Frigga Haug - Thomas A. Bauer

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Frigga Haug
Als mich ein Film berührte, den ich schlecht fand – Schlaflos in Seattle
(aus: sündiger Genuss? Filmerfahrungen von Frauen, Frigga Haug/Brigitte Hipfl
(Hg.), Argument, 1995)
Abstract
Der Text behandelt das Filmerleben von Frauen anhand des Filmes „Schlaflos in
Seattle“. 14 Frauen wurden gebeten, dazu ihre Gedanken, Gefühle, etc. nieder zu
schreiben. Acht ihrer Szenarien sind Grundlage dieser Arbeit. Im Mittelpunkt der
Untersuchung steht der Widerspruch zwischen urteilendem Verstand und
genießendem Gefühl. Das Ergebnis zeigt, dass diesem Kampf ausgewichen wird,
indem man Vernunft in Unvernunft und Gefühl in Rausch umwandelt.
Schlagwörter
Erinnerungsarbeit, Verstand versus Gefühl, weibliche Filmrezeption, soziale
Konstruktion, Vergesellschaftungsprozesse, selektive Wahrnehmung
Begovic Aida, 0203513
Galik Michaela, 0300290
Hrustemovic Sejla, 0347016
Pavic Marijana, 0206787
696511 VO: Medienpädagogik: Medienbildung, Medienkompetenz, Medienkultur
Univ.-Prof. Dr. Thomas A. Bauer, Institut für Publizistik- und
Kommunikationswissenschaft, Universität Wien, WS 2004/2005
Zusammenfassung des Textes
1.) Hintergründe des Artikels
Die Hauptthematik des Artikels behandelt die Konfrontation des bejahenden
Gefühls mit dem verneinenden kritischen Urteil beim Rezipieren eines Filmes.
Mithilfe der Erinnerungsarbeit, einer noch in Entwicklung befindlichen
sozialwissenschaftlichen Methode, wird versucht, aus den Erfahrungen von
Einzelnen Auskünfte über Vergesellschaftungsprozesse zu erhalten. Das heißt,
untersucht wird, was der Einzelne von der Gesellschaft wie wahrnimmt, welche
Bedeutung er dem beimisst und wie er dies ins eigene Leben integriert.
Erinnerungsarbeit kann somit als Kritik sozialer Wahrnehmung verstanden
werden, die sich u. a. an Sprachanalyse, Psychologie und Kulturtheorien
orientiert.
Bei der Erinnerungsarbeit geht es vor allem darum, dass die Rezipientinnen ihre
Gefühle, Gedanken, Assoziationen, etc. zum Film zu Papier bringen, so genannte
Szenarien, die in der dritten Person verfasst werden.
Danach erfolgt eine erste gemeinsame Diskussion über die Botschaft (das
Wesentliche) der einzelnen Szenarien. Dadurch werden die vielfältigen Einflüsse
der Gesellschaft, der Medien, auch der Erziehung sichtbar, die sich auf die
persönlichen Vorstellungen der Einzelnen auswirken.
Erst jetzt werden die einzelnen Szenarien daraufhin untersucht, wie die
Rezipientinnen die von ihnen gewünschten Bedeutungen herstellen.
Ermittelt wird dabei die Konstruktion des Ich, sowie die der Filmpersonen im
Verhältnis zu sich selbst, wobei die sprachliche Inszenierung hier eine wichtige
Rolle spielt.
2.) Thesen und Forschungsergebnisse
Für ein besseres Verständnis dieser Rezension muss an dieser Stelle eine kurze
Darstellung der Filmhandlung erfolgen.
Sam, die zentrale Person im Film, zieht nach dem Tod seiner Ehefrau mit seinem
Sohn Jonah nach Seattle, wo er versucht mit seiner Trauer fertig zu werden. Seine
Unruhe und Schlaflosigkeit veranlassen seinen Sohn eines Abends bei einer
Radioberatung anzurufen, um ihn zur öffentlichen Trauerkundgebung zu
bewegen. Amy, die gerade ihre Verlobung mit Walther bekannt gab, hört diese
Sendung und fühlt sich zu Sam magisch hingezogen. Sie schreibt ihm einen Brief
und nach mehreren Hindernissen finden sie letztendlich zueinander.
Der Film „Schlaflos in Seattle“ demonstriert den Widerspruch zwischen Gefühl
und kritischem Verstand. Die Hauptthese der Autorin lautete dabei, dass sich
diese Beiden ständig bekämpfen, während das Ergebnis zeigte, dass die
Rezipientinnen diese beim Zuschauen getrennt haben. Der Gang ins Kino ist dabei
schon selbst eine Entscheidung für das Ausleben für Gefühle. Die Zuschauerinnen
gehen nicht ins Kino, sie gehen in einen Film hinein.
Die nächste Überraschung zeigte sich in der Wahrnehmung des Filmes der
Einzelnen. „Die acht geschriebenen Filmerlebnisse berichten im Grunde von acht
verschiedenen Filmen.“1 Jede Frau nimmt den Film also auf ihre eigene Weise
wahr und beschäftigt sich mit je anderen Filmpersonen, dabei unterschlägt sie
andere. Dabei identifizieren sie sich aber nicht mit den einzelnen Protagonisten,
sondern mit Gefühlen, die sie in erlebten Situationen selber hatten. In den meisten
Szenarien geht es um ein starkes Muster, an das erinnert werden will:
Verlorensein und Gefunden werden, Suchen und Zusammengehören, Geliebt sein
und also Zu Hause.
Zugleich werden diese Gefühle abgelehnt, sie müssen kontrolliert werden und
dürfen, weil sie intim sind, nicht öffentlich gezeigt werden. Dies zeigt sich
einerseits während des Filmbesuches, die Rezipientinnen fühlen sich durch die
Anwesenheit der Anderen gestört, andererseits auch im Film, die Radiosendung
etwa wird als Öffentlichmachung von intimen Gefühlen angesehen und deshalb
angeprangert. Daraus folgt die Feststellung, dass Gefühle nur alleine genossen
werden können.
Das Gefühl der unsterblichen Liebe, wie Sam sie zu seiner Frau fühlt, wird als
Wunder angesehen, da sie dieses Gefühl aus dem realen Leben nicht kennen. Fast
1
Vgl.: Haug, Hipfl, 1995: S. 18
alle Zuschauerinnen schreiben hier von der Enttäuschung über das
Liebesvermögen der real existierenden Männer.
Den Umstand aber, dass die weibliche Hauptfigur sich bloß in eine Stimme
verliebt, empfinden die Rezipientinnen zwar als Märchen, aber keineswegs als
Wunder.
Alle Zuseherinnen verbindet eine Sehnsucht nach einer ähnlichen Erfahrung wie
die der Protagonistin, nämlich das Gefühl kennen zu lernen, von Anfang an zu
wissen, dieser Mann und kein anderer, sei der Richtige, obwohl sie ihn gar nicht
kennen. Gleichzeitig verurteilen sie ihre eigenen Sehnsüchte als Kitsch. Die
Frauen fühlen sich schuldig, weil sie etwas kitschig finden und gerade deshalb
mögen. Der Kitsch hat hier die Funktion, Hoffnungen des realen Lebens im Film
zu erfüllen.
Der realistische Gehalt eines Filmes spielt bei dessen Bewertung eine
entscheidende Rolle. Die Rezipientinnen können im Film ihre Hoffnung und
ihren Glauben in Bezug auf die umfassende Liebe, die man sucht und mit der man
gefunden wird, nur dann ausleben und entgegen jeden Realismus daran festhalten,
wenn das Filmgeschehen so realistisch und nachvollziehbar wie möglich ist. Das
reicht von der Nachfühlung bis hin zu ausgedachten Szenarien, die für die
Rezipientinnen „eigentlich“ im Film hätten vorkommen müssen. Der Anspruch an
den Film geht so weit, dass die einzelnen Momente und Personen so dargestellt
sein sollten, dass sie, wie im wirklichen Leben, als mögliche Alternativen und
Geschehnisse wenigstens vorstellbar sein müssen. So wurde von einigen
Rezipientinnen unter anderem beklagt, dass die Rolle von Amy’s Verlobtem
Walther unglaubhaft und überzogen gezeigt wird, so dass von Anfang an klar ist,
mit wem die weibliche Hauptfigur am Ende zusammen kommt. Auch die
einzelnen Gefühlsmomente werden auf ihren Realitätsgehalt geprüft, wobei erst
die allgemeine Versicherung, dass der Film als Gesamtes möglich sein und der
Zuschauerin selbst im wirklichen Leben passieren könnte, eine intensive
Einlassung auf Gefühle erlaubt.
In der Konfrontation mit dem Film und der Einlassung in ihn konstruieren die
Rezipientinnen ein Bild von sich selbst. Bei der Betrachtung der
Sprachkonstruktionen der Autorinnen fällt auf, dass das Erzähl-Ich
außergewöhnlich passiv gezeigt wird, dies zeigt sich vor allem in der Wahl der
Verben und ihrer Anordnung. So werden z.B. so gut wie keine aktiven Verben
verwendet, die wenigen, die vorkommen, beziehen sich dabei auf Tätigkeiten des
Kopfes wie denken, erinnern, kennen etc. Die dramatischen Aktivitäten werden
von unpersönlichen Subjekten getätigt: „Tränen schießen ihr in die Augen“, „die
Schlussszene berührt heftig“ usw. Die Verwendung der Verben zeigt die
Zuschauerin also als eine durchwegs passive Gestalt, die den Ereignissen im Film
quasi ausgeliefert ist. Auch bei der Beschreibung der Personen im Film überwiegt
der Anteil der passiven Verben, so dass sie farblos und unlebendig erscheinen. Sie
werden als Projektionsflächen für eigene Gefühle wahrgenommen und nicht so
sehr als reale Menschen, die man selbst sein wollte. Betrachtet man nun die
sprachliche Konstruktion der eigenen Gefühle, fällt auf, dass sich die meisten
Äußerungen noch im Vorfeld der Gefühle bzw. auf der Schwelle dazu befinden.
Nicht Angst, Zorn, Lust, Mitleid etc. werden von den einzelnen gelebt, sondern es
geht in erster Linie darum, überhaupt Gefühle zu haben und zuzulassen. Berichtet
wird von der Einkehr in sich selbst, hinein in einen Bereich, wo nicht Vernunft
und kritischer Verstand sondern Hoffnung und Sehnsucht einen Platz haben, wo
Träume noch möglich werden könnten. Es geht daher um die Bestätigung, auch
ein fühlender Mensch zu sein und dies zu genießen. „Der Bann, die Ergriffenheit,
die der Film auslöst, enthebt so im Grunde von beidem, von kritischer Vernunft
und konkretem, gerichtetem Gefühl.“2
Von der Autorin genauso wie von den Rezipientinnen wird kritisiert, dass der
Film zu wenig „Spielraum“ zulässt und keine realistischen Alternativen bietet, so
dass ein Happy-End unausweichlich ist.
Zusammenhang und Relevanz zur Medienpädagogik
Medien als gesellschaftliche Instanzen geben bestimmte Werte, Normen und
Vorstellungen, die in einer Gesellschaft als anerkannt gelten, an die Rezipienten
weiter und legen ihnen dabei eine bevorzugte Lesart der Inhalte nahe.
Medienpädagogik zielt nun darauf ab, Individuen zum kritischen und reflexiven
Umgang mit Medien zu erziehen bzw. zu bewegen, wobei davon ausgegangen
2
Vgl.: Haug, Hipfl, 1995: S. 36
wird, dass Rezipienten den Medieninhalten jeweils eigene Bedeutungen
beimessen.
Der hier vorliegende Artikel zeigt mit Hilfe der Methode der Erinnerungsarbeit,
wie diese Bedeutungsbeimessung vonstatten geht. Erinnerungsarbeit als ein
möglicher Vorgang medienpädagogischer Forschung, verhilft dabei dem
Einzelnen zu mehr Wissen über sich selbst und liefert wertvolle Erkenntnisse über
die eigene Sozialisation sowie übernommene Ideologien und Alltagstheorien.
Dadurch wird im Weiteren ersichtlich, wie die soziale Konstruktion von
Weiblichkeit, die ein historischer und kultureller Prozess ist, von Frauen
angeeignet, umgeformt, angepasst und abgelehnt wird. Die an diesem
Forschungsprojekt beteiligten Frauen, um deren Einbau in die Gesellschaft es hier
geht, erfahren sich selbst als Konstruktion und erkennen, dass die Einzelnen wie
die Gesellschaft konstruierte historische Produkte sind, die infolge auch
kritisierbar und veränderbar sind. Das in diesem Text beschriebene
Forschungsprojekt leistet somit wertvolle (medien-)pädagogische Arbeit und zeigt
die Wichtigkeit eines bewussten, kritischen und sozialen Mediengebrauchs auf.
Bibliographie
Haug, Frigga / Hipfl, Brigitte (Hg.): sündiger Genuss? Filmerfahrungen von
Frauen. Hamburg: Argument, 1995
Haug, Frigga: Erinnerungsarbeit. Hamburg: Argument, 1990
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