Kulturelle Unterschiede Die Soziologen unterscheiden zwischen Abstinenzkulturen, Ambivalenzkulturen, Permissivkulturen und Permissiv-funktionsgestörte Kulturen. Abstinenzkulturen spielen für unsere Region praktisch keine Rolle. Wir finden das totale Alkoholverbot in manchen islamischen und hinduistischen Ländern. Dort ist mancherorts der Alkoholkonsum sogar von der Todesstrafe bedroht. Bei uns ist im Kontakt mit Mitbürgern aus diesen Kulturkreisen auf diese Besonderheit zu achten. Ambivalenzkulturen leben in einem Widerspruch. Einerseits wird Alkohol grundsätzlich abgelehnt, andererseits jedoch in einem bestimmten Rahmen toleriert. In den USA hat man in den zwanziger Jahren versucht den Alkohol völlig zu verbieten (Prohibition). Das führte dazu, dass die Menschen sich illegal Alkohol besorgten und Alkohol im privaten Kreise tranken. Die Folgen dieser Politik sind uns heute aus vielen Gangsterfilmen bekannt, die Kriminalitätsrate stieg erheblich. Diese Einstellung geht auf eine christlich puritanische Auffassung des asketischen Protestantismus zurück, wie er heute noch in Amerika und Skandinavien verbreitet ist. Auch das Blaue Kreuz in Deutschland steht in dieser Tradition. Die Folgen dieser Ambivalenzkultur konnte ich als Jugendlicher bei einem Jugendaustausch mit unserer schwedischen Partnerstadt kennenlernen. Im Alter von 17 Jahren gehörte ich einer Jugendgruppe meiner Heimatstadt an, die einen Austausch mit schwedischen Jugendlichen organisierte. Wir fuhren für drei Wochen nach Schweden und lebten dort in den Familien bei Gleichaltrigen. Im Gegenzug kamen diese Jugendlichen aus Schweden dann zu uns nach Deutschland. Bei den Treffs unserer deutschen Jugendgruppe wurde gelegentlich auch Alkohol getrunken. Das blieb immer im Rahmen und auf bestimmte Anlässe begrenzt. Man ging eben nach den Gruppensitzungen meistens noch in eine Kneipe und trank da ein bis zwei Biere oder man feierte einen Geburtstag. Ich kann mich an keinerlei Auffälligkeiten in diesem Zusammenhang erinnern, ich fand alles völlig normal. Als wir dann nach Schweden kamen vermißte ich diese Kneipentreffs völlig. Durch meine Nachfragen, wurde ich in einen Laden geführt, der mich an eine Apotheke erinnerte. Dort wurde Alkohol zu extrem hohen Preisen verkauft, jedoch nicht an mich, weil ich noch keine achtzehn Jahre alt war. Einmal wurde mir von den schwedischen Jugendlichen eine ganz besondere Veranstaltung versprochen. In einem privaten Kellerclub sollte eine Party gefeiert werden. Kurz nach meinem Eintreffen dort bemerkte ich, wie nahezu alle Partygäste die verschiedensten alkoholischen Getränke gleichsam in sich hineinschütteten. Es war noch keine Mitternacht, da wurden die ersten Partygäste von Polizei- und Krankenwagen abgeholt, weil ihnen eine Alkoholvergiftung drohte. An diesem Tage hörte ich einen Spruch, der auf deutsch etwa so lautet: „Halb besoffen ist rausgeschmissenes Geld.“ Als wir dann mit den schwedischen Gästen nach Deutschland kamen, setzte sich dies fort. Zunächst erlebte ich, wie sich eine Gruppe schwedischer Mädchen „Flachmänner“ besorgte und diese dann auf der Toilette einer Eisdiele leerten. Später tranken diese Jugendlichen fast täglich Alkohol bis sie berauscht waren. In einer Ambivalenzkultur wie der Schwedischen tritt das gewohnheitsmäßige und kontinuierliche Trinken weitestgehend zurück. Trinken in der Öffentlichkeit oder gar am Arbeitsplatz ist völlig undenkbar. Stattdessen wird in kleinen privaten Kreisen rauschorientiert mit deutlicher Tendenz zum Kontrollverlust getrunken. Es gibt in dieser Gesellschaft einen relativ hohen Anteil von süchtigen Konflikttrinkern mit Kontrollverlust. In den Permissivkulturen, wie in Deutschland, ist die Bevölkerung seit der Kindheit an einen kontrollierten Alkoholkonsum gewöhnt. Die Kinder „lernen“ regelrecht den Umgang mit der Droge Alkohol. Am Beispiel der oben erwähnten Jugendgruppe wird das deutlich. Die Jugendlichen dürfen von Gesetzes wegen ab dem 16 Lebensjahr Alkohol trinken, Branntwein erst ab 18 Jahren. Folglich ist ein generelles Alkoholverbot in Jugendhäusern fragwürdig, weil die Kultur erwartet, daß ihre Bürger den problemfreien Umgang mit Alkohol gelernt haben. Diejenigen Gesellschaftsmitglieder, die auffällig trinken, werden in gewissen Maßen geduldet, wenn sie sich trotz ihres Trinkverhaltens an gewisse Spielregeln halten. Diese Regeln werden beim Autofahren deutlich, wo noch immer ein geringer Alkoholkonsum erlaubt ist. Die funktionsgestörten Permissivkulturen gibt es in der Reinform fast gar nicht. In den Permissivkulturen können allerdings Tendenzen in Erscheinung treten, die Hinweise für eine Entwicklung in diese Richtung sind. Wenn breite Schichten junger Menschen zunehmend unkontrolliert und öffentlich berauscht sind, so ist dies als ein Alarmzeichen für die Politik zu sehen. In manchen Regionen Deutschlands wird traditionell viel mehr getrunken als in anderen Regionen. Das ist z.B. der Fall in Mecklenburg-Vorpommern, wo die Alkoholikerrate und der Alkoholkonsum weit über dem deutschen Durchschnitt liegt. Starkes und schädliches Trinken sind hier, besonders im ländlichen Bereich, die Norm. Alkoholismus und Trinkexzesse fallen nicht gleich auf. Dies ist in manchen osteuropäischen Staaten ebenfalls zu beobachten. Fazit dieser kulturellen Betrachtungsweise muß die Einsicht sein, daß auf der individuellen Ebene in unserer Kultur, der Umgang mit der Droge Alkohol gelernt werden muss. Auf der politischen Seite müssen gesellschaftliche Phänomen beobachtet und beeinflusst werden, deren Folgen in einer gestörten Permissivkultur münden könnten. Für beide Aufgaben stehen heute Einrichtungen und Institutionen zur Verfügung. Besonders die großen Verbände der Suchtkrankenhilfe sind hier gefragt. Sie entwerfen Konzepte zur Vorbeugung und zielen damit auf junge Menschen, die den Umgang mit Alkohol „lernen“ müssen. Gleichzeitig haben diese Verbände, wie beispielsweise das Blaue Kreuz, die Aufgabe gesellschaftlich problematische Entwicklungen zu beobachten und mit ihren Erkenntnissen die Politik zu beeinflussen. Eine generelle Verteufelung das Alkohols ist unter den bestehenden kulturellen Gegebenheiten unrealistisch.