Auf der Suche nach Identitäten: Volk - Stamm - Kultur - Ethnos Die Frage nach der Beziehung zwischen archäologischer Klassifikation und prähistorischer Realität ist für unser Fach zweifellos grundlegend. Mit den vier Schlagworten im Titel - zwei weitere, Sprache und Rasse, wurden bewußt ausgeklammert - sind einige der wichtigsten Begriffe genannt, die unter wechselnden politischen und ideologischen Rahmenbedingungen zur Bezeichnung prähistorischer „Wir-Gruppen“ gebraucht und mißbraucht wurden und werden. Die Begriffe ‘Volk‘ und ‘Stamm‘ sind schon im Dunstkreis des Nationalismus des 19. Jahrhunderts ideologisiert worden. Aber erst ihre Bedeutung für die Archäologie im Nationalsozialismus hat dazu geführt, daß beide Begriffe bis heute weitestgehend vermieden werden und die Wissenschaft die Frage nach prähistorischen Realitäten lieber „zurückstellt“ oder auf vermeintlich neutralere (aber auch diffusere) Begriffe ausweicht - wie zum Beispiel ‘Ethnos‘ oder ‘Kultur‘. In der cultural anthropology ist inzwischen jedoch auch der vermeintlich unverdächtige Kulturbegriff unter Ideologieverdacht geraten. Und wie Parolen der „Neuen Rechten“ zeigen, kann Kultur ebenso als Kampfbegriff verwendet werden wie Volk oder Stamm. Daher sind wir der Ansicht, daß man die Diskussion über die grundlegende Terminologie unseres Faches nicht länger aussparen sollte. Stattdessen wollen wir nach impliziten Bedeutungen und expliziten Anwendungszusammenhängen der einschlägigen Begriffe fragen und nach Konsequenzen, die sich daraus jeweils ergeben. Wir bauen auf zwei innovativen Veranstaltungen auf. Die Internationale Tagung „Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933-1945“ (19.-23. November 1998) der Humboldt-Universität Berlin hat eine neue systematische Auseinandersetzung mit der Geschichte des Faches Ur- und Frühgeschichte angestoßen. Auf dem Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 541 der Universität Freiburg wurde das Thema unter der Überschrift „Eine hervorragend nationale Wissenschaft. Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1995“ (2.- 3. Juli 1999) historisch erweitert und vertieft. Gegenstand der Diskussion waren weniger die Methoden dieser Gruppierung, sondern deren methodisches Vokabular, d.h. der Sprachgebrauch. Das Teilprojekt „Ethnogenese und Traditionskonstruktion“ des SFB 417 der Universität Leipzig untersucht die Instrumentalisierung archäologischer Forschungen bei der Konstitution regionaler beziehungsweise nationaler Identitäten. Angeregt durch diese begriffsgeschichtliche Studie wollen wir die in Berlin und Freiburg begonnene Diskussion aufgreifen und weiterführen. Das Ziel der Leipziger Tagung ist es, sich mit der Terminologie unseres Faches systematisch auseinanderzusetzen, die Geschichte und Aktualität bestimmter Begriffe aufzufächern und dabei die mögliche Sinngebung und ihre Gefahren im Auge zu behalten. Die „ethnische Deutung“, im weitesten Sinne definiert als die Zuordnung materieller Fundvergesellschaftungen zu historisch überlieferten Bevölkerungsgruppen oder zu archäologischen Kulturen, denen ein wie auch immer geartetes „Wir-Gefühl“ zugestanden wird, bietet aus der Sicht unseres Forschungsprojektes einen lohnenden Ansatzpunkt, zumal dieser schon seit einiger Zeit auch die internationale Wissenschaft beschäftigt. Als Gustaf Kossinna seine Methode vorstellte, glaubte er, Montelius‘ Werkzeug zur chronologischen Gliederung des Fundstoffes um ein solches der räumlichen Ordnung erweitert zu haben: „Scharf umgrenzte archäologische Kulturprovinzen decken sich zu allen Zeiten mit ganz bestimmten Völkern oder Völkerstämmen“ (Kossinna 1911). V. Gordon Childe sprach - scheinbar neutraler - nur noch von Kulturen: “Certain types of remains - pots, implements, ornaments, burial rites, house forms constantly recurring together” (Childe 1929). David Clarke hat diesen monothetischen Kulturbegriff bereits 1968 angegriffen, ohne indes das Konzept ganz aufzugeben. Genau dafür plädieren inzwischen aber sowohl Kulturanthropologen als auch Archäologen vor allem im angloamerikanischen Wissenschaftsbetrieb. Sie sprechen statt dessen von veränderbarer ‚Ethnizität‘ und polymorpher ‚Identität‘ (‚patchwork identities‘). Diese theoretische Diskussion über neue Deutungsmuster hat ihren Ursprung durchaus in der Praxis. Die feineren Datierungen der letzten 15 Jahre haben gezeigt, daß archäologische Kulturen eben nicht die monolithischen Einheiten sind, als die sie in den „Schubladen-Modellen“ der Nachkriegszeit notgedrungen behandelt worden sind. Um so dringlicher wird jetzt die Frage nach der Existenzform der den archäologischen Konstrukten vielleicht zugrunde liegenden prähistorischen Wir-Gruppen freilich nicht ohne über den dazu nötigen Begriffsapparat im oben beschriebenen Sinn eine Verständigung herbeigeführt zu haben. 1 Diese Verständigung erscheint uns sogar bitter notwendig angesichts der neu auflebenden nationalistischen und rassistischen Tendenzen, eine moderne politische Gemeinschaft durch die fiktive gemeinsame Abstammung in ferne Vergangenheiten zurückzuprojizieren. Diesem linearen Geschichtsverständnis will die Tagung nicht nur die konsequente Historisierung ethnischer Begriffe entgegensetzen, sondern auch archäologisch konkrete Untersuchungen, die den schwankenden Verlauf kollektiver Identifikationsprozesse sichtbar machen können. S. Rieckhoff/ U. Sommer Begrüßung: Heinz-Werner Wollersheim, Sprecher des Sonderforschungsbereiches 417: Identitätsbildung als Gegenstand kulturwissenschaftlicher Regionenforschung Eröffnung: Prof. Dr. Volker Bigl, Rektor der Universität Einführung in das Thema der Tagung: Sabine Rieckhoff, Professur für Ur-und Frühgeschichte, Universität Leipzig: Geschichte als Baustelle 1. Sektion: Begriffe und Theorien Diskussionsleitung: John Collis, Dept. of archaeology, Sheffield University 1.1 Christoph Brumann, Institut für Ethnologie, Universität Köln: Stamm - Kultur - Identität: die aktuelle Diskussion Der Beitrag bezieht sich auf die jüngere Diskussion zum Tagungsthema in der Völkerkunde/Ethnologie, d. h. der Disziplin, die sich explizit als die Wissenschaft von der menschlichen Kultur versteht. Der Begriff "Stamm" ist als soziale und juristische Realität für viele ethnische Gruppen z. B. in den USA oder Australien - und somit auch für die mit ihnen arbeitenden Ethnologen - weiterhin bedeutsam, hat aber als ethnologischer Fachterminus (außer in sehr spezifischen Verwendungen der politischen Ethnologie) weitgehend ausgedient. Das mit "Stamm" oder "Volk" unterstellte Zusammengehörigkeitsgefühl wird stattdessen heute mit "ethnischer Gruppe" eingefangen. Ausgehend von Fredrik Barth wird eine solche als oftmals geschachtelte und immer dynamische soziale Einheit verstanden, die sich in Selbst- wie auch Fremdabgrenzung (also immer im Gegenüber mit anderen solchen Einheiten) als zusammengehörig erfährt. Kulturelle Merkmale wie Sprache, Religion, Kleidung, Ursprungsmythen etc. unterstützen dies gewöhnlich, doch handelt es sich bei diesen immer um eine mehr oder minder selektive Auswahl. Dies gilt auch für den Sonderfall einer Nation, d. h. einer ethnischen Gruppe mit exklusivem Gebietsanspruch. Unter "Kultur" wird hingegen das sozial tradierte Wissen und Verhalten einer Gruppe von Menschen verstanden. Manchmal wird dies auf das Wissen beschränkt; manchmal werden auch Artefakte einbezogen, ohne daß dies in der Forschungspraxis - die diese Bereiche ohnehin als verbunden ansieht - entscheidende Konsequenzen hätte. Die Definition impliziert einen objektiven Standpunkt: Die ethnische Selbsteinschätzung ist zwar ein wichtiges Kulturmerkmal, aber nur eines unter vielen, und nicht-ethnische Kulturen (wie etwa die Sitten und Bräuche der Rechtsanwälte) sind nicht ausgeschlossen. Das genaue Verhältnis der beiden Größen "Kultur" und "ethnische Gruppe", also etwa die Frage, wieviel Wir-Gefühl mit wieviel objektiven Gemeinsamkeiten korrespondiert, ist noch kaum geklärt. Außerordentliche Flexibilität - daß beträchtliche Gemeinsamkeiten zwischen und ebenso beträchtliche Unterschiede in ethnischen Gruppen in der sozialen Praxis übersehen werden können - ist jedoch hinreichend demonstriert worden; ein beträchtlicher Teil der ethnologischen Ethnizitätsforschung hat sich mit der Dekonstruktion ethnischer und nationalistischer Selbstbilder beschäftigt. Komplizierend kommt hinzu, daß der Anteil der auf Geschlecht, Alter, Beruf, Bildungsstand oder auf Globalisierungseffekte zurückgehenden gegenüber den lokalitätsbedingten kulturellen Gemeinsamkeiten zunimmt, d. h. immer mehr Menschen immer mehr Kulturen angehören. Die solche Phänomene behandelnde Kulturforschung kann zudem niemals ausschließen, daß ihre Ergebnisse Eingang in den ethnischen Diskurs finden und dort zur Schaffung oder Betonung kultureller Gemeinsamkeiten/Unterschiede Anlaß geben. Die nationalistischen Linguisten und Historiker des 19. Jahrhunderts haben diesen Effekt bewußt gesucht, und heutzutage geraten Ethnologen, die gegen die Wahrheiten ethnischer und nationaler Selbstfindungsdiskurse anschreiben, 2 mitunter in Zwiespälte zwischen Wahrheitsanspruch und politischen Sympathien. Im Bewußtsein der Rückkopplungseffekte wird nun innerhalb der Ethnologie die Forderung erhoben, den Kulturbegriff ganz abzuschaffen, da er - ganz wie der Rassebegriff, den zu ersetzen er ursprünglich etabliert wurde - unweigerlich Ausgrenzungsmittel sei. Dies würde das Fach jedoch eines zentralen, auch jenseits der Akademie immer verbreiteteren Konzepts berauben. Sinnvoller erscheint mir, den Begriff beizubehalten, ihn allerdings gegenüber der überall vorhandenen individuellen Variation und den transkulturellen Gemeinsamkeiten richtig zu positionieren. Es ist also nicht Aufgabe der Kulturwissenschaft, so viel Kultur wie möglich zu finden. Außerdem gilt es, Kultur, Ethnizität und Identität analytisch zu trennen: Nicht alle Kultur ist ethnizitätsrelevant, nicht jede Identität ist ethnisch oder kulturell begründet. (Siehe hierzu auch meinen Artikel "Writing for culture: Why a successful concept should not be discarded" in Current Anthropology 40 (1999), Supplement, S. 1-27.) Das flexible Verhältnis zwischen Kultur und ethnischer Identität macht mich skeptisch gegenüber Versuchen, Gruppen, die nur in fremden Aufzeichnungen oder überhaupt nicht historisch belegt sind, ethnische Identitäten und ein Wir-Gefühl zu unterlegen. Mehr als plausible Spekulationen sind hier kaum zu erreichen. Unproblematisch ist meines Erachtens jedoch die Identifikation von prähistorischen Kulturen. Überträgt man das holistische Kulturverständnis der Ethnologie, das zwischen verschiedenen Lebensbereichen (also etwa zwischen Religion und Anbauformen) Querbezüge erwartet, sollte sich dies allerdings immer auf charakteristische Kombinationen aller Fundstücke und nicht nur auf einzelne Artefakt- oder Materialarten beziehen. 1.2 Hans-Peter Wotzka, Seminar für Vor- und Frühgeschichte, Universität Frankfurt: Archäologische Kulturkonzepte: „Vitrinen fossiler Identitäten?" Es geht um die Frage, inwieweit sich Identitätsgruppen ferner Vergangenheiten in archäologischen Kulturkonzeptionen spiegeln. Die Erörterung wird auf die urgeschichtliche Archäologie beschränkt bleiben, d. h. auf jenen Teilbereich der Ur- und Frühgeschichtsforschung, der mit der Untersuchung schriftloser Räume und Zeiten befaßt ist. Im Mittelpunkt steht zunächst das sogenannte traditionelle archäologische Kulturkonzept, das seit seiner systematischen Formulierung und Verwendung gegen Ende des 19. Jahrhunderts engstens mit völkisch-ethnischen Interpretationen verflochten war und insbesondere in der Forschung zur europäischen Jungsteinzeit weiterhin große Bedeutung als Ordnungsprinzip und Deutungsansatz behalten hat. Historische Wurzeln und Begründungen der dahinterstehenden Annahme eines regelhaften Zusammenhangs zwischen räumlich und zeitlich spezifischen Ausprägungen der materiellen Kultur und grundlegenden sozialen Selbstzuschreibungen ihrer Verfertiger und Benutzer sollen herausgearbeitet und kritisch analysiert werden. Aus kulturanthropologischer Sicht fällt insbesondere auf, daß Archäologen in der Regel ungenügend zwischen verschiedenen Typen und Dimensionen der Identität unterscheiden. Ein Hauptgrund hierfür liegt in der beschränkten Aussagefähigkeit urgeschichtlicher Quellen. Mit undifferenzierten Deutungen bestimmter Raum-Zeit-Muster im Sinne irgendwelcher, nicht näher bestimmter Identitätsgruppen gewinnt die Archäologie jedoch nichts – außer neuen „zugeschriebenen“ Identitäten ohne Erklärungskraft. In diesem Zusammenhang soll erörtert werden, ob das in Mode befindliche Konzept der „kulturellen Identität“ mehr ist als ein terminologischer Kunstgriff. Auch die gewöhnlich angewandte Methode, nämlich die Untersuchung der Verbreitungen einzelner oder in Kombination gefundener materieller Formen auf räumliche Geschlossenheit, erscheint wenig geeignet, ehemaligen Identitäten auf die Spur zu kommen, erhebt sie doch die Behauptung, soziale Zugehörigkeiten müßten sich in räumlich abgrenzbaren materiellen Differenzierungen niederschlagen, zu einem Satz universeller Gültigkeit. Zudem sind die beträchtlichen Größenordnungen der Verbreitungsgebiete archäologischer „Kulturen“ und „Kulturgruppen“ kaum mit den tendenziell weitaus geringeren Reichweiten traditioneller Identitäten zur Deckung zu bringen, wie sie sich in nichtstaatlichen Gesellschaften ethnographisch beobachten lassen. Die Genese archäologischer Verbreitungsbilder hängt von zu vielen, im einzelnen noch viel zu schlecht verstandenen Faktoren ab, um eindimensionale Interpretationen angemessen erscheinen zu lassen. Vor diesem Hintergrund gilt es zu fragen, welche Ziele die Urgeschichtsforschung angesichts der ihr zur Verfügung stehenden Quellenmaterialien auf der Suche nach Identitäten überhaupt legitimer- und sinnvollerweise verfolgen kann. 1.3 Siân Jones, School of Art History and Archaeology, University of Manchester: Archäologie und Ethnizität Die Identifikation von Völkern der Vergangenheit, die wahlweise als Stämme, Nationen oder ethnische Gruppen bezeichnet wurden, hat durch die ganze Geschichte des Faches hindurch eine zentrale Rolle gespielt. Bisweilen war es, oft durch nationalistische Absichten beeinflußt, das ausdrückliche Ziel, die Geschichte ethnischer Gruppen der Vergangenheit nachzuzeichnen. Zu anderen Zeiten wurde 3 Kulturen und ethnischen Gruppen nur eine Rolle im Hintergrund zugewiesen, aber implizit blieben sie ein wesentlicher Aspekt in der Klassifizierung archäologischer Funde. In diesem Vortrag werde ich einen kurzen Überblick über traditionelle Forschungsansätze geben, in welchen abgegrenzte homogene Kulturen mit ethnischen Gruppen der Vorzeit gleichgesetzt werden. Ein solches Modell ist, meines Erachtens nach, von nationalistischen Diskursen abzuleiten, die einen tiefen Einfluß auf die archäologische Forschung hatten, der weit über die Beschäftigung mit speziellen nationalen Ursprungsmythen hinausging. Genau wie moderne Nationalstaaten ihre Bevölkerungen klassifizieren und kontrollieren und versuchen, Zusammengehörigkeit und ein bestimmtes Niveau von Homogenität herzustellen, wird auch die archäologische Überlieferung in die Form homogener Typen und Kulturen gepreßt. Sowohl in modernen Staaten als auch in vergangenen Kulturen wird so Diversität „ausgemerzt“ und Heterogenität unterdrückt. Neuere Theorien betonen dagegen die fließende und situationale Natur von Ethnizität, sowie die unterschiedlichen und heterogenen Wege, auf denen materielle Kultur genutzt wird, um Identität zum Ausdruck zu bringen. Wie ich darstellen werde, erfordert ein solcher Ansatz einen grundlegend anderen Zugang zur archäologischen Überlieferung, nicht nur eine neue Interpretation der Verbreitung bestimmter kulturspezifischer Artefakttypen und Stile. Archäologische Kategorien wie „Kulturen“ und „Typen“ müssen als primäre Analyseeinheiten aufgegeben werden, und stattdessen müssen wir uns auf ein kontextuelles Herangehen an Fragen der sozialen Interaktion und der sozialen Praxis konzentrieren. Ich will meine Ausführungen mit einigen Beispielen erfolgreicher praxisorientierter Analysen der kulturellen Identität beschließen, die sich auf architektonische Muster, die Strukturierung der Interaktion von Bewegungsmustern und des sozialen Raumes sowie die strukturierte Ablagerung materieller Kultur konzentrieren. Schlußkommentar: John Collis 2. Sektion: Prähistorische „Wir-Gruppen“ oder archäologische Konstrukte? Diskussionsleitung: Siegmar v. Schnurbein, Römisch-Germanische Kommission Frankfurt 2.1 Sebastian Brather, SFB 541, Universität Freiburg: Ethnische Identität und frühgeschichtliche Archäologie I. Einleitung: Der Versuch, Sachkultur und ethnische Gruppen miteinander zu verbinden, ging von der frühgeschichtlichen Archäologie aus. Man bemühte sich, die Geschichte der modernen Nationen weit in schriftlose Zeiten zurückzuverfolgen bzw. zu verlängern. Seit dem 16. Jahrhundert erhob sich überall in Europa die Frage, welches antike „Volk“ am Beginn der (eigenen) Geschichte wohl gestanden hatte. Die Romantik sah den Beginn einer patriotischen Sicht auf das Altertum – die „vaterländische Altertumskunde“. In Deutschland lautete die entscheidende Frage: Ist das archäologische Material keltisch, germanisch oder slawisch? Im Zeitalter des Imperialismus erlangte die prähistorische Archäologie auch politische Relevanz. Archäologische Funde konnten ein exzellentes Argument für territoriale Ansprüche abgeben, mitunter bis heute. II. Systematik „ethnischer Deutung“: Das „ethnische Paradigma“ umfaßt in der (frühgeschichtlichen) Archäologie im wesentlichen folgende Fragestellungen: die ethnische Zuweisung von Siedlungsräumen, die Verbindung kultureller und ethnischer Kontinuitäten, Ethnogeneseprozesse, den Nachweis von Wanderungen und die Identifizierung von Fremden und „Minderheiten“. Alle diese Aspekte sind eng miteinander verbunden, können aber analytisch getrennt werden. Diese fünf systematischen Aspekte lassen sich in eine (durchaus imaginäre) zeitliche Ordnung bringen, d. h. auf einer Zeitachse nacheinander anordnen. III. Unterscheidung: Am Beispiel der Franken läßt sich zeigen, wie die Archäologie des frühen Mittelalters „ansässige Romanen“ und „eingedrungene Germanen“, Franken im nordöstlichen Gallien und Alemannen in Südwestdeutschland, in den Reihengräberfeldern auseinanderzuhalten suchte. Voraussetzung all dieser Bemühungen ist, daß die zu identifizierenden (ethnischen) Gruppen nach innen homogene und nach außen deutlich abgeschlossene (distinkte) Einheiten darstellten. Außerdem müßten verschiedene Ebenen kongruent zusammenfallen: regionale Gruppierungen der Sachkultur, ethnisches Selbstverständnis, Sprachraum und schließlich auch die biologische Verwandtschaft (Abstammungsgemeinschaft). Anhand einiger Versuche der letzten Zeit sollen die Grenzen dieses Vorgehens demonstriert werden. Mit neueren historiographischen Studien ist auf die gemeinsame 4 frühmittelalterliche Lebenswelt hinzuweisen. Die Ausstattung im Grab muß daher vor allem in sozialgeschichtlicher Hinsicht (Rang, Geschlecht, Alter, Familie, Bestattungsgemeinschaft) analysiert werden. IV. Ethnische Symbole als methodischer Ausweg?: Analysen der Sachkultur ergeben keine scharfen Grenzen, sondern fast stets ein diffuses Kontinuum. Ethnische Grenzziehungen berufen sich daher auf wenige Symbole, mit denen kulturelle Unterschiede zu prinzipiellen Differenzen gesteigert, d. h. ideologisch überhöht werden. Mittelalterliche Chroniken weisen mitunter auf solche „ethnischen Zeichen“ hin, doch sind diese Anhaltspunkte meist nicht zeitgenössisch, oder sie beziehen sich auf andere Zusammenhänge. Ohne Zusatzinformation ist die Archäologie nicht in der Lage, ethnische Symbole aus dem Kontext zu erschließen, weil wir den Kontext nicht kennen. 2.2 Slavomir Kadrow, Instytut Archeologii, Uniwersytet Jagielloński Kraków: Soziale und ethnische Strukturen der Bronzezeit Polens Das Referat geht von folgenden Annahmen aus: a. Ethnien sind selbstdefinierte Gruppen, die über den Mechanismus eines sozialen und kulturellen Vergleichs (Wir/Andere) enstanden sind, und b. ethnische Identifikation wird durch die Verfolgung gemeinsamer Interessen verstärkt. Daraus folgt: (1) Ethnizität muß als dynamisches Ereignis verstanden werden, und (2) ethnische Analysen sollten sich auf die soziale Organisation und die Mechanismen politischer Macht konzentrieren. Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß ethnische Prozesse nur nach dem Modell organischer Muster verlaufen können. Im Gegenteil kann man annehmen, daß sich viele wichtige ethnische Prozesse nach ganz anderen Modellen (z.B. colluvies gentium) gestalteten. Gegenstand des Referates sind die Gruppen, die den östlichen Teil Polens vom Ende des Neolithikums bis zum Anfang der Lausitzer Kultur (2500 – 1000 BC) bewohnt haben. Als Grundlage für die Erschließung ihrer sozialen Strukturen dienen vielschichtigen Siedlungsanalysen, die durch Ergebnisse der Gräberanalysen ergänzt werden. In der Bronzezeit Ostpolens sind die kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und ethnischen Prozesse sehr viel anders abgelaufen als in den mitteleuropäischen Gebieten. Im allgemeinen haben sich die spätneolithischen Muster fortgesetzt, bronzezeitliche (mittel- oder süd-osteuropäische) Einflüsse wurden nur sehr oberflächlich adaptiert. Wahrscheinlich hat die Fluidität und der geringe Organisationsgrad der kleinen ethnischen Einheiten einer Stagnation der kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung entsprochen. Es ist daher sehr zweifelhaft, ob diese in ihrer Mitgliedschaft sehr flüssigen, ohne innere Dynamik lebenden und sich nur langsam verändernden kleinen Gesellschaften als Basis für die historisch überlieferten größeren ethnischen Einheiten dienen konnten. 2.3 Albrecht Jockenhövel, Institut für Vor- und Frühgeschichte, Universität Münster: Zu Mobilität und Grenzen in der Bronzezeit 2.4 Andreas Zimmermann, Institut für Vor- und Frühgeschichte, Universität Köln: Stämme in der Bandkeramik? In diesem Vortrag wird ausgeführt, weshalb in zwei Fallbeispielen der bandkeramischen Kultur (gegen Ende des 6. Jahrtausends v. Chr.) mit einer "Grenze" zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen gerechnet werden muß. Als "Grenze" wird hier eine Zone verringerter Kommunikationsintensität bezeichnet. Als archäologische Quellen werden zunächst einerseits die Zusammensetzung der damals genutzten Feuersteinrohmaterialien und andererseits die Verzierung der Keramik herangezogen. Eine Unterschiedlichkeit des Feuersteinrohmaterialspektrums kann für den Zeitabschnitt der gesamten mittleren Bandkeramik belegt werden; in der Keramikdekoration lassen sich die Verschiedenheiten auf beiden Seiten der "Grenzen" erst am Ende der Bandkeramik fassen. In beiden Materialklassen war der Kommunikationsfluß nicht völlig unterbrochen. Einzelne "fremde" Elemente lassen sich auf beiden Seiten beobachten. Wenn man sich bemüht zu verstehen, wie es einerseits im Gebiet zwischen Werl und Soest (Westfalen) und andererseits im Raum Nieder-Mörlen, Steinfurth, Echzell (Hessen) zu einer langfristig wenig entwickelten Kommunikation kam, sind zwei Deutungsansätze möglich. 1. Beide "Grenzzonen" befinden sich in der Nachbarschaft einer seltenen Ressource. Dort wurde zumindest in späteren Zeiten - Salz gewonnen. Bei diesem Interpretationsversuch würde man Streit 5 um Zugangsrechte für die Entstehung unterschiedlicher Identitäten diesseits und jenseits der "Grenze" verantwortlich machen. 2. Bei einer detaillierten Analyse des Neolithisierungsablaufes und der Untersuchung, wie sich dann später das Mittelneolithikum ausgebreitet hat, kann man Hinweise darauf finden, daß in den beiden fraglichen Gebieten Einflußströmungen aus verschiedenen Regionen aufeinandergestoßen sind. Daß die ethnische Deutung in der Ur- und Frühgeschichte forschungsgeschichtlich belastet ist, darf nach Meinung des Referenten in keinem Fall zur Schlußfolgerung führen, die Suche nach Identitäten dürfe für urgeschichtliche Untersuchungen kein Thema mehr sein. Das hieße auf eine zentrale Fragestellung historischer Arbeiten zu verzichten. Es gehört mit zum Verständnis von Identitäten, ihre Einbettung in soziale Einheiten anderer Größenordnungen sowie ihre sich im Laufe der Zeit dynamisch verändernde Bedeutung zu untersuchen. Mit einem entwickelteren Bewußtsein von der Veränderlichkeit solcher sozialer Gruppierungen läßt sich vermutlich auch die Gefahr mißverständlicher Deutungen verringern. Schlußkommentar Siegmar v. Schnurbein Festvortrag: Georg Meggle, Institut für Philosophie Universität Leipzig: Wer sind wir? 3. Sektion: Historische und archäologische Überlieferung: Das Fallbeispiel Kelten Diskussionsleitung: Siegmar v. Schnurbein 3.1 Jörg Biel, Landesdenkmalamt Baden-Württemberg: Kelten in Süddeutschland? 3.2 John Collis, University of Sheffield, Dept. of archaeology: Die Kelten und die Politik Wenn man das Verhältnis zwischen Archäologie, Rasse, Ethnizität und Politik untersucht, geben die Kelten eine der interessantesten Fallstudien ab, sowohl für die Art und Weise, wie die Kelten der Antike benutzt wurden, als auch während des Aufstiegs der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert und nicht zuletzt für die Entwicklung einer pan-europäischen Identität in der jüngsten Vergangenheit. In den letzten 15 Jahren wurde zu diesem Thema sehr viel publiziert, daher kann ich nur ein paar wenige Punkte herausgreifen. Im heutigen Europa wird die Konzeption der Kelten auf vier verschiedenen Ebenen genutzt: 1. um eine pan-europäische Identität, die sich auf gemeinsame Wurzeln beruft, von Irland bis in die Türkei und von Portugal bis Polen. zu befördern; 2. um eine regionale Identität für die Bewohner der europäischen Atlantikküste, die keltische Sprachen sprechen oder sich mit moderner „keltischer“ Kultur identifizieren, zu schaffen. 3. um in den moderner Nationalstaaten wie Frankreich, Irland und Spanien Ursprungsmythen zu schaffen; 4. um auf der lokalen Ebene eine lokale Identität zu fördern, wie im Fall von Galizien in Spanien, oder um die Entwicklung des Tourismus voranzutreiben (Tara, Navan Fort, Mont Beuvray). Für uns Archäologen besteht das Problem darin zu entscheiden, welche Rolle wir dabei spielen wollen, denn obwohl wir diesen politischen Zielen wohlwollend gegenüber stehen mögen, wurde Archäologie in der Vergangenheit benutzt, um Rassismus, extremen Nationalismus und andere Formen kultureller Vorherrschaft zu befördern. Daher sollten wir uns hüten, eine falsche Methodologie zu verwenden, nur weil sie unseren besonderen Zwecken dient (z. B. der Unterstützung von Minderheiten) oder weil sie unschuldig erscheint. Archäologen verdammen zum Beispiel die Methodologie von Gustav Kossinna, weil sie durch den Gebrauch durch die Nazis belastet erscheint, aber die Methodologie, mit der heute der Ursprung und die Ausbreitung der Kelten erklärt werden, ist damit fast identisch (und genauso falsch!), wird aber dennoch weiterhin in wissenschaftlichen Publikationen und Ausstellungen verbreitet. Archäologen müssen sich deshalb der theoretischen Grundlagen ihrer Methodologien und der Geschichte ihres Faches bewußt sein. Die Konzeption der Kelten basiert auf einer Reihe falscher 6 Annahmen über die Vergangenheit, die nicht in Frage gestellt werden. Dazu gehört folgendes: 1. Die Annahme, daß die Bewohner der britischen Inseln Kelten waren, ist eine moderne Erfindung des 16. Jahrhunderts (Georg Buchanan). 2. Die Definition der Kelten als eines Volkes, das eine keltische Sprache spricht, ist ebenfalls modern. Sie beruht auf der falschen Annahme des Abbé Pezron, daß Bretonisch ein Überbleibsel der alten, in Gallien gesprochenen Sprache sei und deshalb sowohl Bretonisch als auch verwandte Sprachen „keltisch“ seien. 3. Keltische Kunst wird als solche bezeichnet, weil man im 19. Jahrhundert die antike Bevölkerung Großbritanniens für keltisch hielt, und daher mußte auch deren Kunst keltisch sein (Tara-Fibel, Battersea-Schild). 4. Die Verbindung einer „La-Tène-Kultur“ mit den Kelten, die sich von Nordfrankreich und Süddeutschland her ausbreitete, basiert auf der Annahme, daß die Kelten irgendwann in der Eisenzeit von außerhalb nach Mitteleuropa kamen. Dafür finden sich in den Textquellen kaum Belege. 5. Die archäologische Verbreitung der Kelten, wie sie die meisten Karten zeigen, beruht auf der Annahme Joseph Déchelettes, daß die Kelten anhand ihrer Grabsitte, der gestreckten Körperbestattung identifiziert werden könnten (im Unterschied zu den Brandbestattungen der Germanen). Den meisten Archäologen sind sich dieser Tatsachen nicht bewußt, und wegen dieser Unkenntnis fahren sie fort, dem breiten Publikum falsche Informationen zu vermitteln, die dann für politische Ziele verwendet werden können. Daher müssen Archäologen ihr Forschungsgebiet besser verstehen lernen sowie die gesellschaftlichen und politischen Implikationen ihrer Handlungen. 3.3 Laurent Olivier, Musée des Antiquités Nationales à Saint-Germain-en-Laye und Olivier Buchsenschutz, CNRS, Paris: Die Rolle der Archäologie im Konflikt zwischen regionaler und nationaler Identität in Frankreich Seit dem Mittelalter spielen die Gallier als das von den antiken Quellen überlieferte Ur-Volk eine grundlegende Rolle in der Entwicklung der französischen kollektiven Identität. In Wahrheit sind diese Quellen unvereinbar, lückenhaft und widersprüchlich und bestehen im wesentlichen aus Cäsars «De Bello Gallico». Dieser Text, seit dem 16. Jahrhundert immer wieder aufgelegt, ist der Ur-Text für die Geschichte und später die Archäologie der Gallier und hat nacheinander sowohl zur Legitimation der absoluten Monarchie wie auch der republikanischen Nation gedient. Das Gallien Caesars ist so das Modell für das zeitgenössische Hexagon, Frankreich in seinen natürlichen Grenzen. Die Aufklärung und die republikanische Ideologie kehrten die bis dahin gültige Geschichtsinterpretation um. Man ließ die Franken, die als die Begründer der Ungleichheit des Ancien Regime galten, verschwinden und ersetzte sie durch die Gallier, welche nun die Rechte der Gemeinschaft verkörperten und «L’histoire de France» eröffneten. Wie vorher die absolute Monarchie führte aber die Republik den jahrhundertelangen Prozeß der Zentralisation als Nachfolger der «nos ancêtres les Gaulois» weiter. Der Anspruch auf regionale Identität, besonders der Bretagne, blieb dabei unbeachtet, wie man auch die Ansätze einer antirepublikanischen Restauration, die während des 19. und 20. Jahrhunderts immer wieder hier und da aufflammte, nicht völlig ersticken konnte. Das Modell der nationalen gallischen - Wurzeln ist heute umstritten, einerseits, weil das traditionelle Modell des Nationalstaats selber zusammengebrochen ist, anderseits, weil die moderne Forschung gezeigt hat, daß die heutigen Staaten mit den antiken Kulturgruppen, seien sie germanisch, italisch oder auch hispanisch, nichts zu tun haben. Den nationalen Galliern werden nun die Kelten der regionalistischen Bewegungen gegenübergestellt. Wie während des zweiten Weltkrieges suchen diese Bewegungen eine Basis jenseits von Frankreich, in einer europäischen Identität. In der Definition ihrer Identität spielen Musik, Sprache und Landschaft eine Rolle, und auch das, was sie von der Geschichte wissen, aber all das ist nebensächlich im Vergleich zu dem politischen Kampf um Selbstverwaltung. Schlußkommentar: Siegmar v. Schnurbein 4. Sektion: Ethnische Deutung im Spannungsfeld Nation - Region Diskussionsleitung: J.H.F. Bloemers, IPP Amsterdam 7 4.1 Jan Klápšĕ, Archeologický ústav Akademie ved CR, Praha: Archäologie des Mittelalters im Spannungsfeld der verschiedenen Identitäten: das Fallbeispiel Böhmen 1. Germanen : Slawen Die Anfänge der slawischen Besiedlung Böhmens, archäologische und sprachwissenschaftliche Konzepte im Vergleich. 2. Einheit und Gliederung Stamm - Stämme, Kleinstämme oder etwas anderes? Nachweise der frühmittelalterlichen Gliederung Böhmens in den Schriftquellen und in der Archäologie. Versuch eines Vergleichs und einer geschichtlichen Bewertung der Erscheinung. 3. Tschechen : Deutsche Die ethnische Karte Böhmens und die materielle Kultur im 13. Jahrhundert - Sprachwissenschaft und Archäologie im Vergleich. Hochmittelalterliche Diskrepanz als eine Ausnahme oder eine allgemeinere Regel? 4.2 Predrag Novakovic, Oddelek za arheologijo Univerze v Ljubljani: Archäologie und wechselnde Identitäten im früheren Jugoslawien Während seiner gesamten siebzigjährigen Geschichte als Staat befand sich Jugoslawien, ein Mosaik aus einer Anzahl nationaler, ethnischer, religiöser und kultureller Geschichten und Identitäten, in einer immerwährenden Suche nach einem Ausgleich zwischen seinen Nationen und nach einer Identität und einer gemeinsamen Grundlage auf dem Feld der Politik, Geschichte und Kultur. Zwei groß angelegte Versuche, eine gemeinsame Identität herzustellen, wurden ausgelöst durch die herrschenden politischen Eliten: Der jugoslawische Integrationalismus (1918-1941) und die Ideologie der Brüderlichkeit und Einheit (1945-1991). Beide Versuche scheiterten und endeten schließlich in inter-ethnischen- und Bürgerkriegen. Obwohl die durch Tito geleitete jugoslawische kommunistische Partei nach dem zweiten Weltkrieg in der Wiederherstellung des jugoslawischen Staates auf neuen ideologischen Grundlagen erfolgreich war, gab es in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren keine Macht mehr, die in der Lage war, dies ebenfalls zu erreichen. Die auf den Tod von Tito (1980) folgenden Jahrzehnte zeichneten sich durch zwei bedeutende politische Probleme aus: die wachsende Unzufriedenheit mit der sozialistischen Regierung und die Forderungen nach einem demokratischen System sowie die verstärkter Betonung von Nationalismus und die Forderungen nach unabhängigen Nationalstaaten. Diese beiden Probleme hingen eng miteinander zusammen. Der Großteil des Diskurses über historische, kulturelle und Identitätsfragen verlief zentrifugal, da die jugoslawische Haltung für die neuen nationalistischen Eliten, die in allen Teilrepubliken entstanden, unerträglich wurde. Das sozialistische Regime und seine Ideologie wurden als erstes angegriffen. Den Forderungen nach einem demokratischen System folgten bald auch Forderungen nach nationaler Unabhängigkeit. Letztere griffen die Ideologie und Doktrin der Brüderlichkeit und Einigkeit an, wie sie von dem kommunistischen Regime proklamiert worden waren. Die Neuinterpretation der Vergangenheit stellte eine der offensichtlichsten Strategien in diesem Prozeß dar. Die Geschichte, reich an Episoden von offenen ethnischen, religiösen, politischen und kulturellen Konflikten, illiberalen Regimen und Diktaturen, lieferte einen unerschöpflichen Fundus von Fragen und Themen, die dann im Rahmen eines nationalistischen Diskurses eingesetzt werden konnten. Während die kommunistische Partei immer noch auf denjenigen Elementen der Geschichte beharrte, die als gemeinsame Grundlage für die Identität des Staates und der Regierung dienen konnten (die nationale Befreiungsbewegung als die Basis des neuen Nachkriegsjugoslawiens; die entscheidende Rolle von Tito und der kommunistischen Partei in der Erschaffung eines neuen Nachkriegs-Jugoslawiens; die Rückprojektion dieser Elemente der Brüderlichkeit und Einheit in die Vergangenheit usw.), neigten die neuen nationalistischen Eliten in den Republiken eher zur Nationalgeschichten und nationalen Identitäten und gestalteten diese so abweichend wie nur irgend möglich von der „offiziellen“ Erzählung. Man bemühte sich nicht nur, die Geschichte der Neuzeit zu revidieren, sondern auch Alte Geschichte und Archäologie. Die Versuche, die antike und vorgeschichtliche Vergangenheit zu revidieren, manifestierte sich in vielfältiger Weise. Drei wichtige Phänomene können hier skizziert werden können: erstens die Erscheinung autochthoner Ethnogenese-„Theorien“, zweitens die Forderung nach unabhängigen Staaten, die auf der Staatlichkeit der slavischen Nationen im Frühmittelalter und Mittelalter und auf den mit ihnen verbunden Mythen beruhten sowie den wachsenden Bestrebungen der christlichen (katholischen und orthodoxen) Kirchen und der muslimischen Geistlichkeit, moralische und öffentliche 8 Fragen zu beeinflussen, und schließlich drittens auch die Deutung der Vergangenheit. Obwohl viele dieser Behauptungen zu falschen Theorien und schlechter Wissenschaft führten, kokettierte die nationale Politik dieses Zeitabschnitts bereitwillig damit und half so, „neue“ Traditionen zu etablieren – die so verschieden wie nur irgend möglich von den Traditionen anderer slavischer Nationen in Jugoslawien und von den Traditionen der kommunistischen Interpretation der Vergangenheit waren. Die Rolle der Wissenschaftler und Intellektuellen war sehr unterschiedlich. Es ist fast unmöglich, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Die meisten von ihnen lehnten die extremen Verirrungen und auch die schlechte Forschung ab, aber auf der anderen Seite gab es einflußreiche Gruppen von Historikern, Linguisten, Kunstgeschichtlern, Schriftstellern, Dichtern und Künstlern, die ihre Zukunft bei den neuen politischen Eliten in den jeweiligen Republiken und Nachfolgestaaten sahen und aktiv zu der Herstellung und Verbreitung nationaler Ideologien und Identitäten beitrugen. Der Vortrag untersucht einige Beispiele der Erfindung von Traditionen, den Forderungen historischer begründeter Anrechte und der Herstellung neuer Identitäten, bei denen Archäologie und deren Praxis in den ehemaligen jugoslawischen Republiken und Nachfolgestaaten beteiligt waren. 4.3 Milos Jevtic, Univerzitet u Beogradu, Odeljenje za arheologiju: Modern Serbian archaeology and the problem of ethnic identification 4.4 Sam Lucy, Dept. of archaeology, University of Durham: Constructing the English: Die Konstruktion des Englischen: Frühmittelalterliche Gräberfelder und die veränderte Wahrnehmung der Angelsachsen Seit ihren Anfängen hat die Archäologie der frühen Angel-Sachsen (die Archäologie Ostenglands vom fünften bis zum siebenten Jahrhundert n.Chr.) in einem auf dem „gesunden Menschenverstand“ beruhenden Rahmen operiert. Wir „wissen“, daß Leute aus dem Norden Europas im 5. und 6. Jahrhundert nach Chr. nach Großbritannien eingewandert sind, da die Schriftquellen dies berichten. Das archäologische Fundgut bestätigt das. Tut es das wirklich? Dieses Referat will zu den Anfängen der Angelsachsen-Archäologie zurückkehren und zeigen, daß das Konzept von den Angelsachsen im des nationalistischen Diskurs des 19 Jh. entstanden ist. Das archäologische Fundgut wurde Teil dieses Diskurses, es wurde benutzt, um die Idee des “Englischen” an sich zu definieren. Die Interpretation neuer Grabriten und Grabbeigaben als Anzeichen germanischer Einwanderung wurde so niemals ernsthaft in Frage gestellt. Aber die gegenwärtige Kritik an dem Kulturbegriff in der prähistorischen Archäologie kann auch auf die Archäologie der Angelsachsen angewandt werden. Dieses Referat wird zeigen, daß ein großer Teil der Terminologie und Methodologie, die von den Frühmittelalterforschern verwendet wird, in Frage gestellt werden kann. Die Historisierung der Debatte zu ist ein Weg, um diesen Prozeß einzuleiten. 4.5 Ulrike Sommer, SFB 417, Universität Leipzig: Archäologie und sächsische Identität Die Entwicklung der sächsischen Archäologie ist eng mit der Frage nach der Identität der Hersteller prähistorischer Objekte und Bodendenkmäler verknüpft. Nachdem der Artefaktcharakter der Funde allmählich anerkannt worden war, stellte schon 1781 die Oberlausitzische Gesellschaft in Görlitz die Preisfrage, ob ”Germanen oder Serben die ersten Bewohner der Oberlausitz” waren?“. In einem ersten Abschnitt der Forschung wurden zur Beantwortung der Frage nach den ersten Bewohnern Sachsens lediglich die Schriftquellen herangezogen, für die Bodenfunde im besten Falle als Illustration dienten. Seit ca. 1820 begannen jedoch eine Anzahl von Autoren, aus den Schriftquellen Kriterien herzuleiten, die eine ethnische Zuordnung archäologischer Funde ermöglichen sollten. So werden etwa Befestigungsanlagen den „kriegerischen“ Germanen zugeschrieben, da die Slawen anerkanntermaßen friedfertigen Charakters waren. Ab der Mitte der 1830er Jahre finden sich dann Argumentationen, mit denen eine ethnische Deutung an Hand von Fundverteilung und Fundvergesellschaftung, also aus dem Material heraus versucht wurde. So fordert K. B. Preusker zum Beispiel einen systematischen Vergleich mit rein germanisch und rein slawisch besiedelten Gegenden, um die sächsischen Funde den betreffenden Völkerschaften zuweisen zu können. Autoren wie K. A. Engelhardt (1802) und K. B. Preusker (1841) gelingt auf diese Weise eine durchaus befriedigende Einbettung prähistorischer Funde in eine vaterländische Geschichte – wenn auch unter gegensätzlichen ethnischen Vorzeichen. Über die Identität der ersten Bewohnern von Sachsen bzw. der Mark Meißen wurde keine Einigkeit erreicht. Zwar wurde um die Zuordnung einzelner Funde und Fundgruppen durchaus heiß gestritten wurde, aber insgesamt scheint die Frage nicht von solcher Bedeutung gewesen zu sein, daß sie in Forscherkreisen wirkliche Konflikte auslöste. Das mochte 9 daran liegen, daß sich die sächsische Identität, je nach politischer Ausrichtung, verschiedenen „Vorfahren“ festmachen konnte. Während die Kelten allmählich wieder in den Nebeln der Romantik verschwanden, aus denen sie gekommen waren, verkörperten die Germanen kriegerische Erfolge und politische Freiheiten. Die Slaven dagegen standen für wirtschaftlichen Erfolg und friedliche Kultur. Eine direkte genealogische Verbindung wurde selten gezogen, aber die Sachsen des 19. und teilweise auch noch des 20. Jahrhunderts fanden sich gut in den stereotypen Beschreibungen der Slaven wieder, die auf Herder, aber auch auf polnische und tschechische Autoren zurückgingen. Der Versuch, die Frage der ethnischen Zuordnung zu lösen, und die damit einhergehende Verwissenschaftlichung der Archäologie führte zu einer zunehmenden Distanz zwischen Fachwissenschaft und populärer Deutung. Zwar wurden durch bessere Datierungsmethoden und die dadurch seit 1860 rapide zunehmende zeitliche Tiefe der Vorgeschichte die schlichte Erzählung von „unseren Vorfahren“ in einer zeitlosen, - sei es idyllischen, sei es rohen - Urzeit widerlegt. Aber andererseits führte die katalog- und kartenmäßige Erfassung der vorgeschichtlichen Funde zu einer Herauslösung des Einzelfundes aus seiner konkreten Verortung, der Verbindung mit der holistisch wahrgenommenen Landschaft und der volkstümlichen Überlieferung. Als G. Kossinna fast 20 Jahre später wieder genealogische Verbindungslinien herzustellen versuchte, die nun die Vorzeit in ihrer gesamten neuerschlossenen zeitlichen Tiefe umfaßten, womit er freilich methodisch hinter den bereits erreichten Stand zurückging, ließ sich dies gut für das nationale Geschichtsbild nutzen. Für Sachsen ergab sich damit aber die Notwendigkeit, eine genealogische Linie zu konstruieren, die im Fundgut nicht eben offensichtlich war. Eine eigentümlich sächsische Vorgeschichtsdeutung konnte sich im 20. Jahrhundert nur noch schwer durchsetzen. Die vorherrschenden Meistererzählungen reihten sich in die nationale, nicht mehr regionale Geschichtsschreibung ein. Während der NS-Zeit wurde Sachsen als Bollwerk gegen den Osten und Vorbild einer gelungenen „Re“-Germanisierung beschrieben. In der DDR wurde zwar die Rolle der Slawen positiv hervorgehoben und die Forschung konzentrierte sich, in bewußter Opposition zu den Thesen über die fehlende staatenbildende Kraft der Slawen, auf den Nachweis frühfeudaler Strukturen. In allgemeinen Darstellungen wurde jedoch das kleindeutsche germanozentrische Geschichtsbild, wenn auch unter verschobenen Wertungen, weiter tradiert. Die von K.H. Blaschke geprägte Erzählung von Sachsen als Durchgangsland, in dem sich vielerlei Kulturen und Ethnien begegnen und vermischen und so die typischen positiven sächsischen Eigenschaften hervorbringen, wie sie bereits aus den Selbstbeschreibungen des 18. und 19. Jahrhunderts bekannt waren, entspricht mit ihrem „multi-kulti-Ansatz“ besser dem politischen Klima unserer Zeit als etwa ein Rückgriff auf „die Germanen“. Auch diese Erzählung beruht aber auf einer genealogisch begründeten, über lange Zeit tradierten Gruppenidentität mit potentiell exklusiven Konnotationen. Schlußkommentar: J.H.F. Bloemers Abschlußdiskussion, Moderation J.H.F. Bloemers 10