2. Sektion: Prähistorische „Wir-Gruppen“ oder

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Auf der Suche nach Identitäten: Volk - Stamm - Kultur - Ethnos
Die Frage nach der Beziehung zwischen archäologischer Klassifikation und prähistorischer Realität ist
für unser Fach zweifellos grundlegend. Mit den vier Schlagworten im Titel - zwei weitere, Sprache und
Rasse, wurden bewußt ausgeklammert - sind einige der wichtigsten Begriffe genannt, die unter
wechselnden politischen und ideologischen Rahmenbedingungen zur Bezeichnung prähistorischer
„Wir-Gruppen“ gebraucht und mißbraucht wurden und werden.
Die Begriffe ‘Volk‘ und ‘Stamm‘ sind schon im Dunstkreis des Nationalismus des 19. Jahrhunderts
ideologisiert worden. Aber erst ihre Bedeutung für die Archäologie im Nationalsozialismus hat dazu
geführt, daß beide Begriffe bis heute weitestgehend vermieden werden und die Wissenschaft die
Frage nach prähistorischen Realitäten lieber „zurückstellt“ oder auf vermeintlich neutralere (aber auch
diffusere) Begriffe ausweicht - wie zum Beispiel ‘Ethnos‘ oder ‘Kultur‘. In der cultural anthropology ist
inzwischen jedoch auch der vermeintlich unverdächtige Kulturbegriff unter Ideologieverdacht geraten.
Und wie Parolen der „Neuen Rechten“ zeigen, kann Kultur ebenso als Kampfbegriff verwendet werden
wie Volk oder Stamm. Daher sind wir der Ansicht, daß man die Diskussion über die grundlegende
Terminologie unseres Faches nicht länger aussparen sollte. Stattdessen wollen wir nach impliziten
Bedeutungen und expliziten Anwendungszusammenhängen der einschlägigen Begriffe fragen und
nach Konsequenzen, die sich daraus jeweils ergeben.
Wir bauen auf zwei innovativen Veranstaltungen auf. Die Internationale Tagung „Die mittel- und
osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933-1945“ (19.-23. November 1998)
der Humboldt-Universität Berlin hat eine neue systematische Auseinandersetzung mit der Geschichte
des Faches Ur- und Frühgeschichte angestoßen. Auf dem Kolloquium des Sonderforschungsbereichs
541 der Universität Freiburg wurde das Thema unter der Überschrift „Eine hervorragend nationale
Wissenschaft. Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1995“ (2.- 3. Juli 1999) historisch erweitert
und vertieft. Gegenstand der Diskussion waren weniger die Methoden dieser Gruppierung, sondern
deren methodisches Vokabular, d.h. der Sprachgebrauch.
Das Teilprojekt „Ethnogenese und Traditionskonstruktion“ des SFB 417 der Universität Leipzig
untersucht die Instrumentalisierung archäologischer Forschungen bei der Konstitution regionaler
beziehungsweise nationaler Identitäten. Angeregt durch diese begriffsgeschichtliche Studie wollen wir
die in Berlin und Freiburg begonnene Diskussion aufgreifen und weiterführen. Das Ziel der Leipziger
Tagung ist es, sich mit der Terminologie unseres Faches systematisch auseinanderzusetzen, die
Geschichte und Aktualität bestimmter Begriffe aufzufächern und dabei die mögliche Sinngebung und
ihre Gefahren im Auge zu behalten. Die „ethnische Deutung“, im weitesten Sinne definiert als die
Zuordnung materieller Fundvergesellschaftungen zu historisch überlieferten Bevölkerungsgruppen
oder zu archäologischen Kulturen, denen ein wie auch immer geartetes „Wir-Gefühl“ zugestanden
wird, bietet aus der Sicht unseres Forschungsprojektes einen lohnenden Ansatzpunkt, zumal dieser
schon seit einiger Zeit auch die internationale Wissenschaft beschäftigt.
Als Gustaf Kossinna seine Methode vorstellte, glaubte er, Montelius‘ Werkzeug zur chronologischen
Gliederung des Fundstoffes um ein solches der räumlichen Ordnung erweitert zu haben: „Scharf
umgrenzte archäologische Kulturprovinzen decken sich zu allen Zeiten mit ganz bestimmten Völkern
oder Völkerstämmen“ (Kossinna 1911). V. Gordon Childe sprach - scheinbar neutraler - nur noch von
Kulturen: “Certain types of remains - pots, implements, ornaments, burial rites, house forms constantly recurring together” (Childe 1929). David Clarke hat diesen monothetischen Kulturbegriff
bereits 1968 angegriffen, ohne indes das Konzept ganz aufzugeben. Genau dafür plädieren
inzwischen aber sowohl Kulturanthropologen als auch Archäologen vor allem im angloamerikanischen
Wissenschaftsbetrieb. Sie sprechen statt dessen von veränderbarer ‚Ethnizität‘ und polymorpher
‚Identität‘ (‚patchwork identities‘).
Diese theoretische Diskussion über neue Deutungsmuster hat ihren Ursprung durchaus in der Praxis.
Die feineren Datierungen der letzten 15 Jahre haben gezeigt, daß archäologische Kulturen eben nicht
die monolithischen Einheiten sind, als die sie in den „Schubladen-Modellen“ der Nachkriegszeit
notgedrungen behandelt worden sind. Um so dringlicher wird jetzt die Frage nach der Existenzform
der den archäologischen Konstrukten vielleicht zugrunde liegenden prähistorischen Wir-Gruppen freilich nicht ohne über den dazu nötigen Begriffsapparat im oben beschriebenen Sinn eine
Verständigung herbeigeführt zu haben.
1
Diese Verständigung erscheint uns sogar bitter notwendig angesichts der neu auflebenden
nationalistischen und rassistischen Tendenzen, eine moderne politische Gemeinschaft durch die
fiktive gemeinsame Abstammung in ferne Vergangenheiten zurückzuprojizieren. Diesem linearen
Geschichtsverständnis will die Tagung nicht nur die konsequente Historisierung ethnischer Begriffe
entgegensetzen, sondern auch archäologisch konkrete Untersuchungen, die den schwankenden
Verlauf kollektiver Identifikationsprozesse sichtbar machen können.
S. Rieckhoff/ U. Sommer
Begrüßung: Heinz-Werner Wollersheim, Sprecher des Sonderforschungsbereiches 417:
Identitätsbildung als Gegenstand kulturwissenschaftlicher Regionenforschung
Eröffnung: Prof. Dr. Volker Bigl, Rektor der Universität
Einführung in das Thema der Tagung: Sabine Rieckhoff, Professur für Ur-und Frühgeschichte,
Universität Leipzig:
Geschichte als Baustelle
1. Sektion: Begriffe und Theorien
Diskussionsleitung: John Collis, Dept. of archaeology, Sheffield University
1.1 Christoph Brumann, Institut für Ethnologie, Universität Köln:
Stamm - Kultur - Identität: die aktuelle Diskussion
Der Beitrag bezieht sich auf die jüngere Diskussion zum Tagungsthema in der
Völkerkunde/Ethnologie, d. h. der Disziplin, die sich explizit als die Wissenschaft von der
menschlichen Kultur versteht. Der Begriff "Stamm" ist als soziale und juristische Realität für viele
ethnische Gruppen z. B. in den USA oder Australien - und somit auch für die mit ihnen arbeitenden
Ethnologen - weiterhin bedeutsam, hat aber als ethnologischer Fachterminus (außer in sehr
spezifischen Verwendungen der politischen Ethnologie) weitgehend ausgedient. Das mit "Stamm"
oder "Volk" unterstellte Zusammengehörigkeitsgefühl wird stattdessen heute mit "ethnischer Gruppe"
eingefangen. Ausgehend von Fredrik Barth wird eine solche als oftmals geschachtelte und immer
dynamische soziale Einheit verstanden, die sich in Selbst- wie auch Fremdabgrenzung (also immer im
Gegenüber mit anderen solchen Einheiten) als zusammengehörig erfährt. Kulturelle Merkmale wie
Sprache, Religion, Kleidung, Ursprungsmythen etc. unterstützen dies gewöhnlich, doch handelt es
sich bei diesen immer um eine mehr oder minder selektive Auswahl. Dies gilt auch für den Sonderfall
einer Nation, d. h. einer ethnischen Gruppe mit exklusivem Gebietsanspruch.
Unter "Kultur" wird hingegen das sozial tradierte Wissen und Verhalten einer Gruppe von Menschen
verstanden. Manchmal wird dies auf das Wissen beschränkt; manchmal werden auch Artefakte
einbezogen, ohne daß dies in der Forschungspraxis - die diese Bereiche ohnehin als verbunden
ansieht - entscheidende Konsequenzen hätte. Die Definition impliziert einen objektiven Standpunkt:
Die ethnische Selbsteinschätzung ist zwar ein wichtiges Kulturmerkmal, aber nur eines unter vielen,
und nicht-ethnische Kulturen (wie etwa die Sitten und Bräuche der Rechtsanwälte) sind nicht
ausgeschlossen. Das genaue Verhältnis der beiden Größen "Kultur" und "ethnische Gruppe", also
etwa die Frage, wieviel Wir-Gefühl mit wieviel objektiven Gemeinsamkeiten korrespondiert, ist noch
kaum geklärt. Außerordentliche Flexibilität - daß beträchtliche Gemeinsamkeiten zwischen und
ebenso beträchtliche Unterschiede in ethnischen Gruppen in der sozialen Praxis übersehen werden
können - ist jedoch hinreichend demonstriert worden; ein beträchtlicher Teil der ethnologischen
Ethnizitätsforschung hat sich mit der Dekonstruktion ethnischer und nationalistischer Selbstbilder
beschäftigt. Komplizierend kommt hinzu, daß der Anteil der auf Geschlecht, Alter, Beruf,
Bildungsstand oder auf Globalisierungseffekte zurückgehenden gegenüber den lokalitätsbedingten
kulturellen Gemeinsamkeiten zunimmt, d. h. immer mehr Menschen immer mehr Kulturen angehören.
Die solche Phänomene behandelnde Kulturforschung kann zudem niemals ausschließen, daß ihre
Ergebnisse Eingang in den ethnischen Diskurs finden und dort zur Schaffung oder Betonung
kultureller Gemeinsamkeiten/Unterschiede Anlaß geben. Die nationalistischen Linguisten und
Historiker des 19. Jahrhunderts haben diesen Effekt bewußt gesucht, und heutzutage geraten
Ethnologen, die gegen die Wahrheiten ethnischer und nationaler Selbstfindungsdiskurse anschreiben,
2
mitunter in Zwiespälte zwischen Wahrheitsanspruch und politischen Sympathien.
Im Bewußtsein der Rückkopplungseffekte wird nun innerhalb der Ethnologie die Forderung erhoben,
den Kulturbegriff ganz abzuschaffen, da er - ganz wie der Rassebegriff, den zu ersetzen er
ursprünglich etabliert wurde - unweigerlich Ausgrenzungsmittel sei. Dies würde das Fach jedoch eines
zentralen, auch jenseits der Akademie immer verbreiteteren Konzepts berauben. Sinnvoller erscheint
mir, den Begriff beizubehalten, ihn allerdings gegenüber der überall vorhandenen individuellen
Variation und den transkulturellen Gemeinsamkeiten richtig zu positionieren. Es ist also nicht Aufgabe
der Kulturwissenschaft, so viel Kultur wie möglich zu finden. Außerdem gilt es, Kultur, Ethnizität und
Identität analytisch zu trennen: Nicht alle Kultur ist ethnizitätsrelevant, nicht jede Identität ist ethnisch
oder kulturell begründet. (Siehe hierzu auch meinen Artikel "Writing for culture: Why a successful
concept should not be discarded" in Current Anthropology 40 (1999), Supplement, S. 1-27.)
Das flexible Verhältnis zwischen Kultur und ethnischer Identität macht mich skeptisch gegenüber
Versuchen, Gruppen, die nur in fremden Aufzeichnungen oder überhaupt nicht historisch belegt sind,
ethnische Identitäten und ein Wir-Gefühl zu unterlegen. Mehr als plausible Spekulationen sind hier
kaum zu erreichen. Unproblematisch ist meines Erachtens jedoch die Identifikation von
prähistorischen Kulturen. Überträgt man das holistische Kulturverständnis der Ethnologie, das
zwischen verschiedenen Lebensbereichen (also etwa zwischen Religion und Anbauformen)
Querbezüge erwartet, sollte sich dies allerdings immer auf charakteristische Kombinationen aller
Fundstücke und nicht nur auf einzelne Artefakt- oder Materialarten beziehen.
1.2 Hans-Peter Wotzka, Seminar für Vor- und Frühgeschichte, Universität Frankfurt:
Archäologische Kulturkonzepte: „Vitrinen fossiler Identitäten?"
Es geht um die Frage, inwieweit sich Identitätsgruppen ferner Vergangenheiten in archäologischen
Kulturkonzeptionen spiegeln. Die Erörterung wird auf die urgeschichtliche Archäologie beschränkt
bleiben, d. h. auf jenen Teilbereich der Ur- und Frühgeschichtsforschung, der mit der Untersuchung
schriftloser Räume und Zeiten befaßt ist. Im Mittelpunkt steht zunächst das sogenannte traditionelle
archäologische Kulturkonzept, das seit seiner systematischen Formulierung und Verwendung gegen
Ende des 19. Jahrhunderts engstens mit völkisch-ethnischen Interpretationen verflochten war und
insbesondere in der Forschung zur europäischen Jungsteinzeit weiterhin große Bedeutung als
Ordnungsprinzip und Deutungsansatz behalten hat. Historische Wurzeln und Begründungen der
dahinterstehenden Annahme eines regelhaften Zusammenhangs zwischen räumlich und zeitlich
spezifischen Ausprägungen der materiellen Kultur und grundlegenden sozialen Selbstzuschreibungen
ihrer Verfertiger und Benutzer sollen herausgearbeitet und kritisch analysiert werden.
Aus kulturanthropologischer Sicht fällt insbesondere auf, daß Archäologen in der Regel ungenügend
zwischen verschiedenen Typen und Dimensionen der Identität unterscheiden. Ein Hauptgrund hierfür
liegt in der beschränkten Aussagefähigkeit urgeschichtlicher Quellen. Mit undifferenzierten Deutungen
bestimmter Raum-Zeit-Muster im Sinne irgendwelcher, nicht näher bestimmter Identitätsgruppen
gewinnt die Archäologie jedoch nichts – außer neuen „zugeschriebenen“ Identitäten ohne
Erklärungskraft. In diesem Zusammenhang soll erörtert werden, ob das in Mode befindliche Konzept
der „kulturellen Identität“ mehr ist als ein terminologischer Kunstgriff.
Auch die gewöhnlich angewandte Methode, nämlich die Untersuchung der Verbreitungen einzelner
oder in Kombination gefundener materieller Formen auf räumliche Geschlossenheit, erscheint wenig
geeignet, ehemaligen Identitäten auf die Spur zu kommen, erhebt sie doch die Behauptung, soziale
Zugehörigkeiten müßten sich in räumlich abgrenzbaren materiellen Differenzierungen niederschlagen,
zu einem Satz universeller Gültigkeit. Zudem sind die beträchtlichen Größenordnungen der
Verbreitungsgebiete archäologischer „Kulturen“ und „Kulturgruppen“ kaum mit den tendenziell weitaus
geringeren Reichweiten traditioneller Identitäten zur Deckung zu bringen, wie sie sich in
nichtstaatlichen Gesellschaften ethnographisch beobachten lassen.
Die Genese archäologischer Verbreitungsbilder hängt von zu vielen, im einzelnen noch viel zu
schlecht verstandenen Faktoren ab, um eindimensionale Interpretationen angemessen erscheinen zu
lassen. Vor diesem Hintergrund gilt es zu fragen, welche Ziele die Urgeschichtsforschung angesichts
der ihr zur Verfügung stehenden Quellenmaterialien auf der Suche nach Identitäten überhaupt
legitimer- und sinnvollerweise verfolgen kann.
1.3 Siân Jones, School of Art History and Archaeology, University of Manchester:
Archäologie und Ethnizität
Die Identifikation von Völkern der Vergangenheit, die wahlweise als Stämme, Nationen oder ethnische
Gruppen bezeichnet wurden, hat durch die ganze Geschichte des Faches hindurch eine zentrale Rolle
gespielt. Bisweilen war es, oft durch nationalistische Absichten beeinflußt, das ausdrückliche Ziel, die
Geschichte ethnischer Gruppen der Vergangenheit nachzuzeichnen. Zu anderen Zeiten wurde
3
Kulturen und ethnischen Gruppen nur eine Rolle im Hintergrund zugewiesen, aber implizit blieben sie
ein wesentlicher Aspekt in der Klassifizierung archäologischer Funde.
In diesem Vortrag werde ich einen kurzen Überblick über traditionelle Forschungsansätze geben, in
welchen abgegrenzte homogene Kulturen mit ethnischen Gruppen der Vorzeit gleichgesetzt werden.
Ein solches Modell ist, meines Erachtens nach, von nationalistischen Diskursen abzuleiten, die einen
tiefen Einfluß auf die archäologische Forschung hatten, der weit über die Beschäftigung mit speziellen
nationalen Ursprungsmythen hinausging. Genau wie moderne Nationalstaaten ihre Bevölkerungen
klassifizieren und kontrollieren und versuchen, Zusammengehörigkeit und ein bestimmtes Niveau von
Homogenität herzustellen, wird auch die archäologische Überlieferung in die Form homogener Typen
und Kulturen gepreßt. Sowohl in modernen Staaten als auch in vergangenen Kulturen wird so
Diversität „ausgemerzt“ und Heterogenität unterdrückt.
Neuere Theorien betonen dagegen die fließende und situationale Natur von Ethnizität, sowie die
unterschiedlichen und heterogenen Wege, auf denen materielle Kultur genutzt wird, um Identität zum
Ausdruck zu bringen. Wie ich darstellen werde, erfordert ein solcher Ansatz einen grundlegend
anderen Zugang zur archäologischen Überlieferung, nicht nur eine neue Interpretation der Verbreitung
bestimmter kulturspezifischer Artefakttypen und Stile. Archäologische Kategorien wie „Kulturen“ und
„Typen“ müssen als primäre Analyseeinheiten aufgegeben werden, und stattdessen müssen wir uns
auf ein kontextuelles Herangehen an Fragen der sozialen Interaktion und der sozialen Praxis
konzentrieren. Ich will meine Ausführungen mit einigen Beispielen erfolgreicher praxisorientierter
Analysen der kulturellen Identität beschließen, die sich auf architektonische Muster, die Strukturierung
der Interaktion von Bewegungsmustern und des sozialen Raumes sowie die strukturierte Ablagerung
materieller Kultur konzentrieren.
Schlußkommentar: John Collis
2. Sektion: Prähistorische „Wir-Gruppen“ oder archäologische
Konstrukte?
Diskussionsleitung: Siegmar v. Schnurbein, Römisch-Germanische Kommission Frankfurt
2.1 Sebastian Brather, SFB 541, Universität Freiburg:
Ethnische Identität und frühgeschichtliche Archäologie
I. Einleitung:
Der Versuch, Sachkultur und ethnische Gruppen miteinander zu verbinden, ging von der
frühgeschichtlichen Archäologie aus. Man bemühte sich, die Geschichte der modernen Nationen weit
in schriftlose Zeiten zurückzuverfolgen bzw. zu verlängern. Seit dem 16. Jahrhundert erhob sich
überall in Europa die Frage, welches antike „Volk“ am Beginn der (eigenen) Geschichte wohl
gestanden hatte. Die Romantik sah den Beginn einer patriotischen Sicht auf das Altertum – die
„vaterländische Altertumskunde“. In Deutschland lautete die entscheidende Frage: Ist das
archäologische Material keltisch, germanisch oder slawisch? Im Zeitalter des Imperialismus erlangte
die prähistorische Archäologie auch politische Relevanz. Archäologische Funde konnten ein
exzellentes Argument für territoriale Ansprüche abgeben, mitunter bis heute.
II. Systematik „ethnischer Deutung“:
Das „ethnische Paradigma“ umfaßt in der (frühgeschichtlichen) Archäologie im wesentlichen folgende
Fragestellungen: die ethnische Zuweisung von Siedlungsräumen, die Verbindung kultureller und
ethnischer Kontinuitäten, Ethnogeneseprozesse, den Nachweis von Wanderungen und die
Identifizierung von Fremden und „Minderheiten“. Alle diese Aspekte sind eng miteinander verbunden,
können aber analytisch getrennt werden. Diese fünf systematischen Aspekte lassen sich in eine
(durchaus imaginäre) zeitliche Ordnung bringen, d. h. auf einer Zeitachse nacheinander anordnen.
III. Unterscheidung:
Am Beispiel der Franken läßt sich zeigen, wie die Archäologie des frühen Mittelalters „ansässige
Romanen“ und „eingedrungene Germanen“, Franken im nordöstlichen Gallien und Alemannen in
Südwestdeutschland, in den Reihengräberfeldern auseinanderzuhalten suchte. Voraussetzung all
dieser Bemühungen ist, daß die zu identifizierenden (ethnischen) Gruppen nach innen homogene und
nach außen deutlich abgeschlossene (distinkte) Einheiten darstellten. Außerdem müßten
verschiedene Ebenen kongruent zusammenfallen: regionale Gruppierungen der Sachkultur,
ethnisches Selbstverständnis, Sprachraum und schließlich auch die biologische Verwandtschaft
(Abstammungsgemeinschaft). Anhand einiger Versuche der letzten Zeit sollen die Grenzen dieses
Vorgehens demonstriert werden. Mit neueren historiographischen Studien ist auf die gemeinsame
4
frühmittelalterliche Lebenswelt hinzuweisen. Die Ausstattung im Grab muß daher vor allem in
sozialgeschichtlicher Hinsicht (Rang, Geschlecht, Alter, Familie, Bestattungsgemeinschaft) analysiert
werden.
IV. Ethnische Symbole als methodischer Ausweg?:
Analysen der Sachkultur ergeben keine scharfen Grenzen, sondern fast stets ein diffuses Kontinuum.
Ethnische Grenzziehungen berufen sich daher auf wenige Symbole, mit denen kulturelle Unterschiede
zu prinzipiellen Differenzen gesteigert, d. h. ideologisch überhöht werden. Mittelalterliche Chroniken
weisen mitunter auf solche „ethnischen Zeichen“ hin, doch sind diese Anhaltspunkte meist nicht
zeitgenössisch, oder sie beziehen sich auf andere Zusammenhänge. Ohne Zusatzinformation ist die
Archäologie nicht in der Lage, ethnische Symbole aus dem Kontext zu erschließen, weil wir den
Kontext nicht kennen.
2.2 Slavomir Kadrow, Instytut Archeologii, Uniwersytet Jagielloński Kraków:
Soziale und ethnische Strukturen der Bronzezeit Polens
Das Referat geht von folgenden Annahmen aus:
a. Ethnien sind selbstdefinierte Gruppen, die über den Mechanismus eines sozialen und kulturellen
Vergleichs (Wir/Andere) enstanden sind, und
b. ethnische Identifikation wird durch die Verfolgung gemeinsamer Interessen verstärkt. Daraus folgt:
(1) Ethnizität muß als dynamisches Ereignis verstanden werden, und (2) ethnische Analysen sollten
sich auf die soziale Organisation und die Mechanismen politischer Macht konzentrieren.
Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß ethnische Prozesse nur nach dem Modell organischer Muster
verlaufen können. Im Gegenteil kann man annehmen, daß sich viele wichtige ethnische Prozesse
nach ganz anderen Modellen (z.B. colluvies gentium) gestalteten.
Gegenstand des Referates sind die Gruppen, die den östlichen Teil Polens vom Ende des
Neolithikums bis zum Anfang der Lausitzer Kultur (2500 – 1000 BC) bewohnt haben. Als Grundlage
für die Erschließung ihrer sozialen Strukturen dienen vielschichtigen Siedlungsanalysen, die durch
Ergebnisse der Gräberanalysen ergänzt werden.
In der Bronzezeit Ostpolens sind die kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und ethnischen Prozesse
sehr viel anders abgelaufen als in den mitteleuropäischen Gebieten. Im allgemeinen haben sich die
spätneolithischen Muster fortgesetzt, bronzezeitliche (mittel- oder süd-osteuropäische) Einflüsse
wurden nur sehr oberflächlich adaptiert. Wahrscheinlich hat die Fluidität und der geringe
Organisationsgrad der kleinen ethnischen Einheiten einer Stagnation der kulturellen, wirtschaftlichen
und sozialen Entwicklung entsprochen. Es ist daher sehr zweifelhaft, ob diese in ihrer Mitgliedschaft
sehr flüssigen, ohne innere Dynamik lebenden und sich nur langsam verändernden kleinen
Gesellschaften als Basis für die historisch überlieferten größeren ethnischen Einheiten dienen
konnten.
2.3 Albrecht Jockenhövel, Institut für Vor- und Frühgeschichte, Universität Münster:
Zu Mobilität und Grenzen in der Bronzezeit
2.4 Andreas Zimmermann, Institut für Vor- und Frühgeschichte, Universität Köln:
Stämme in der Bandkeramik?
In diesem Vortrag wird ausgeführt, weshalb in zwei Fallbeispielen der bandkeramischen Kultur (gegen
Ende des 6. Jahrtausends v. Chr.) mit einer "Grenze" zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen
gerechnet werden muß. Als "Grenze" wird hier eine Zone verringerter Kommunikationsintensität
bezeichnet.
Als archäologische Quellen werden zunächst einerseits die Zusammensetzung der damals genutzten
Feuersteinrohmaterialien und andererseits die Verzierung der Keramik herangezogen. Eine
Unterschiedlichkeit des Feuersteinrohmaterialspektrums kann für den Zeitabschnitt der gesamten
mittleren Bandkeramik belegt werden; in der Keramikdekoration lassen sich die Verschiedenheiten auf
beiden Seiten der "Grenzen" erst am Ende der Bandkeramik fassen. In beiden Materialklassen war
der Kommunikationsfluß nicht völlig unterbrochen. Einzelne "fremde" Elemente lassen sich auf beiden
Seiten beobachten.
Wenn man sich bemüht zu verstehen, wie es einerseits im Gebiet zwischen Werl und Soest
(Westfalen) und andererseits im Raum Nieder-Mörlen, Steinfurth, Echzell (Hessen) zu einer langfristig
wenig entwickelten Kommunikation kam, sind zwei Deutungsansätze möglich.
1. Beide "Grenzzonen" befinden sich in der Nachbarschaft einer seltenen Ressource. Dort wurde zumindest in späteren Zeiten - Salz gewonnen. Bei diesem Interpretationsversuch würde man Streit
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um Zugangsrechte für die Entstehung unterschiedlicher Identitäten diesseits und jenseits der "Grenze"
verantwortlich machen.
2. Bei einer detaillierten Analyse des Neolithisierungsablaufes und der Untersuchung, wie sich dann
später das Mittelneolithikum ausgebreitet hat, kann man Hinweise darauf finden, daß in den beiden
fraglichen Gebieten Einflußströmungen aus verschiedenen Regionen aufeinandergestoßen sind.
Daß die ethnische Deutung in der Ur- und Frühgeschichte forschungsgeschichtlich belastet ist, darf
nach Meinung des Referenten in keinem Fall zur Schlußfolgerung führen, die Suche nach Identitäten
dürfe für urgeschichtliche Untersuchungen kein Thema mehr sein. Das hieße auf eine zentrale
Fragestellung historischer Arbeiten zu verzichten. Es gehört mit zum Verständnis von Identitäten, ihre
Einbettung in soziale Einheiten anderer Größenordnungen sowie ihre sich im Laufe der Zeit
dynamisch verändernde Bedeutung zu untersuchen. Mit einem entwickelteren Bewußtsein von der
Veränderlichkeit solcher sozialer Gruppierungen läßt sich vermutlich auch die Gefahr
mißverständlicher Deutungen verringern.
Schlußkommentar Siegmar v. Schnurbein
Festvortrag: Georg Meggle, Institut für Philosophie Universität Leipzig:
Wer sind wir?
3. Sektion: Historische und archäologische Überlieferung: Das
Fallbeispiel Kelten
Diskussionsleitung: Siegmar v. Schnurbein
3.1 Jörg Biel, Landesdenkmalamt Baden-Württemberg:
Kelten in Süddeutschland?
3.2 John Collis, University of Sheffield, Dept. of archaeology:
Die Kelten und die Politik
Wenn man das Verhältnis zwischen Archäologie, Rasse, Ethnizität und Politik untersucht, geben die
Kelten eine der interessantesten Fallstudien ab, sowohl für die Art und Weise, wie die Kelten der
Antike benutzt wurden, als auch während des Aufstiegs der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert und
nicht zuletzt für die Entwicklung einer pan-europäischen Identität in der jüngsten Vergangenheit. In
den letzten 15 Jahren wurde zu diesem Thema sehr viel publiziert, daher kann ich nur ein paar wenige
Punkte herausgreifen.
Im heutigen Europa wird die Konzeption der Kelten auf vier verschiedenen Ebenen genutzt:
1. um eine pan-europäische Identität, die sich auf gemeinsame Wurzeln beruft, von Irland bis in die
Türkei und von Portugal bis Polen. zu befördern;
2. um eine regionale Identität für die Bewohner der europäischen Atlantikküste, die keltische Sprachen
sprechen oder sich mit moderner „keltischer“ Kultur identifizieren, zu schaffen.
3. um in den moderner Nationalstaaten wie Frankreich, Irland und Spanien Ursprungsmythen zu
schaffen;
4. um auf der lokalen Ebene eine lokale Identität zu fördern, wie im Fall von Galizien in Spanien, oder
um die Entwicklung des Tourismus voranzutreiben (Tara, Navan Fort, Mont Beuvray).
Für uns Archäologen besteht das Problem darin zu entscheiden, welche Rolle wir dabei spielen
wollen, denn obwohl wir diesen politischen Zielen wohlwollend gegenüber stehen mögen, wurde
Archäologie in der Vergangenheit benutzt, um Rassismus, extremen Nationalismus und andere
Formen kultureller Vorherrschaft zu befördern. Daher sollten wir uns hüten, eine falsche Methodologie
zu verwenden, nur weil sie unseren besonderen Zwecken dient (z. B. der Unterstützung von
Minderheiten) oder weil sie unschuldig erscheint. Archäologen verdammen zum Beispiel die
Methodologie von Gustav Kossinna, weil sie durch den Gebrauch durch die Nazis belastet erscheint,
aber die Methodologie, mit der heute der Ursprung und die Ausbreitung der Kelten erklärt werden, ist
damit fast identisch (und genauso falsch!), wird aber dennoch weiterhin in wissenschaftlichen
Publikationen und Ausstellungen verbreitet.
Archäologen müssen sich deshalb der theoretischen Grundlagen ihrer Methodologien und der
Geschichte ihres Faches bewußt sein. Die Konzeption der Kelten basiert auf einer Reihe falscher
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Annahmen über die Vergangenheit, die nicht in Frage gestellt werden. Dazu gehört folgendes:
1. Die Annahme, daß die Bewohner der britischen Inseln Kelten waren, ist eine moderne Erfindung
des 16. Jahrhunderts (Georg Buchanan).
2. Die Definition der Kelten als eines Volkes, das eine keltische Sprache spricht, ist ebenfalls modern.
Sie beruht auf der falschen Annahme des Abbé Pezron, daß Bretonisch ein Überbleibsel der alten, in
Gallien gesprochenen Sprache sei und deshalb sowohl Bretonisch als auch verwandte Sprachen
„keltisch“ seien.
3. Keltische Kunst wird als solche bezeichnet, weil man im 19. Jahrhundert die antike Bevölkerung
Großbritanniens für keltisch hielt, und daher mußte auch deren Kunst keltisch sein (Tara-Fibel,
Battersea-Schild).
4. Die Verbindung einer „La-Tène-Kultur“ mit den Kelten, die sich von Nordfrankreich und
Süddeutschland her ausbreitete, basiert auf der Annahme, daß die Kelten irgendwann in der Eisenzeit
von außerhalb nach Mitteleuropa kamen. Dafür finden sich in den Textquellen kaum Belege.
5. Die archäologische Verbreitung der Kelten, wie sie die meisten Karten zeigen, beruht auf der
Annahme Joseph Déchelettes, daß die Kelten anhand ihrer Grabsitte, der gestreckten
Körperbestattung identifiziert werden könnten (im Unterschied zu den Brandbestattungen der
Germanen).
Den meisten Archäologen sind sich dieser Tatsachen nicht bewußt, und wegen dieser Unkenntnis
fahren sie fort, dem breiten Publikum falsche Informationen zu vermitteln, die dann für politische Ziele
verwendet werden können. Daher müssen Archäologen ihr Forschungsgebiet besser verstehen lernen
sowie die gesellschaftlichen und politischen Implikationen ihrer Handlungen.
3.3 Laurent Olivier, Musée des Antiquités Nationales à Saint-Germain-en-Laye und Olivier
Buchsenschutz, CNRS, Paris:
Die Rolle der Archäologie im Konflikt zwischen regionaler und nationaler Identität in Frankreich
Seit dem Mittelalter spielen die Gallier als das von den antiken Quellen überlieferte Ur-Volk eine
grundlegende Rolle in der Entwicklung der französischen kollektiven Identität. In Wahrheit sind diese
Quellen unvereinbar, lückenhaft und widersprüchlich und bestehen im wesentlichen aus Cäsars «De
Bello Gallico». Dieser Text, seit dem 16. Jahrhundert immer wieder aufgelegt, ist der Ur-Text für die
Geschichte und später die Archäologie der Gallier und hat nacheinander sowohl zur Legitimation der
absoluten Monarchie wie auch der republikanischen Nation gedient. Das Gallien Caesars ist so das
Modell für das zeitgenössische Hexagon, Frankreich in seinen natürlichen Grenzen. Die Aufklärung
und die republikanische Ideologie kehrten die bis dahin gültige Geschichtsinterpretation um. Man ließ
die Franken, die als die Begründer der Ungleichheit des Ancien Regime galten, verschwinden und
ersetzte sie durch die Gallier, welche nun die Rechte der Gemeinschaft verkörperten und «L’histoire
de France» eröffneten. Wie vorher die absolute Monarchie führte aber die Republik den
jahrhundertelangen Prozeß der Zentralisation als Nachfolger der «nos ancêtres les Gaulois» weiter.
Der Anspruch auf regionale Identität, besonders der Bretagne, blieb dabei unbeachtet, wie man auch
die Ansätze einer antirepublikanischen Restauration, die während des 19. und 20. Jahrhunderts
immer wieder hier und da aufflammte, nicht völlig ersticken konnte. Das Modell der nationalen gallischen - Wurzeln ist heute umstritten, einerseits, weil das traditionelle Modell des Nationalstaats
selber zusammengebrochen ist, anderseits, weil die moderne Forschung gezeigt hat, daß die heutigen
Staaten mit den antiken Kulturgruppen, seien sie germanisch, italisch oder auch hispanisch, nichts zu
tun haben. Den nationalen Galliern werden nun die Kelten der regionalistischen Bewegungen
gegenübergestellt. Wie während des zweiten Weltkrieges suchen diese Bewegungen eine Basis
jenseits von Frankreich, in einer europäischen Identität. In der Definition ihrer Identität spielen Musik,
Sprache und Landschaft eine Rolle, und auch das, was sie von der Geschichte wissen, aber all das ist
nebensächlich im Vergleich zu dem politischen Kampf um Selbstverwaltung.
Schlußkommentar: Siegmar v. Schnurbein
4. Sektion: Ethnische Deutung im Spannungsfeld Nation - Region
Diskussionsleitung: J.H.F. Bloemers, IPP Amsterdam
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4.1 Jan Klápšĕ, Archeologický ústav Akademie ved CR, Praha:
Archäologie des Mittelalters im Spannungsfeld der verschiedenen Identitäten: das Fallbeispiel
Böhmen
1. Germanen : Slawen
Die Anfänge der slawischen Besiedlung Böhmens, archäologische und sprachwissenschaftliche
Konzepte im Vergleich.
2. Einheit und Gliederung
Stamm - Stämme, Kleinstämme oder etwas anderes? Nachweise der frühmittelalterlichen Gliederung
Böhmens in den Schriftquellen und in der Archäologie. Versuch eines Vergleichs und einer
geschichtlichen Bewertung der Erscheinung.
3. Tschechen : Deutsche
Die ethnische Karte Böhmens und die materielle Kultur im 13. Jahrhundert - Sprachwissenschaft und
Archäologie im Vergleich.
Hochmittelalterliche Diskrepanz als eine Ausnahme oder eine allgemeinere Regel?
4.2 Predrag Novakovic, Oddelek za arheologijo Univerze v Ljubljani:
Archäologie und wechselnde Identitäten im früheren Jugoslawien
Während seiner gesamten siebzigjährigen Geschichte als Staat befand sich Jugoslawien, ein Mosaik
aus einer Anzahl nationaler, ethnischer, religiöser und kultureller Geschichten und Identitäten, in einer
immerwährenden Suche nach einem Ausgleich zwischen seinen Nationen und nach einer Identität
und einer gemeinsamen Grundlage auf dem Feld der Politik, Geschichte und Kultur. Zwei groß
angelegte Versuche, eine gemeinsame Identität herzustellen, wurden ausgelöst durch die
herrschenden politischen Eliten: Der jugoslawische Integrationalismus (1918-1941) und die Ideologie
der Brüderlichkeit und Einheit (1945-1991). Beide Versuche scheiterten und endeten schließlich in
inter-ethnischen- und Bürgerkriegen. Obwohl die durch Tito geleitete jugoslawische kommunistische
Partei nach dem zweiten Weltkrieg in der Wiederherstellung des jugoslawischen Staates auf neuen
ideologischen Grundlagen erfolgreich war, gab es in den späten achtziger und frühen neunziger
Jahren keine Macht mehr, die in der Lage war, dies ebenfalls zu erreichen. Die auf den Tod von Tito
(1980) folgenden Jahrzehnte zeichneten sich durch zwei bedeutende politische Probleme aus: die
wachsende Unzufriedenheit mit der sozialistischen Regierung und die Forderungen nach einem
demokratischen System sowie die verstärkter Betonung von Nationalismus und die Forderungen nach
unabhängigen Nationalstaaten. Diese beiden Probleme hingen eng miteinander zusammen.
Der Großteil des Diskurses über historische, kulturelle und Identitätsfragen verlief zentrifugal, da die
jugoslawische Haltung für die neuen nationalistischen Eliten, die in allen Teilrepubliken entstanden,
unerträglich wurde. Das sozialistische Regime und seine Ideologie wurden als erstes angegriffen. Den
Forderungen nach einem demokratischen System folgten bald auch Forderungen nach nationaler
Unabhängigkeit.
Letztere griffen die Ideologie und Doktrin der Brüderlichkeit und Einigkeit an, wie sie von dem
kommunistischen Regime proklamiert worden waren.
Die Neuinterpretation der Vergangenheit stellte eine der offensichtlichsten Strategien in diesem
Prozeß dar. Die Geschichte, reich an Episoden von offenen ethnischen, religiösen, politischen und
kulturellen Konflikten, illiberalen Regimen und Diktaturen, lieferte einen unerschöpflichen Fundus von
Fragen und Themen, die dann im Rahmen eines nationalistischen Diskurses eingesetzt werden
konnten. Während die kommunistische Partei immer noch auf denjenigen Elementen der Geschichte
beharrte, die als gemeinsame Grundlage für die Identität des Staates und der Regierung dienen
konnten (die nationale Befreiungsbewegung als die Basis des neuen Nachkriegsjugoslawiens; die
entscheidende Rolle von Tito und der kommunistischen Partei in der Erschaffung eines neuen
Nachkriegs-Jugoslawiens; die Rückprojektion dieser Elemente der Brüderlichkeit und Einheit in die
Vergangenheit usw.), neigten die neuen nationalistischen Eliten in den Republiken eher zur
Nationalgeschichten und nationalen Identitäten und gestalteten diese so abweichend wie nur irgend
möglich von der „offiziellen“ Erzählung. Man bemühte sich nicht nur, die Geschichte der Neuzeit zu
revidieren, sondern auch Alte Geschichte und Archäologie.
Die Versuche, die antike und vorgeschichtliche Vergangenheit zu revidieren, manifestierte sich in
vielfältiger Weise. Drei wichtige Phänomene können hier skizziert werden können: erstens die
Erscheinung autochthoner Ethnogenese-„Theorien“, zweitens die Forderung nach unabhängigen
Staaten, die auf der Staatlichkeit der slavischen Nationen im Frühmittelalter und Mittelalter und auf
den mit ihnen verbunden Mythen beruhten sowie den wachsenden Bestrebungen der christlichen
(katholischen und orthodoxen) Kirchen und der muslimischen Geistlichkeit, moralische und öffentliche
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Fragen zu beeinflussen, und schließlich drittens auch die Deutung der Vergangenheit.
Obwohl viele dieser Behauptungen zu falschen Theorien und schlechter Wissenschaft führten,
kokettierte die nationale Politik dieses Zeitabschnitts bereitwillig damit und half so, „neue“ Traditionen
zu etablieren – die so verschieden wie nur irgend möglich von den Traditionen anderer slavischer
Nationen in Jugoslawien und von den Traditionen der kommunistischen Interpretation der
Vergangenheit waren.
Die Rolle der Wissenschaftler und Intellektuellen war sehr unterschiedlich. Es ist fast unmöglich, einen
gemeinsamen Nenner zu finden. Die meisten von ihnen lehnten die extremen Verirrungen und auch
die schlechte Forschung ab, aber auf der anderen Seite gab es einflußreiche Gruppen von Historikern,
Linguisten, Kunstgeschichtlern, Schriftstellern, Dichtern und Künstlern, die ihre Zukunft bei den neuen
politischen Eliten in den jeweiligen Republiken und Nachfolgestaaten sahen und aktiv zu der
Herstellung und Verbreitung nationaler Ideologien und Identitäten beitrugen.
Der Vortrag untersucht einige Beispiele der Erfindung von Traditionen, den Forderungen historischer
begründeter Anrechte und der Herstellung neuer Identitäten, bei denen Archäologie und deren Praxis
in den ehemaligen jugoslawischen Republiken und Nachfolgestaaten beteiligt waren.
4.3 Milos Jevtic, Univerzitet u Beogradu, Odeljenje za arheologiju:
Modern Serbian archaeology and the problem of ethnic identification
4.4 Sam Lucy, Dept. of archaeology, University of Durham:
Constructing the English: Die Konstruktion des Englischen: Frühmittelalterliche Gräberfelder
und die veränderte Wahrnehmung der Angelsachsen
Seit ihren Anfängen hat die Archäologie der frühen Angel-Sachsen (die Archäologie Ostenglands vom
fünften bis zum siebenten Jahrhundert n.Chr.) in einem auf dem „gesunden Menschenverstand“
beruhenden Rahmen operiert. Wir „wissen“, daß Leute aus dem Norden Europas im 5. und 6.
Jahrhundert nach Chr. nach Großbritannien eingewandert sind, da die Schriftquellen dies berichten.
Das archäologische Fundgut bestätigt das. Tut es das wirklich? Dieses Referat will zu den Anfängen
der Angelsachsen-Archäologie zurückkehren und zeigen, daß das Konzept von den Angelsachsen im
des nationalistischen Diskurs des 19 Jh. entstanden ist. Das archäologische Fundgut wurde Teil
dieses Diskurses, es wurde benutzt, um die Idee des “Englischen” an sich zu definieren. Die
Interpretation neuer Grabriten und Grabbeigaben als Anzeichen germanischer Einwanderung wurde
so niemals ernsthaft in Frage gestellt. Aber die gegenwärtige Kritik an dem Kulturbegriff in der
prähistorischen Archäologie kann auch auf die Archäologie der Angelsachsen angewandt werden.
Dieses Referat wird zeigen, daß ein großer Teil der Terminologie und Methodologie, die von den
Frühmittelalterforschern verwendet wird, in Frage gestellt werden kann. Die Historisierung der Debatte
zu ist ein Weg, um diesen Prozeß einzuleiten.
4.5 Ulrike Sommer, SFB 417, Universität Leipzig:
Archäologie und sächsische Identität
Die Entwicklung der sächsischen Archäologie ist eng mit der Frage nach der Identität der Hersteller
prähistorischer Objekte und Bodendenkmäler verknüpft. Nachdem der Artefaktcharakter der Funde
allmählich anerkannt worden war, stellte schon 1781 die Oberlausitzische Gesellschaft in Görlitz die
Preisfrage, ob ”Germanen oder Serben die ersten Bewohner der Oberlausitz” waren?“.
In einem ersten Abschnitt der Forschung wurden zur Beantwortung der Frage nach den ersten
Bewohnern Sachsens lediglich die Schriftquellen herangezogen, für die Bodenfunde im besten Falle
als Illustration dienten. Seit ca. 1820 begannen jedoch eine Anzahl von Autoren, aus den
Schriftquellen Kriterien herzuleiten, die eine ethnische Zuordnung archäologischer Funde ermöglichen
sollten. So werden etwa Befestigungsanlagen den „kriegerischen“ Germanen zugeschrieben, da die
Slawen anerkanntermaßen friedfertigen Charakters waren. Ab der Mitte der 1830er Jahre finden sich
dann Argumentationen, mit denen eine ethnische Deutung an Hand von Fundverteilung und
Fundvergesellschaftung, also aus dem Material heraus versucht wurde. So fordert K. B. Preusker zum
Beispiel einen systematischen Vergleich mit rein germanisch und rein slawisch besiedelten
Gegenden, um die sächsischen Funde den betreffenden Völkerschaften zuweisen zu können.
Autoren wie K. A. Engelhardt (1802) und K. B. Preusker (1841) gelingt auf diese Weise eine durchaus
befriedigende Einbettung prähistorischer Funde in eine vaterländische Geschichte – wenn auch unter
gegensätzlichen ethnischen Vorzeichen. Über die Identität der ersten Bewohnern von Sachsen bzw.
der Mark Meißen wurde keine Einigkeit erreicht. Zwar wurde um die Zuordnung einzelner Funde und
Fundgruppen durchaus heiß gestritten wurde, aber insgesamt scheint die Frage nicht von solcher
Bedeutung gewesen zu sein, daß sie in Forscherkreisen wirkliche Konflikte auslöste. Das mochte
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daran liegen, daß sich die sächsische Identität, je nach politischer Ausrichtung, verschiedenen
„Vorfahren“ festmachen konnte. Während die Kelten allmählich wieder in den Nebeln der Romantik
verschwanden, aus denen sie gekommen waren, verkörperten die Germanen kriegerische Erfolge und
politische Freiheiten. Die Slaven dagegen standen für wirtschaftlichen Erfolg und friedliche Kultur.
Eine direkte genealogische Verbindung wurde selten gezogen, aber die Sachsen des 19. und
teilweise auch noch des 20. Jahrhunderts fanden sich gut in den stereotypen Beschreibungen der
Slaven wieder, die auf Herder, aber auch auf polnische und tschechische Autoren zurückgingen.
Der Versuch, die Frage der ethnischen Zuordnung zu lösen, und die damit einhergehende
Verwissenschaftlichung der Archäologie führte zu einer zunehmenden Distanz zwischen
Fachwissenschaft und populärer Deutung. Zwar wurden durch bessere Datierungsmethoden und die
dadurch seit 1860 rapide zunehmende zeitliche Tiefe der Vorgeschichte die schlichte Erzählung von
„unseren Vorfahren“ in einer zeitlosen, - sei es idyllischen, sei es rohen - Urzeit widerlegt. Aber
andererseits führte die katalog- und kartenmäßige Erfassung der vorgeschichtlichen Funde zu einer
Herauslösung des Einzelfundes aus seiner konkreten Verortung, der Verbindung mit der holistisch
wahrgenommenen Landschaft und der volkstümlichen Überlieferung.
Als G. Kossinna fast 20 Jahre später wieder genealogische Verbindungslinien herzustellen versuchte,
die nun die Vorzeit in ihrer gesamten neuerschlossenen zeitlichen Tiefe umfaßten, womit er freilich
methodisch hinter den bereits erreichten Stand zurückging, ließ sich dies gut für das nationale
Geschichtsbild nutzen. Für Sachsen ergab sich damit aber die Notwendigkeit, eine genealogische
Linie zu konstruieren, die im Fundgut nicht eben offensichtlich war.
Eine eigentümlich sächsische Vorgeschichtsdeutung konnte sich im 20. Jahrhundert nur noch schwer
durchsetzen. Die vorherrschenden Meistererzählungen reihten sich in die nationale, nicht mehr
regionale Geschichtsschreibung ein. Während der NS-Zeit wurde Sachsen als Bollwerk gegen den
Osten und Vorbild einer gelungenen „Re“-Germanisierung beschrieben. In der DDR wurde zwar die
Rolle der Slawen positiv hervorgehoben und die Forschung konzentrierte sich, in bewußter Opposition
zu den Thesen über die fehlende staatenbildende Kraft der Slawen, auf den Nachweis frühfeudaler
Strukturen. In allgemeinen Darstellungen wurde jedoch das kleindeutsche germanozentrische
Geschichtsbild, wenn auch unter verschobenen Wertungen, weiter tradiert.
Die von K.H. Blaschke geprägte Erzählung von Sachsen als Durchgangsland, in dem sich vielerlei
Kulturen und Ethnien begegnen und vermischen und so die typischen positiven sächsischen
Eigenschaften hervorbringen, wie sie bereits aus den Selbstbeschreibungen des 18. und 19.
Jahrhunderts bekannt waren, entspricht mit ihrem „multi-kulti-Ansatz“ besser dem politischen Klima
unserer Zeit als etwa ein Rückgriff auf „die Germanen“. Auch diese Erzählung beruht aber auf einer
genealogisch begründeten, über lange Zeit tradierten Gruppenidentität mit potentiell exklusiven
Konnotationen.
Schlußkommentar: J.H.F. Bloemers
Abschlußdiskussion, Moderation J.H.F. Bloemers
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