Meine sehr verehrten Damen und Herren, meine Aufgabe heute ist es, im Rahmen Ihrer Reihe „Kirche und Gegenwart – Offenbarung“ das Thema „Glaubenszeugnisse“ zu behandeln. Die erste Frage, die mir wesentlich dazu scheint, ist zunächst einmal abzuklären, was Zeugnis und dann insbesondere Glaubenszeugnis heißt, was rechtens darunter zu verstehen ist. 1.) Zum Verständnis von „Zeugnis“ Wenn das NT auf „Zeugnis“ zu sprechen kommt, greift es auf den gängigen griechischen Stamm „mer“ zurück. Davon leitet sich „martys“, der Zeuge, und „martyreo“, Zeugnis geben, ab. „mer“ hat die Grundbedeutung: „erinnern, beweisen“, insoferne es seinen ursprünglichen Sitz im Leben in der Gerichtssprache hat. Der Märtyrer ist also einer, der sich vor Gericht erinnert – und zwar nicht frei flottierend, sondern so, dass die Erinnerung Beweischarakter für sich in Anspruch nimmt. So gesehen ist die deutsche Übersetzung „Zeugnis“ für „martys“ kongenial. Denn auch Zeugnis, das auf das althochdeutsche „ziugon“ zurückgeht, hat von dieser Wurzel her die primäre Bedeutung „erklären“. Sowohl „martys“ als auch „Zeugnis“ sind also Tätigkeiten, die dem Intellekt zuzuordnen sind. Ich glaube, dass dies angesichts einer zunehmenden kirchlichen Eventkultur ein durchaus bemerkenswertes Ergebnis ist. Wenden wir nun das hier erreichte Verständnis von Zeugnis auf das Element „Glaubenszeugnis“ an. Der bzw. die Glaubenszeugin ist dann eine, die ihren Glauben erinnert, die also zunächst einen kontemplativen Schritt setzt. Doch diesem kontemplativen muss dann ein aktiver Schritt folgen: Das, was sich in der Erinnerung gezeigt hat, ist intellektuell kritisch zu prüfen – so, dass es für einen selbst und dann auch für andere erklärende, ja beweisende Kraft erhält. Ich bin hier an einen Punkt angelangt, der mir anthropologisch extrem wichtig scheint und den ich daher auch etwas näher betrachten möchte. Ich halte mich dabei an die Einsichten des größten Theologen und Philosophen, den die Kirche hervorgebracht hat, an Thomas von Aquin. Thomas unterscheidet zwei Grundvollzüge des menschlichen Geistes: den Intellekt und den Willen. Der Wille ist derjenige Antrieb, der ein Erkanntes in die Wirklichkeit überführt. Nehmen wir als Beispiel eine Schneiderin: Mit ihrem Intellekt nimmt sie einen Stoff und den möglichen Zuschnitt in den Blick. Mit ihrem Willen setzt sie das dabei Erkannte, den dabei gefassten Plan um und schneidet zu. – Nun sind aber unsere geistigen Kräfte nicht fein säuberlich voneinander getrennt, sondern greifen ineinander – und manchmal auch gegeneinander (dass sie dies letztere tun, ist für Thomas eine der Folgen dessen, dass wir unter dem Gesetz der Sünde leben). Vor allem die Erinnerung ist nach Thomas davon betroffen. Denn der Wille verschiebt allzu oft das, was sich in der Erinnerung zu sehen gibt. Er verklärt oder er verdunkelt. Er verleitet den Intellekt nicht das zu sehen, was ist, sondern das, was ich sehen will. Wenn wir diese Mahnung auf das Glaubenszeugnis anwenden, dann zeigt sich etwas, dem wir im kirchlichen Glaubenszeugnis nur zu oft begegnen: Ich erinnere etwas, das von dem geprägt ist, was ich gerne hätte, und erkläre daraufhin einem anderen mein Gern-Gehabtes – und wundere mich, dass der andere dies nicht sieht. Und weil ich es sehr gerne gehabt hätte, bezichtige ich den anderen vielleicht sogar der Bosheit, der Verstockung usw. 2. Reflexionen zum Glaubenszeugnis A) Hinführung Natürlich können wir an einem Vormittag nicht den ganzen inhaltlichen Reichtum dessen, was geglaubt wird, abschreiten. Deswegen scheint es sinnvoll, sich auf den Ursprung und das Ziel dessen, was geglaubt wird, zu beschränken. Wobei „beschränken“ ein höchst unglückliches Wort dafür ist, denn es geht bei Ursprung und Ziel ja um Gott selbst, der alles in allem umfasst und darüber hinaus geht. Im Kontext des heutigen Themas muss es also zuallererst um das Gotteszeugnis gehen. Ich will es nochmals ausdrücklich machen: Wie zeigt sich Gott in unserer präsenten Erinnerung so, dass dieses Sich-Zeigen vor der intellektuellen Kritik bestehen kann und diese Erinnerung für mich und möglicherweise für andere erklärende, ja beweisende Kraft erhält. Wenn die Frage nach dem Glaubenszeugnis so klar gestellt wird, und letztlich nur so gestellt werden kann, dann können wir hier schon einige immer wieder begegnende Fehlformen benennen, die gerade nicht die Aufgabe des Glaubenszeugnisses erfüllen. B) Fehlformen des Glaubenszeugnisses a) Da ist der oft getane Verweis auf andere Glaubende ohne jede Bezugnahme auf die Sache selbst. Das läuft dann ungefähr so: Warum ich glaube? Nun, in meiner Jugend hatte ich einen jungen Kaplan, der mich begeistert hat. Und dieser Kaplan hatte in seiner Jugend wieder einen jungen Kaplan, der ihn begeistert hat und so fort. In so einer Reihe kann man dann nur noch hoffen, dass wenigstens der erste Kaplan Gott selbst gesehen hat. Aber selbst wenn dieser erste Kaplan Gott selbst erfahren hat, ist ja noch nicht verständlich, warum mich das betreffen soll. (Übrigens ist vice versa der Hinweis auf einen korrumpierten und/oder ungläubigen Kaplan zur Ablehnung Gottes auch nicht valid.) b) Dann gibt es, eng mit dem im ersten Punkt Gesagten verwandt, die Ablenkung der Frage nach dem Gotteszeugnis auf eine kirchen-institutionelle Frage oder Vollzug. Gerade so genannte engagierte Glaubende sind hier anfällig. Legen Sie ihnen die Frage nach dem Glaubenszeugnis vor und fast immer wird sie abgelenkt auf einen Jammer über die zurückgehenden Gottesdienstbesuche am Sonntag. c) Weiters sind alle esoterischen Antworten hier zu nennen, also Antworten, die ein Geheimwissen für sich beanspruchen – meist verbunden mit dem Gefühl der Auserwähltheit und Erhabenheit über die Nichtwissenden. Weniger scharf und doch parallel in der Struktur dazu sind Zugänge, die sich in gewisser Weise an das alte Kinderspiel anlehnen: „Ich seh’, ich seh’, was du nicht siehst.“ Oder dann „pädagogisch“ ausgedrückt: „Meine Aufgabe ist es, Gott zu den Menschen zu bringen.“ d) „Meine Aufgabe ist es, Gott zu den Menschen zu bringen“, das legt nahe: „Ich habe Gott und die anderen nicht.“ So ausgesprochen klingt das ziemlich doktrinär. Wenn diese Figur sich allerdings in die allumfassende Sprache der Ökonomie kleidet, kann sie sehr schön „liberal“ und „zeitgemäß“ klingen. Z. B.: „Die Kirche muss lernen ihr Produkt besser an die Menschen zu bringen.“ Gott ist dann endgültig derjenige, den die Kirche produziert, herstellt. Und unvermutet haben wir den Bezirk der Blasphemie betreten. Die ganze Heilige Schrift ist voll von donnernder Zurückweisung einer irgendwie gearteten Herstellung eines Gottes. Ja, sie geht sogar noch viel weiter in der Kritik eines solchen Tuns: Jede angemaßte Verfügungsgewalt des Menschen über Gott wird den lebendigen Gott gerade verfehlen und ist ihr daher ein Gräuel, weil Götzendienst. Bevor wir uns aber einem Götzen hingeben, ist es besser von Gott zu schweigen. Folgerichtig hat der lateinamerikanische Theologe Jon Sobrino daher diesen biblischen Eifer in folgenden Satz gebracht: „Gemäß der Heiligen Schrift ist der eigentliche Gegensatz zum Gott des Lebens nicht der Atheismus, sondern der Götzendienst.“ C) Glaubenszeugnis im Horizont der Ehrfurcht All diese Fehlformen machen uns darauf aufmerksam, dass das Gotteszeugnis unter der ständigen Gefährdetheit steht sich von Gott abzuwenden. So gesehen will ich meine weiteren Ausführungen im Schatten der Ehrfurcht tun, also der ständigen Sorge Gott gerade zu verfehlen. Den Ort der Rede von Gott aber möchte ich so verfolgen, dass ich insgesamt einer Phänomenologie des Redens von etwas nachgehe. a) Rede von etwas Wie kann ich eigentlich rechtens überhaupt von etwas reden? Wenn wir dem ernsthaft nachgehen, werden wir sehen: Rede von etwas ist immer ein Zweites. Ihr voraus geht ein Akt der Rezeptivität. In der Rede bringe ich Etwas zum Ausdruck, wobei die Rede einem Vernommen-Haben dieses Etwas entstammt. Ein mir Vorgegebenes rührt mich an – so, dass ich es zur Sprache bringe. Bezeichnend ist unser Sprachgebrauch: „Etwas (z. B. ein Bild) hat mich angesprochen.“ So entspringt Rede aus dem Vernehmen dessen, was anspricht, aus dem Angesprochen-Sein. b) Rede von Person Dieser allgemeine Sachverhalt gilt natürlich auch für die Rede von Personen, doch tritt hier noch ein Wesentliches hinzu. Denn die Rede von Person als Person setzt eine personale Erfahrung mit ihr voraus. Sehen wir uns dazu ein Beispiel an: In der U-Bahn sitzt mir ein junger Mann gegenüber, der mir von seinem äußeren Erscheinungsbild gefällt, mich in diesem Sinn anspricht. Ich steige aus, treffe einen Bekannten, und kann ihm nun von dem jungen Mann erzählen. Doch das, was ich sagen kann, wäre noch kein Sprechen von ihm als dieser unverwechselbaren Person, die er ist. Was muss also geschehen, damit ich in der Lage bin, von diesem jungen Mann als Person anderen zu erzählen? Bei der Beantwortung dieser Frage kommt das Entscheidende zur Sicht. Es liegt nämlich nicht zuerst in meiner Macht dahin zu gelangen, um von ihm als Person erzählen zu können – ich bin vielmehr auf ihn selbst, sein Sich-mir-Öffnen angewiesen. Die Rede von Person als Person setzt so eine von ihr selbst ermöglichte personale Erfahrung mit ihr voraus. Rede von Person – so können wir jetzt sagen – setzt voraus, dass die Person, von der die Rede sein soll, sich zuerst in Freiheit öffnet, zuerst selbst von sich redet. c) Rede von Gott Diese Überlegungen können wir nun auf die Rede von Gott anwenden. Rede von Gott erweist sich nämlich jetzt nur dann als möglich, wenn Gott zuerst selbst von sich geredet hat und redet. Ich kann nur von Gott reden, insofern Gott selbst von sich redet, sich mir als Gott geöffnet hat, und ich diese seine Rede vernommen habe und vernehme. Setzen wir für „Rede Gottes von sich selbst“ den klassischen theologischen Ausdruck „Offenbarung“, so können wir zusammenfassend sagen: Wahrhaftige Rede von Gott ist an die Offenbarung Gottes gebunden. Rede von Gott ist nur möglich, wo ein Hören auf die Offenbarung Gottes vorangegangen ist und das Vernommene weitergegeben wird. Aber so wie der Überstieg von Dingen auf Personen einen Qualitätssprung beinhaltet, so beinhaltet der Überstieg von Personen auf Gott auch einen Qualitätssprung. Vielleicht klingt es lächerlich, aber es ist nicht so gemeint: Der Qualitätssprung ist der, dass Gott selbst eben nie in der U-Bahn sitzt. Gott, wenn es denn wirklich um Gott geht, sitzt überhaupt nirgends. Oder, um es wieder mit Thomas von Aquin zu sagen: „Streng gesprochen ist Gott nicht.“ Genau das ist der vorhin angesprochene Qualitätssprung zwischen der Rede von einer menschlichen Person und der Rede von Gott. „Gott ist nicht“, denn Gott ist ja zunächst die Antwort auf das stauende Wahrnehmen, dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts. Oder, weniger philosophisch, sondern biblisch gesprochen: Gott ist der, der alles aus dem Nichts geschaffen hat. Gott ist der Schöpfer aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge. Diese Dinge sind, weil Gott sie geschaffen hat. Und insoferne ich sagen kann: „Der Tisch hier ist“, kann ich eben nicht in gleichem Maße sagen: „Gott ist“. D.h., um wieder Thomas zu folgen: Gott in sich ist von uns nicht einsehbar, sondern „nur“ seine Hervorbringungen, seine Schöpfung.. Sie sind der Ort der Rede Gottes, aber Gott selbst ist mir entzogen. Ich will versuchen, um das deutlicher zu machen, eine kleine Analogie zu bringen, wobei eine Analogie natürlich immer nur eine unzureichende Annäherung ist und auch missverstanden werden kann. Wie kann ich heute eigentlich über Franz Schubert reden? Er selbst ist tot, und so ist mir die direkte personale Begegnung mit ihm verwehrt. Aber wer je einmal, sagen wir, seine große CDur-Symphonie gehört hat, wirklich gehört hat, der wird vielleicht mehr über Schubert verstehen, als von so manchem Mitmenschen, der leibhaftig neben ihm ist. Die Folge, die Thomas aus dem Ganzen zieht, ist nun die: Wir haben eigentlich nur einen Weg der Rede von Gott: nämlich in Ernsthaftigkeit und dankbarem Staunen die Wirklichkeit zu vernehmen und diese zur Sprache zu bringen. Denn die Wirklichkeit ist das, was uns Gott in seiner unbegreiflichen Liebe zugedacht hat. Das, was ist, zur Sprache zu bringen, ist somit das Gotteszeugnis schlechthin, ja der erste Gottesdienst. Thomas drückt dies einmal sehr scharf aus: „Offenkundig falsch ist die Meinung derer, die sagen, dass es zur Wahrheit des Glaubens nichts beiträgt, was einer über die Welt denkt, solange er nur über Gott richtig denkt. Denn ein falsches Denken über die Welt führt zu einem falschen Denken über Gott und zieht die Gedanken von Gott ab.“ D) Glaubenszeugnis im Horizont einer säkularen Welt Das letzte Zitat von Thomas führt uns mitten in die heutige Welt – und ich denke, dies ist auch kein Zufall, denn die geistesgeschichtlichen Probleme des Hochmittelalters waren und sind den geistesgeschichtlichen Problemen unserer Zeit sehr eng verwandt (das wäre einmal eine ganz eigene Vorlesung wert, denn ich denke, wir könnten viel draus lernen). Was wussten einzelne Theologen in der Zeit des Thomas nicht alles von Gott zu sagen! Ob sich dies an der Wirklichkeit ausweisen ließ, wurde überhaupt nicht geprüft. Oft war dieses Geschwätz einfach nur dumm, aber da man sich daran gewöhnt hatte, für dieses Geschwätz von Gott keinen Ort des Ausweises mehr angeben zu müssen, konnte es auch für alles mögliche andere verwendet werden. Sie dürfen ja nicht vergessen, dass Thomas in die Epoche hineingeboren wurde, in der die Kirche das erste Mal in der Geschichte gegen ihre eigenen Gläubigen einen Kreuzzug entfacht hatte, den so genannten Kreuzzug gegen die Albigenser, und ihre dabei wirksamen Machtgelüste hinter ideologische Wolken verbarg. Zwar war dieser Krieg zunächst auch bestimmt durch eine Auseinandersetzung über den wahren Glauben mit den so genannten Katharern, doch bald ging es nur mehr um politische,gebietsmäßige und ökonomische Machterweiterung. Die Idee der Dominikaner – und Thomas war erst die zweite Generation dieses Bettelordens – war es, die ursprüngliche Auseinandersetzung mit den Katharern dahingehend zu führen, dass man im Streitgespräch eruierte, wer mehr von der Wirklichkeit sah, und von daher für sich in Anspruch nehmen konnte, wahrhaftiger von Gott zu reden. Legen wir das auf unsere Welt um, dann bedeutet das: Gotteszeugnis heißt zuinnerst und zuerst Avantgarde der Wirklichkeitserkenntnis zu sein. Zeugnis gibt der oder die ab, die in ihrem Bereich mit höchstem Sachverstand am Werk ist. Gotteszeugnis gibt der bzw. die ab, die Wirklichkeit zum Leuchten bringt und nicht einfachhin der bzw. die, die stets Gott im Munde führt. (Vielleicht sollten wir daher als wahrhaftig Gottglaubende die festzustellende Gottvergessenheit dieser unserer Gegenwart einmal theologisch auch positiv beurteilen.) Erst von daher kann es dann so etwas wie ein ausdrückliches Glaubenszeugnis geben. Führt die Ernstnahme der Heiligen Schrift als Interpretation der Welt durch Gott zu einem tieferen Verständnis? Führt die Anerkenntnis der Geschichte Gottes mit den Menschen, deren Höhepunkt Leben und Sterben Jesu Christi ist, zu einem tieferen Verständnis? Das alles aber muss sich wieder im Blick auf die Wirklichkeit erweisen, ob sie mir enger oder weiter wird.