4.4 Anonyme Märkte und das Gleichgewicht der "vollständigen Konkurrenz" Wir haben bisher nachvollziehen können, wie zwei Personen für sich den Anreiz zum Tausch entdecken und wie mit wachsender Bevölkerung die Menge der Allokationen sinkt, die Endergebnisse der bis dahin modellierten Tauschprozesse sein können. Dies geschah dadurch, daß sich die Personen, die sich bei "extremen" Allokationen schlecht stehen, in Koalitionen zusammenfinden können, um die starken Spieler gegeneinander ausspielen zu können. Genau an diesem Punkt wollen wir nun einhaken. Solange die Bevölkerung, die wir hier modellieren, recht klein ist, so daß jeder jeden kennt, ist es offenbar eine realistische Erwartung, daß sich solche Gruppen auch zusammenfinden. Je größer jedoch die Bevölkerung wird, desto weniger werden sich die Einzelnen einander kennen. Wenn man sich jedoch nicht kennt, wird es sehr aufwendig, die richtigen Partner zu finden. Ja selbst, wenn es gar nicht um die Bildung einer Koalition geht, um Machtpositionen zu beseitigen, sondern nur um einen geeigneten Tauschpartner, so wird dies recht schwierig, wenn man nicht weiß, wer der geeignete Tauschpartner ist. Zu einem Tausch zwischen zwei Partnern gehört mindestens die gegenseitige Übereinstimmung der Tauschinteressen. Wenn eine Person z.B. Äpfel gegen Kartoffeln tauschen will, nützt es ihr wenig, auf jemand zu treffen, der Kartoffeln nur gegen Erdbeeren tauschen will. Die gegenseitigen Tauschinteressen stimmen nicht überein. Dies zeigt rasch die Grenzen dieser Tauschwirtschaft auf. Der Tauschprozeß wird mit immer größer werdender Bevölkerung immer zeitaufwendiger, m.a.W.: er ist mit immer größeren Kosten verbunden. Solche Art von Kosten sind ein Beispiel für das, was Wirtschaftswissenschaftler "Transaktionskosten" nennen. Diese Transaktionskosten steigen mit einer wachsender Bevölkerung. Daher ist das Ergebnis aus 4.3, nach dem nur noch eine mögliche Allokation Endergebnis von Tauschprozessen sein kann, wenn die Bevölkerung über alle Grenzen wächst, zunächst von beschränktem Interesse. Wir werden gleich sehen, daß es eine andere Begründung für das Interesse an dieser Allokation gibt. Wie wird eine wachsende Bevölkerung nun mit dem Problem steigender Transaktionskosten beim reinen Tauschhandel umgehen? Alle Gesellschaften sind irgendwann auf die Idee gekommen, ein allgemein anerkanntes Tauschmittel zu nutzen. Wir sehen hier den wirtschaftlichen Anreiz hierzu: Ein Tauschmittel senkt die Transaktionskosten drastisch. In unserem Beispiel, wo eine Person lieber mehr Kartoffeln 2 und weniger Äpfel haben will, wird die Person nicht mehr nach jemandem suchen müssen, der gerade die umgekehrte Interessenlage hat. Vielmehr braucht sie nur noch einen Partner zu finden, der Äpfel haben will. Sie "verkauft" ihm dann Äpfel gegen das Tauschmittel (Geld). Und sie muß jemanden finden, der Kartoffeln abgeben will. Von diesem "kauft" sie dann Kartoffeln gegen das Tauschmittel, das sie von dem ersten Handelspartner erhalten hat. Bei der Existenz von Tauschmitteln braucht es noch nicht einmal eine Person zu geben, die direkt Äpfel gegen Kartoffeln tauschen will. Gehen wir nun davon aus, daß unsere Gesellschaft die Institution "Tauschmittel" erfunden hat. Dadurch, daß Güter nun gegen das Tauschmittel seinen Besitzer wechseln, erhält jedes Gut seinen Preis: die Menge an Tauschmitteln, die für eine Einheit eines Gutes bezahlt werden. Damit sind die Güter im Tauschprozeß in gewisser Weise voneinander getrennt. Jedes einzelne Gut läßt sich gegen das Tauschmittel handeln. Für den Teil des allgemeinen Tauschprozesses, der sich auf ein Gut bezieht, müssen für die Durchführung die "Anbieter" und die "Käufer" ("Nachfrager") des betreffenden Gutes aufeinander treffen. Der Ort, an dem dieses geschieht, definiert eine weitere Institution: den "Markt" für das Gut. Dies kann man sich ganz konkrekt als Markt auf einem "Marktplatz" vorstellen. Man muß sich diese Institution jedoch nicht örtlich an einem Punkt konzentriert (Marktplatz) vorstellen. Das Zusammenspiel der Nachfrager und der Anbieter wird wesentlich den Preis bestimmen, der sich für das Gut herausbildet. Dies ist eine zentrale Funktion des Marktes. Darauf, wie sich der Preis bildet, werden wir an dieser Stelle noch nicht eingehen. Wir werden jedoch in späteren Kapiteln ausführlich darauf zurückkommen. Bevor wir darauf zurückkommen, werden wir in der Begründungslinie für die Institution Tauschmittel - oder ab jetzt "Geld" bleiben. Sie war durch eine groß werdende Bevölkerung begründet. Wir werden uns daher vorstellen, daß es in jedem Markt auf beiden Seiten (der Angebotsseite und der Nachfrageseite) viele Personen gibt. Das heißt auch, daß wir uns den Ablauf des Marktes anonym vorstellen Es kommt nicht darauf an, wer mit wem tauscht. Es wird immer eine Einheit eines Gutes gegen seinen Preis an Geld getauscht, sozusagen ohne Ansehen der Person. Der Markt ist anonym. Wir werden nun den Bogen zurückschlagen zu der Allokation, die wir in 4.3 als die Allokation charakterisiert haben, die auch bei einer noch so großen Bevölkerung nicht blockiert werden kann. Wir werden sehen, daß wir sie als Ergebnis eines Tauschprozesses ansehen können, der über Geld abgewickelt wird. Dazu schauen wir uns die letzte Edgeworth-Box noch einmal an: 3 x1B x 2A x 2B xA ω A Betrachten wir die Verbindungslinie zwischen der durch xA gekennzeichneten und der durch ωA gekennzeichneten Allokation. Wir wählen jetzt zwei Preise p1 und p2 mit der Eigenschaft, daß p1/p2 der Steigung dieser Verbindungsgerade (genauer dem Betrag der Steigung) entspricht. Von dem, was wir in Kapitel 2 gelernt haben, können wir daher die Verbindungsgerade als Budgetgerade des A auffassen, also als den Ort der Güterbündel, die p1 x1 + p2 x2 = p1 ω1 + p2 ω2 erfüllen. Wie man sieht, ist dann xA gerade das Güterbündel, das den Nutzen maximiert. A wird also gerade ( ω 1A − x1A ) Pfund Äpfel verkaufen wollen und ( x 2A − ω 2A ) Pfund Erdbeeren kaufen wollen. Völlig analog macht man sich nun klar, daß die Verbindungsgerade aber bei diesen Preisen auch die Budgetgerade für Person B ist und daß B dann bei xB = ωA + ωB - xA. B will also bei diesen Preisen ( ω 2B − x 2B ) Pfund Erdbeeren verkaufen und ( x1B − ω 1B ) Pfund Äpfel kaufen. Wie sieht das Angebot auf dem Äpfelmarkt jetzt aus? Jeder, der sagen wir n Personen vom Typ A, will ( ω 1A − x1A ) Pfund Äpfel anbieten, zusammen also n ( ω 1A − x1A ) Wie sieht die Nachfrage aus? Jeder n Personen vom Typ B will ( x1B − ω 1B ) Pfund Äpfel kaufen, zusammen also n ( x1B − ω 1B ) 4 Die Preise, die wir oben rein graphisch festgelegt haben, haben eine ganz zentrale Eigenschaft: Bei ihnen entspricht die Nachfrage gerade dem Angebot: n ( ω 1A − x1A ) = n ( x1B − ω 1B ) oder ( ω 1A − x1A ) = ( x1B − ω 1B ) oder x1A + x1B = ω 1A + ω 1B . Da die letzte Gleichung gelten muß, weil ( xA, xB) eine mögliche Allokation ist, folgt die Gleichheit von Angebot und Nachfrage (erste Gleichung). Völlig analog kann man nachprüfen, daß dasselbe für den Markt für Erdbeeren gilt. Was haben wir damit erreicht? Wir haben nachgewiesen, daß die Allokation, die als Endergebnis in 4.3 begründet wurde, auch anders erreicht werden kann. Wenn die Preise entsprechend der obigen Konstruktion gewählt werden und wir das Nachfrageverhalten unterstellen, das wir in den vorangegangenen Kapiteln modelliert haben, dann haben diese Preise erstens die Eigenschaft, daß "die Märkte geräumt werden" (Angebot = Nachfrage), und zweitens die Eigenschaft, daß die sich dadurch ergebende Allokation gerade diejenige ist, die sich bei einem Tauschprozeß mit beliebiger Koalitionsbildung (unter Vernachlässigung der entsprechenden Transaktionskosten) auch herausgebildet hätte. Die in 4.3 charakterisierte Allokation kann also auch in einer auf Geld beruhenden Marktwirtschaft erreicht werden. Die Institutionen Geld, Preise und Märkte ersetzen die vielfältigen Koalitionsversuche, die in einer Welt ohne allgemein anerkanntes Tauschmittel nötig wären, um auf Verhandlungsgeschick beruhende Machtpositionen abzubauen. Preise, die die Märkte räumen, heißen auch Gleichgewichtspreise. Und die Allokation, die sich bei diesen Preisen über das Nachfrage- und Angebotsverhalten einspielen, heißen Gleichgewichtsallokation. Das Defizit, mit dem diese Modellierung bisher behaftet ist, ist natürlich das Fehlen einer Vorstellung, warum sich diese Preise einstellen sollten. In der Modellierung taucht niemand auf, der diese Preise setzt. Gerade das Umgekehrte ist der Fall: Alle Personen richten ihr Nachfrage- und Angebotsverhalten an vorgegebenen Preisen aus. Sie nehmen die Preise als gegeben an. Deshalb nennt man dieses Verhalten auch Preisnehmerverhalten. Wenn in den Märkten auf beiden Seiten viele Akteure vorzufinden sind, ist dies auch sinnvoll, weil dann kein Akteur einen wesentlichen Einfluß auf die Preise haben kann. Eine Preiserhöhung eines Akteurs würde dazu führen, daß die bei ihm bisher realisierte Nachfrage zu den anderen Anbietern abwandern würde. Eine 5 Preissenkung würde nicht mehr Nachfrage bringen, weil die anderen Anbieter ihre Preise ebenfalls senken würden. Der Konkurrenzdruck ist also sehr groß und deshalb haben die einzelnen Akteure einen verschwindenden Einfluß auf die Preise. Diese Situation beschreibt das, was Wirtschaftswissenschaftler "vollständige Konkurrenz" oder "vollständigen Wettbewerb" nennen. Wir werden später sehen, wie sich die Situation der vollständigen Konkurrenz als Grenzfall analysieren läßt. Dann wird auch klar werden, "woher die Preise kommen".