DMITRY SHOSTAKOVICH (1906–1975) Sinfonie Nr. 4 c

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DMITRY SHOSTAKOVICH (1906–1975)
Sinfonie Nr. 4 c-Moll op. 43 (1935–36)
Den entscheidenden Anstoß zu seiner Vierten Sinfonie c-Moll op. 43 erhielt Dmitri
Schostakowitsch durch die Freundschaft mit dem Kulturphilosophen und
Musikforscher Ivan Sollertinskij, den er 1927 kennengelernt und der 1932 das erste
russische Buch über Gustav Mahler veröffentlicht hatte. Die 1935–36 entstandene
Vierte Sinfonie stellt so etwas wie die Synthese zwischen den Tendenzen der frühen
russischen Avantgarde einerseits und der spezifischen Idiomatik und dem
Formdenken Gustav Mahlers andererseits dar – ein völlig neuer Weg für
Schostakowitsch.
Diese künstlerische Idee reifte zunächst unabhängig vom politischen Umfeld der
frühen 1930er Jahre. Aber mitten in die Arbeit platzte der berüchtigte Artikel „Chaos
statt Musik“ in der „Pravda“ vom 28. Januar 1936, eine gnadenlose Abrechnung mit
den „volksfeindlichen Tendenzen“ vor allem in Schostakowitschs Oper Lady Macbeth
von Mzensk. Der „Sozialistische Realismus“, die Forderung nach „Volkstümlichkeit“
und „Verständlichkeit“, war nun die kulturpolitische Staatsdoktrin. Schostakowitsch
komponierte die Sinfonie zwar zu Ende, entschloss sich aber nach Rücksprache mit
engen Freunden noch in der Generalprobe, sie zurückzuziehen, zumal er mit der
Leistung des Dirigenten, des deutschen Emigranten Fritz Stiedry, überhaupt nicht
zufrieden war.
Die Vierte Sinfonie blieb in der Schublade; mit der kurz darauf folgenden Fünften, in
einem deutlich abgemilderten und „populären“ Stil, konnte Schostakowitsch
wenigstens die Duldung seiner Tätigkeit erreichen. Das Manuskript der Vierten
verbrannte während der Belagerung Leningrads im Zweiten Weltkrieg;
Schostakowitsch rekonstruierte das Werk später nach dem Particell und dem
Stimmenmaterial. Erst am 30. Dezember 1961 erlaubte es das politische
„Tauwetter“, die Sinfonie endlich zur Uraufführung zu bringen. Es wurde ein
überwältigender Erfolg für den Komponisten, obwohl das etwa 65 Minuten lange
Werk enorme Ansprüche an Musiker wie Hörer stellt.
Das so verspätet aufgeführte Schmerzenskind unter den Sinfonien von
Schostakowitsch gilt gleichwohl heute, in der Rückschau auf das gesamte Oeuvre,
als sein sinfonisches Meisterwerk. Schon die formale Anlage des für ein RiesenOrchester gesetzten Werkes ist außerordentlich originell. Zwei kolossale Ecksätze
von je knapp einer halben Stunde Dauer umrahmen einen intermezzoartig kurzen
Satz: ein erweiterter Sonatensatz an erster, ein skurriles Scherzo an zweiter und ein
durch einen Trauermarsch eingeleiteter Finalsatz unterschiedlichster sinfonischer
Charaktere an dritter Stelle. Ist der Trauermarsch die deutlichste Anknüpfung an
Mahler, so der wie gequält brüllende Triumphmarsch am Schluss die Anti-Apotheose
schlechthin, die auf dem Höhepunkt in sich zusammenbricht und die Sinfonie mit
einem lang gehaltenen c-Moll-Dreiklang ersterbend ausklingen lässt – eine
Vorwegnahme der bedrückenden Ereignisse der folgenden Jahrzehnte und doch ein
sinfonisches Gemälde von großartiger, eindringlicher Kraft.
Hartmut Lück
Suite op. 29 a aus der Oper Lady Macbeth von Mzensk Zu dem frühen
internationalen Ruhm von Dmitri Schostakowitsch hatte insbesondere seine 1934
mit großem Erfolg uraufgeführte Oper Lady Macbeth von Mzensk beigetragen. Dem
Sieges- k zug des Werkes war allerdings ein abruptes Ende beschieden, nachdem es
am 28. Januar 1936 in der Prawda, einer der bedeutendsten sowjetischen
Zeitungen, Gegenstand eines vermutlich durch Stalin initiierten, vernichtenden
Artikels wurde. In dessen Folge war Schostakowitsch gesellschaftlich und im
Komponistenverband isoliert und wurde bis zu seiner vorübergehenden
Rehabilitierung als Volksfeind der UdSSR gebrandmarkt. Im Mittelpunkt der Oper
steht das Schicksal der Katerina Ismailowa, die in ihrer unglücklichen und
kinderlosen Ehe mit einem wohlhabenden Kaufmann unter Einsamkeit und
Langeweile leidet. Während einer längeren Abwesenheit ihres Ehemannes lässt sie
sich auf ein Verhältnis mit dem Angestellten Sergej ein. Als ihr Schwiegervater die
Liaison entdeckt, tötet sie ihn. Auch ihr misstrauischer Ehemann wird schließlich
Opfer dieser todbringenden Leidenschaft. Erst während der Hochzeitsfeier von
Sergej und Katerina wird der Mord entdeckt und beide werden verhaftet. Als sich
Sergej auf dem Weg nach Sibirien einer anderen Frau zuwendet, stürzt sich Katerina
in ihrer Verzweiflung in einen See und reißt die Nebenbuhlerin mit in den Tod.
Elemente der Tragödie und der Satire gehen in dem Werk eine wohl kalkulierte
Verbindung ein. Musikalisch zeigt sich das im Nebeneinander höchst dramatischer
Szenen und banaler Klänge auf der Grundlage einer über weite Strecken
verfremdeten Tonalität. Diesen polystilistischen Kontrast nutzte Schostakowitsch,
um das musikalische Mitgefühl ganz auf die Figur Katerinas zu lenken und ihre
Umwelt durch betont parodistische und groteske Mittel ins Lächerliche zu ziehen.
„Ich habe mich bemüht, eine Oper zu schaffen, die eine entlarvende Satire ist, die
die Masken herunterreißt und die ganze schreckliche Willkür und das höhnische
Verhalten despotischer russischer Kaufleute hassen lässt.“
Es war Schostakowitsch ein großes Anliegen, immer wieder die außerordentliche
Bedeutung der sinfonischen Wurzeln aller seiner Opernund Bühnenkompositionen zu
betonen. Davon zeugen auch die gewichtigen Orchesterzwischenspiele, mit deren
Hilfe er die neun Bilder der Oper zu einem einheitlichen Ganzen zusammenfasst. In
ihnen führt er die Entwicklung der Handlung weiter und schafft mit den Mitteln der
Orchestrierung spannungsgeladene Kulminationspunkte. „Musikalische
Zwischenspiele“, schrieb Schostakowitsch 1934 in einem Artikel zur Moskauer
Premiere, „sind nichts anderes als die Fortsetzung und Entwicklung des
vorhergehenden musikalischen Gedankens und spielen eine enorme Rolle bei der
Abbildung der Ereignisse auf der Bühne. In dieser Hinsicht wächst die ungeheure
Rolle des Orchesters, es begleitet nicht mehr, sondern spielt einen Part, der
mindestens so wichtig ist, oder vielleicht sogar wichtiger, wie die Solisten und der
Chor.“ Die aus drei Zwischenspielen zusammengestellte Suite op. 29 a arrangierte
Schostakowitsch wahrscheinlich Ende 1932 kurz nach der Vollendung der Oper. Es
ist anzunehmen, dass das dramatische Schicksal der Oper auch Einfluss auf die
Aufführungsgeschichte der Suite hatte, dass also auch sie mindestens zwanzig Jahre
lang nicht gespielt worden ist.
Anke Sonnek
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