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Prof. Dr. Ingolf Pernice
Humboldt-Universität zu Berlin
WS 2010/11
Stand:
3.1.11
EUROPÄISCHES WIRTSCHAFTSRECHT
(SCHWERPUNKT 6)
§5
Die Niederlassungsfreiheit (EuGH, Rs. C-55/94, Slg. 1995, I
4165 – Gebhardt, HV 589)
Lesen:
 EuGHRs. C-313/01 = EuZW 2004, 61 ff. – Morgenbesser
(Zulassung zum Referendariat), HV 631
 EuGH, Rs. C-9/02, EuZW 2004, S. 273 ff. – Lasteyrie Du Saillant
 EuGH, Urt. v. 07.05.1991, Rs. C-340/89 (Vlassopoulou)
 EuGH, Urt. v. 13.12.2005, Rs. C-446/03 (Marks & Spencer)
 EuGH , Urt. v. 19.5.2009, Rs. C-171, 172/07 (Doc Morris II),
mit Anm. Christoph Herrmann, EuZW 2009, 409 (413)
 EuGH, Urt. v. 19.5.2009, Rs. C-531/06 (Apotheken)
 Wolfgang Weiß, Nationales Steuerrecht und
Niederlassungsfreiheit – Von der Konvergenz der
Grundfreiheiten als Beschränkungsverbote zur Auflösung der
Differenzierung zwischen unterschiedslosen und
unterschiedlichen Maßnahmen, EuZW 1999. S. 493-498
 Tobias Steven, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit –
Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445467
Gesellschaftsrecht:
 EuGH, Urt. v. 09.03.1999, Rs. C-212/97 (Centros)
 EuGH, Urt. v. 16.12.2008, Rs. C-210/06 (Cartesio), mit Anm.
Pießkalla, EuZW 2009, 75 (81)
 Stefan Leible/Jochen Hoffmann, Wie inspiriert ist „Inspire Art“?,
EuZW 2003, S. 677-682
 Oliver Mörsdorf, Beschränkung der Mobilität von EUGesellschaften im Binnenmarkt - eine Zwischenbilanz, EuZW
2009, 97-102
I.
II.
Grundsätze – Art. 49 AEUV .............................................................................. 2
Niederlassungsfreiheit und nationale Diplome .................................................. 6
EuR II – Europäisches Wirtschaftsrecht
III. Rechtfertigung von Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit erfolgt nach
denselben Grundsätzen, wie bei der Dienstleistungsfreiheit. ............................ 7
IV. Von der Niederlassungsfreiheit zum europäischen Unternehmensrecht. .......... 7
Fragen:
1. Was versteht man unter dem Begriff der Niederlassungsfreiheit, wie
ist sie geschützt?
2. Grenzen
Sie
die
Niederlassungsfreiheit
Kapitalverkehrsfreiheit ab, was sind die Kriterien?
von
der
3. Wie löst der EuGH die Spannung zwischen Niederlassungsfrweiheit
und nationaler Kompetenz zu Berufsregelungen ?
4. Was ist das Problem bei einer Verlegung des Hauptsitzes einer
Gesellschaft von einem Mitgliedstaat in einen anderen, welche
Theorien gibt es dazu uns was ist die Lösung des
Unionsgesetzgebers?
5. Hat sich die europarechtliche Beurteilung der Sitzverlegung von
Gesellschaften seit Daily Mail verändert? Was müssen die
Mitgliedstaaten beachten?
I.
Grundsätze – Art. 49 AEUV
1. Anwendungsbereich und unmittelbare Wirkung der Niederlassungsfreiheit
a. Abgrenzung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV) und zur
Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV)
aa. EuGHE 1991 I 3905/3965 - Factortame: Der Niederlassungsbegriff
umfaßt
"die tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung in
einem anderen Mitgliedstaat auf unbestimmte Zeit"
Nach EuGHE 1995, I-4165/4195 - Gebhard - HV 589 (Verbot der
Bezeichnung avvocato für einen deutschen Anwalt (Rn. 25)) ist der
Begriff der Niederlassung
"ein sehr weiter Begriff", der die "Möglichkeit" des EG-Bürgers impliziert. "in stabiler und
kontinuierlicher Weise am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaats als seines
Herkunftsstaats teilzunehmen und daraus Nutzen zu ziehen."
 Die Dienstleistungsfreiheit dagegen betrifft Tätigkeiten, zu denen der
Leistende sich nicht oder nur vorübergehend (Art. 60 III EGV) im
Bestimmungsland aufhält (ebd., Rn. 26). "Vorübergehend" schließt
nicht aus, daß der Dienstleistende im Zielstaat eine gewisse
Infrastruktur vorhält, die für die Ausübung der Freiheit erforderlich ist
(ebd., Rn. 27), s.u. Weiterhin ist es auch möglich, „über einen
längeren Zeitraum, bis hin zu mehreren Jahren“ eine
grenzüberschreitende Dienstleistung zu erbringen (EuGH Rs. C215/01, EuZW 2004, 95, Schnitzer).
bb. Art. 49 ff. AEUV betreffen die selbständigen Tätigkeiten, die
Niederlassungsfreiheit schützt die freie Standortwahl, Art. 45 AUV
dagegen abhängige Arbeitsverhältnisse.
cc. Wichtig: Art. 43 gilt auch für die Gründung von Agenturen,
Zweigniederlassungen und Tochtergesellschaften von Angehörigen
2
Ingolf Pernice
c.
d.
e.
f.
eines Mitgliedstaats die im Gebiet eines Mitgliedstaats ansässig sind
(Art. 49 I S. 2 AEUV)
Abgrenzung zur Kapitalverkehrsfreiheit, Art. 63 I AEUV: der EuGH nimmt
eine dogmatisch wenig überzeugende „Schwerpunkt”-Betrachtung vor,
die in bestimmen Situationen zu einer ausschließlichen Anwendung von
Art. 49 AEUV führt. Dem Gerichtshof ist es bis heute noch nicht
gelungen, jener „Schwerpunkt-Rechtsprechung” die nötigen Konturen zu
verleihen. Manche Entscheidungen (etwa EuGH Rs. C-157/05, Slg.
2007, I-4051 - Holböck, Rz. 23.EuGH, Rs. C-182/08 - Glaxo Wellcome,
IStR 2009, 691, Rz. 40, 47 ff.) legen es nahe, dass für die Beantwortung
der Frage, ob ein bestimmter Fall an der Niederlassungs- und/oder der
Kapitalverkehrsfreiheit gemessen werden soll, auf den Gegenstand der
betreffenden nationalen Regelung abzustellen ist. Demnach sollen
nationale Rechtsvorschriften, deren Anwendung nicht vom Umfang der
Beteiligung an einer Gesellschaft abhängt, in aller Regel sowohl unter
Art. 49 AEUV als auch unter Art. 63 I AEUV fallen. Sofern es sich jedoch
bei dem Gegenstand der betreffenden nationalen Regelung um
Beteiligungen handelt, die ihrem Inhaber einen sicheren Einfluss auf die
Entscheidungen der betroffenen Gesellschaften verschaffen und es ihm
ermöglichen, deren Tätigkeiten zu bestimmen, finden die Bestimmungen
des Vertrags über die Niederlassungsfreiheit Anwendung. In anderen
Entscheidungen (etwa EuGH, Rs. C-284/06, Slg. 2008, I-4571 - Burda,
Rn. 68-73) fasste der EuGH allerdings sein Verständnis des
Verhältnisses von Kapital- und Niederlassungsfreiheit derart zusammen,
dass im Ergebnis die konkreten Beteiligungsverhältnisse bei der Frage
der anzuwendenden Grundfreiheit entscheidend seien. Kritisch hierzu
Hindelang, Gestufte Freiheitsverbürgung? - Art. 63 Abs. 1 AEUV (Ex-Art.
56 Abs. 1 EG) im Drittstaatenkontext, IStR 2010, 443, 443 f.
Wie für natürliche Personen gilt die Niederlassungs- und
Dienstleistungsfreiheit
auch
für
Gesellschaften,
die
ihren
satzungsgemäßen
Sitz,
ihre
Hauptverwaltung
oder
ihre
Hauptniederlassung innerhalb der Union haben (vgl. Art. 54, 62 AEUV).
Sie müssen nach dem Rechte eines Mitgliedstaates gegründet werden
und ihren Sitz in der EU haben, in wessen Hand das Kapital ist, ist
gleichgültig.
Unmittelbare Anwendbarkeit trotz Fehlens der Richtlinien nach Art. 50
AEUV (Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit) und Art. 53 I
(Anerkennung) und II (Koordinierung) AEUV; EuGHE 1974, 631 Reyners (HV 585, lesen!).
Schutzumfang und Grenzen: Grundsätze nach EuGHE 1995, I4165/4197 f. - Gebhard (Rn. 34 ff.)
aa. bei
ungeregelten
Berufen,
wo
keine
besonderen
Zulassungsvoraussetzungen für Inländer gelten, ist der Zugang für
jeden Unionsbürger frei.
bb. Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten können aber
„von der Beachtung bestimmter durch das Allgemeininteresse
gerechtfertigter Rechts- und Verwaltungsvorschriften abhängig
gemacht werden“ (Organisation, Qualifikation, Standespflichten,
Kontrolle, Haftung etc.), auch von der Verwendung bestimmter
Berufsbezeichnungen (avvocato). Deren Beachtung kann auch vom
ausländischen EU-Bürger verlangt weerden, aber zwingend sind:
cc. vier Voraussetzungen: die Bstimmungen müssen
(1) in nichtdiskriminierender Weise angewendet werden
(2) aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein
(3) die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles gewährleisten
(4) nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des Zieles erforderlich ist
3
EuR II – Europäisches Wirtschaftsrecht
dd. Weiter dürfen in anderen Mitgliedstaaten erworbene Kenntnisse und
Diplome nicht außer Acht gelassen werden, sondern sind auf
Gleichwertigkeit zu prüfen und dann ggf. anzuerkennen (Rn. 38, mit
Verweis auf EuGHE 1991, I-2357 – Vlassopoulou, HV 627), dort Rn.
15 Hierzu ist festzustellen, daß nationale Qualifikationsvoraussetzungen, selbst wenn sie
ohne Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit angewandt werden, sich dahin
auswirken können, daß sie die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten in der
Ausübung des ihnen durch Artikel 52 EWG-Vertrag gewährleisteten Niederlassungsrechts
beeinträchtigen. Dies kann der Fall sein, wenn die fraglichen nationalen Vorschriften die von
dem Betroffenen in einem anderen Mitgliedstaat bereits erworbenen Kenntnisse und
Fähigkeiten unberücksichtigt lassen.
2. Als Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit werden insbesondere
angesehen:
aa. Gesonderte Buchführungspflicht der in Luxembourg gegründeten
Zweigniederlassung im Blick auf den steuerlichen Verlustvortrag von
Verlusten gegenüber den in Luxembourg erzielten Gewinnen: EuGH
Rs. 250/95 - Singer
25 Die Voraussetzung bewirkt nämlich, daß eine solche Gesellschaft, will sie Verluste ihrer
Zweigniederlassung vortragen, neben ihren eigenen Büchern, die dem Steuerrecht des
Mitgliedstaats ihres Sitzes entsprechen müssen, getrennte Bücher über die Tätigkeiten ihrer
Zweigniederlassung nach dem Steuerrecht des Staates führen muß, in dem die letztere sich
befindet. Diese Bücher müssen zudem am Ort der Zweigniederlassung, nicht am Sitz der
Gesellschaft aufbewahrt werden.
26 Damit verstösst diese Voraussetzung, die spezifisch Gesellschaften mit Sitz in einem
anderen Mitgliedstaat trifft, grundsätzlich gegen Artikel 52 EG-Vertrag. Etwas anderes gilt
nur, wenn die Maßnahme ein legitimes Ziel verfolgt, das mit dem EG-Vertrag vereinbar und
durch zwingende Gründe des öffentlichen Interesses gerechtfertigt ist. Erforderlich ist zudem,
daß die Maßnahme zur Erreichung des fraglichen Zieles geeignet ist und nicht über das
hinausgeht, was hierzu erforderlich ist“.
Als zwingendes Erfordernis wird hier die Wirksamkeit der
Steueraufsicht bestätigt (Rn. 445)
bb. Die Bedingung, dass eine inländische Konsortialgesellschaft über
eine Holding im Inland Verluste einer Tochter, die im Inland sitzt,
nicht im Rahmen des „Konzernsteuerabzugs“ steuerlich gegenüber
dem inländischen Gewinn in Ansatz bringen kann, wenn die Holding
Tochtergesellschaften hauptsächlich im Ausland hat. EuGH Rs. C264/96 – ICI, stellt zunächst fest, dass Art. 49 AEUV nicht nur die
Beschränkung der Niederlassung ausländischer Personen (incl.
Gesellschaften – Art. 49 II, 54 II AEUV) verbietet..
21 Auch wenn die Bestimmungen über die Niederlassungsfreiheit nach ihrem Wortlaut
insbesondere die Inländerbehandlung im Aufnahmemitgliedstaat sichern sollen, so verbieten
sie es doch auch, daß der Herkunftsstaat die Niederlassung seiner Staatsangehörigen oder
einer nach seinem Recht gegründeten Gesellschaft, die im übrigen der Definition des Artikels
58 des Vertrages entspricht, in einem anderen Mitgliedstaat behindert (vgl. Urteil vom 27.
September 1988 in der Rechtssache 81/87, Daily Mail und General Trust, Slg. 1988, 5483,
Randnr. 16).
In der Regelung, die
Konzernverlusten davon
hauptsächlich
Töchter
Ungleichbehandlung:
die steuerliche Abzugsfähigkeit von
abhängig macht, dass die Holding
im
Inland
hat,
sieht
er
eine
22 Die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften verweigern
Gesellschaften, die zu einem gebietsansässigen Konsortium gehören und über eine
Holdinggesellschaft von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch gemacht haben, um in
anderen Mitgliedstaaten Tochtergesellschaften zu gründen, einen Steuervorteil wegen
Verlusten, die eine gebietsansässige Tochtergesellschaft der Holdinggesellschaft erlitten hat,
wenn die Holdinggesellschaft hauptsächlich Tochtergesellschaften mit Sitz ausserhalb des
Vereinigten Königreichs kontrolliert.
4
Ingolf Pernice
23 Derartige Rechtsvorschriften verwenden somit das Kriterium des Sitzes der kontrollierten
Tochtergesellschaften, um eine unterschiedliche steuerliche Behandlung der im Vereinigten
Königreich ansässigen Gesellschaften eines Konsortiums einzuführen. Sie behalten nämlich
den für Konsortien vorgesehenen Abzug den Gesellschaften vor, die ausschließlich oder
hauptsächlich Tochtergesellschaften mit Sitz im Inland kontrollieren.
24 Daher ist zu prüfen, ob diese Ungleichbehandlung nach den Bestimmungen des
Vertrages über die Niederlassungsfreiheit gerechtfertigt ist.
Wichtig ist hier die Vermischung der Gründe des Art. 52 AEUV
(Rechtfertigung aus Gründen der öff. Ordnung, Sicherheit oder
Gesundheit) mit den zwingenden Gründen des Allgemeinwohls, hier
Kohärenz des Steuersystems (was grds. bei diskriminierenden
Maßnahmen nicht greift):
28 Was das Argument angeht, der sich aus dem Abzug der Verluste der gebietsansässigen
Tochtergesellschaften ergebende Steuervorteil könne nicht durch die Besteuerung der
Gewinne der ausserhalb des Vereinigten Königreichs ansässigen Tochtergesellschaften
ausgeglichen werden, so ist darauf hinzuweisen, daß die daraus resultierenden
Steuermindereinnahmen nicht zu den in Artikel 56 des Vertrages genannten Gründen
gehören und nicht als zwingender Grund des Allgemeininteresses anzusehen sind, der zur
Rechtfertigung einer mit Artikel 52 des Vertrages grundsätzlich unvereinbaren
Ungleichbehandlung angeführt werden kann.
Vgl. dazu krit. Wolfgang Weiß, EuZW 1999, 493 495 ff. S. aber
Stewen, EuR 2008, 455, mit dem Hinweis, dass Art. 52 AEUV nicht
für den Wegzug gilt und die Behinderung des Wegzugs (wie hier)
keine Diskriminierung von ausländischen Unternehmen darstellt,
sondern allenfalls eine Ungleichbehandlung zwischen Inländern. Das
bedeutet: Rechtfertigung der Beschränkungen des Wegzugs (oder
der Niederlassung im EU-Ausland) können aus zwingenden Gründen
des Allgemeinwohls gerechtfertigt werden (Anders wohl Art. 14-36
AEUV zum Warenverkehr). Dies scheint bestätigt zu sein in EuGH
Rs. C-446/03 - Marks & Spencer):
34 Ein solcher Ausschluss beschränkt damit die Niederlassungsfreiheit im Sinne der Artikel
43 EG und 48 EG, da er zu einer unterschiedlichen steuerlichen Behandlung von Verlusten
einer gebietsansässigen und solchen einer gebietsfremden Tochtergesellschaft führt.
35
Eine derartige Beschränkung kann nur zulässig sein, wenn mit ihr ein berechtigtes und
mit dem EG-Vertrag zu vereinbarendes Ziel verfolgt wird und wenn sie durch zwingende
Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. In einem solchen Fall muss allerdings ihre
Anwendung zur Erreichung des damit verfolgten Zieles geeignet sein und darf nicht über das
hinausgehen, was hierzu erforderlich ist.
...Rn. 59: „ Es verstößt jedoch gegen die Artikel 43 EG und 48 EG, der gebietsansässigen
Muttergesellschaft eine solche Möglichkeit dann zu verwehren, wenn die gebietsfremde
Tochtergesellschaft die im Staat ihres Sitzes für den von dem Abzugsantrag erfassten
Steuerzeitraum sowie frühere Steuerzeiträume vorgesehenen Möglichkeiten zur
Berücksichtigung von Verlusten ausgeschöpft hat und wenn keine Möglichkeit besteht, dass
die Verluste der ausländischen Tochtergesellschaft im Staat ihres Sitzes für künftige
Zeiträume von ihr selbst oder von einem Dritten, insbesondere im Fall der Übertragung der
Tochtergesellschaft auf ihn, berücksichtigt werden.“
cc. Dass Apotheken nur von Apothekern betrieben werden dürfen, sieht
der EuGH zwar als Beschränkung der Niederlassungsfreiheit an,
diese ist aber gerechtfertigt., vgl. EuGH Rs. C-171, 172/07 (Doc Morris II). Ebenso : EuGH Rs. C-531/06 (Apotheken) :
44 Eine Beschränkung im Sinne von Art. 43 EG liegt insbesondere in einer Regelung, die die
Niederlassung
eines
Wirtschaftsteilnehmers
eines
anderen
Mitgliedstaats
im
Aufnahmemitgliedstaat von der vorherigen Erteilung einer Erlaubnis abhängig macht und die
Ausübung einer selbständigen Tätigkeit bestimmten Wirtschaftsteilnehmern vorbehält, die
zuvor festgelegten Anforderungen entsprechen, deren Einhaltung Voraussetzung für die
Erteilung dieser Erlaubnis ist. Eine derartige Regelung hält Wirtschaftsteilnehmer anderer
Mitgliedstaaten davon ab, im Aufnahmemitgliedstaat ihren Tätigkeiten mittels einer
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EuR II – Europäisches Wirtschaftsrecht
Betriebsstätte nachzugehen, oder hindert sie sogar daran (vgl. in diesem Sinne Urteil
Hartlauer, Randnrn. 34, 35 und 38).
45 Die Regel des Ausschlusses von Nichtapothekern stellt eine derartige Beschränkung dar,
weil sie den Betrieb von Apotheken Apothekern vorbehält und die übrigen
Wirtschaftsteilnehmer von der Aufnahme dieser selbständigen Tätigkeit im betreffenden
Mitgliedstaat ausschließt »
Siehe auch: Beschränkung der Niederlassungsfreiheit bei Apotheken
durch demografische und geografische Begrenzungen: EuGH, Verb.
Rs. C-570, 571/07 - José Manuel Blanco Pérez u.a./Consejería de
Salud y Servicios Sanitarios u. = EuZW 2010, 578.
3. Streitig, ob die „Keck-Rechtsprechung“ auf die Niederlassungsfreiheit (und
auch die DLF) übertragbar ist, seit EuGH, Slg. 1995, S. I-1141 (1176), Rn.
28, 35 - Alpine Investments). Danach kommt es darauf an, ob die
Maßnahme geeignet ist, „den Zugang zum Dienstleistungsmarkt“ zu
erschweren. Das dürfte auch für die Niederlassungsfreiheit gelten (In
diesem Sinne Tobias Stewen, EuR 2008, 445, 450 f.: „Aufenthalts- und
Ausübungsregelungen“, die zwischen „Zuzug und Wegzug“ liegen
II. Niederlassungsfreiheit und nationale Diplome
1. Art. 53 I AEUV sieht Harmonisierung vor, dennoch gilt auch im nichtharmonisierten Bereich Art. 49 AEUV direkt:
a. EuGHE 1977, 765 - Tieffry: Bei gleichwertigem Prüfungszeugnis des
Herkunftsstaats kann nationaler Qualifikationsnachweis nicht verlangt
werden. Entsprechend: EuGHE 1991, I- 2357 - Vlassoupolou (HV 627):
Jeder
Mitgliedstaat
muß
die
Befähigungsnachweise
des
Herkunftsstaates berücksichtigen, Qualifikationen müssen verglichen
werden in einem objektiven Prüfungsverfahren. Das betrifft auch die im
Ausland erworbene Berufserfahrung hinsichtlich des Erfordernisses
praktischer Erfahrungen (Referendarzeit). Bei sachlichen Lücken kann
Nachweis über Erwerb der fehlenden Kenntnisse verlangt werden.
b. EuGHE 1987, 4097 - Heylens, gegenseitige Anerkennung von Diplomen,
soweit es dafür innerstaatliche Verfahren gibt: bei Ablehnung im
Einzelfall jedenfalls Garantie effektiven Rechtsschutzes:
"Es stellt... ein Hindernis für die wirksame Ausübung der vom Vertrag garantierten
Niederlassungsfreiheit dar, wenn die einzelnen Mitgliedstaaten für den Zugang zu
bestimmten Berufen den Besitz eines Diploms gesetzlich vorschreiben; die Beseitigung
dieses Hindernisses soll durch Richtlinien des Rates für die gegenseitige Anerkennung der
Diplome... erleichtert werden... Der Umstand, daß diese Richtlinien noch nicht erlassen
worden sind, berechtigt einen Mitgliedstaat nicht, einer dem Gemeinschaftsrecht
unterstehenden Person die tatsächliche Ausübung dieser Freiheit zu verwehren, wenn diese
Freiheit in diesem Mitgliedstaat insbesondere dadurch gewährleistet werden kann, daß
dessen Rechtsvorschriften die Anerkennung ausländischer Diplome als gleichwertig
erlauben.
Da die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu den grundlegenden Zielen des EWG-Vertrags
gehört, folgt... die Verpflichtung, die Freizügigkeit zu gewährleisten, aus Artikel 5 EWGVertrag... Der freie Zugang zur Beschäftigung ist ein Grundrecht, das jedem Arbeitnehmer
der Gemeinschaft individuell vom Vertrag verliehen ist; die Gewährleistung eines effektiven
Rechtsschutzes hängt wesentlich davon ab, daß Entscheidungen einer innerstaatlichen
Behörde, durch die die Gewährung des Rechts verweigert wird, vor Gericht angefochten
werden kann".
c. Dabei muß die Beurteilung der Gleichwertigkeit objektiv, d.h.
"ausschließlich danach erfolgen, welches Maß an Kenntnissen und
Fähigkeiten dieses Diplom unter Berücksichtigung von Art und Dauer
des Studiums und der praktischen Ausbildung, deren Abschluß es
bescheinigt, bei seinem Besitzer vermuten läßt" (ebd., Rn. 13).
Deutlicher noch betont EuGHE 1991, I-2357 - Vlassopoulou (HV 627):
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Ingolf Pernice
"daß die Prüfung, ob die durch das ausländische Diplom bescheinigten Kenntnisse und
Fähigkeiten den nach dem Recht des Aufnahmemitgliedstaats vorgeschriebenen
entsprechen, von den nationalen Behörden nach einem Verfahren vorgenommen werden
muß, das mit den Erfordernissen des Gemeinschaftsrechts in bezug auf den effektiven
Schutz der den Gemeinschaftsangehörigen vom Vertrag verliehenen Grundrechte (!) in
Einklang steht. Deshalb muß jede Entscheidung gerichtlich auf ihre Rechtmäßigkeit in
Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht überprüft werden und der Betroffene von den Gründen
Kenntnis erhalten können, auf denen die ihm gegenüber ergangene Entscheidung beruht".
d. Kurz: Es gibt eine Pflicht aus Art. 49 AEUV zur vergleichenden Prüfung
i.S.d. EuGHE 1977, 765 - Thieffry; EuGHE 1991, I-2357 Vlassopoulou,
zuletzt: EuGH EuZW 2004. 61 ff. – Morgenbesser, HV 630:
aa. zur Anerkennung aufgrund einer Gleichwertigkeitsprüfung als Folge
des Art. 49 AEUV i.V.m. dem Grundsatz der Unionstreue nach Art. 4
III EUV: EuGHE 1992, I-3003 (3026 ff.) - Immobilienmakler
zur Begründung der betreffenden Entscheidung und zur Einrichtung
eines effektiven Rechtsschutzverfahrens (EuGHE 1987, 4097 Heylens).
2. Harmonisierungs- und Koordinierungsrichtlinien zur Effektivierung des
Niederlassungsrechts; Neu: die zusammenfassende Richtlinie 2005/36/EG
vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen 1:
a. Aufgehoben sind damit: RL 89/48 v. 21. 12. 1988 über eine allgemeine
Regelung zur Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens
dreijährige Berufsausbildung abschließen, ABl. 1989 L 19/16, und
Richtlinie 92/51 EWG über eine zweite allgemeine Regelung zur
Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise in Ergänzung der
Richtlinie 89/48/EWG, ABl. 1992 L 209/25.
b. für den Anwaltsberuf bleibt es bei der gegenseitigen Anerkennung der
dauerhaften Ausübung von freien Berufen nach der RL 98/5/ zur
Erleicherung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem
anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben
wurde,2
aa. Zur Gültigkeit der Richtlinie (Rechtsgrundlage) vgl. EuGH, Rs. C168/98, Slg. 2000, I-9131 - Luxembourg/EP und Rat.
bb. Wesentlicher Inhalt:
(1) Grundsatz der Freiheit unter Berufsbezeichnung des Herkunftslandes (Art. 2, 4),
freilich nach Eintragung im Gaststaat (Art. 3).
(2) Ausnahmen: Urkundenausstellung einschränkbar, Einvernehmen in Fällen mit
Anwaltszwang Sonderregelung für Zugang (spez. Anwälte) bei höchsten
Gerichten (Art. 5)
(3) Art. 10: nach 3 jähr. Berufspraxis im Gastland: Anspruch auf Zulassung zum
Beruf nach innerstaatlichen Vorschriften in Abweichung von Art. 4 I lit. b der Ri.
89/48/EWG - Hochschuldiplome. Art. 10 II Antrag auf Anerkennung nach der
Hochschuldiplom-Richtlinie jederzeit.
cc. Zur Bedeutung der Richtlinie: Sobotta/Kleinschnittger, Freizügigkeit
für Anwälte in der EU nach der Richtlinie 98/5/EG, EuZW 1998, 645
ff., zur Umsetzung in Deutschland durch das Gesetz über die
Tätigkeit der Rechtsanwälte in Deutschland (EuRAG), v. 9.2.2000
(BGBl. 2000 I S. 182) vgl. Lach, NJW 2000, 1069 ff.
III. Rechtfertigung von Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit erfolgt nach
denselben Grundsätzen, wie bei der Dienstleistungsfreiheit.
IV. Von der Niederlassungsfreiheit zum europäischen Unternehmensrecht.
1. Wichtige Unterscheidung nach der Rechtsprechung:
1
http://europa.eu.int/eur-lex/lex/LexUriServ/site/de/oj/2005/l_255/l_25520050930de00220142.pdf.
2
http://europa.eu.int/eur-lex/pri/de/oj/dat/1998/l_077/l_07719980314de00360043.pdf.
7
EuR II – Europäisches Wirtschaftsrecht
a. Primäre Niederlassungsfreiheit:
aa. Zur identitätswahrenden Sitzverlegung einer Gesellschaft: Art. 49
AEUV verbietet es auch dem Heimatstaat, die Niederlassung eines
Staatsangehörigen (natürlichen Personen) in einem anderen
Mitgliedstaat zu verhindern; aber mangels eines Übereinkommens
zwischen den Mitgliedstaaten oder einer Harmonisierung (nach dem
inzwischen aufgehobenen Art. 293 EGV) stellt es keine Verletzung
des Art. 49 AEUV dar, wenn ein Mitgliedstaat an den Wegzug einer
juristischen Person negative Folgen knüpft. Mangels Harmonisierung
obliegt es den Mitgliedstaaten zu bestimmen, unter welchen
Voraussetzungen und Bedingungen eine Gesellschaft nach jeweils
inländischem Recht wirksam gegründet werden und fortbestehen
kann. Zu diesen Bedingungen gehört auch die erforderliche
Inlandsverknüpfung
der
Gesellschaft
nach
Satzungssitz/Verwaltungssitz
und
die
Möglichkeit
und
gegebenenfalls
der
Modalitäten
einer
Verlegung
des
satzungsmässigen oder wahren Sitzes einer Gesellschaft nationalen
Rechts von einem Mitgliedstaat in einen anderen. EuGHE 1988,
5483 - Daily Mail (HV 592 lesen!); bestätigt in EuGH Rs. C-210/06 Cartesio
bb. Versteckte Diskriminierungen sind mit Art 49, 54 AEUV unvereinbar,
etwa bei:
(1) Ausschluß bestimmter steuerlicher Vergünstigungen für Gesellschaften mit Sitz
im EU-Ausland, EuGH EuZW 1993, 740 ff. - Commerzbank (Kriterium des
steuerlichen Sitzes "droht sich... besonders zu Lasten der Gesellschaften
auszuwirken, die ihren Sitz in anderen Mitgliedstaaten haben").
(2) Beschränkung der Steuerbefreiung für Grundstücksveräußerung bei interner
Umstrukturierung eines Konzerns auf Fälle, wo Veräußerer nach inländ. Recht
errichtet wurde, EuGHE 1994-I, 1137/1156 ff. = EuZW 1994, 347 - Halliburton.
(3) Ebenso: Steuerfreibetrag für Person, die eine wesentliche Beteiligung an einem
Unternehmen hält, darf nicht darauf beschränkt sein, daß das gehaltene
Unternehmen seinen Sitz im Steuerstaat hat, weil darin Behinderung liegt,
Unternehmen in anderen Mst. zu gründen, EuGH, JZ 2000, 942 – Baars mit
Anm. Lehner.
b. Sekundäres Niederlassungsfreiheit (Gründung einer Zweigniederlassung,
Agentur etc. iSd. Art. 49 I 2 AEUV)
aa. Zum "Grundsatz, daß ein Rechtsanwalt nur eine einzige
Niederlassung haben darf": EuGHE 1984, 2971 - Klopp (HV 587):
Verbot der Einrichtung einer Zweitkanzlei unzulässig.
bb. EuGHE 1999, I-1459 Centros, HV 594: Wichtiger Fall, der die
Beschränkung der Niederlassung einer Gesellschaft durch den
Zuzugsstaat als europarechtswidrig ansah (In Abgrenzung zu Daily
Mail, wo es um den Wegzug ging) angesehen wurde. Die Kl., eine in
England eingetragene ”private limited company” mit zwei dänischen
Geschäftsführern beantragte in Dänemark die Eintragung einer
unselbständigen Zweigniederlassung (die engl. Centros Ltd. wird
nach brit. und dän. Recht als fortbestehend angesehen). Die
dänischen Behörden lehnten dies ab, weil die Kl. in Großbritannien
keine
Tätigkeit
ausübe,
so
daß die
Eintragung der
Zweigniederlassung
nur
der
Umgehung
der
strengeren
Einlagevorschriften betr. das Mindestkapital diene.
 EuGH Rs. C-212/97 (Centros), Leitsatz 1:
„Ein Mitgliedstaat, der die Eintragung der Zweigniederlassung einer Gesellschaft verweigert,
die in einem anderen Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat, rechtmässig errichtet worden
ist, aber keine Geschäftstätigkeit entfaltet, verstösst gegen die Artikel 52 und 58 des
Vertrages, wenn die Zweigniederlassung es der Gesellschaft ermöglichen soll, ihre gesamte
Geschäftstätigkeit in dem Staat auszuüben, in dem diese Zweigniederlassung errichtet wird,
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ohne dort eine Gesellschaft zu errichten und damit das dortige Recht über die Errichtung von
Gesellschaften zu umgehen, das höhere Anforderungen an die Einzahlung des
Mindestgesellschaftskapitals stellt. Das Recht, eine Gesellschaft nach dem Recht eines
Mitgliedstaats zu errichten und in anderen Mitgliedstaaten Zweigniederlassungen zu gründen,
folgt nämlich im Binnenmarkt unmittelbar aus der vom Vertrag gewährleisteten
Niederlassungsfreiheit, so daß es für sich allein keine mißbräuchliche Ausnutzung des
Niederlassungsrechts darstellen kann, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der
eine Gesellschaft gründen möchte, diese in dem Mitgliedstaat errichtet, dessen
gesellschaftsrechtliche Vorschriften ihm die grösste Freiheit lassen, und in anderen
Mitgliedstaaten Zweigniederlassungen gründet.“
Also: Verweigerung ist Verstoß gegen Art. 49, 54 AEUV.
Begründung
(1) Mißbrauch der Niederlassungsfreiheit liegt nicht vor, auch wenn sie dazu
genutzt wird, eine Gesellschaft in dem Mitgliedstaat zu gründen, das die größte
Freiheit läßt (Rn. 26 ff).
(2) Das gilt auch dann, wenn die eigentliche wirtschaftliche Tätigkeit durch die
Zweigniederlassung erfolgt (Rn. 29).
(3) Rechtfertigung der Beschränkungen nach Art 52 AEUV ? Das verfolgte Ziel des
Gläubigerschutzes werde nicht erreicht, weil die dänischen Gläubiger genauso
gefährdet wären, wenn die Firma eine Geschäftstätigkeit in GB durchführe.
Ferner sei den Geschäftspartnern, die mit einer engl. firmierenden Gesellschaft
arbeiteten, bekannt, daß die strengeren dänischen Vorschriften nicht gälten.
(4) Es hätten mildere Maßnahmen zum Schutz ergriffen werden können, etwa die
Einräumung von Sicherheiten seitens öffentlicher Gläubiger. Der EuGH verweist
in diesem Zusammenhang auf die “unionsrechtlichen Schutzvorschriften” der
Rechnungslegungs- und der Zweigniederlassungsrichtlinie (Rn. 36).
cc. Zur innerstaatlichen Anwendung dieser Grundsätze ÖstÖGH Beschl.
V. 15. 7. 1999, EuZW 2000, 156 ff.: Zweigniederlassung einer in UK
gem. der Gründungstheorie gegr. „private limited company“ muß in
Österreich wegen Vorliegen der Voraussetzungen nach Rspr. des
EuGH eingetragen werden.
2. Problem: Inwieweit verbietet es Art. 49 AEUV, die Mobilität von
Gesellschaften oder Gesellschaftern zu beschränken:
a. EuGH Rs. 81/87 – Daily Mail Verlegung des Sitzes der Geschäftsleitung
des Unternehmens von UK nach NL, um gewisse steuerliche Vorteile
beim Verkauf von Papieren aus dem Betriebsvermögen zu genießen; die
Behörden des UK lehnten den Antrag auf Genehmigung der Verlegung
ab, dagegen klagte DM unter Berufung auf die Niederlassungsfreiheit:
Die Bedingungen, nach denen eine Gesellschaft Rechtspersönlichkeit in
einem Mitgliedstaat hat, bestimmen sich nach nationalem Recht. Die
Niederlassungsfreiheit verleiht kein Recht auf unbehinderten Wegzug
einer Gesellschaften:
19 Im Gegensatz zu natürlichen Personen werden Gesellschaften aufgrund einer
Rechtsordnung, beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts aufgrund einer
nationalen Rechtsordnung, gegründet . Jenseits der jeweiligen nationalen Rechtsordnung,
die ihre Gründung und ihre Existenz regelt, haben sie keine Realität .
20 Hinsichtlich dessen, was für die Gründung einer Gesellschaft an Verknüpfung mit dem
nationalen Gebiet erforderlich ist, wie hinsichtlich der Möglichkeit einer nach einem
nationalen Recht gegründeten Gesellschaft, diese Verknüpfung nachträglich zu ändern,
bestehen erhebliche Unterschiede im Recht der Mitgliedstaaten . Hierauf hat die Kommission
hingewiesen . In einigen Staaten muß nicht nur der satzungsmässige, sondern auch der
wahre Sitz, also die Hauptverwaltung der Gesellschaft, im Hoheitsgebiet liegen; die
Verlegung der Geschäftsleitung aus diesem Gebiet hinaus setzt somit die Liquidierung der
Gesellschaft mit allen Folgen voraus, die eine solche Liquidierung auf gesellschafts - und
steuerrechtlichem Gebiet mit sich bringt . Andere Staaten gestehen den Gesellschaften das
Recht zu, ihre Geschäftsleitung ins Ausland zu verlegen, aber einige, unter ihnen das
Vereinigte Königreich, beschränken dieses Recht; die rechtlichen Folgen der Verlegung,
insbesondere auf steuerlichem Gebiet, sind in jedem Mitgliedstaat anders .
9
EuR II – Europäisches Wirtschaftsrecht
21 Der EWG-Vertrag trägt diesen Unterschieden im nationalen Recht Rechnung . Bei der
Definition der Gesellschaften, denen die Niederlassungsfreiheit zugute kommt, in Artikel 58
EWG-Vertrag werden der satzungsmässige Sitz, die Hauptverwaltung und die
Hauptniederlassung einer Gesellschaft als Anknüpfung gleich geachtet . In Artikel 220 EWGVertrag ist, soweit erforderlich, der Abschluß von Übereinkommen unter den Mitgliedstaaten
vorgesehen, um unter anderem die Beibehaltung der Rechtspersönlichkeit bei Verlegung des
Sitzes von einem Mitgliedstaat in einen anderen sicherzustellen . Bis heute ist ein derartiges
Übereinkommen nicht in Kraft getreten .
b. EuGH, Rs. C-208/00 – Überseering, Slg. 2002, I-9919, HV 598: Im
Unterschied zu Daily Mail geht es in Überseering um die Anerkennung
einer nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaates gegründeten
Gesellschaft (Zuzugskonstellation).
aa. Deshalb sind die Gründe, die den EuGH in Daily Mail die Eröffnung
des Anwendungsbereiches der Niederlassungsfreiheit ablehnen
ließen, nicht auf Überseering übertragbar (Rn. 66). Nach Ansicht des
EuGH verlangt hier die Niederlassungsfreiheit zwingend die
Anerkennung von nach dem Recht anderer Mitgliedstaaten
gegründeten Gesellschaften (Rn. 59). In diesem Punkt überträgt die
Entscheidung das Herkunftslandprinzip der Warenverkehrsfreiheit
auf die Niederlassungsfreiheit.
bb. Laut EuGH hat der Erwerb der GmbH durch deutsche
Staatsangehörige nicht zum Verlust der Rechtspersönlichkeit nach
niederländischem Recht geführt;
„das Erfordernis, dieselbe Gesellschaft in Deutschland neu zu gründen, [käme] daher der
Negierung der Niederlassungsfreiheit gleich“ (Rn. 81).
cc. Aus diesem Grund sei eine Rechtfertigung auch durch zwingende
Gründe des Allgemeinwohls nicht möglich. Der EuGH vermied eine
grundsätzliche Entscheidung zwischen Gründungs- und Sitztheorie
(vgl. Art. 54 AEUV, der auf satzungsmäßigen Sitz, Hauptverwaltung
oder Hauptniederlassung abstellt). Im Ergebnis wäre die Niederlasungsfreiheit als eine Freiheit der Standortwahl, nicht jedoch als eine
Rechtswahlfreiheit zu verstehen.
b. Ein knappes Jahr nach Überseering erging ein weiteres für das
Gesellschaftsrecht in der Union bedeutsames Urteil: Inspire Art (EuGH,
Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155 [HV 599]). Darin ging es um ein in
Großbritannien gegründetes Unternehmen, das seine Geschäftstätigkeit
ausschließlich über eine Zweigniederlassung in den Niederlanden
ausübte (Zuzugsfall, sekundäre Niederlassungsfreiheit). Nach einem
niederländischen
Gesetz
wurden
solchen
sog.
Scheinauslandsgesellschaften
besondere
Offenlegungspflichten
auferlegt. Außerdem sah das Gesetz eine Geschäftsführerhaftung für
den Fall vor, dass diese Gesellschaften nicht die für niederländische
Gesellschaften vorgeschriebenen Mindestkapitalvorschriften erfüllten. Im
Unterschied zu Centros wurde hier nicht die Eintragung in das
Handelsregister verweigert, sondern lediglich die Kennzeichnung der
Gesellschaft als ‘formal ausländische Gesellschaft’ verlangt. Zudem
waren
mit
diesem
Status
bestimmte
Rechtsfolgen
(‘Sonderanknüpfungen’) verbunden. Das Urteil des EuGH beseitigt
einige nach Überseering noch bestehende Unsicherheiten. Es wurde
deutlich, dass nicht nur die Rechts- und Parteifähigkeit von
Gesellschaften aus anderen Mitgliedstaaten anzuerkennen ist, sondern
dass auch alle anderen Sonderanknüpfungen rechtfertigungsbedürftig
sind.
c. Zur Vereinbarkeit des § 1 UmwG, nach dem nur inländische
Gesellschaften
umgewandelt
werden
können
(z.B.
durch
Verschmelzung), mit Art. 49, 54 AEUV: verneinend GA Tizzano, Rs. C-
10
Ingolf Pernice
411/03- SEVIC, Schlussanträge3. Der EuGH prüft zunächst, ob die
Niederlassungsfreiheit
überhaupt
auf
Verschmelzungsvorgänge
anwendbar ist. Dies wird mit einem weiten Begriff der Niederlassung
bejaht:
17 Denn nach Artikel 43 Absatz 2 EG in Verbindung mit Artikel 48 EG umfasst die
Niederlassungsfreiheit für die in der letztgenannten Bestimmung genannten Gesellschaften
u. a. das Recht auf Gründung und Leitung dieser Gesellschaften nach den Bestimmungen
des Aufnahmestaats, die für dessen eigene Angehörige gelten.
18 Wie der Generalanwalt in Nummer 30 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, fallen in den
Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit alle Maßnahmen, die den Zugang zu einem
anderen Mitgliedstaat als dem Sitzmitgliedstaat und die Ausübung einer wirtschaftlichen
Tätigkeit in jenem Staat dadurch ermöglichen oder auch nur erleichtern, dass sie die
tatsächliche Teilnahme der betroffenen Wirtschaftsbeteiligten am Wirtschaftsleben des
letztgenannten Mitgliedstaats unter denselben Bedingungen gestatten, die für die
inländischen Wirtschaftsbeteiligten gelten.
19
Grenzüberschreitende
Verschmelzungen
entsprechen
wie
andere
Gesellschaftsumwandlungen den Zusammenarbeits- und Umgestaltungsbedürfnissen von
Gesellschaften mit Sitz in verschiedenen Mitgliedstaaten. Sie stellen besondere, für das
reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes wichtige Modalitäten der Ausübung der
Niederlassungsfreiheit dar und gehören damit zu den wirtschaftlichen Tätigkeiten, hinsichtlich
deren die Mitgliedstaaten die Niederlassungsfreiheit nach Artikel 43 EG beachten müssen.
Der EuGH folgt dem GA auch in der Annahme, dass eine Beschränkung
gegeben ist, denn innerstaatliche Verschmelzungen mit den darin liegenen
Erleichterungen sind erlaubt, solche mit ausländischen Unternehmen aber
nicht:
21 Wie aber der Generalanwalt in Nummer 47 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, stellt
eine Verschmelzung wie die hier in Rede stehende ein wirksames Mittel zur Umwandlung
von Gesellschaften dar, das es im Rahmen eines einzigen Vorgangs ermöglicht, eine
bestimmte Tätigkeit in neuer Form und ohne Unterbrechung auszuüben, so dass
Komplikationen sowie Zeit‑ und Kostenaufwand verringert werden, die andere Formen der
Umgestaltung von Gesellschaften mit sich bringen, etwa die Auflösung einer Gesellschaft mit
Vermögensabwicklung und die Gründung einer neuen Gesellschaft unter Übertragung der
einzelnen Vermögensgegenstände auf diese.
22
Da nach deutschem Recht dieses Mittel zur Umwandlung von Gesellschaften nicht zur
Verfügung steht, wenn eine der Gesellschaften ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als
der Bundesrepublik Deutschland hat, begründet dieses Recht eine unterschiedliche
Behandlung von Gesellschaften nach Maßgabe dessen, ob es sich um eine innerstaatliche
oder um eine grenzüberschreitende Verschmelzung handelt; diese unterschiedliche
Behandlung ist geeignet, Gesellschaften davon abzuhalten, von der im EG-Vertrag
verankerten Niederlassungsfreiheit Gebrauch zu machen.
23
Eine solche unterschiedliche Behandlung stellt eine Beschränkung im Sinne der Artikel
43 EG und 48 EG dar, die im Widerspruch zur Niederlassungsfreiheit steht und nur zulässig
sein kann, wenn mit ihr ein legitimes mit dem EG‑ Vertrag vereinbares Ziel verfolgt wird und
wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. Zusätzlich
muss ihre Anwendung zur Erreichung des damit verfolgten Zieles geeignet sein und darf
nicht über das hinausgehen, was hierzu erforderlich ist (vgl. Urteile vom 21. November 2002
in der Rechtssache C-436/00, X und Y, Slg. 2002, I-10829, Randnr. 49, und vom 11. März
2004 in der Rechtssache C-9/02, De Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409, Randnr. 49).
Den Einwand, dass ein Vorschlag der Kommission zur Regelung der
grenzüberschreitenden Verschmelzung von Gesellschaften vorliege und
als notwendig begründet werde, dieser Vorschlag aber noch nicht
angenommen sei, lässt der Gerichtshof nicht gelten: Die
Niederlassungsfreiheit sei nicht von Sekundärrecht abhängig. Zu prüfen
sei allerdings, ob eine Rechtfertigung der Beschränkung gegeben sei:
3
http://curia.eu.int/jurisp/cgi-bin/form.pl?lang=de&Submit=Suchen&docj=docj&docop=docop&numaff=C411%2F03&datefs=&datefe=&nomusuel=&domaine=&mots=&resmax=100.
11
EuR II – Europäisches Wirtschaftsrecht
28 Hierbei kann nicht ausgeschlossen werden, dass zwingende Gründe des
Allgemeininteresses
wie
der
Schutz
der
Interessen
von
Gläubigern,
Minderheitsgesellschaftern und Arbeitnehmern (vgl. Urteil vom 5. November 2002 in der
Rechtssache C-208/00, Überseering, Slg. 2002, I-9919, Randnr. 92) sowie die Wahrung der
Wirksamkeit der Steueraufsicht und der Lauterkeit des Handelsverkehrs (vgl. Urteil vom 30.
September 2003 in der Rechtssache C-167/01, Inspire Art, Slg. 2003, I-10155, Randnr.
132) unter bestimmten Umständen und bei Beachtung bestimmter Voraussetzungen eine die
Niederlassungsfreiheit beschränkende Maßnahme rechtfertigen können.
29 Eine solche beschränkende Maßnahme ist jedoch nur zulässig, wenn sie zur Erreichung
der verfolgten Ziele geeignet ist und nicht über das hinausgeht, was hierzu erforderlich ist.
30
Wird aber in einem Mitgliedstaat die Eintragung der Verschmelzung einer Gesellschaft
mit Sitz in diesem Staat mit einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft in
das Handelsregister generell verweigert, so werden grenzüberschreitende Verschmelzungen
auch dann verhindert, wenn die oben in Randnummer 28 genannten Interessen nicht bedroht
sind. Zudem geht eine solche Regelung über das hinaus, was zur Erreichung der verfolgten
Ziele, nämlich zum Schutz der besagten Interessen, erforderlich ist.
d. Auch die Besteuerung latenter Wertsteigerungen eines Aktienanteils,
wenn der Steuerpflichtige seinen steuerlichen Wohnsitz ins Ausland
verlegt, ist mit Art. 49 AEUV unvereinbar: EuGH, Rs. C-9/02 Lasteyrie du
Saillant, Slg. 2004, I-2409, Randnr. 454.
e. Eine Zusammenfassung der Rechtsprechung mit Bestätigung des Kerns
der Entscheidung von Daily Mail (Wegzugskonstellation) enthält das
Urteil EuGH Rs. C-210/06 (Cartesio). Daran hat sich weder durch die
zwischenzeitlichen Urteile noch durch die Verordnungen zur EWIV, zur
Europäischen
Aktiengesellschaft
sowie
zur
Europäischen
Genossenschaft etwas geändert.
aa. Die zwischenzeitlichen Urteile betreffen andere Fallgestaltungen: In
Überseering ging es um die Möglichkeit einer Verlegung des Sitzes
ins Ausland durch das niederländische Recht unter bestimmten
Bedingungen:
107 Im Urteil vom 5. November 2002, Überseering (C-208/00, Slg. 2002, I-9919, Randnr.
70), hat der Gerichtshof unter Bestätigung dieser Erwägungen festgestellt, dass sich die
Möglichkeit für eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft, ihren
satzungsmäßigen Sitz oder ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in einen anderen
Mitgliedstaat
zu
verlegen,
ohne
die
ihr
durch
die
Rechtsordnung
des
Gründungsmitgliedstaats zuerkannte Rechtspersönlichkeit zu verlieren, und gegebenenfalls
die Modalitäten dieser Verlegung nach den nationalen Rechtsvorschriften beurteilen, nach
denen diese Gesellschaft gegründet worden ist. Er hat daraus den Schluss gezogen, dass
ein Mitgliedstaat die Möglichkeit hat, einer nach seiner Rechtsordnung gegründeten
Gesellschaft
Beschränkungen
hinsichtlich
der
Verlegung
ihres
tatsächlichen
Verwaltungssitzes aus seinem Hoheitsgebiet aufzuerlegen, damit sie die ihr nach dem Recht
dieses Staates zuerkannte Rechtspersönlichkeit beibehalten kann.
Hierbei wird der Vergleich zur Staatsangehörigkeit von natürlichen
Personen gezogen, über die jeder Mitgliedstaat selbst entscheidet:
109 In Ermangelung einer einheitlichen gemeinschaftsrechtlichen Definition der
Gesellschaften, denen die Niederlassungsfreiheit zugutekommt, anhand einer einheitlichen
Anknüpfung, nach der sich das auf eine Gesellschaft anwendbare Recht bestimmt, ist die
Frage, ob Art. 43 EG auf eine Gesellschaft anwendbar ist, die sich auf die dort verankerte
Niederlassungsfreiheit beruft, ebenso wie im Übrigen die Frage, ob eine natürliche Person
ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist und sich aus diesem Grund auf diese Freiheit
berufen kann, daher gemäß Art. 48 EG eine Vorfrage, die beim gegenwärtigen Stand des
Gemeinschaftsrechts nur nach dem geltenden nationalem Recht beantwortet werden kann.
Nur wenn die Prüfung ergibt, dass dieser Gesellschaft in Anbetracht der in Art. 48 EG
genannten Voraussetzungen tatsächlich die Niederlassungsfreiheit zugutekommt, stellt sich
4
http://curia.eu.int/jurisp/cgi-bin/form.pl?lang=de&Submit=Suchen&docj=docj&docop=docop&numaff=C9%2F02+&datefs=&datefe=&nomusuel=&domaine=&mots=&resmax=100.
12
Ingolf Pernice
die Frage, ob sich die Gesellschaft einer Beschränkung dieser Freiheit im Sinne des Art. 43
EG gegenübersieht.
Entsprechend könne ein Mitgliedstaat frei entscheiden, dass eine
Gesellschaft ihre Rechtspersönlichkeit nicht behält, wenn sie ihren
Sitz in ein anderes Land verlegt (ebd., Rn. 110). Anders ist es nur,
wenn mit der Verlegung des Sitzes die Anknüpfung an den
Gründungsstaat gelöst wird:
111 Der Fall einer solchen Verlegung des Sitzes einer nach dem Recht eines Mitgliedstaats
gegründeten Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat ohne Änderung des für sie
maßgeblichen Rechts ist jedoch von dem Fall zu unterscheiden, dass eine Gesellschaft aus
einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat unter Änderung des anwendbaren
nationalen Rechts verlegt und dabei in eine dem nationalen Recht des zweiten Mitgliedstaats
unterliegende Gesellschaftsform umgewandelt wird.
112 Denn in diesem zweiten Fall kann die in Randnr. 110 des vorliegenden Urteils
angesprochene Befugnis – die keinesfalls irgendeine Freistellung des nationalen Rechts über
die Gründung und Auflösung von Gesellschaften von der Beachtung der Vorschriften des
EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit impliziert – insbesondere nicht rechtfertigen,
dass der Gründungsmitgliedstaat die Gesellschaft dadurch, dass er ihre Auflösung und
Liquidation verlangt, daran hindert, sich in eine Gesellschaft nach dem nationalen Recht
dieses anderen Mitgliedstaats umzuwandeln, soweit dies nach diesem Recht möglich ist.
113 Ein solches Hemmnis für die tatsächliche Umwandlung, ohne vorherige Auflösung und
Liquidation, einer solchen Gesellschaft in eine Gesellschaft des nationalen Rechts des
Mitgliedstaats, in den sie sich begeben möchte, stellt eine Beschränkung der
Niederlassungsfreiheit der betreffenden Gesellschaft dar, die, wenn sie nicht zwingenden
Gründen des Allgemeininteresses entspricht, nach Art. 43 EG verboten ist (vgl. in diesem
Sinne insbesondere Urteil CaixaBank France, Randnrn. 11 und 17).
In diesem Urteil ist allerdings nur von anderen Beschränkungen die
Rede und deren möglicher Rechtfertigung. Ob die Voraussetznung
der Liquidation damit als Beschränkung des Art. 49 AEUV qualifiziert
wird, ist nicht sicher (vgl. dazu Mörsdorf, EuZW 2009, 98 ff.)
Der grundlegende Unterschied zu den Urteilen SEVIC, Überseering,
und Centros wird darin gesehen, dass es im Fall Cartesio darum
ging, trotz Verlegung die ursprüngliche ungarische Nationalität der
Gesellschaft nach ungarischem Recht zu erhalten, was nach diesem
Recht ausgeschlossen war:
122 Die Rechtssache SEVIC Systems betraf nämlich die Anerkennung – im Mitgliedstaat
der Gründung einer Gesellschaft – der Niederlassung dieser Gesellschaft in einem anderen
Mitgliedstaat im Wege einer grenzüberschreitenden Verschmelzung, eine Fallkonstellation,
die sich grundlegend von der der Rechtssache Daily Mail and General Trust unterscheidet.
Damit ähnelt der Fall, um den es in der Rechtssache SEVIC Systems ging, anderen Urteilen
des Gerichtshofs zugrunde liegenden Fällen (vgl. Urteil vom 9. März 1999, Centros, C212/97, Slg. 1999, I-1459, Urteil Überseering, Urteil vom 30. September 2003, Inspire Art,
C-167/01, Slg. 2003, I-10155).
123 In solchen Fällen stellt sich jedoch nicht die in Randnr. 109 des vorliegenden Urteils
angeführte Vorfrage, ob die betreffende Gesellschaft als eine Gesellschaft anzusehen ist, die
die Nationalität des Mitgliedstaats hat, nach dessen Recht sie gegründet wurde, sondern
vielmehr, ob sich diese Gesellschaft, die unstreitig eine Gesellschaft des nationalen Rechts
eines Mitgliedstaats ist, in der Ausübung ihres Rechts auf Niederlassung in einem anderen
Mitgliedstaat einer Beschränkung gegenübersieht oder nicht.
Hier war das Ziel, dass die ungarischen Rechtsvorschriften trotz
Sitzverlegung anwendbar bleiben sollten:
119 Im vorliegenden Fall möchte Cartesio jedoch nur ihren wahren Sitz von Ungarn nach
Italien verlegen und zugleich eine Gesellschaft ungarischen Rechts bleiben, also ohne dass
sich das anwendbare nationale Recht änderte.
bb. Die zwischenzeitlich ergangenen Verordnungen 2137/85 und
2157/2001 über die EWIV bzw. die Europäische Gesellschaft oder
der Verordnung (EG) Nr. 1435/2003 über das Statut der
13
EuR II – Europäisches Wirtschaftsrecht
Europäischen Genossenschaft (SCE) (ABl. L 207, S. 1) ändern
hieran nichts, auch in analoger Anwendung helfen sie nicht:
117 Hierzu ist festzustellen, dass diese auf der Grundlage von Art. 308 EG erlassenen
Verordnungen zwar tatsächlich eine Regelung enthalten, wonach die mit ihnen eingeführten
neuen Rechtsformen ihren satzungsmäßigen Sitz und damit auch ihren wahren Sitz, die
nämlich in demselben Mitgliedstaat gelegen sein müssen, in einen anderen Mitgliedstaat
verlegen können, ohne dass dies zur Auflösung der ursprünglichen juristischen Person und
zur Schaffung einer neuen juristischen Person führt, dass eine solche Verlegung aber
dennoch zwangsläufig die Änderung des auf die betreffende Einheit anwendbaren nationalen
Rechts mit sich bringt.
118 Dies ergibt sich z. B. für eine Europäische Gesellschaft aus den Art. 7 bis 9 Abs. 1
Buchst. c Ziff. ii der Verordnung Nr. 2157/2001.
119 Im vorliegenden Fall möchte Cartesio jedoch nur ihren wahren Sitz von Ungarn nach
Italien verlegen und zugleich eine Gesellschaft ungarischen Rechts bleiben, also ohne dass
sich das anwendbare nationale Recht änderte.
f. Im Ergebnis kann man festhalten:
aa. Die Mitgliedstaaten sind frei, die Bedingungen der Gründung von
Gesellschaften zu regeln, einschließlich der Festlegung, dass eine
Sitzverlegung ins Ausland unter Beibehaltung der Nationalität ohne
Änderung des anwendbaren nationalen Rechts ausgeschlossen ist:
„rechtsformwahrender“
Umzug
(Daily
Mail,
Cartesio
Wegzugskonstellation).
bb. Ein Mitgliedstaat kann nicht verlangen, dass bei einer
Sitzverlagerung ins Ausland die Gesellschaft aufgelöst und liquidiert
und im Zuzugsland neu gegründet wird. Daraus folgt, dass
Gesellschaften nicht gehindert werden können, unter Wahrung ihrer
Identität durch Rechtsformwandel ins Ausland zu ziehen (Cartesio).
cc. Auch eine Umwandlung im Sinne der Verschmelzung einer
inländischen Gesellschaft mit einer ausländischen Gesellschaft kann
nicht generell ausgeschlossen werden, wenn entsprechende
Verschmelzungen inländischer Gesellschaften zulässig sind
(SEVIC).
dd. Der Zuzugsstaat kann der Gründung einer Zweigniederlassung einer
ausländischen Gesellschaft im Inland nicht entgegenhalten, dass der
Hauptteil der Geschäftstätigkeit dieser Gesellschaft bei der
Zweigniederlassung liegt (Centros).
ee. Der Zuzugsstaat muss die Partei- und Prozessfähigkeit einer
ausländischen Gesellschaft, die ihren Sitz ins Inland verlegt, ohne
dabei ihr Statut zu ändern, anerkennen (Überseering).
ff. Soweit die Niederlassungsfreiheit Anwendung findet, sind
Beschränkungen nur zu rechtfertigen, wenn sie nicht diskriminieren,
wenn zwingende Gründe des Allgemeinwohls dafür sprechen und
die
Verhältnismäßigkeit
gewahrt
ist
(insbes.
Gläubiger-,
Arbeitnehmer- und Anlegerschutz).
3. Europäisches Gesellschaftsrecht (vgl. Behrens, in: Dauses, Handbuch E III,
Wiesner, aaO.; sehr instruktiv und komplett: Stefan Grundmann,
Europäisches Gesellschaftsrecht, 2. A., 2010)
a. Die EU-Richtlinien zur Angleichung des Gesellschaftsrechts: Belange
des Gläubiger- und des Anlegerschutzes, der Struktur und der
kapitalmäßigen Gleichbehandlung der Gesellschafter insbesondere der
Aktiengesellschaft, auch für die GmbH gelten die Ri. 1, 4, 7, 11, 12:
In Kraft:
(1) Publizitäts- (1.), Kapital- (2.), Fusions- (3.), Bilanz- (4.), Spaltungs- (6.),
Konzernbilanz- (7.), Prüferbefähigungs- (8.), Zweigniederlassungs- (11.),
Einpersonengesellschafts-Ri (12.).
14
Ingolf Pernice
(2) Wichtig: Richtlinie über die Einsetzung europäischer Betriebsräte zur
Information und Konsultation der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit
operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen, ABl. L 254, S. 64.
(3) 10. Richtlinie 2005/56 über die Verschmelzung von Aktiengesellschaften aus
verschiedenen Mitgliedstaaten, ABl. 2005 L 310/15.
bb. Vorschläge: Struktur- (5.), Konzernrechts- (9.), Übernahmeangebote(13., letzter Vorschlag 2003), Liquidations-Richtlinie (14.).
cc. Weitere Vorschläge:
(1) Vorentwurf der Kommission für eine Vierzehnte Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates über die Verlegung des Sitzes einer Gesellschaft in
einen anderen Mitgliedstaat, Vorschlag6: Koordinierungsrichtlinie auf der
Grundlage des Artikels 44 Absätze 1 und 2 EG-Vertrag zur Erleichterung der
Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit. Kernpunkt des Vorentwurfs ist es,
dass jeder Mitgliedstaat das Recht einer (noch) seiner Rechtsordnung
unterliegenden
Gesellschaft
anerkennt,
durch
Beschluss
der
Hauptversammlung ihren Satzungssitz in einen anderen Mitgliedstaat zu
verlegen und ihre Rechtspersönlichkeit im Herkunftsstaat aufzugeben, um im
Aufnahmemitgliedstaat Rechtspersönlichkeit nach dortigem Recht zu erlangen.
Die Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer würden sich nach dem Recht des
Aufnahmemitgliedstaats bestimmen.
4. Statute für EG-Gesellschaften - übergreifend über das Recht der
Mitgliedstaaten:
a. Verordnung 2137/85/EWG über die Europäische Wirtschaftliche
Interessenvereinigung, EWIV, ABl. 1985 L 199/1: Personengesellschaft
wie OHG zur Unterstützung der Geschäfte der Mitglieder, ohne eigene
Gewinnerzielung (Rgrdl. Art. 235 EGV)
b. Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über
das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE)7, und dazu Richtlinie
2001/86/EG zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft
hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer.
Guter Überblick: Lars Kloster, Societas Europaea und europäische
Unternehmenszusammenschlüsse, EuZW 2003, 293 ff. Zum Entwurf eines
deutschen Ausführungsgesetzes Oliver Lange, Überlegungen zur Umwandlung
einer deutschen in eine Europäische Aktiengesellschaft, EuZW 2003, 301.
c. Verordnung (EG) Nr. 1435/2003 des Rates vom 22. Juli 2003 über das
Statut der Europäischen Genossenschaft (SCE) zur Förderung der
wirtschaftlichen und sozialen Tätigkeiten der Mitglieder, mit
uneingeschränkter Rechtsfähigkeit, Haftung der Mitglieder bis in Höhe
ihres Kapitalanteils
d. Vorschlag für eine Verordnung über das Statut des Europäischen
Vereins (EUV), ABl. 1992 C 99/1. Kommt nicht weiter...
e. Vorschlag
über
das
Statut
der
Europäischen
Gegenseitigkeitsgesellschaft (EuGges), ABl. 1992 C 99/57, als
Rechtsform für Personenvereinigungen zur sozialen Fürsorge, Hilfe im
Gesundheitsbereich,
Kreditgewährung
oder
Versicherung,
mit
unbeschränkter Rechtsfähigkeit, Haftung beschränkt auf den
"Betriebsfonds", Verfassung ähnl. der SE.
f. Zum Kommissions-Kommission-Vorschlag für eine Verordnung des
Rates über das Statut der Europäischen Privatgesellschaft, KOM(2008)
396 endg. (Societas Privata Europaea) siehe: Wedemann: Die EuropaGmbH ante portas, EuZW 2010, 534.
5
http://europa.eu.int/eur-lex/lex/LexUriServ/site/de/oj/2005/l_310/l_31020051125de00010009.pdf.
6
http://ec.europa.eu/internal_market/company/seat-transfer/index_de.htm
7
http://europa.eu.int/eur-lex/pri/de/oj/dat/2001/l_294/l_29420011110de00010021.pdf.
15
EuR II – Europäisches Wirtschaftsrecht
IV. Exkurs: Staatsangehörigkeit bei Verleihung von Flaggen an Reedereien:
EuGHE 1991 I 4569 – Fischereilizenz; EuGHE 1991 I 4607 - Factortame III
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