Prof. Dr. Ingolf Pernice Humboldt-Universität zu Berlin WS 2010/11 Stand: 3.1.11 EUROPÄISCHES WIRTSCHAFTSRECHT (SCHWERPUNKT 6) §5 Die Niederlassungsfreiheit (EuGH, Rs. C-55/94, Slg. 1995, I 4165 – Gebhardt, HV 589) Lesen: EuGHRs. C-313/01 = EuZW 2004, 61 ff. – Morgenbesser (Zulassung zum Referendariat), HV 631 EuGH, Rs. C-9/02, EuZW 2004, S. 273 ff. – Lasteyrie Du Saillant EuGH, Urt. v. 07.05.1991, Rs. C-340/89 (Vlassopoulou) EuGH, Urt. v. 13.12.2005, Rs. C-446/03 (Marks & Spencer) EuGH , Urt. v. 19.5.2009, Rs. C-171, 172/07 (Doc Morris II), mit Anm. Christoph Herrmann, EuZW 2009, 409 (413) EuGH, Urt. v. 19.5.2009, Rs. C-531/06 (Apotheken) Wolfgang Weiß, Nationales Steuerrecht und Niederlassungsfreiheit – Von der Konvergenz der Grundfreiheiten als Beschränkungsverbote zur Auflösung der Differenzierung zwischen unterschiedslosen und unterschiedlichen Maßnahmen, EuZW 1999. S. 493-498 Tobias Steven, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445467 Gesellschaftsrecht: EuGH, Urt. v. 09.03.1999, Rs. C-212/97 (Centros) EuGH, Urt. v. 16.12.2008, Rs. C-210/06 (Cartesio), mit Anm. Pießkalla, EuZW 2009, 75 (81) Stefan Leible/Jochen Hoffmann, Wie inspiriert ist „Inspire Art“?, EuZW 2003, S. 677-682 Oliver Mörsdorf, Beschränkung der Mobilität von EUGesellschaften im Binnenmarkt - eine Zwischenbilanz, EuZW 2009, 97-102 I. II. Grundsätze – Art. 49 AEUV .............................................................................. 2 Niederlassungsfreiheit und nationale Diplome .................................................. 6 EuR II – Europäisches Wirtschaftsrecht III. Rechtfertigung von Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit erfolgt nach denselben Grundsätzen, wie bei der Dienstleistungsfreiheit. ............................ 7 IV. Von der Niederlassungsfreiheit zum europäischen Unternehmensrecht. .......... 7 Fragen: 1. Was versteht man unter dem Begriff der Niederlassungsfreiheit, wie ist sie geschützt? 2. Grenzen Sie die Niederlassungsfreiheit Kapitalverkehrsfreiheit ab, was sind die Kriterien? von der 3. Wie löst der EuGH die Spannung zwischen Niederlassungsfrweiheit und nationaler Kompetenz zu Berufsregelungen ? 4. Was ist das Problem bei einer Verlegung des Hauptsitzes einer Gesellschaft von einem Mitgliedstaat in einen anderen, welche Theorien gibt es dazu uns was ist die Lösung des Unionsgesetzgebers? 5. Hat sich die europarechtliche Beurteilung der Sitzverlegung von Gesellschaften seit Daily Mail verändert? Was müssen die Mitgliedstaaten beachten? I. Grundsätze – Art. 49 AEUV 1. Anwendungsbereich und unmittelbare Wirkung der Niederlassungsfreiheit a. Abgrenzung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV) und zur Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) aa. EuGHE 1991 I 3905/3965 - Factortame: Der Niederlassungsbegriff umfaßt "die tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat auf unbestimmte Zeit" Nach EuGHE 1995, I-4165/4195 - Gebhard - HV 589 (Verbot der Bezeichnung avvocato für einen deutschen Anwalt (Rn. 25)) ist der Begriff der Niederlassung "ein sehr weiter Begriff", der die "Möglichkeit" des EG-Bürgers impliziert. "in stabiler und kontinuierlicher Weise am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaats als seines Herkunftsstaats teilzunehmen und daraus Nutzen zu ziehen." Die Dienstleistungsfreiheit dagegen betrifft Tätigkeiten, zu denen der Leistende sich nicht oder nur vorübergehend (Art. 60 III EGV) im Bestimmungsland aufhält (ebd., Rn. 26). "Vorübergehend" schließt nicht aus, daß der Dienstleistende im Zielstaat eine gewisse Infrastruktur vorhält, die für die Ausübung der Freiheit erforderlich ist (ebd., Rn. 27), s.u. Weiterhin ist es auch möglich, „über einen längeren Zeitraum, bis hin zu mehreren Jahren“ eine grenzüberschreitende Dienstleistung zu erbringen (EuGH Rs. C215/01, EuZW 2004, 95, Schnitzer). bb. Art. 49 ff. AEUV betreffen die selbständigen Tätigkeiten, die Niederlassungsfreiheit schützt die freie Standortwahl, Art. 45 AUV dagegen abhängige Arbeitsverhältnisse. cc. Wichtig: Art. 43 gilt auch für die Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen und Tochtergesellschaften von Angehörigen 2 Ingolf Pernice c. d. e. f. eines Mitgliedstaats die im Gebiet eines Mitgliedstaats ansässig sind (Art. 49 I S. 2 AEUV) Abgrenzung zur Kapitalverkehrsfreiheit, Art. 63 I AEUV: der EuGH nimmt eine dogmatisch wenig überzeugende „Schwerpunkt”-Betrachtung vor, die in bestimmen Situationen zu einer ausschließlichen Anwendung von Art. 49 AEUV führt. Dem Gerichtshof ist es bis heute noch nicht gelungen, jener „Schwerpunkt-Rechtsprechung” die nötigen Konturen zu verleihen. Manche Entscheidungen (etwa EuGH Rs. C-157/05, Slg. 2007, I-4051 - Holböck, Rz. 23.EuGH, Rs. C-182/08 - Glaxo Wellcome, IStR 2009, 691, Rz. 40, 47 ff.) legen es nahe, dass für die Beantwortung der Frage, ob ein bestimmter Fall an der Niederlassungs- und/oder der Kapitalverkehrsfreiheit gemessen werden soll, auf den Gegenstand der betreffenden nationalen Regelung abzustellen ist. Demnach sollen nationale Rechtsvorschriften, deren Anwendung nicht vom Umfang der Beteiligung an einer Gesellschaft abhängt, in aller Regel sowohl unter Art. 49 AEUV als auch unter Art. 63 I AEUV fallen. Sofern es sich jedoch bei dem Gegenstand der betreffenden nationalen Regelung um Beteiligungen handelt, die ihrem Inhaber einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen der betroffenen Gesellschaften verschaffen und es ihm ermöglichen, deren Tätigkeiten zu bestimmen, finden die Bestimmungen des Vertrags über die Niederlassungsfreiheit Anwendung. In anderen Entscheidungen (etwa EuGH, Rs. C-284/06, Slg. 2008, I-4571 - Burda, Rn. 68-73) fasste der EuGH allerdings sein Verständnis des Verhältnisses von Kapital- und Niederlassungsfreiheit derart zusammen, dass im Ergebnis die konkreten Beteiligungsverhältnisse bei der Frage der anzuwendenden Grundfreiheit entscheidend seien. Kritisch hierzu Hindelang, Gestufte Freiheitsverbürgung? - Art. 63 Abs. 1 AEUV (Ex-Art. 56 Abs. 1 EG) im Drittstaatenkontext, IStR 2010, 443, 443 f. Wie für natürliche Personen gilt die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit auch für Gesellschaften, die ihren satzungsgemäßen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Union haben (vgl. Art. 54, 62 AEUV). Sie müssen nach dem Rechte eines Mitgliedstaates gegründet werden und ihren Sitz in der EU haben, in wessen Hand das Kapital ist, ist gleichgültig. Unmittelbare Anwendbarkeit trotz Fehlens der Richtlinien nach Art. 50 AEUV (Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit) und Art. 53 I (Anerkennung) und II (Koordinierung) AEUV; EuGHE 1974, 631 Reyners (HV 585, lesen!). Schutzumfang und Grenzen: Grundsätze nach EuGHE 1995, I4165/4197 f. - Gebhard (Rn. 34 ff.) aa. bei ungeregelten Berufen, wo keine besonderen Zulassungsvoraussetzungen für Inländer gelten, ist der Zugang für jeden Unionsbürger frei. bb. Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten können aber „von der Beachtung bestimmter durch das Allgemeininteresse gerechtfertigter Rechts- und Verwaltungsvorschriften abhängig gemacht werden“ (Organisation, Qualifikation, Standespflichten, Kontrolle, Haftung etc.), auch von der Verwendung bestimmter Berufsbezeichnungen (avvocato). Deren Beachtung kann auch vom ausländischen EU-Bürger verlangt weerden, aber zwingend sind: cc. vier Voraussetzungen: die Bstimmungen müssen (1) in nichtdiskriminierender Weise angewendet werden (2) aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein (3) die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles gewährleisten (4) nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des Zieles erforderlich ist 3 EuR II – Europäisches Wirtschaftsrecht dd. Weiter dürfen in anderen Mitgliedstaaten erworbene Kenntnisse und Diplome nicht außer Acht gelassen werden, sondern sind auf Gleichwertigkeit zu prüfen und dann ggf. anzuerkennen (Rn. 38, mit Verweis auf EuGHE 1991, I-2357 – Vlassopoulou, HV 627), dort Rn. 15 Hierzu ist festzustellen, daß nationale Qualifikationsvoraussetzungen, selbst wenn sie ohne Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit angewandt werden, sich dahin auswirken können, daß sie die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten in der Ausübung des ihnen durch Artikel 52 EWG-Vertrag gewährleisteten Niederlassungsrechts beeinträchtigen. Dies kann der Fall sein, wenn die fraglichen nationalen Vorschriften die von dem Betroffenen in einem anderen Mitgliedstaat bereits erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten unberücksichtigt lassen. 2. Als Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit werden insbesondere angesehen: aa. Gesonderte Buchführungspflicht der in Luxembourg gegründeten Zweigniederlassung im Blick auf den steuerlichen Verlustvortrag von Verlusten gegenüber den in Luxembourg erzielten Gewinnen: EuGH Rs. 250/95 - Singer 25 Die Voraussetzung bewirkt nämlich, daß eine solche Gesellschaft, will sie Verluste ihrer Zweigniederlassung vortragen, neben ihren eigenen Büchern, die dem Steuerrecht des Mitgliedstaats ihres Sitzes entsprechen müssen, getrennte Bücher über die Tätigkeiten ihrer Zweigniederlassung nach dem Steuerrecht des Staates führen muß, in dem die letztere sich befindet. Diese Bücher müssen zudem am Ort der Zweigniederlassung, nicht am Sitz der Gesellschaft aufbewahrt werden. 26 Damit verstösst diese Voraussetzung, die spezifisch Gesellschaften mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat trifft, grundsätzlich gegen Artikel 52 EG-Vertrag. Etwas anderes gilt nur, wenn die Maßnahme ein legitimes Ziel verfolgt, das mit dem EG-Vertrag vereinbar und durch zwingende Gründe des öffentlichen Interesses gerechtfertigt ist. Erforderlich ist zudem, daß die Maßnahme zur Erreichung des fraglichen Zieles geeignet ist und nicht über das hinausgeht, was hierzu erforderlich ist“. Als zwingendes Erfordernis wird hier die Wirksamkeit der Steueraufsicht bestätigt (Rn. 445) bb. Die Bedingung, dass eine inländische Konsortialgesellschaft über eine Holding im Inland Verluste einer Tochter, die im Inland sitzt, nicht im Rahmen des „Konzernsteuerabzugs“ steuerlich gegenüber dem inländischen Gewinn in Ansatz bringen kann, wenn die Holding Tochtergesellschaften hauptsächlich im Ausland hat. EuGH Rs. C264/96 – ICI, stellt zunächst fest, dass Art. 49 AEUV nicht nur die Beschränkung der Niederlassung ausländischer Personen (incl. Gesellschaften – Art. 49 II, 54 II AEUV) verbietet.. 21 Auch wenn die Bestimmungen über die Niederlassungsfreiheit nach ihrem Wortlaut insbesondere die Inländerbehandlung im Aufnahmemitgliedstaat sichern sollen, so verbieten sie es doch auch, daß der Herkunftsstaat die Niederlassung seiner Staatsangehörigen oder einer nach seinem Recht gegründeten Gesellschaft, die im übrigen der Definition des Artikels 58 des Vertrages entspricht, in einem anderen Mitgliedstaat behindert (vgl. Urteil vom 27. September 1988 in der Rechtssache 81/87, Daily Mail und General Trust, Slg. 1988, 5483, Randnr. 16). In der Regelung, die Konzernverlusten davon hauptsächlich Töchter Ungleichbehandlung: die steuerliche Abzugsfähigkeit von abhängig macht, dass die Holding im Inland hat, sieht er eine 22 Die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften verweigern Gesellschaften, die zu einem gebietsansässigen Konsortium gehören und über eine Holdinggesellschaft von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch gemacht haben, um in anderen Mitgliedstaaten Tochtergesellschaften zu gründen, einen Steuervorteil wegen Verlusten, die eine gebietsansässige Tochtergesellschaft der Holdinggesellschaft erlitten hat, wenn die Holdinggesellschaft hauptsächlich Tochtergesellschaften mit Sitz ausserhalb des Vereinigten Königreichs kontrolliert. 4 Ingolf Pernice 23 Derartige Rechtsvorschriften verwenden somit das Kriterium des Sitzes der kontrollierten Tochtergesellschaften, um eine unterschiedliche steuerliche Behandlung der im Vereinigten Königreich ansässigen Gesellschaften eines Konsortiums einzuführen. Sie behalten nämlich den für Konsortien vorgesehenen Abzug den Gesellschaften vor, die ausschließlich oder hauptsächlich Tochtergesellschaften mit Sitz im Inland kontrollieren. 24 Daher ist zu prüfen, ob diese Ungleichbehandlung nach den Bestimmungen des Vertrages über die Niederlassungsfreiheit gerechtfertigt ist. Wichtig ist hier die Vermischung der Gründe des Art. 52 AEUV (Rechtfertigung aus Gründen der öff. Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit) mit den zwingenden Gründen des Allgemeinwohls, hier Kohärenz des Steuersystems (was grds. bei diskriminierenden Maßnahmen nicht greift): 28 Was das Argument angeht, der sich aus dem Abzug der Verluste der gebietsansässigen Tochtergesellschaften ergebende Steuervorteil könne nicht durch die Besteuerung der Gewinne der ausserhalb des Vereinigten Königreichs ansässigen Tochtergesellschaften ausgeglichen werden, so ist darauf hinzuweisen, daß die daraus resultierenden Steuermindereinnahmen nicht zu den in Artikel 56 des Vertrages genannten Gründen gehören und nicht als zwingender Grund des Allgemeininteresses anzusehen sind, der zur Rechtfertigung einer mit Artikel 52 des Vertrages grundsätzlich unvereinbaren Ungleichbehandlung angeführt werden kann. Vgl. dazu krit. Wolfgang Weiß, EuZW 1999, 493 495 ff. S. aber Stewen, EuR 2008, 455, mit dem Hinweis, dass Art. 52 AEUV nicht für den Wegzug gilt und die Behinderung des Wegzugs (wie hier) keine Diskriminierung von ausländischen Unternehmen darstellt, sondern allenfalls eine Ungleichbehandlung zwischen Inländern. Das bedeutet: Rechtfertigung der Beschränkungen des Wegzugs (oder der Niederlassung im EU-Ausland) können aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls gerechtfertigt werden (Anders wohl Art. 14-36 AEUV zum Warenverkehr). Dies scheint bestätigt zu sein in EuGH Rs. C-446/03 - Marks & Spencer): 34 Ein solcher Ausschluss beschränkt damit die Niederlassungsfreiheit im Sinne der Artikel 43 EG und 48 EG, da er zu einer unterschiedlichen steuerlichen Behandlung von Verlusten einer gebietsansässigen und solchen einer gebietsfremden Tochtergesellschaft führt. 35 Eine derartige Beschränkung kann nur zulässig sein, wenn mit ihr ein berechtigtes und mit dem EG-Vertrag zu vereinbarendes Ziel verfolgt wird und wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. In einem solchen Fall muss allerdings ihre Anwendung zur Erreichung des damit verfolgten Zieles geeignet sein und darf nicht über das hinausgehen, was hierzu erforderlich ist. ...Rn. 59: „ Es verstößt jedoch gegen die Artikel 43 EG und 48 EG, der gebietsansässigen Muttergesellschaft eine solche Möglichkeit dann zu verwehren, wenn die gebietsfremde Tochtergesellschaft die im Staat ihres Sitzes für den von dem Abzugsantrag erfassten Steuerzeitraum sowie frühere Steuerzeiträume vorgesehenen Möglichkeiten zur Berücksichtigung von Verlusten ausgeschöpft hat und wenn keine Möglichkeit besteht, dass die Verluste der ausländischen Tochtergesellschaft im Staat ihres Sitzes für künftige Zeiträume von ihr selbst oder von einem Dritten, insbesondere im Fall der Übertragung der Tochtergesellschaft auf ihn, berücksichtigt werden.“ cc. Dass Apotheken nur von Apothekern betrieben werden dürfen, sieht der EuGH zwar als Beschränkung der Niederlassungsfreiheit an, diese ist aber gerechtfertigt., vgl. EuGH Rs. C-171, 172/07 (Doc Morris II). Ebenso : EuGH Rs. C-531/06 (Apotheken) : 44 Eine Beschränkung im Sinne von Art. 43 EG liegt insbesondere in einer Regelung, die die Niederlassung eines Wirtschaftsteilnehmers eines anderen Mitgliedstaats im Aufnahmemitgliedstaat von der vorherigen Erteilung einer Erlaubnis abhängig macht und die Ausübung einer selbständigen Tätigkeit bestimmten Wirtschaftsteilnehmern vorbehält, die zuvor festgelegten Anforderungen entsprechen, deren Einhaltung Voraussetzung für die Erteilung dieser Erlaubnis ist. Eine derartige Regelung hält Wirtschaftsteilnehmer anderer Mitgliedstaaten davon ab, im Aufnahmemitgliedstaat ihren Tätigkeiten mittels einer 5 EuR II – Europäisches Wirtschaftsrecht Betriebsstätte nachzugehen, oder hindert sie sogar daran (vgl. in diesem Sinne Urteil Hartlauer, Randnrn. 34, 35 und 38). 45 Die Regel des Ausschlusses von Nichtapothekern stellt eine derartige Beschränkung dar, weil sie den Betrieb von Apotheken Apothekern vorbehält und die übrigen Wirtschaftsteilnehmer von der Aufnahme dieser selbständigen Tätigkeit im betreffenden Mitgliedstaat ausschließt » Siehe auch: Beschränkung der Niederlassungsfreiheit bei Apotheken durch demografische und geografische Begrenzungen: EuGH, Verb. Rs. C-570, 571/07 - José Manuel Blanco Pérez u.a./Consejería de Salud y Servicios Sanitarios u. = EuZW 2010, 578. 3. Streitig, ob die „Keck-Rechtsprechung“ auf die Niederlassungsfreiheit (und auch die DLF) übertragbar ist, seit EuGH, Slg. 1995, S. I-1141 (1176), Rn. 28, 35 - Alpine Investments). Danach kommt es darauf an, ob die Maßnahme geeignet ist, „den Zugang zum Dienstleistungsmarkt“ zu erschweren. Das dürfte auch für die Niederlassungsfreiheit gelten (In diesem Sinne Tobias Stewen, EuR 2008, 445, 450 f.: „Aufenthalts- und Ausübungsregelungen“, die zwischen „Zuzug und Wegzug“ liegen II. Niederlassungsfreiheit und nationale Diplome 1. Art. 53 I AEUV sieht Harmonisierung vor, dennoch gilt auch im nichtharmonisierten Bereich Art. 49 AEUV direkt: a. EuGHE 1977, 765 - Tieffry: Bei gleichwertigem Prüfungszeugnis des Herkunftsstaats kann nationaler Qualifikationsnachweis nicht verlangt werden. Entsprechend: EuGHE 1991, I- 2357 - Vlassoupolou (HV 627): Jeder Mitgliedstaat muß die Befähigungsnachweise des Herkunftsstaates berücksichtigen, Qualifikationen müssen verglichen werden in einem objektiven Prüfungsverfahren. Das betrifft auch die im Ausland erworbene Berufserfahrung hinsichtlich des Erfordernisses praktischer Erfahrungen (Referendarzeit). Bei sachlichen Lücken kann Nachweis über Erwerb der fehlenden Kenntnisse verlangt werden. b. EuGHE 1987, 4097 - Heylens, gegenseitige Anerkennung von Diplomen, soweit es dafür innerstaatliche Verfahren gibt: bei Ablehnung im Einzelfall jedenfalls Garantie effektiven Rechtsschutzes: "Es stellt... ein Hindernis für die wirksame Ausübung der vom Vertrag garantierten Niederlassungsfreiheit dar, wenn die einzelnen Mitgliedstaaten für den Zugang zu bestimmten Berufen den Besitz eines Diploms gesetzlich vorschreiben; die Beseitigung dieses Hindernisses soll durch Richtlinien des Rates für die gegenseitige Anerkennung der Diplome... erleichtert werden... Der Umstand, daß diese Richtlinien noch nicht erlassen worden sind, berechtigt einen Mitgliedstaat nicht, einer dem Gemeinschaftsrecht unterstehenden Person die tatsächliche Ausübung dieser Freiheit zu verwehren, wenn diese Freiheit in diesem Mitgliedstaat insbesondere dadurch gewährleistet werden kann, daß dessen Rechtsvorschriften die Anerkennung ausländischer Diplome als gleichwertig erlauben. Da die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu den grundlegenden Zielen des EWG-Vertrags gehört, folgt... die Verpflichtung, die Freizügigkeit zu gewährleisten, aus Artikel 5 EWGVertrag... Der freie Zugang zur Beschäftigung ist ein Grundrecht, das jedem Arbeitnehmer der Gemeinschaft individuell vom Vertrag verliehen ist; die Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes hängt wesentlich davon ab, daß Entscheidungen einer innerstaatlichen Behörde, durch die die Gewährung des Rechts verweigert wird, vor Gericht angefochten werden kann". c. Dabei muß die Beurteilung der Gleichwertigkeit objektiv, d.h. "ausschließlich danach erfolgen, welches Maß an Kenntnissen und Fähigkeiten dieses Diplom unter Berücksichtigung von Art und Dauer des Studiums und der praktischen Ausbildung, deren Abschluß es bescheinigt, bei seinem Besitzer vermuten läßt" (ebd., Rn. 13). Deutlicher noch betont EuGHE 1991, I-2357 - Vlassopoulou (HV 627): 6 Ingolf Pernice "daß die Prüfung, ob die durch das ausländische Diplom bescheinigten Kenntnisse und Fähigkeiten den nach dem Recht des Aufnahmemitgliedstaats vorgeschriebenen entsprechen, von den nationalen Behörden nach einem Verfahren vorgenommen werden muß, das mit den Erfordernissen des Gemeinschaftsrechts in bezug auf den effektiven Schutz der den Gemeinschaftsangehörigen vom Vertrag verliehenen Grundrechte (!) in Einklang steht. Deshalb muß jede Entscheidung gerichtlich auf ihre Rechtmäßigkeit in Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht überprüft werden und der Betroffene von den Gründen Kenntnis erhalten können, auf denen die ihm gegenüber ergangene Entscheidung beruht". d. Kurz: Es gibt eine Pflicht aus Art. 49 AEUV zur vergleichenden Prüfung i.S.d. EuGHE 1977, 765 - Thieffry; EuGHE 1991, I-2357 Vlassopoulou, zuletzt: EuGH EuZW 2004. 61 ff. – Morgenbesser, HV 630: aa. zur Anerkennung aufgrund einer Gleichwertigkeitsprüfung als Folge des Art. 49 AEUV i.V.m. dem Grundsatz der Unionstreue nach Art. 4 III EUV: EuGHE 1992, I-3003 (3026 ff.) - Immobilienmakler zur Begründung der betreffenden Entscheidung und zur Einrichtung eines effektiven Rechtsschutzverfahrens (EuGHE 1987, 4097 Heylens). 2. Harmonisierungs- und Koordinierungsrichtlinien zur Effektivierung des Niederlassungsrechts; Neu: die zusammenfassende Richtlinie 2005/36/EG vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen 1: a. Aufgehoben sind damit: RL 89/48 v. 21. 12. 1988 über eine allgemeine Regelung zur Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Berufsausbildung abschließen, ABl. 1989 L 19/16, und Richtlinie 92/51 EWG über eine zweite allgemeine Regelung zur Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise in Ergänzung der Richtlinie 89/48/EWG, ABl. 1992 L 209/25. b. für den Anwaltsberuf bleibt es bei der gegenseitigen Anerkennung der dauerhaften Ausübung von freien Berufen nach der RL 98/5/ zur Erleicherung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde,2 aa. Zur Gültigkeit der Richtlinie (Rechtsgrundlage) vgl. EuGH, Rs. C168/98, Slg. 2000, I-9131 - Luxembourg/EP und Rat. bb. Wesentlicher Inhalt: (1) Grundsatz der Freiheit unter Berufsbezeichnung des Herkunftslandes (Art. 2, 4), freilich nach Eintragung im Gaststaat (Art. 3). (2) Ausnahmen: Urkundenausstellung einschränkbar, Einvernehmen in Fällen mit Anwaltszwang Sonderregelung für Zugang (spez. Anwälte) bei höchsten Gerichten (Art. 5) (3) Art. 10: nach 3 jähr. Berufspraxis im Gastland: Anspruch auf Zulassung zum Beruf nach innerstaatlichen Vorschriften in Abweichung von Art. 4 I lit. b der Ri. 89/48/EWG - Hochschuldiplome. Art. 10 II Antrag auf Anerkennung nach der Hochschuldiplom-Richtlinie jederzeit. cc. Zur Bedeutung der Richtlinie: Sobotta/Kleinschnittger, Freizügigkeit für Anwälte in der EU nach der Richtlinie 98/5/EG, EuZW 1998, 645 ff., zur Umsetzung in Deutschland durch das Gesetz über die Tätigkeit der Rechtsanwälte in Deutschland (EuRAG), v. 9.2.2000 (BGBl. 2000 I S. 182) vgl. Lach, NJW 2000, 1069 ff. III. Rechtfertigung von Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit erfolgt nach denselben Grundsätzen, wie bei der Dienstleistungsfreiheit. IV. Von der Niederlassungsfreiheit zum europäischen Unternehmensrecht. 1. Wichtige Unterscheidung nach der Rechtsprechung: 1 http://europa.eu.int/eur-lex/lex/LexUriServ/site/de/oj/2005/l_255/l_25520050930de00220142.pdf. 2 http://europa.eu.int/eur-lex/pri/de/oj/dat/1998/l_077/l_07719980314de00360043.pdf. 7 EuR II – Europäisches Wirtschaftsrecht a. Primäre Niederlassungsfreiheit: aa. Zur identitätswahrenden Sitzverlegung einer Gesellschaft: Art. 49 AEUV verbietet es auch dem Heimatstaat, die Niederlassung eines Staatsangehörigen (natürlichen Personen) in einem anderen Mitgliedstaat zu verhindern; aber mangels eines Übereinkommens zwischen den Mitgliedstaaten oder einer Harmonisierung (nach dem inzwischen aufgehobenen Art. 293 EGV) stellt es keine Verletzung des Art. 49 AEUV dar, wenn ein Mitgliedstaat an den Wegzug einer juristischen Person negative Folgen knüpft. Mangels Harmonisierung obliegt es den Mitgliedstaaten zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen eine Gesellschaft nach jeweils inländischem Recht wirksam gegründet werden und fortbestehen kann. Zu diesen Bedingungen gehört auch die erforderliche Inlandsverknüpfung der Gesellschaft nach Satzungssitz/Verwaltungssitz und die Möglichkeit und gegebenenfalls der Modalitäten einer Verlegung des satzungsmässigen oder wahren Sitzes einer Gesellschaft nationalen Rechts von einem Mitgliedstaat in einen anderen. EuGHE 1988, 5483 - Daily Mail (HV 592 lesen!); bestätigt in EuGH Rs. C-210/06 Cartesio bb. Versteckte Diskriminierungen sind mit Art 49, 54 AEUV unvereinbar, etwa bei: (1) Ausschluß bestimmter steuerlicher Vergünstigungen für Gesellschaften mit Sitz im EU-Ausland, EuGH EuZW 1993, 740 ff. - Commerzbank (Kriterium des steuerlichen Sitzes "droht sich... besonders zu Lasten der Gesellschaften auszuwirken, die ihren Sitz in anderen Mitgliedstaaten haben"). (2) Beschränkung der Steuerbefreiung für Grundstücksveräußerung bei interner Umstrukturierung eines Konzerns auf Fälle, wo Veräußerer nach inländ. Recht errichtet wurde, EuGHE 1994-I, 1137/1156 ff. = EuZW 1994, 347 - Halliburton. (3) Ebenso: Steuerfreibetrag für Person, die eine wesentliche Beteiligung an einem Unternehmen hält, darf nicht darauf beschränkt sein, daß das gehaltene Unternehmen seinen Sitz im Steuerstaat hat, weil darin Behinderung liegt, Unternehmen in anderen Mst. zu gründen, EuGH, JZ 2000, 942 – Baars mit Anm. Lehner. b. Sekundäres Niederlassungsfreiheit (Gründung einer Zweigniederlassung, Agentur etc. iSd. Art. 49 I 2 AEUV) aa. Zum "Grundsatz, daß ein Rechtsanwalt nur eine einzige Niederlassung haben darf": EuGHE 1984, 2971 - Klopp (HV 587): Verbot der Einrichtung einer Zweitkanzlei unzulässig. bb. EuGHE 1999, I-1459 Centros, HV 594: Wichtiger Fall, der die Beschränkung der Niederlassung einer Gesellschaft durch den Zuzugsstaat als europarechtswidrig ansah (In Abgrenzung zu Daily Mail, wo es um den Wegzug ging) angesehen wurde. Die Kl., eine in England eingetragene ”private limited company” mit zwei dänischen Geschäftsführern beantragte in Dänemark die Eintragung einer unselbständigen Zweigniederlassung (die engl. Centros Ltd. wird nach brit. und dän. Recht als fortbestehend angesehen). Die dänischen Behörden lehnten dies ab, weil die Kl. in Großbritannien keine Tätigkeit ausübe, so daß die Eintragung der Zweigniederlassung nur der Umgehung der strengeren Einlagevorschriften betr. das Mindestkapital diene. EuGH Rs. C-212/97 (Centros), Leitsatz 1: „Ein Mitgliedstaat, der die Eintragung der Zweigniederlassung einer Gesellschaft verweigert, die in einem anderen Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat, rechtmässig errichtet worden ist, aber keine Geschäftstätigkeit entfaltet, verstösst gegen die Artikel 52 und 58 des Vertrages, wenn die Zweigniederlassung es der Gesellschaft ermöglichen soll, ihre gesamte Geschäftstätigkeit in dem Staat auszuüben, in dem diese Zweigniederlassung errichtet wird, 8 Ingolf Pernice ohne dort eine Gesellschaft zu errichten und damit das dortige Recht über die Errichtung von Gesellschaften zu umgehen, das höhere Anforderungen an die Einzahlung des Mindestgesellschaftskapitals stellt. Das Recht, eine Gesellschaft nach dem Recht eines Mitgliedstaats zu errichten und in anderen Mitgliedstaaten Zweigniederlassungen zu gründen, folgt nämlich im Binnenmarkt unmittelbar aus der vom Vertrag gewährleisteten Niederlassungsfreiheit, so daß es für sich allein keine mißbräuchliche Ausnutzung des Niederlassungsrechts darstellen kann, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der eine Gesellschaft gründen möchte, diese in dem Mitgliedstaat errichtet, dessen gesellschaftsrechtliche Vorschriften ihm die grösste Freiheit lassen, und in anderen Mitgliedstaaten Zweigniederlassungen gründet.“ Also: Verweigerung ist Verstoß gegen Art. 49, 54 AEUV. Begründung (1) Mißbrauch der Niederlassungsfreiheit liegt nicht vor, auch wenn sie dazu genutzt wird, eine Gesellschaft in dem Mitgliedstaat zu gründen, das die größte Freiheit läßt (Rn. 26 ff). (2) Das gilt auch dann, wenn die eigentliche wirtschaftliche Tätigkeit durch die Zweigniederlassung erfolgt (Rn. 29). (3) Rechtfertigung der Beschränkungen nach Art 52 AEUV ? Das verfolgte Ziel des Gläubigerschutzes werde nicht erreicht, weil die dänischen Gläubiger genauso gefährdet wären, wenn die Firma eine Geschäftstätigkeit in GB durchführe. Ferner sei den Geschäftspartnern, die mit einer engl. firmierenden Gesellschaft arbeiteten, bekannt, daß die strengeren dänischen Vorschriften nicht gälten. (4) Es hätten mildere Maßnahmen zum Schutz ergriffen werden können, etwa die Einräumung von Sicherheiten seitens öffentlicher Gläubiger. Der EuGH verweist in diesem Zusammenhang auf die “unionsrechtlichen Schutzvorschriften” der Rechnungslegungs- und der Zweigniederlassungsrichtlinie (Rn. 36). cc. Zur innerstaatlichen Anwendung dieser Grundsätze ÖstÖGH Beschl. V. 15. 7. 1999, EuZW 2000, 156 ff.: Zweigniederlassung einer in UK gem. der Gründungstheorie gegr. „private limited company“ muß in Österreich wegen Vorliegen der Voraussetzungen nach Rspr. des EuGH eingetragen werden. 2. Problem: Inwieweit verbietet es Art. 49 AEUV, die Mobilität von Gesellschaften oder Gesellschaftern zu beschränken: a. EuGH Rs. 81/87 – Daily Mail Verlegung des Sitzes der Geschäftsleitung des Unternehmens von UK nach NL, um gewisse steuerliche Vorteile beim Verkauf von Papieren aus dem Betriebsvermögen zu genießen; die Behörden des UK lehnten den Antrag auf Genehmigung der Verlegung ab, dagegen klagte DM unter Berufung auf die Niederlassungsfreiheit: Die Bedingungen, nach denen eine Gesellschaft Rechtspersönlichkeit in einem Mitgliedstaat hat, bestimmen sich nach nationalem Recht. Die Niederlassungsfreiheit verleiht kein Recht auf unbehinderten Wegzug einer Gesellschaften: 19 Im Gegensatz zu natürlichen Personen werden Gesellschaften aufgrund einer Rechtsordnung, beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts aufgrund einer nationalen Rechtsordnung, gegründet . Jenseits der jeweiligen nationalen Rechtsordnung, die ihre Gründung und ihre Existenz regelt, haben sie keine Realität . 20 Hinsichtlich dessen, was für die Gründung einer Gesellschaft an Verknüpfung mit dem nationalen Gebiet erforderlich ist, wie hinsichtlich der Möglichkeit einer nach einem nationalen Recht gegründeten Gesellschaft, diese Verknüpfung nachträglich zu ändern, bestehen erhebliche Unterschiede im Recht der Mitgliedstaaten . Hierauf hat die Kommission hingewiesen . In einigen Staaten muß nicht nur der satzungsmässige, sondern auch der wahre Sitz, also die Hauptverwaltung der Gesellschaft, im Hoheitsgebiet liegen; die Verlegung der Geschäftsleitung aus diesem Gebiet hinaus setzt somit die Liquidierung der Gesellschaft mit allen Folgen voraus, die eine solche Liquidierung auf gesellschafts - und steuerrechtlichem Gebiet mit sich bringt . Andere Staaten gestehen den Gesellschaften das Recht zu, ihre Geschäftsleitung ins Ausland zu verlegen, aber einige, unter ihnen das Vereinigte Königreich, beschränken dieses Recht; die rechtlichen Folgen der Verlegung, insbesondere auf steuerlichem Gebiet, sind in jedem Mitgliedstaat anders . 9 EuR II – Europäisches Wirtschaftsrecht 21 Der EWG-Vertrag trägt diesen Unterschieden im nationalen Recht Rechnung . Bei der Definition der Gesellschaften, denen die Niederlassungsfreiheit zugute kommt, in Artikel 58 EWG-Vertrag werden der satzungsmässige Sitz, die Hauptverwaltung und die Hauptniederlassung einer Gesellschaft als Anknüpfung gleich geachtet . In Artikel 220 EWGVertrag ist, soweit erforderlich, der Abschluß von Übereinkommen unter den Mitgliedstaaten vorgesehen, um unter anderem die Beibehaltung der Rechtspersönlichkeit bei Verlegung des Sitzes von einem Mitgliedstaat in einen anderen sicherzustellen . Bis heute ist ein derartiges Übereinkommen nicht in Kraft getreten . b. EuGH, Rs. C-208/00 – Überseering, Slg. 2002, I-9919, HV 598: Im Unterschied zu Daily Mail geht es in Überseering um die Anerkennung einer nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaates gegründeten Gesellschaft (Zuzugskonstellation). aa. Deshalb sind die Gründe, die den EuGH in Daily Mail die Eröffnung des Anwendungsbereiches der Niederlassungsfreiheit ablehnen ließen, nicht auf Überseering übertragbar (Rn. 66). Nach Ansicht des EuGH verlangt hier die Niederlassungsfreiheit zwingend die Anerkennung von nach dem Recht anderer Mitgliedstaaten gegründeten Gesellschaften (Rn. 59). In diesem Punkt überträgt die Entscheidung das Herkunftslandprinzip der Warenverkehrsfreiheit auf die Niederlassungsfreiheit. bb. Laut EuGH hat der Erwerb der GmbH durch deutsche Staatsangehörige nicht zum Verlust der Rechtspersönlichkeit nach niederländischem Recht geführt; „das Erfordernis, dieselbe Gesellschaft in Deutschland neu zu gründen, [käme] daher der Negierung der Niederlassungsfreiheit gleich“ (Rn. 81). cc. Aus diesem Grund sei eine Rechtfertigung auch durch zwingende Gründe des Allgemeinwohls nicht möglich. Der EuGH vermied eine grundsätzliche Entscheidung zwischen Gründungs- und Sitztheorie (vgl. Art. 54 AEUV, der auf satzungsmäßigen Sitz, Hauptverwaltung oder Hauptniederlassung abstellt). Im Ergebnis wäre die Niederlasungsfreiheit als eine Freiheit der Standortwahl, nicht jedoch als eine Rechtswahlfreiheit zu verstehen. b. Ein knappes Jahr nach Überseering erging ein weiteres für das Gesellschaftsrecht in der Union bedeutsames Urteil: Inspire Art (EuGH, Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155 [HV 599]). Darin ging es um ein in Großbritannien gegründetes Unternehmen, das seine Geschäftstätigkeit ausschließlich über eine Zweigniederlassung in den Niederlanden ausübte (Zuzugsfall, sekundäre Niederlassungsfreiheit). Nach einem niederländischen Gesetz wurden solchen sog. Scheinauslandsgesellschaften besondere Offenlegungspflichten auferlegt. Außerdem sah das Gesetz eine Geschäftsführerhaftung für den Fall vor, dass diese Gesellschaften nicht die für niederländische Gesellschaften vorgeschriebenen Mindestkapitalvorschriften erfüllten. Im Unterschied zu Centros wurde hier nicht die Eintragung in das Handelsregister verweigert, sondern lediglich die Kennzeichnung der Gesellschaft als ‘formal ausländische Gesellschaft’ verlangt. Zudem waren mit diesem Status bestimmte Rechtsfolgen (‘Sonderanknüpfungen’) verbunden. Das Urteil des EuGH beseitigt einige nach Überseering noch bestehende Unsicherheiten. Es wurde deutlich, dass nicht nur die Rechts- und Parteifähigkeit von Gesellschaften aus anderen Mitgliedstaaten anzuerkennen ist, sondern dass auch alle anderen Sonderanknüpfungen rechtfertigungsbedürftig sind. c. Zur Vereinbarkeit des § 1 UmwG, nach dem nur inländische Gesellschaften umgewandelt werden können (z.B. durch Verschmelzung), mit Art. 49, 54 AEUV: verneinend GA Tizzano, Rs. C- 10 Ingolf Pernice 411/03- SEVIC, Schlussanträge3. Der EuGH prüft zunächst, ob die Niederlassungsfreiheit überhaupt auf Verschmelzungsvorgänge anwendbar ist. Dies wird mit einem weiten Begriff der Niederlassung bejaht: 17 Denn nach Artikel 43 Absatz 2 EG in Verbindung mit Artikel 48 EG umfasst die Niederlassungsfreiheit für die in der letztgenannten Bestimmung genannten Gesellschaften u. a. das Recht auf Gründung und Leitung dieser Gesellschaften nach den Bestimmungen des Aufnahmestaats, die für dessen eigene Angehörige gelten. 18 Wie der Generalanwalt in Nummer 30 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, fallen in den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit alle Maßnahmen, die den Zugang zu einem anderen Mitgliedstaat als dem Sitzmitgliedstaat und die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in jenem Staat dadurch ermöglichen oder auch nur erleichtern, dass sie die tatsächliche Teilnahme der betroffenen Wirtschaftsbeteiligten am Wirtschaftsleben des letztgenannten Mitgliedstaats unter denselben Bedingungen gestatten, die für die inländischen Wirtschaftsbeteiligten gelten. 19 Grenzüberschreitende Verschmelzungen entsprechen wie andere Gesellschaftsumwandlungen den Zusammenarbeits- und Umgestaltungsbedürfnissen von Gesellschaften mit Sitz in verschiedenen Mitgliedstaaten. Sie stellen besondere, für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes wichtige Modalitäten der Ausübung der Niederlassungsfreiheit dar und gehören damit zu den wirtschaftlichen Tätigkeiten, hinsichtlich deren die Mitgliedstaaten die Niederlassungsfreiheit nach Artikel 43 EG beachten müssen. Der EuGH folgt dem GA auch in der Annahme, dass eine Beschränkung gegeben ist, denn innerstaatliche Verschmelzungen mit den darin liegenen Erleichterungen sind erlaubt, solche mit ausländischen Unternehmen aber nicht: 21 Wie aber der Generalanwalt in Nummer 47 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, stellt eine Verschmelzung wie die hier in Rede stehende ein wirksames Mittel zur Umwandlung von Gesellschaften dar, das es im Rahmen eines einzigen Vorgangs ermöglicht, eine bestimmte Tätigkeit in neuer Form und ohne Unterbrechung auszuüben, so dass Komplikationen sowie Zeit‑ und Kostenaufwand verringert werden, die andere Formen der Umgestaltung von Gesellschaften mit sich bringen, etwa die Auflösung einer Gesellschaft mit Vermögensabwicklung und die Gründung einer neuen Gesellschaft unter Übertragung der einzelnen Vermögensgegenstände auf diese. 22 Da nach deutschem Recht dieses Mittel zur Umwandlung von Gesellschaften nicht zur Verfügung steht, wenn eine der Gesellschaften ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als der Bundesrepublik Deutschland hat, begründet dieses Recht eine unterschiedliche Behandlung von Gesellschaften nach Maßgabe dessen, ob es sich um eine innerstaatliche oder um eine grenzüberschreitende Verschmelzung handelt; diese unterschiedliche Behandlung ist geeignet, Gesellschaften davon abzuhalten, von der im EG-Vertrag verankerten Niederlassungsfreiheit Gebrauch zu machen. 23 Eine solche unterschiedliche Behandlung stellt eine Beschränkung im Sinne der Artikel 43 EG und 48 EG dar, die im Widerspruch zur Niederlassungsfreiheit steht und nur zulässig sein kann, wenn mit ihr ein legitimes mit dem EG‑ Vertrag vereinbares Ziel verfolgt wird und wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. Zusätzlich muss ihre Anwendung zur Erreichung des damit verfolgten Zieles geeignet sein und darf nicht über das hinausgehen, was hierzu erforderlich ist (vgl. Urteile vom 21. November 2002 in der Rechtssache C-436/00, X und Y, Slg. 2002, I-10829, Randnr. 49, und vom 11. März 2004 in der Rechtssache C-9/02, De Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409, Randnr. 49). Den Einwand, dass ein Vorschlag der Kommission zur Regelung der grenzüberschreitenden Verschmelzung von Gesellschaften vorliege und als notwendig begründet werde, dieser Vorschlag aber noch nicht angenommen sei, lässt der Gerichtshof nicht gelten: Die Niederlassungsfreiheit sei nicht von Sekundärrecht abhängig. Zu prüfen sei allerdings, ob eine Rechtfertigung der Beschränkung gegeben sei: 3 http://curia.eu.int/jurisp/cgi-bin/form.pl?lang=de&Submit=Suchen&docj=docj&docop=docop&numaff=C411%2F03&datefs=&datefe=&nomusuel=&domaine=&mots=&resmax=100. 11 EuR II – Europäisches Wirtschaftsrecht 28 Hierbei kann nicht ausgeschlossen werden, dass zwingende Gründe des Allgemeininteresses wie der Schutz der Interessen von Gläubigern, Minderheitsgesellschaftern und Arbeitnehmern (vgl. Urteil vom 5. November 2002 in der Rechtssache C-208/00, Überseering, Slg. 2002, I-9919, Randnr. 92) sowie die Wahrung der Wirksamkeit der Steueraufsicht und der Lauterkeit des Handelsverkehrs (vgl. Urteil vom 30. September 2003 in der Rechtssache C-167/01, Inspire Art, Slg. 2003, I-10155, Randnr. 132) unter bestimmten Umständen und bei Beachtung bestimmter Voraussetzungen eine die Niederlassungsfreiheit beschränkende Maßnahme rechtfertigen können. 29 Eine solche beschränkende Maßnahme ist jedoch nur zulässig, wenn sie zur Erreichung der verfolgten Ziele geeignet ist und nicht über das hinausgeht, was hierzu erforderlich ist. 30 Wird aber in einem Mitgliedstaat die Eintragung der Verschmelzung einer Gesellschaft mit Sitz in diesem Staat mit einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft in das Handelsregister generell verweigert, so werden grenzüberschreitende Verschmelzungen auch dann verhindert, wenn die oben in Randnummer 28 genannten Interessen nicht bedroht sind. Zudem geht eine solche Regelung über das hinaus, was zur Erreichung der verfolgten Ziele, nämlich zum Schutz der besagten Interessen, erforderlich ist. d. Auch die Besteuerung latenter Wertsteigerungen eines Aktienanteils, wenn der Steuerpflichtige seinen steuerlichen Wohnsitz ins Ausland verlegt, ist mit Art. 49 AEUV unvereinbar: EuGH, Rs. C-9/02 Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409, Randnr. 454. e. Eine Zusammenfassung der Rechtsprechung mit Bestätigung des Kerns der Entscheidung von Daily Mail (Wegzugskonstellation) enthält das Urteil EuGH Rs. C-210/06 (Cartesio). Daran hat sich weder durch die zwischenzeitlichen Urteile noch durch die Verordnungen zur EWIV, zur Europäischen Aktiengesellschaft sowie zur Europäischen Genossenschaft etwas geändert. aa. Die zwischenzeitlichen Urteile betreffen andere Fallgestaltungen: In Überseering ging es um die Möglichkeit einer Verlegung des Sitzes ins Ausland durch das niederländische Recht unter bestimmten Bedingungen: 107 Im Urteil vom 5. November 2002, Überseering (C-208/00, Slg. 2002, I-9919, Randnr. 70), hat der Gerichtshof unter Bestätigung dieser Erwägungen festgestellt, dass sich die Möglichkeit für eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft, ihren satzungsmäßigen Sitz oder ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen, ohne die ihr durch die Rechtsordnung des Gründungsmitgliedstaats zuerkannte Rechtspersönlichkeit zu verlieren, und gegebenenfalls die Modalitäten dieser Verlegung nach den nationalen Rechtsvorschriften beurteilen, nach denen diese Gesellschaft gegründet worden ist. Er hat daraus den Schluss gezogen, dass ein Mitgliedstaat die Möglichkeit hat, einer nach seiner Rechtsordnung gegründeten Gesellschaft Beschränkungen hinsichtlich der Verlegung ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes aus seinem Hoheitsgebiet aufzuerlegen, damit sie die ihr nach dem Recht dieses Staates zuerkannte Rechtspersönlichkeit beibehalten kann. Hierbei wird der Vergleich zur Staatsangehörigkeit von natürlichen Personen gezogen, über die jeder Mitgliedstaat selbst entscheidet: 109 In Ermangelung einer einheitlichen gemeinschaftsrechtlichen Definition der Gesellschaften, denen die Niederlassungsfreiheit zugutekommt, anhand einer einheitlichen Anknüpfung, nach der sich das auf eine Gesellschaft anwendbare Recht bestimmt, ist die Frage, ob Art. 43 EG auf eine Gesellschaft anwendbar ist, die sich auf die dort verankerte Niederlassungsfreiheit beruft, ebenso wie im Übrigen die Frage, ob eine natürliche Person ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist und sich aus diesem Grund auf diese Freiheit berufen kann, daher gemäß Art. 48 EG eine Vorfrage, die beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts nur nach dem geltenden nationalem Recht beantwortet werden kann. Nur wenn die Prüfung ergibt, dass dieser Gesellschaft in Anbetracht der in Art. 48 EG genannten Voraussetzungen tatsächlich die Niederlassungsfreiheit zugutekommt, stellt sich 4 http://curia.eu.int/jurisp/cgi-bin/form.pl?lang=de&Submit=Suchen&docj=docj&docop=docop&numaff=C9%2F02+&datefs=&datefe=&nomusuel=&domaine=&mots=&resmax=100. 12 Ingolf Pernice die Frage, ob sich die Gesellschaft einer Beschränkung dieser Freiheit im Sinne des Art. 43 EG gegenübersieht. Entsprechend könne ein Mitgliedstaat frei entscheiden, dass eine Gesellschaft ihre Rechtspersönlichkeit nicht behält, wenn sie ihren Sitz in ein anderes Land verlegt (ebd., Rn. 110). Anders ist es nur, wenn mit der Verlegung des Sitzes die Anknüpfung an den Gründungsstaat gelöst wird: 111 Der Fall einer solchen Verlegung des Sitzes einer nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat ohne Änderung des für sie maßgeblichen Rechts ist jedoch von dem Fall zu unterscheiden, dass eine Gesellschaft aus einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat unter Änderung des anwendbaren nationalen Rechts verlegt und dabei in eine dem nationalen Recht des zweiten Mitgliedstaats unterliegende Gesellschaftsform umgewandelt wird. 112 Denn in diesem zweiten Fall kann die in Randnr. 110 des vorliegenden Urteils angesprochene Befugnis – die keinesfalls irgendeine Freistellung des nationalen Rechts über die Gründung und Auflösung von Gesellschaften von der Beachtung der Vorschriften des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit impliziert – insbesondere nicht rechtfertigen, dass der Gründungsmitgliedstaat die Gesellschaft dadurch, dass er ihre Auflösung und Liquidation verlangt, daran hindert, sich in eine Gesellschaft nach dem nationalen Recht dieses anderen Mitgliedstaats umzuwandeln, soweit dies nach diesem Recht möglich ist. 113 Ein solches Hemmnis für die tatsächliche Umwandlung, ohne vorherige Auflösung und Liquidation, einer solchen Gesellschaft in eine Gesellschaft des nationalen Rechts des Mitgliedstaats, in den sie sich begeben möchte, stellt eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit der betreffenden Gesellschaft dar, die, wenn sie nicht zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entspricht, nach Art. 43 EG verboten ist (vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteil CaixaBank France, Randnrn. 11 und 17). In diesem Urteil ist allerdings nur von anderen Beschränkungen die Rede und deren möglicher Rechtfertigung. Ob die Voraussetznung der Liquidation damit als Beschränkung des Art. 49 AEUV qualifiziert wird, ist nicht sicher (vgl. dazu Mörsdorf, EuZW 2009, 98 ff.) Der grundlegende Unterschied zu den Urteilen SEVIC, Überseering, und Centros wird darin gesehen, dass es im Fall Cartesio darum ging, trotz Verlegung die ursprüngliche ungarische Nationalität der Gesellschaft nach ungarischem Recht zu erhalten, was nach diesem Recht ausgeschlossen war: 122 Die Rechtssache SEVIC Systems betraf nämlich die Anerkennung – im Mitgliedstaat der Gründung einer Gesellschaft – der Niederlassung dieser Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat im Wege einer grenzüberschreitenden Verschmelzung, eine Fallkonstellation, die sich grundlegend von der der Rechtssache Daily Mail and General Trust unterscheidet. Damit ähnelt der Fall, um den es in der Rechtssache SEVIC Systems ging, anderen Urteilen des Gerichtshofs zugrunde liegenden Fällen (vgl. Urteil vom 9. März 1999, Centros, C212/97, Slg. 1999, I-1459, Urteil Überseering, Urteil vom 30. September 2003, Inspire Art, C-167/01, Slg. 2003, I-10155). 123 In solchen Fällen stellt sich jedoch nicht die in Randnr. 109 des vorliegenden Urteils angeführte Vorfrage, ob die betreffende Gesellschaft als eine Gesellschaft anzusehen ist, die die Nationalität des Mitgliedstaats hat, nach dessen Recht sie gegründet wurde, sondern vielmehr, ob sich diese Gesellschaft, die unstreitig eine Gesellschaft des nationalen Rechts eines Mitgliedstaats ist, in der Ausübung ihres Rechts auf Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat einer Beschränkung gegenübersieht oder nicht. Hier war das Ziel, dass die ungarischen Rechtsvorschriften trotz Sitzverlegung anwendbar bleiben sollten: 119 Im vorliegenden Fall möchte Cartesio jedoch nur ihren wahren Sitz von Ungarn nach Italien verlegen und zugleich eine Gesellschaft ungarischen Rechts bleiben, also ohne dass sich das anwendbare nationale Recht änderte. bb. Die zwischenzeitlich ergangenen Verordnungen 2137/85 und 2157/2001 über die EWIV bzw. die Europäische Gesellschaft oder der Verordnung (EG) Nr. 1435/2003 über das Statut der 13 EuR II – Europäisches Wirtschaftsrecht Europäischen Genossenschaft (SCE) (ABl. L 207, S. 1) ändern hieran nichts, auch in analoger Anwendung helfen sie nicht: 117 Hierzu ist festzustellen, dass diese auf der Grundlage von Art. 308 EG erlassenen Verordnungen zwar tatsächlich eine Regelung enthalten, wonach die mit ihnen eingeführten neuen Rechtsformen ihren satzungsmäßigen Sitz und damit auch ihren wahren Sitz, die nämlich in demselben Mitgliedstaat gelegen sein müssen, in einen anderen Mitgliedstaat verlegen können, ohne dass dies zur Auflösung der ursprünglichen juristischen Person und zur Schaffung einer neuen juristischen Person führt, dass eine solche Verlegung aber dennoch zwangsläufig die Änderung des auf die betreffende Einheit anwendbaren nationalen Rechts mit sich bringt. 118 Dies ergibt sich z. B. für eine Europäische Gesellschaft aus den Art. 7 bis 9 Abs. 1 Buchst. c Ziff. ii der Verordnung Nr. 2157/2001. 119 Im vorliegenden Fall möchte Cartesio jedoch nur ihren wahren Sitz von Ungarn nach Italien verlegen und zugleich eine Gesellschaft ungarischen Rechts bleiben, also ohne dass sich das anwendbare nationale Recht änderte. f. Im Ergebnis kann man festhalten: aa. Die Mitgliedstaaten sind frei, die Bedingungen der Gründung von Gesellschaften zu regeln, einschließlich der Festlegung, dass eine Sitzverlegung ins Ausland unter Beibehaltung der Nationalität ohne Änderung des anwendbaren nationalen Rechts ausgeschlossen ist: „rechtsformwahrender“ Umzug (Daily Mail, Cartesio Wegzugskonstellation). bb. Ein Mitgliedstaat kann nicht verlangen, dass bei einer Sitzverlagerung ins Ausland die Gesellschaft aufgelöst und liquidiert und im Zuzugsland neu gegründet wird. Daraus folgt, dass Gesellschaften nicht gehindert werden können, unter Wahrung ihrer Identität durch Rechtsformwandel ins Ausland zu ziehen (Cartesio). cc. Auch eine Umwandlung im Sinne der Verschmelzung einer inländischen Gesellschaft mit einer ausländischen Gesellschaft kann nicht generell ausgeschlossen werden, wenn entsprechende Verschmelzungen inländischer Gesellschaften zulässig sind (SEVIC). dd. Der Zuzugsstaat kann der Gründung einer Zweigniederlassung einer ausländischen Gesellschaft im Inland nicht entgegenhalten, dass der Hauptteil der Geschäftstätigkeit dieser Gesellschaft bei der Zweigniederlassung liegt (Centros). ee. Der Zuzugsstaat muss die Partei- und Prozessfähigkeit einer ausländischen Gesellschaft, die ihren Sitz ins Inland verlegt, ohne dabei ihr Statut zu ändern, anerkennen (Überseering). ff. Soweit die Niederlassungsfreiheit Anwendung findet, sind Beschränkungen nur zu rechtfertigen, wenn sie nicht diskriminieren, wenn zwingende Gründe des Allgemeinwohls dafür sprechen und die Verhältnismäßigkeit gewahrt ist (insbes. Gläubiger-, Arbeitnehmer- und Anlegerschutz). 3. Europäisches Gesellschaftsrecht (vgl. Behrens, in: Dauses, Handbuch E III, Wiesner, aaO.; sehr instruktiv und komplett: Stefan Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2. A., 2010) a. Die EU-Richtlinien zur Angleichung des Gesellschaftsrechts: Belange des Gläubiger- und des Anlegerschutzes, der Struktur und der kapitalmäßigen Gleichbehandlung der Gesellschafter insbesondere der Aktiengesellschaft, auch für die GmbH gelten die Ri. 1, 4, 7, 11, 12: In Kraft: (1) Publizitäts- (1.), Kapital- (2.), Fusions- (3.), Bilanz- (4.), Spaltungs- (6.), Konzernbilanz- (7.), Prüferbefähigungs- (8.), Zweigniederlassungs- (11.), Einpersonengesellschafts-Ri (12.). 14 Ingolf Pernice (2) Wichtig: Richtlinie über die Einsetzung europäischer Betriebsräte zur Information und Konsultation der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen, ABl. L 254, S. 64. (3) 10. Richtlinie 2005/56 über die Verschmelzung von Aktiengesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten, ABl. 2005 L 310/15. bb. Vorschläge: Struktur- (5.), Konzernrechts- (9.), Übernahmeangebote(13., letzter Vorschlag 2003), Liquidations-Richtlinie (14.). cc. Weitere Vorschläge: (1) Vorentwurf der Kommission für eine Vierzehnte Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verlegung des Sitzes einer Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat, Vorschlag6: Koordinierungsrichtlinie auf der Grundlage des Artikels 44 Absätze 1 und 2 EG-Vertrag zur Erleichterung der Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit. Kernpunkt des Vorentwurfs ist es, dass jeder Mitgliedstaat das Recht einer (noch) seiner Rechtsordnung unterliegenden Gesellschaft anerkennt, durch Beschluss der Hauptversammlung ihren Satzungssitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen und ihre Rechtspersönlichkeit im Herkunftsstaat aufzugeben, um im Aufnahmemitgliedstaat Rechtspersönlichkeit nach dortigem Recht zu erlangen. Die Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer würden sich nach dem Recht des Aufnahmemitgliedstaats bestimmen. 4. Statute für EG-Gesellschaften - übergreifend über das Recht der Mitgliedstaaten: a. Verordnung 2137/85/EWG über die Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung, EWIV, ABl. 1985 L 199/1: Personengesellschaft wie OHG zur Unterstützung der Geschäfte der Mitglieder, ohne eigene Gewinnerzielung (Rgrdl. Art. 235 EGV) b. Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE)7, und dazu Richtlinie 2001/86/EG zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer. Guter Überblick: Lars Kloster, Societas Europaea und europäische Unternehmenszusammenschlüsse, EuZW 2003, 293 ff. Zum Entwurf eines deutschen Ausführungsgesetzes Oliver Lange, Überlegungen zur Umwandlung einer deutschen in eine Europäische Aktiengesellschaft, EuZW 2003, 301. c. Verordnung (EG) Nr. 1435/2003 des Rates vom 22. Juli 2003 über das Statut der Europäischen Genossenschaft (SCE) zur Förderung der wirtschaftlichen und sozialen Tätigkeiten der Mitglieder, mit uneingeschränkter Rechtsfähigkeit, Haftung der Mitglieder bis in Höhe ihres Kapitalanteils d. Vorschlag für eine Verordnung über das Statut des Europäischen Vereins (EUV), ABl. 1992 C 99/1. Kommt nicht weiter... e. Vorschlag über das Statut der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft (EuGges), ABl. 1992 C 99/57, als Rechtsform für Personenvereinigungen zur sozialen Fürsorge, Hilfe im Gesundheitsbereich, Kreditgewährung oder Versicherung, mit unbeschränkter Rechtsfähigkeit, Haftung beschränkt auf den "Betriebsfonds", Verfassung ähnl. der SE. f. Zum Kommissions-Kommission-Vorschlag für eine Verordnung des Rates über das Statut der Europäischen Privatgesellschaft, KOM(2008) 396 endg. (Societas Privata Europaea) siehe: Wedemann: Die EuropaGmbH ante portas, EuZW 2010, 534. 5 http://europa.eu.int/eur-lex/lex/LexUriServ/site/de/oj/2005/l_310/l_31020051125de00010009.pdf. 6 http://ec.europa.eu/internal_market/company/seat-transfer/index_de.htm 7 http://europa.eu.int/eur-lex/pri/de/oj/dat/2001/l_294/l_29420011110de00010021.pdf. 15 EuR II – Europäisches Wirtschaftsrecht IV. Exkurs: Staatsangehörigkeit bei Verleihung von Flaggen an Reedereien: EuGHE 1991 I 4569 – Fischereilizenz; EuGHE 1991 I 4607 - Factortame III * * * 16