Mittwoch, 9. Januar 2013 20 Uhr, Volkshaus 5. Philharmonisches Konzert Reihe A Glaube und Opfer Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) Kammersinfonie op. 110 (Instrumentiert von Rudolph Barschai) Largo Allegro Allegretto Tzvi Avni (*1927) Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 Confrontations (agitato) Confession (andante tranquillo, poco rubato) Youth Images (allegro giocoso) Pause Sergej Prokofjew (1891-1953) Ouvertüre über hebräische Themen op. 34b Ernest Bloch (1880-1959) Drei jüdische Gedichte Danse (poco animato) Rite (andante moderato) Cortège funèbre Dirigent: Daniel Raiskin Klavier: Heidrun Holtmann Das Konzert wird von Deutschlandradio Kultur aufgezeichnet. 1 Der Dirigent Daniel Raiskin, geboren in St. Petersburg, ist aktuell als Chefdirigent des Staatsorchesters Rheinische Philharmonie sowie seit 2008 in gleicher Position bei der Artur-RubinsteinPhilharmonie in Lodz angestellt. Bereits mit sechs Jahren erhielt er Musikunterricht und nahm später ein Studium an der renommierten Hochschule seiner Heimatstadt auf. Raiskin widmete sich zunächst der Geige sowie der Bratsche und begann mit fünfzehn Jahren zugleich die Ausbildung zum Dirigenten – die Begegnung mit dem Pädagogen Lev Savich hatte in ihm den Wunsch geweckt, einen Klang mit den Händen, dem Körper und der ganzen Persönlichkeit formen zu können. Mit der politischen Wende verließ Daniel Raiskin im Alter von zwanzig Jahren die Sowjetunion, um in Amsterdam und Freiburg sein Studium fortzusetzen. Als gefragter Musiker gehörte er schnell zu den führenden Bratschisten in Europa mit vielen Engagements als Solist und Kammermusikpartner. Allmählich jedoch wechselte der Schwerpunkt vom Instrument zum Taktstock und Raiskin entwickelte sich zu einem der anerkannt vielseitigsten Dirigenten seiner Generation. Der zweifache Vater gastiert heute regelmäßig bei zahlreichen bekannten Orchestern in Europa und Asien, darunter Copenhagen Philharmonic, Mozarteumorchester Salzburg, Prague Symphony, Hong Kong Sinfonietta, National Symphony Orchestra Taiwan oder Shanghai Philharmonic Orchestra. Darüber hinaus widmet er sich Produktionen im Opernbereich, darunter Bizets Carmen, Dmitri Schostakowitschs Nase oder Mozarts Don Giovanni. Seine jüngsten Einspielungen des Zyklus mit den Brahms Sinfonien sowie Schostakowitschs 4. Sinfonie fanden ein großes Echo in der internationalen Presse. Die Aufnahme der Cellokonzerte von Korngold, Bloch und Goldschmidt mit Julian Steckel erhielt sogar einen Echo Klassik 2012. Die Solistin Heidrun Holtmann, in Münster geboren, begann im Alter von vier Jahren Klavierunterricht zu nehmen. Als Neunjährige wurde sie in die Klavierklasse von Prof. Renate Kretschmar-Fischer an der Musikhochschule Detmold aufgenommen, wo sie ihre künstlerische Reifeprüfung „summa cum laude“ bestand und ihre Ausbildung mit Auszeichnung abschloss. Die Pianistin war mehrfach Preisträgerin nationaler und internationaler Wettbewerbe. Binnen weniger Jahre konnte sie Publikum und Kritiker überzeugen. Engagements mit Dirigenten wie Antal Doráti, Iván Fischer und David Zinman folgten und sie musizierte mit dem Royal Philharmonic Orchestra London, dem Detroit Symphony Orchestra und dem Tonhalle-Orchester Zürich ebenso wie mit zahlreichen anderen Sinfonie- und Kammerorchestern in der Bundesrepublik Deutschland und im Ausland. Heidrun Holtmann ist regelmäßig Gast bei internationalen Festivals, darunter in Salzburg, Paris, Barcelona, Brescia/Bergamo, Stresa, Luzern, Berlin, dem Klavier-Festival-Ruhr, MDRMusiksommer, Schleswig-Holstein Musik Festival, Beethovenfest Bonn, Klavierfestivals in Athen und Istanbul. Ihre Tourneen führten sie durch ganz Europa, Japan, Taiwan, Süd- und Südostasien, die USA, Kanada und Südamerika. Bedeutende europäische Rundfunk- und Fernsehanstalten arbeiten häufig mit ihr. So drehte zum Beispiel das NDR-Fernsehen ein Künstlerportrait und engagierte sie für ein Fernsehkonzert. Ihre Diskographie enthält die Gesamteinspielung der Werke für Klavier und Orchester von Schumann, Beethovens 3. und 4. Klavierkonzert in Kammerfassungen des 19. Jahrhunderts sowie mehrere Solo-CDs, die ein weitgespanntes Repertoire von J. S. Bach, Mozart, Schumann, Chopin u. a. bis zur zeitgenössischen Musik umfassen. Kürzlich ist ihre CD Piano Music from Israel mit Werken von Josef Tal, Tzvi Avni und Gil Shohat erschienen. 2 Musik aus dem Exil Am heutigen Abend erklingen Werke von vier Komponisten, deren Leben politischer Willkür und Zensur ausgesetzt waren und die sich entweder in äußeres oder in inneres Exil begaben. Es handelt sich konkret um Ernest Bloch, der zuerst aus Missachtung und Unverständnis seiner Musik gegenüber und später aus politischer Bedrängnis in die USA ins Exil gegangen war. Etwas später wurde Sergej Prokofjew geboren. Auch er nahm den Weg in die USA, nachdem die Oktoberrevolution und der Kampf um die Vorherrschaft in Russland sein (Über-) Leben erschwerten. Nachdem er dort aber nicht Fuß fassen konnte, kehrte er nach längeren Aufenthalten in Frankreich in die stalinistische Sowjetunion zurück. Sein damaliger Berufskollege Dmitri Schostakowitsch wuchs in der Zeit machtpolitischer Kämpfe auf; Der erste Weltkrieg, der Sturz des Zaren, die Oktoberrevolution und der anschließende Bürgerkrieg. Das Sowjetregime bedrohte seine engsten Verwandten und Freunde mit Terror. Er musste lernen, sich selbst im Inneren treu zu bleiben und zugleich nach Außen hin den Staatskomponisten zu mimen – ein Leben auf dem Drahtseil. Das Quartett wird von Tzvi Avni beschlossen. Im Saarland als Kind jüdischer Eltern geboren, wurde seine Familie bald darauf von den Nazis ausgewiesen. Ihr Weg führte sie ins Exil nach Palästina, ein fremdes Land mit fremder Schrift und fremder Sprache. Man kann nun mit dieser Kenntnis behaupten, dass die vier Werke des heutigen Konzertes ein Kompendium der geschichtlichen Wirrnisse der vergangenen hundert Jahre darstellen. Es muss aber gesagt werden, dass sie keine ausgesprochenen Musterstücke einer bestimmten Kompositionsweise oder Schule sind. Eigentlich dokumentieren sie, wie Komponisten aus Not und Bedrängnis heraus wunderbare Musik schaffen konnten, wie sie mit ihrer misslichen Lage umgingen und ihr zum Trotz schöpferisch tätig waren. Die Musik aus dem Exil oder der inneren Emigration als Glaubensbekenntnis, Geheimsprache, Trost und Versöhnung. Die Komponisten und ihre Werke Die ersten Töne des heutigen Konzerts werden Ihnen bekannt vorkommen. Es handelt sich um eine Bearbeitung des berühmten 8. Streichquartetts op. 110 von »Dmitri Schostakowitsch«. Sein ehemaliger Schüler Rudolph Barschai gründete 1956 das Moskauer Kammerorchester. Als Bewunderer der Musik seines Lehrers fragte er ihn, ob er auch seine Werke für das Ensemble umschreiben dürfte. Dmitri Schostakowitsch sagte zu und es entstanden in den Folgejahren einige Umarbeitungen seiner Musik, so auch die »Kammersinfonie op. 110a«. Da Barschai mit diesem Werk sehr nah an der Vorlage geblieben ist, möchte ich hier auch auf dessen Entstehungsgeschichte eingehen. Das 8. Streichquartett ist das einzige Stück, das Schostakowitsch im Ausland schrieb. Auf Einladung zu Gast in der DDR verbrachte Schostakowitsch im Sommer 1960 einige Tage in Gohrisch bei Dresden. Ist es somit eine Komposition des Exils? Es handelt sich eigentlich um einen Genesungsurlaub; Schostakowitsch musste sich nicht nur von den vorangegangenen Jahren erholen. Neben dem Leiden an einer unheilbaren Rückenmarkserkrankung balancierte er immer wieder zwischen hohen Auszeichnungen und Berufsverbot, zwischen Unterwerfung und Widerstand. Er führte ein quälendes Doppelleben, das auch an seiner Gesundheit nagte. In eine persönliche Krise geriet er, als er gezwungen wurde der KPdSU beizutreten. Nach außen wirkte er mit seinem Amt als Sekretär des Komponistenverbandes linientreu. Doch im Inneren war er ein gebrochener Mann: hoffnungslos, verzweifelt, aber immer noch wütend. Er musste aus diesem unfreien System ausbrechen und nutzte die Gelegenheit der Kur, um sich aus seinem inneren Exil vorübergehend in ein äußeres zu begeben, aus dem er wieder in die Sowjetunion zurückkehren würde. Doch was sollte aus seiner Familie, seinen Freunden und all den Menschen werden, die nicht fliehen konnten? Freunde beschreiben Schostakowitsch als Humanisten; » […] ein großer Menschenfreund, und überall wollte er – soweit er konnte – den Menschen helfen […] «. (Gabriel D. Glikmann) 3 Ganz ohne Arbeit konnte er aber nicht sein. Als – nach außen hin – linientreuer Komponist war er natürlich in den Propagandaapparat der Sowjetunion eingebunden. Das zeigte sich bereits an den Titeln bisheriger Werke. Mit dem Medium Film kam eine neue Aufgabe hinzu. Schon immer entnahm er seine Inspiration der Alltagsmusik. Salonmusik, Schlager und Jazz fanden Eingang in sein Schaffen. Eigentlich sollte er nun in den Sommertagen des Jahres 1960 die Filmmusik zu »5 Tage – 5 Nächte« schreiben, doch es drängte ihn nach einem anderen Werk. Vielleicht saß er da und dachte über seine unheilbare Krankheit, sein bisheriges Leben und seine momentane Freiheit nach. Er selbst sagt von der damals entstandenen Komposition, dass sie sein Requiem wäre. Es scheint zumindest eines seiner persönlichsten Werke zu sein. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und der UdSSR erkannte man, dass Dmitri Schostakowitsch nicht der Staatskomponist und Verfechter des Kommunismus war, als den man ihn gern dargestellt hatte. Vielmehr hatte er mit kompositorischen Mitteln versucht, sich dagegen abzugrenzen, immer in Angst vor Entdeckung und der folgenden Verbannung oder gar Hinrichtung. So benutzte er kunstvoll versteckte musikalische Zitate aus anderen Werken, seine eigenen Initialen oder Schlager mit dem Namen seines Sohnes Maxim, um seine Meinung zu verkünden. In der Kammersinfonie verwendet er besonders viele dieser Art. Durch die Vertonung seiner Initialen: D-eS-C-H in allen Sätzen macht er deutlich, dass es hier um ihn und sein Leben geht. Gleich zu Beginn des ersten Satzes wird die Tonfolge im Cello vorgetragen. Das Largo ist wenig hoffnungsvoll gestaltet. Ein Zitat seiner 1. Sinfonie deutet auf seinen ersten Erfolg hin. Einerseits brachte es Ruhm, andererseits kam er damit ins Visier der Machthaber und sein Schicksal nahm seinen Lauf. Auch seine Oper Lady Macbeth von Mzenk wird zitiert – das Werk, das ihm Stalins Ungnade und die Begrenzung durch Zensur einbrachte. Für die kommenden Jahre war er Staatsfeind und musste jederzeit mit Deportation rechnen. Zu Beginn des zweiten Satzes hören wir ff-Schläge der Streicher. Die Musik wirkt gehetzt, immer wieder setzen die Streicher Attacken. Das D-eS-C-H-Muster wird ständig wiederholt, es dreht sich im Kreis und kommt nicht voran. Gegen Ende des zweiten Satzes verbindet sich alles zu einem wilden Tanz höchster Verzweiflung. Auch zu Beginn des dritten Satzes erscheinen seine Initialen in hohen Lagen wieder. Ein wiegender ¾-Rhythmus schließt sich an. Schostakowitsch hat schon immer wie hier scheinbar schöne Melodien in Schieflage gebracht, sie bis ins Groteske verzerrt. Die daraus sprechende Ironie und der Sarkasmus sind heute für uns zu seinen Erkennungszeichen geworden. Im Nachhinein gibt er dem 8. Streichquartett den Titel »Im Gedenken an die Opfer des Faschismus und des Krieges«. Können wir dies ernst nehmen oder war es nur eine weitere Verschleierungstaktik? Über seine Musik schrieb er einmal: »Die meisten meiner Sinfonien sind Grabdenkmäler. Zu viele unserer Landsleute kamen an unbekannten Orten um. […] Ich würde gern für jeden Umgekommenen ein Stück schreiben. […] Darum widme ich ihnen allen meine gesamte Musik. « Es folgt ein Stück des israelischen Komponisten Tzvi Avni, sein 1. Klavierkonzert. Als Kind jüdischer Eltern 1927 in Saarbrücken geboren, wurde die Familie Steinke nach dem Anschluss des Saarlandes an das Deutsche Reich aus ihrem Heimatland verbannt. Man kann von Glück reden, dass sie während dieser frühen Phase der Judenverfolgung in Deutschland die Möglichkeit der Ausreise erhielten. Tzvi Avni, der früher den deutschen Namen Hermann Steinke trug, lebte sich in seinem Exil ein und konnte sich mit Hilfe der Musik an die neue Situation anpassen. Sein Vater starb bald nach der Ankunft in Palästina. Seine Mutter musste als Schneiderin für ihren Lebensunterhalt sorgen. Gelegentlich konnte der Junge bei den Nachbarn Radio hören. Zu seiner Barmitswa, am 13. Geburtstag, erhielt er eine Mundharmonika – sein erstes Instrument. Die Musik bereitete ihm soviel Freude, dass er bald andere Instrumente spielen wollte. Zur Finanzierung dieses Traumes arbeitete er schon mit 14 Jahren bei den städtischen Wasserwerken. Das Geld reichte für eine Mandoline und eine Blockflöte, woraufhin er bald Noten erlernte. Seine Musikerkarriere wird durch die Staatsgründung Israels und die damit verbundene Wehrpflicht unterbrochen. Nach 4 zwei Jahren kann er endlich an der israelischen Musikakademie Komposition studieren. Er machte seinen Abschluss 1958 und studierte vier Jahre darauf in den USA am Columbia Princeton Electronic Music Center und Tanglewood weiter. Nach seiner Rückkehr wurde er Pädagoge am Mann-Auditorium und anschließend Direktor an der Jerusalemer Musik- und Tanzakademie. Er heiratete die Sängerin Pnina und zu seinem Bekanntenkreis gehörten bald die namhaftesten Musiker Israels – eine künstlerische Schaffens-Atmosphäre in der zahlreiche Werke und Projekte entstehen konnten. Avnis Musik war in ihren Anfängen sehr von Béla Bartók, Maurice Ravel und Claude Debussy sowie später auch Arnold Schönberg beeinflusst. Im Verlauf wandte er sich der Avantgarde und nahöstlicher Melodik zu. Sein bisher einziges Klavierkonzert ist ein Auftragswerk für die Duisburger Philharmoniker. Es wurde am 2. September 2010 dort uraufgeführt. Avni beschreibt in einem Interview, dass auf ihm ein großer Druck lastete, da so viele Größen des 20. Jahrhunderts vor ihm Meisterwerke des Genres geschaffen hatten, man denke hier nur an die Klavierkonzerte eines Rachmaninows. Aufgrund seiner Freundschaft mit Heidrun Holtmann, welche auch am heutigen Abend am Flügel sitzen wird, übernahm er den Auftrag und schrieb für sie das Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1. Das gesamte Konzert ist sehr rhythmisch angelegt. Zu Beginn werden Streicher und Klavier als Rhythmusinstrumente eingesetzt, ähnlich der vorangegangenen Kammersinfonie Schostakowitschs im zweiten Satz. Es schließt sich eine lyrische Passage an, eine Oboe leitet ein. »Märchenklänge« wie Glitzern und ein Glockenspiel werden dem Klavier, das vermeintlich in Clustern spielt, beigestellt. Der erste rhythmische Abschnitt wird wieder angeschlossen. Im zweiten Satz wird der mittlere Teil des ersten wieder aufgenommen. Er beginnt sehr leise. Das Klavier spielt chromatische- und Ganztonläufe. Die Instrumente erklingen als Individuen, als hätte jedes seine eigene Melodie. Tzvi Avni sagt, dass Melodien für ihn enorm wichtig sind, sie sind die Basis, das Wesentliche. Hier haben wir keine gewöhnliche oder eine einfache Melodie – aber es ist eine Melodie! Er überschreibt diesen zweiten Satz mit »Bekenntnis«. Das Klavier wird im letzten Satz endlich zum Soloinstrument. Jetzt wird konzertiert: Die beiden Hauptakteure stehen sich gegenüber. Ein effektvolles Finale mit der Herausstellung der Perkussionsinstrumente auf Seiten des Orchesters ist zu hören. Die Solistin eröffnet nun auch ihre kurze Solokadenz mit einem Echo-Akkord. Nach und nach gesellen sich wieder die anderen Instrumente dazu. Zum Schluss ist man wieder an den ersten Satz erinnert. Eine runde Sache? Sie sind heute in der einmaligen Lage ein absolut neues Musikstück zu hören und einzuschätzen. Wer weiß, ob Tzvi Avni ohne die Erfahrung des Exils solche Musik hätte schreiben können. Wäre sie »deutscher« oder hätte sie genauso viele Einflüsse wie von Ravel, Bartók, Gamelanoder russischer Musik? Nach der Pause erklingt das wohl gefühlsbetonteste Stück des Abends. Ein lässig-scherzhafter Klezmertanz eröffnet die Ouvertüre über hebräische Themen op. 34b von Sergej Prokofjew. Sie entstammt der weltlichen jüdischen Musik. Ich betone dies, da sich im Gegensatz dazu das nachfolgende Werk von Ernest Bloch an synagogaler Musik orientierte. Voller Humor und Ironie blinzelt keck eine von der Klarinette vorgetragene Melodie um die Ecke. Jüdische Musik ist für mich immer eine traurige Glückseligkeit. Schostakowitsch umschrieb es einmal als »Lachen unter Tränen«. Man findet im schlimmsten Moment immer eine optimistische Note. Umgekehrt ist auch im höchsten Glück jedes Mal Wehmut zu spüren. Als Gegenthema hören wir eine sehnsuchtsvoll-melancholische Melodie, die zu einer Offenbarung aufblüht und unser Herz mitreist. Man kommt ins Schwelgen und wird ganz still. Ab der Hälfte des Stückes weckt uns der rhythmische Klezmertanz wieder aus unseren Träumereien auf. Man möchte sich bewegen, die Arme in die Luft heben und dabei mit den Fingern schnipsen, sich ausgelassen im Kreis drehen. Aber immer bleibt im Hinterkopf die liebend-leidende Erinnerung. So stellen wir uns jüdische Musik vor. Hier wunderbar angenehm vertont von Sergej Prokofjew. Dieser traf 1919 in seinem Exil, den USA, auf ehemalige Kommilitonen des Petersburger Konservatoriums. Sie hatten sich mittlerweile zu dem Ensemble »Zimro«, welches aus einem Streichquartett, einer Klarinette und einem Klavier bestand, zusammengefunden und baten den 5 befreundeten Komponisten ein Eröffnungsstück für ihr Programm zu schreiben. Dafür gaben sie ihm ein Heft mit jüdischen Liedern in die Hand. Prokofjew war eher abgeneigt, vorgegeben Musik zu vertonen, setzte sich dann trotzdem ans Klavier und begann über die Liedthemen zu improvisieren. Eine Legende besagt, dass sich die Melodien wie von selbst zusammenfügten und ein ganzes Stück ergaben. Die Uraufführung in New York war ein großer Erfolg, so dass die Komposition auch für Orchester umgeschrieben wurde. Diese Vertonung hören wir am heutigen Abend. Eine andere Art jüdischer Musik komponierte Ernest Bloch mit seinen 3 jüdischen Gedichten. Hier gestaltet sich die Thematik der Musik des Exils anders. Das Werk entstand 1913, als Bloch noch in seiner Heimat, der Schweiz, lebte. Es war Musik, welche dort nicht verstanden, nicht beachtet wurde – Musik eines Juden. Ich möchte hier noch betonen, dass er zwar die Gesänge der Synagogen kannte, diese jedoch in seinen Kompositionen nicht notengetreu nachzeichnete. Denn er war nach seinen Worten schließlich kein Archäologe! Vielmehr nutzte er typische Merkmale der hebräischen Musik und bildete seine eigene Tonsprache heraus. Ob er bei seiner Auswahl von der Wiederbelebung nationaler Werte der jüdischen Musik in St. Petersburg unter Rimsky-Korsakow gewusst hatte, lässt sich nicht genau verfolgen. Gewiss aber ist, dass seine Musik ab 1916 im Exil in den USA viel größere Anerkennung erfuhr und anscheinend dort heimisch war. Im Anschluss folgten immer wieder Kompositionen jener Art, die dann zu einem »Jüdischen Zyklus« zusammengefasst wurden. In einem Text für die Zeitschrift musica hebraica beschrieb Bloch seine Kompositionsweise wie folgt: »In meinem als jüdisch bezeichneten Werk [… benutzte ich] mehr oder weniger authentische Melodien (die meistens den anderen Völkern entliehen, angeglichen sind) oder mehr oder minder geweihte >orientalische< Formeln. « Jüdische Merkmale verbinden auch die Sätze der 3 Gedichte. Beispielsweise der auf die Musik übertragene hebräische Sprechrhythmus, der eigentlich keine langen oder kurzen Vokale kennt, oder der als Schofar-Klang interpretierte Einsatz von Trompeten. Für den Schofar, ein altertümliches Instrument aus Widder-Horn, gibt es verschiedene Spielformeln; sie reichen vom Ausdruck der Freude und des Glücks, über Bedauern und Bekümmernis, bis hin zu Vorandrängen und dem letzten Triumph. Der erste Satz mutet zu Beginn orientalisch an, doch die Benutzung von kleinen Intervallen in den Holzbläsern von den Streichern übernommen bis zum Erschallen der Trompeten, kehrt dann doch den jüdischen Charakter des Stücks heraus. Der zweite Satz wird im selben Klangmodus durchgeführt und erinnert dabei durchaus an die Filmmusik eines »Lawrence von Arabien«, die zur Entstehungszeit dieses Werkes noch gar nicht existierte. Wieder erklingen nach kurzer Zeit die eindringlichen »Schofar-Trompeten«. Der ruhig fließende Hauptteil, der ein Bild der Idylle zeichnet, beschließt diesen Satz. Über die Entstehung des dritten und letzten Gedichtes – den Trauermarsch – haben wir konkrete Angaben. Blochs Biografin Mary Tibaldi Chiesa beschreibt für uns folgende Szene: »[…] er schrieb es [den Trauermarsch] nachdem er die Nacht neben seines Vaters leblosem Körper verbracht hatte, in der Pein und den Schmerz über das unerbittliche Verhängnis, aber in Ergebenheit und Läuterung angesichts des Schicksals.« Ganz in der Darstellung dieses Geschehens aufgehend, komponiert er einen impressionistischen vom gesamten Orchesterklang getragenen Part. Für Ernest Bloch waren die 3 jüdischen Gedichte erst der Anfang, ein – sehr gelungener – Versuch, seine individuelle, neue Musiksprache zu entwickeln. Aber schon hier befolgt er seine eigene Vorschrift, die Komposition mit einem optimistischen Schluss oder wenigstens einem Hoffnungsstrahl zu beenden. Jessica Brömel, M.A. 6