation im Buche eine charakteristische Färbung zu geben. Die musikalische
Untermalung hat zwei Pole: Einen apollinischen und einen dionysischen Pol.
Harry sehnt sich oft nach seinen jüngeren Jahren in denen er noch im Schutz des
elterlichen Hauses stand und sich in apollinischer Ordnung sicher fühlen konnte. Jetzt
ist er auf sich selbst angewiesen, hat sich für die Einsamkeit entschiedenen und sinnt
verwirrt und verstört dem Sinne des Lebens nach. In solchen Momenten von absoluter
Orientierungslosigkeit kommt dann doch ab und zu ein günstiger Wind daher, der ihm
eine süsse Erinnerung, eine Spur von Ordnung bringt. So denkt er auf Seite 35 zum
Beispiel an ein Konzert an dem eine „herrliche alte Musik“ gespielt wird. Wer etwas über
Nietzsche und Wagner gelesen hat weiss, dass die alte Musik von Bach oder Händel sich
zum Dionysischen musikalischen Ideal genau gegensätzlich verhält. Die Komponisten
des Barocks hielten sich bezüglich Harmonie und Rhythmus an strenge, genaustens
festgelegte Regeln. Ihre Musik ist vorhersagbar und wirkt beruhigend aufs Gemüt, im
Gegensatz zur Musik Wagners, deren unendliche melodische Linienführung ein
unbegrenztes, unbekanntes und unerforschtes Gebiet an Möglichkeiten suggeriert. Auf
Seite 43 des Steppenwolfes finden wir einen Textausschnitt der illustriert, wie
strukturierte Musik der „Alten“ wie Mozart, der Harry ein Ewiger, ein Weiser zu sein
scheint, sich deckt mit dem Zustand des Dionysischen:
Hätte ich in diesem Augenblick über einen Wunschzauber verfügt, so hätte sich mir nun ein
kleiner, hübscher Saal dargeboten, Stil Louis Seize, wo ein paar gute Musiker mir zwei, drei gute
Stücke von Händel und Mozart gespielt hätten. Dazu wäre ich jetzt gestimmt gewesen und hätte
die kühle, edle Musik geschlürft, wie Götter Nektar schlürfen. Oh, wenn ich jetzt einen Freund
gehabt hätte, einen Freund in irgendeiner Dachkammer, der bei einer Kerze grübelt und die
Violine daneben liegen hat! Wie hätte ich ihn in seiner Nachtstille beschlichen, wäre lautlos
durchs winklige Treppenhaus empor geklettert und hätte ihn überrascht, und wir hätten mit
Gespräch und Musik ein paar überirdische Nachtstunden gefeiert.86
86
Hesse, Hermann: Der Steppenwolf, S.43
57
Obiges Zitat erinnert sehr an die Worte Nietzsches wenn er voller Bewunderung an
seinen Freund Richard Wagner schreibt, er wolle ihn besuchen und dann solle es bei
Gespräch, Wein und guter Musik „dionysisch hergehen“. Beim Steppenwolf ist das
Grübeln des imaginären Freundes mit der Philosophie der beiden Denker
gleichzusetzen, währenddem die Geige das musikalische Element des dionysischen
Rauschzustandes symbolisiert. Nur stammt die Musik, die in diesen Zustand versetzen
soll nun eben nicht von Wagner, Beethoven oder Strauss, sondern entspringt der
stilsicheren Kompositionsweise der „Alten“. Auch der Freund, den sich Harry wünscht,
ist nicht da, und so versucht er die goldene Spur bei sich selbst aufzuspüren. Auch hier
braucht Harry seinen eigenen regelmässigen Atempuls, um bei sich das Gefühl, das
Wagner Essenz aller Dinge genannt wird, bei sich hervorzurufen:
„...so klang jene holde Melodie doch in mir innen, und ich konnte sie, leise summend im
rhythmischen Atemholen, doch andeutend mir selber vorspielen.“87
Nebst dieser Verbindung von alter Musik und dionysischer Hingabe, weist die genannte
Stelle noch eine andere Widersprüchlichkeit auf. Auch im Traum kann Harry dieses
Gefühl der Hingabe und des Auflösens hervorrufen. Aus den Schriften Nietzsches und
Wagners lernen wir jedoch, dass die Traumwelt apollinisch ist, da sie sich nur mittels
Bilder manifestiert.
Es ist die Rede von einer goldenen Spur, der sich Harry anzunähern versucht, und im
Traumzustand gelingt es ihm. Eine goldene Spur hinterlassen auch die im
Traumzustand zu Harry gekommenen Verse, und eben diese Verse sind „...viel zu schön
und viel zu wunderlich als dass ich daran hätte denken dürfen, sie aufzuschreiben, die ich am
Morgen nicht mehr wusste und die doch in mir verborgen lagen, wie eine alte schwere Nuss in
einer brüchigen Schale.88
Harrys goldene Spur hat deutliche Parallelen zu dem Schopenhauerschen Ding an sich,
und der Wagnerschen Essence of Things (siehe oben). Wie bei Hesse besteht auch bei
Wagner die Möglichkeit, sich diesem Kern der Dinge durch den Traumzustand zu
nähern. Bei Wagner ist die Musik ganz klar die einzige Disziplin, mit der diese
aufrichtige Welt der Ideen vermittelt werden kann. Hesse erinnert im Namen Harry
87
88
Hesse, Hermann: Der Steppenwolf, S.43
Hesse, Hermann: Der Steppenwolf, S.36
58
Hallers noch an einen grossen französischen Philosophen: Bataille. Harry beteuert, auch
beim Zusammensein mit seiner Geliebten sei es ihm möglich, sich der goldenen Spur,
der Essenz der Dinge, zu nähern. Bataille schreibt in L’ Erotisme, dass der Orgasmus, der
im Französischen auch la petite mort genannt wird, die ultimative Form der
Selbstauflösung ist, weil er uns Sterblichen mit einem Vorgeschmack des Todes
beglückt. Dies macht die seelisch-körperliche Liebe zu einer Alternative der
dionysischen Musik.
Licht und Dunkel
Wie in Demian auch, ist im Steppenwolf immerzu die Rede von den „zwei Welten”. Nach
meiner Auseinandersetzung mit beiden Werken Hesses kam ich zur Schlussfolgerung,
dass nicht in beiden Fällen das Gleiche gemeint ist. Demian befindet sich im Streit
zweier Kräfte, der dionysischen und der apollinischen und versucht für sich einen
Mittelweg zu finden, indem er sich selbst treu bleibt. Mit den zwei Welten illustriert
Hesse an Hand von typischen Merkmalen wie Struktur, und Sauberkeit einerseits, und
Chaos und Säufertum andererseits die beiden gegensätzlichen Pole. Im Steppenwolf ist
eine Entwicklung dieses dualistischen Denkens spürbar.
Die Entwicklung wird mit der bereits erwähnten Dreiteilung des Buches deutlich
gemacht. Zu Beginn des Buches muss sich der Leser mit der doppelschichtigen Existenz
des bald fünfzigjährigen Harry Hallers auseinandersetzen. Die Hauptfigur im
Steppenwolf fühlt sich mal sittlicher Mensch, mal wildes Raubtier. Im Traktat, das Harry
von einem geheimnisvoll wirkenden Mann in die Hände gedrückt bekommt, wird
versucht, mit der dualistischen Denkweise aufzuräumen. Ab diesem Moment kommt
Harry immer wieder in Kontakt mit dem, was er die andere Welt nennt. Hierbei spielt das
Motiv des Lichts eine nicht unwichtige Rolle. Wir müssen uns bewusst sein, dass das
Licht von Nietzsche sowie von Wagner in den besprochenen Schriften dem Apollon
zugeordnet wird. In der Beethovenschrift wird zudem geschildert, dass man durch die
Musik in eine andere Welt gelangen kann. In diesem Falle aber geschieht es durch das
Licht und Harry befindet sich oft zwischen Licht und Dunkel, zwischen dem
59
dionysischen und dem apollinischen Symbol, wenn er Zeichen aus der Welt erhält, die
gerade diese Dualität aufheben möchte.
Ins dunkelste Viertel der Stadt zieht sich Harry zurück und kommt einer alten, grauen
Steinmauer vorbei, die ihm einen angenehmen Kontrast gibt zur hektischen Welt der
modernen Innenstadt. Plötzlich sieht Harry wie leuchtende Buchstaben auf der dunklen
Mauer erscheinen: „Magisches Theater – Eintritt nicht für jedermann - Nur für Verrückte!“
89Diese
Worte sind nur an Harry gerichtet und sind die erste Einladung die er aus der
„anderen Welt“ erhält. Kurz darauf bekommt er wieder ein Zeichen, und wieder wird
die Botschaft begleitet von Licht, als wäre es ein Kontrast zum späten, dunklen Abend:
Da, als ich es aufgab und schon auf den Bürgersteig zurückgekehrt war, tropften vor mir her ein
paar farbige Lichtbuchstaben über den spiegelnden Asphalt: Ich las: Nur für Verrückte.90
Harry begegnet einem Mann auf der Strasse, der allerlei Waren anbietet. Harry kann an
dem dunklen Abend nicht richtig sehen was auf seinem Anhängeschild geschrieben
steht und versucht dieses im Licht einer Strassenlaterne zu entziffern.
Im Licht der Laterne versuchte ich seine Standkarte zu lesen, sein rotes Plakat an der Stange,
aber es schwankte hin und her, ich konnte nichts entziffern. Da rief ich ihn an und bat ihn, mir
das Plakat zu zeigen.
Und wieder wird ihm unter Einfluss des Laternenlichts eine Botschaft vermittelt: Der
Mann drückt Harry das Traktat vom Steppenwolf in die Hand. Später im Bett liegt
Harry schon im Halbschlaf, und da blitzen plötzlich bestimmte Stellen aus dem Traktat
vor ihm auf, glänzen und vermitteln ihm das Gefühl des Unsterblichen. In allen
genannten Beispielen wird das Zusammentreffen von Licht und Dunkel beschrieben,
aus welchem folglich eine Spur des Unsterblichen hervorgeht.
Im vorhergehenden Kapitel über die Musik ist ja die Gottesspur, die goldene Spur schon
erwähnt worden und ich glaube, dass sie im Zusammenhang mit dem Lichtmotiv im
Steppenwolf eine grosse Bedeutung hat. Durch Figuren aus der „anderen Welt“ wird
Harry aus seiner schwarz-weissen Steppenwolfwirklichkeit entrissen. Im Traktat und
später auch durch Begegnungen mit Hermine, der er wie einem Stern folgt (Lichtmotiv)
und Mozart wird Harry vor Augen geführt, dass er sich wie ein Tor benimmt, wenn er
89
90
Hesse, Hermann: Der Steppenwolf, S.39
Hesse, Hermann: Der Steppenwolf, S.39
60
glaubt, seine Welt in zwei Hälften teilen zu müssen. Er ist deshalb so ein Tor, weil er
sich alle Nuancen des Lebens vorenthält, indem er zu viel und zu grob kategorisiert. Im
Traktat steht geschrieben:
Betrachten wir von diesem Standpunkt aus den Steppenwolf, so wird uns klar, warum er so sehr
unter seiner lächerlichen Zweiheit leidet. Er glaubt, wie Faust, dass zwei Seelen für eine einzige
Brust schon zuviel seien und die Brust zerreissen müssten. Sie sind aber im Gegenteil viel zu
wenig, und Harry vergewaltigt seine arme Seele furchtbar, wenn er sie in einem so primitiven
Bilde zu begreifen sucht.
Harry kommt also in Kontakt mit einer anderen Welt, die Welt der Nuancen, der Welt in
der alles echt und doch unbeschreiblich ist. Einer Welt in der es keine eindeutigen
Antworten gibt, und die zur gleichen Zeit wirklich und unwirklich ist, sodass man ihr,
so Mozart und Goethe, nur mit Humor entgegentreten kann.
Das Unbestimmte
Mit Humor versuchen die verschiedenen Figuren der Unsterblichkeit ihren Schüler
Harry dazu zu bringen, sich selbst nicht mehr so ernst zu nehmen und sich allmählich
zu lösen von der Fixierung auf seine eigene, wie er meint, doppelte Persönlichkeit. Es ist
auffällig, dass Harry durch Hermine und Pablo in Kontakt tritt mit dem Jazz, den er
eigentlich verachtet und als Unterhaltungsmusik abtut, währenddem die klassischen
Komponisten ihm heilig sind. Harry bestempelt den eher schweigsamen Pablo als
dumm und ungebildet, weil er sich nicht an der von Harry initiierten Debatte über
Kunst und Kultur beteiligen will. Was auffällt, ist dass Harry geradezu davon besessen
scheint, von seinem Gegenüber eine Antwort, eine Stellungnahme zu bekommen.
„Ich habe mehrmals den Versuch gemacht, mit Ihnen über Musik zu sprechen – es hätte mich
interessiert, Ihre Meinung, Ihren Widerspruch, Ihr Urteil zu hören; aber Sie haben es
verschmäht, mir auch nur die geringste Antwort zu geben.“
Aus diesem Zitat ist ersichtlich, dass Harry Haller es gewohnt ist, ja, selbst danach
süchtig ist, zu kategorisieren und eine Seite zu wählen, so wie er in sich ja auch die zwei
Seiten des Bürgers und des Steppenwolfes erfunden hat. Diese Erfindung, diese Sucht
versucht er im Gespräch mit Pablo zu nähren, aber der junge Mann aus dem Magischen
Theater fällt nicht auf Harrys zwanghafte Schwarzweissmalerei rein. Stattdessen
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antwortet er ihm, dass es bei Musik nicht darauf ankommt, ob man Recht hat oder nicht,
sondern dass es darum geht dass man musiziert. Mit diesen Worten tötet Pablo die
Dualität gut/schlecht und plädiert für den Reichtum der zwischen beiden entsteht, oder
der entsteht, wenn man jegliches Urteil fallen lässt und einfach handelt. Natürlich
versucht Harry, sich noch für die klassischen Komponisten einzusetzen, als ihm aber
bald Mozart und auch Goethe erscheinen, bringen sie ihn mit ihrem schallenden
Gelächter und ihrem Selbstspott komplett aus der Fassung. Es gibt keinen Unterschied
mehr zwischen sinnlicher und geistiger Musik. Keiner scheint recht zu haben und
keiner Unrecht. Nur reichlich viel Humor haben sie alle.
Eine andere Vertreterin dieser tiefgründigeren Welt ist Hermine, in der sich Harry
vollkommen gespiegelt sieht und die, auch mit wenig Bildung, genaustens in seiner
Seele zu lesen weiss. Sie ist sein Stern, dem er blind folgen möchte, und auf den er seine
ganze Hoffnung setzt. Sie ist ein kleines Mädchen, verfügt aber über das Wissen eines
weisen alten Mannes. Ihre mütterliche Fürsorge und ihr knabenhaftes Aussehen
scheinen ebenfalls einen Widerspruch zu bilden. Jedoch vereint Hesse auch in Hermine
allerlei möglichen Triebe. Sie, die Harry vor dem Selbstmord schützen soll und ihm mit
gutem Essen und Tanz etwas von ihrer Leichtlebigkeit abschneiden will, birgt auch tiefe
Schwermütigkeit in sich, eine Todessehnsucht, die im Befehl zum Mord kulminieren
soll.
Wie schön war ihr Gesicht, wie überirdisch und hell schwamm wissende Trauer, diese Augen
schienen schon alles irgend erdenkliche Leid gelitten und ja dazu gesagt zu haben. Der Mund
sprach schwer und wie behindert, etwa so, wie man spricht, wenn einem grosser Frost die Lippen
erstarrt hat; aber zwischen den Lippen, in den Mundwinkeln, im Spiel der nur selten sichtbar
werdenden Zungenspitze floss, im Widerspruch zu Blick und Stimme, lauter süsse spielende
Sinnlichkeit, inniges Lustverlangen. In die stille glatte Stirn hing eine kurze Locke herab, von
dort aus, von dieser Stirnecke mit der Locke her, strömte von Zeit zu Zeit wie lebendiger Atem
jene Welle von Knabenähnlichkeit, von hermaphroditischer Magie.91
Ebenfalls einen vereinten Widerspruch verkörpert die umwerfend schöne Frau, die
Hermine für Harry organisiert hat. Ihr biblischer Name lautet Maria und sollte für
Reinheit und Jungfräulichkeit stehen. Dies deckt sich nun aber gar nicht mit ihrem
91
Hesse, Hermann. Der Steppenwolf, S. 120
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Beruf. Sie ist Liebeskünstlerin. Sie ist zwar auch nicht hoch gebildet im herkömmlichen
und für Harry so wichtigen Sinne. Er erkennt aber, dass es auch andere Formen von
Intelligenz gibt und geniesst in vollen Zügen die Weisheit seiner Freundin. Wiederum
sind die Bezeichnungen sinnlich und geistig nicht von einander zu trennen und die
Körperlichkeit kann als Kultiviertheit aufgefasst werden.
...sie sprach mit einer Hingerissenheit, einer Bewunderung und Liebe, die mich rührte und
ergriff weit mehr als die Ekstasen irgendeines Hochgebildeten über ausgesucht vornehme
Kunstgenüsse...Maria hatte keine Bildung, sie hatte diese Umwege und Ersatzwelten nicht
nötig...Schon bei jenem ersten schüchternen Tanz mit ihr hatte ich das empfunden, hatte diesen
Duft einer genialen, entzücken hochkultivierten Sinnlichkeit gewittert und war von ihr bezaubert
gewesen.92
Die Besessenheit Harrys, die Welt in zwei Teile zu spalten wird ihm spätestens durch
die Erfahrungen im Magischen Theater und in der Liebe mit Marias abgewöhnt. Es
wird ihm vor Augen geführt, dass man nicht immer und bei jeder Gelegenheit Stellung
beziehen oder eine gewisse Haltung annehmen muss. Ganz deutlich ist eine
Entwicklung im Denken Hesses spürbar bezüglich seiner Meinung zu Nietzsche und
Wagner. Im Demian wird eine Vereinigung, ein sich Vertragen der Kunsttriebe herbei
gewünscht. Im ersten Teil des Steppenwolfes wird diese Thematik aufgegriffen mit dem
Steppenwolf- Bürgermotiv. Das Lesen des Steppenwolfbüchleins bringt jedoch
Bewegung in Harrys Leben und seine dualistische Denkweise wird mit Fragezeichen
versehen. Im Magischen Theater kämpft der alte Harry gegen den jungen Harry an. Hier
handelt es sich jedoch nicht um einen apollinischen Harry und einen dionysischen, nein.
Der alte Harry der im dualistischen Konzept feststeckt, erfährt durch die vielen Formen,
die der junge, neue Harry annehmen kann, die Freiheit des Unbestimmten.
Auf diese Weise also scheint Hesse im Steppenwolf die Auflösung des Apollinischen und
das Dionysischen zugunsten des Unbestimmten, „Unsterblichen“ zu propagieren. Es
kommt mir so vor, dass Hesse die Einteilung und den Gedanken überhaupt, gewisse
Gegebenheiten einem apollinischen oder auch dionysischen Trieb zuzuordnen, als
nichtig erklären will. Wenn wir nämlich einteilen, Stellung beziehen, sei es auch zum
92
Hesse, Hermann. Der Steppenwolf, S.145
63
Dionysischen, so bewegen wir uns paradoxerweise immer im Gebiet des Apollinischen,
weil wir ordnen, Form anbringen.
In Demian wird Nietzsche oft positiv erwähnt. Im Steppenwolf finden wir aber das
folgende Zitat, welches der Annahme, dass eine Entwicklung stattgefunden hat, die von
Nietzsche wegführt, dienlich ist.
Hatten wir Kenner und Kritiker nicht alle als Jünglinge Kunstwerke und Künstler glühend
geliebt, die uns heute zweifelhaft und fatal erschienen? War es und nicht mit Liszt, mit Wagner,
vielen sogar mit Beethoven so ergangen?93
Obwohl meine Hypothese der Prüfung in Demian standgehalten hat muss ich zugeben,
dass sie auf den Steppenwolf nicht zutrifft und ergänzt werden müsste. Wie man am
letzten Zitat sehen kann, hat sich Hesses Denken entwickelt und er spricht sich gegen
das Erstellen einer dualistischen Kunsttheorie aus.
93
Hesse, Hermann. Der Steppenwolf, S.150
64
7. SCHLUSSWORT
Im ersten theoretischen Teil meiner Arbeit habe ich Ursprung, philosophischen
Hintergrund und Anwendung des durch Nietzsche und Wagner aufgestellten
griechischen Gegensatzes vorgestellt. In der Besprechung der Beethovenschrift sollte der
rote Faden, der sich vom Werk Schopenhauers aus auch durch die Gedanken Wagners
zieht, ersichtlich werden. In dieser Schrift Wagners wird auf den Gegensatz des
Dionysischen und des Apollinischen eingegangen, wovon im Kapitel über Nietzsche
eine klare Umschreibung aus seiner Geburt der Tragödie gegeben ist. Auch habe ich kurz
über die Selbstkritik Nietzsches berichtet, und Argumente aus den Nietzsche- und
Wagnerstudien von Martin Vogel mit einbezogen. Hieraus sollte hervorgehen, dass die
dionysisch-apollinische Kunsttheorie sich entwickelt hat und auch nicht immer allen
Fragen standgehalten hat.
Im zweiten und wichtigsten Teil der Arbeit wurde der ungeheure Gegensatz in der
Literatur angewendet. Ich wollte wissen, wie die Schriftsteller Thomas Mann und sein
Zeitgenosse Hermann Hesse dieses Thema in ihrem Werk verarbeitet haben und ob
auch hier Unterschiede und Entwicklungen festzustellen sind. Es hat sich herausgestellt,
dass im Tod in Venedig eine apollinische Lebensweise gegen eine kurze aber kräftige
dionysische Hochphase eingetauscht wird.
In Demian werden die beiden Kunsttriebe als gleichwertig vorgestellt. Hesse schildert
verschiedene Stationen im Leben des Suchenden Emil Sinclair mit der seiner jeweiligen
Phase entsprechenden Ausrichtung zum Dionysischen oder zum Apollinischen hin.
Hesse stellt in Demian die absoluten Werte „gut“ und „böse“ in Frage, und zeigt dass
sich alle Gegensätze bedingen und dass nach einem guten Gleichgewicht gesucht
werden sollte.
Der Steppenwolf bewegt sich nicht mehr im bipolaren System des Apollinischen und des
Dionysischen sondern im Gebiet des Unbestimmten. Die Thematik aus Demian wird
zwar aufgegriffen und mit verschiedenen gegensätzlichen Motiven wie Tier/Mensch
Ordnung/Chaos und Licht/Dunkel schön ausgearbeitet. Hauptziel des Buches ist aber
eine Demonstration der Irrelevanz einer solchen dualistischen Denkweise. Eine
Einteilung in die zwei Begriffe „dionysisch“ und „apollinisch“ ist nur vom
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Apollinischen Ordnungstrieb aus erreichbar. Aus diesem Grunde wird im Steppenwolf
eine Auslöschung des gesamten dualistischen Systems propagiert.
War der „ungeheure Gegensatz“ vielleicht doch ein genialer Irrtum?
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Literaturverzeichnis
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http://users.belgacom.net/wagnerlibrary/prose/wlpr0133.htm
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