Programminformationen Konzerttournee Jugend-Sinfonieorchester Aargau 9. – 16. August 2015 Die Konzertdaten: Sonntag, 9.8.2015 Boswil, Künstlerhaus Alte Kirche, 11.30 Uhr Mittwoch, 12.8.2015 Luzern, Hotel Schweizerhof, 19.30 Uhr Samstag, 15.8.2015 Aarau, Kultur- und Kongresszentrum, 19.30 Uhr Sonntag, 16.8.2015 Laufenburg-Luttingen (DE), Kirche St. Martin, "Fliessende Grenzen", Kulturtage, 19.30 Uhr Unerhört! Wolfgang Amade Mozart (1756-1791): Sinfonie Nr. 25 g-Moll, KV 183 (1773) Igor Stravinsky (1882-1971): Concerto en ré pour violon et orchestre (1931) Dmitri Schostakowitsch (1906-1975): Sinfonie Nr. 9 op. 70 Es-Dur (1945) Programmnotizen UNERHÖRT (Hugo Bollschweiler) “Wir werden im 20. Jahrhundert zwischen fremden Gesichtern, neuen Bildern und unerhörten Klängen leben. Viele, die innere Glut nicht haben, werden frieren und nichts fühlen als eine Kühle und in die Ruinen ihrer Erinnerung flüchten” - Franz Marc (1880-1916), Maler, Zeichner, Grafiker Paris, Théâtre des Champs Elysées, 29. Mai 1913. Das Blut spritzt, Fäuste und Mobiliar fliegen, 27 Verletzte werden angezählt, der Komponist flüchtet. Die Uraufführung des Balletts “Le Sacre du printemps” von Igor Stravinsky wird zum Massacre, zum unerhörten Klangereignis und lärmenden Vorboten der Moderne. Unerhört? Der Begriff schimmert eindeutig zweideutig. Da ist der ursprüngliche Wortbezug: etwas, das so noch nie gehört wurde - neu, frisch, anders. Und daraus kriecht sogleich die wertende Assoziation der Provokation: Hier passiert Umsturz, Revolte, hier trotzt das Neue. Ein Wort mit Kraft und Wucht, das auf regelbrechende Ideen und Establishment-Demolierung verweist und von Gegnern wie Befürwortern gleichermassen vehement für ihre jeweils eigene Position verwendet wird. Unerhörte Klänge heulten bereits vor dem 20. Jahrhundert den Traditionalisten in den normierten Ohren. Die kompositorische Ahnenlinie der Neuerer umfasst in abgestufter Heftigkeit alle Grossen der Musikgeschichte, von Orlando Di Lasso bis John Cage, von Beethoven bis Schönberg. Und ihre ungehörten Lieder und unerhörten Töne machten sie zu herausragenden und richtungsweisenden Künstlern. Ohne Sehnsucht nach dem “Ungehörten” gibt es keinen kreativen Prozess, zurück bleiben die “Ruinen der Erinnerung”. Wolfgang Amadeus Mozart: Sinfonie Nr. 25 Vier radikal exponierte Hörner, eine romantisch-dramatische Moll-Anlage und die rauschende Sturm und Drang-Geste: Mozarts „kleine“ g-Moll-Sinfonie ist eine kompromisslose Experimentalsinfonie, in ihrer Schmerzlichkeit scheinbar unerhört für einen Siebzehnjährigen. Nicht zufällig musste diese Musik herhalten als Intro für den Film „Amadeus“, dieses ungebremste Porträt eines genial Enthemmten. Mozart hat in dieser Sinfonie nicht nur gängige formale Konventionen geschnitten, sondern sich auch das freche Recht herausgenommen, musikalisch in einer Tiefe zu graben, die angesichts seines Alter und bisherigen Stils als ungehörig und abgründig galt. Ungefragt schien da jemand ohne äusseren zwingenden Anlass den guten musikalischen Anstand zu verlieren. Spekuliert wurde viel und abseitig, was den jungen Komponisten in solch unerhörte Stimmungen getrieben haben könnte. Von Liebeskummer, Selbstmordabsichten bis hin zur musikalischen Verneigung vor Haydn und dessen Sinfonie Nr. 39 g-Moll mit vier Hörnern wurde alles ins Feld geführt, was die scheinbare Unvereinbarkeit von leichtfüßiger kompositorischer Brillanz mit plötzlicher emotionaler und mysteriöser Düsternis erklären könnte. “Man irrt, wenn man denkt, daß mir meine Kunst so leicht geworden ist. Es gibt nicht leicht einen berühmten Meister in der Musik, den ich nicht fleißig, oft mehrmals, studiert hatte” (Mozart). Heute wird Mozarts Nr. 25 als eine seiner ersten Meistersinfonien betrachtet - vielleicht gerade weil sie eine zeitlos unmittelbare Menschlichkeit vermittelt, die alles in einer natürlichen Geste umfasst und zusammenfasst und diesen unerhörten Bogen schlägt von ungewisser Trauer, trotziger Kompromisslosigkeit und tastender Zärtlichkeit bis hin zur vitalen Lebensbejahung. Igor Stravinsky: Concerto en ré pour violon et orchestre Igor Stravinsky machte nie einen Hehl daraus, dass ihm die grossen Violinkonzerte Brahmsscher und Beethovenscher Prägung gar nicht passten. Sein Violinkonzert ist die trotzige Weigerung, gängigen virtuosen Konzert-Konventionen zu entsprechen und erntete zu seiner Zeit Spott und Hohn: Es war ein unerhörtes „Nicht-Konzert“, im jazzigen Neo-Barock angelegt als kühl-ironischer Tanz-Soundtrack für Georges Balanchines berühmtes Ballet Russe. In seinem Violinkonzert melden sich Glasunow und Bach, Pergolesi und Carl Maria von Weber zu Wort. Es waren nicht so sehr klassische Vorbilder, die ihn inspirierten. Die Standard-Violinkonzerte von Mozart, Beethoven oder Brahms hielt er für mindere Werke, bewunderte aber umso mehr Schönbergs strikt zwölftönig gehaltenes Violinkonzert, ein Monolith in der konzertanten Sololiteratur, eine Ausnahme inmitten aller Ausnahmen. Uraufgeführt wird das “Concerto en ré pour violon et orchester" 1931 in Berlin. Anwesend ist unter anderem auch Paul Hindemith, der Stravinsky zur Komposition überredet hat. Stravinsky war Pianist und mit den Streichinstrumenten nicht restlos vertraut. Hindemith meinte, so käme er wenigstens nicht in die Versuchung, ein Virtuosenkonzert zu schreiben. Da willigte Stravinsky ein. Das starke, unerhört andere Stück bleibt aber trotz Live-Übertragung der Uraufführung und Schallplattenpräsenz vorerst ziemlich resonanzlos. Kein Wunder: Es ist ein Konzert in Form einer Karikatur, komponiert von einem weltgewandten Russen für einen polnischen Musiker in Südfrankreich oder anders gesagt: Igor Strawinsky verspottet mit einem Violinkonzert in D-Dur ein Violinkonzert in D-Dur. Das war nicht nur freche Attitüde. Stravinsky fühlte sich von den Avantgardisten verkannt, als routinierter Neoklassizist und routinierter Verkäufer geschickt konstruierter Musik gehandelt. Schönberg machte sich offen über ihn lustig: "Ja, wer trommerlt denn da? Das ist der kleine Modernsky!. Hat sich ein Bubikopf schneiden lassen; sieht ganz gut aus! Wie echt falsches Haar! Ganz der Papa Bach!” Das verletzte Stravinsky mehr, als er öffentlich zuzugeben gewillt war und der künstlerische Stolz zuliess. Seine Replik erfolgte musikalisch: Ironisch gebrochene Konventionen, spielerische Stil-Verführungen und der Tanz mit Hör-Erwartungen erlaubten ihm ein Vexierspiel mit wechselnden Identitäten. Sie alle widerspiegelten einen zutiefst ernsthaften und sorgfältigen Musiker, der ständig auf der Suche nach dem perfekten und authentischen musikalischen Ausdruck war. "Die ersten Gedanken sind sehr wichtig; sie kommen von Gott. Und wenn ich nach Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit zu ihnen zurückkehre, dann weiß ich, sie sind gut” (Strawinsky). Dmitri Schostakowitsch: Sinfonie Nr. 9 “Hören Sie doch meine Musik, da ist alles gesagt” (Schostakowitsch). Was Schostakowitsch jeweils sagte, wurde sehr unterschiedlich gehört und noch unterschiedlicher eingeordnet. Das äusserst ambivalente und schwierige Verhältnis zwischen Künstler und den offiziellen Stellen seiner Heimat ist geprägt von gegenseitigem Misstrauen, scheinbarer Konzilianz und öffentlichen Liebesbezeugungen. Die Gratwanderung zwischen Anpassung und Subversion führt zum auszehrenden und gleichzeitig befeuernden künstlerischen Kraftakt. Dmitri Schostakowitsch schrieb seine Neunte genau zu der Zeit, als die Rote Armee als Teil der alliierten Kräfte den Krieg gegen Nazi-Deutschland gewonnen hatte. Mit der „Leningrader“ Sinfonie von 1941 und der düsteren Achten aus dem Jahr 1943 hatte Schostakowitsch bereits zwei Kriegssinfonien geschrieben. Nun war da der Sieg und der offizielle Jubel - und erwartet wurde Sinfonik mit Pathos, ohne Zweifel, Wenn und Aber und vielstimmigem Chor. Dieser Erwartungshaltung hat sich Schostakowitsch bewusst, subtil und subversiv verweigert. In der Heldenumgebung Es-Dur angesiedelt, zelebriert Schostakowitsch nonchalante Kammermusik, harmlose Heiterkeit, grelles Grinsen und spöttisches Feuerwerk. Eine fast kindlicher Ausdruck haftet dem Werk an - eigentlich ganz im Sinne der “Musik für das Volk” - Devise der offiziellen sowjetischen Kulturpolitik (und der heutigen Schlagerwelle): Verständlich soll es sein! Doch diese Art der Verständlichkeit stiess auf wenig bürokratische Gegenliebe. In ihrer klassisch-mozartischen Zurückhaltung und unheroischstrengen Form war diese verknappte Sinfonie eine unerhörte Provokation des Regimes, eine Subordination höchsten Grades. Die offizielle Ächtung folgte auf dem Fusse und führte zu einer langen sinfonischen Pause in Schostakowitschs Schaffen - bis nach Stalins Tod 1953. Leonard Bernstein sieht die Neunte als ein “kurzes, vergnügtes Bravourstück, eine Musik, die frohgemut verkündet: 'Hurra, der Krieg ist aus!' Kurzum: Schostakowitsch, der so meisterhaft Symphonien gewaltigen Ausmaßes schreiben konnte, wie seine Siebente und Achte beweisen, drehte mit dieser Komposition der traditionellen neunten Symphonie eine lange Nase. Aber auch das tat er meisterhaft, so daß es geheißen hat, die lange Nase habe Stalin gegolten.” Vielfach virtuos und verstörend ist es, wie brillant Schostakowitsch den symbolisch befrachteten Mythos der 9. Sinfonie umgangen, seinen Kommentar zum Kriegsende deponiert und gleichzeitig seine Haltung zum Regime verpackt hat. Dmitri Schostakowitsch schrieb insgesamt fünfzehn Sinfonien, aber erst acht Jahre nach der Neunten fand er die schöpferische Kraft zur Komposition seiner zehnten Sinfonie. Gerade in der durch äussere Umstände und einen inneren moralischen Kompass erzwungenen Reduzierung erreicht Schostakowitschs Neunte eine musikalische Monumentalität, die sie unerhört und unerreicht aus allen anderen Neunten herausragen lässt.