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Prof. Dr. Ingolf Pernice
Humboldt-Universität zu Berlin
Okt. 2010
Europarecht
Übungsklausur 3
A. Bitte beantworten Sie die folgenden Fragen kurz und unter
Bezugnahme der einschlägigen Normen und Rechtsprechung:
1. Die Europäische Union wird als supranationale Organisation
bezeichnet. Was sind ihre Besonderheiten, worin unterscheidet
sie sich von einem Staat, worin von einer internationalen Organisation?
Antwort:
a. Die Besonderheit der supranationalen Organisation besteht
primär darin, dass sie über Organe verfügt, die mit unmittelbarer Wirkung für den einzelnen Recht setzt, das von den nationalen Gerichten mit Vorrang vor dem nationalen Recht durchgesetzt wird. Gemeinsame Organe: Kommission und Gerichtshof wachen über die einheitliche Anwendung des Rechts.
b. Von einem Staat unterscheidet sich die supranationale Organisation vor allem dadurch, dass ihr keine Zwangsmittel (Polizeigewalt, Armee, aber auch Zwangsvollstreckung durch eigene
Behörden) zustehen, das Gewaltmonopol der Mitgliedstaaten
also bestehen bleibt. Internationale Organisationen dagegen
haben grundsätzlich weder eine Gesetzgebungsbefugnis noch
eigene Zwangsmittel (letzteres wäre aber bei der UNO theoretisch möglich). So erklärt sich, dass sich auch die Frage nach
einem Grundrechtsschutz gegen ihre Akte (bislang) nicht stellt.
2. Welches sind die Funktionen der Europäischen Kommission in
der EU; inwiefern entspricht ihre Zusammensetzung und ihre
innere Organisation ihren spezifischen Aufgaben?
Antwort:
a. Die Funktionen und Aufgaben der Kommission ergeben sich
aus Art. 17 I EUV. Sie repräsentiert aufgrund ihrer Unabhängigkeit von einzelnen Regierungen und ihrer Zusammensetzung auf der politischen Ebene wie auch auf der Ebene der
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Dienste (eigenes europäisches Beamtenstatut) das gemeinsame europäische öffentliche Interesse. Zentral sind ihre Funktionen als Initiator der europäischen Gesetzgebung (Vorschlagsrecht) und als Hüter der Verträge (Vertragsverletzungsverfahren, Art. 258 ff. AEUV).
b. Die Zusammensetzung der Kommission und ihrer Dienste ist so
gestaltet, dass jeder Mitgliedstaat einen Kommissar stellt und in
den Diensten auf eine ungefähr proportionale Repräsentation
aller Völker der europäischen Union geachtet wird. Dadurch
wird sichergestellt, dass die nationalen (politischen und Rechts)Kulturen durchgängig präsent sind, so dass für die Gesetzgebungsinitativen der nötige Einblick in die Situation in allen Mitgliedstaaten sichergestellt ist.
3. Warum ist der innerstaatliche Vollzug des europäischen Rechts
primär den Mitgliedstaaten überlassen? Nennen Sie Bereiche,
in denen die Kommission für den Vollzug zuständig ist, und warum?
Antwort:
a. Die Gründe sind die Subsidiariät und auch die Effizienz. Während die Einheit der Rechtsordnung oft gemeinsame Normsetzung voraussetzt, muss der Vollzug auf die Gegebenheiten vor
Ort Rücksicht nehmen. Die Logik entspricht derjenigen in föderalen Systemen auch sonst: Die staatliche Ebene ist sach- und
bürgernäher, die Mitgliedstaaten (bzw. Länder) verfügen über
die nötigen Zwangsmittel und überschauen die Folgen besser
als die fernen Brüsseler Behörden.
b. Sowohl die Aufsicht über die Anwendung des Unionsrechts
durch die Mitgliedstaaten als auch etwa die Anwendung des
Kartellrechts auf die grenzüberschreitenden Operationen der
Unternehmen in der Union setzt eine Zentralisierung des Vollzugs voraus. Hinzu kommt u.a. die Verteilung der Unionsmittel.
Zu den Exekutivaufgaben der Kommission gehören insbesondere die Vorbereitung und Durchführung des Haushalts, die
Verwaltung der Strukturfonds, die Beihilfenkontrolle und die
Wettbewerbsaufsicht (neben den nationalen Behörden, vgl. VO
1/2003). Aber auch die Statistik ist Sache der Kommission, soweit es um europäische Erhebungen geht.
4. Bitte erläutern Sie kurz die zentralen Merkmale der Unionsbürgerschaft. Auf welche Weise wurde die Stellung der Unionsbürger durch den Vertrag von Lissabon gestärkt?
Antwort:
a. Die Unionsbürgerschaft kommt zur Staatsbürgerschaft der Mitgliedstaaten hinzu, ersetzt sie aber nicht (Art. 20 I AEUV). Sie
bringt den gemeinsamen Status der Freiheit (Grundfreiheiten)
und der Gleichheit (Diskriminierungsverbot, Art. 18 AEUV) aller
Bürger der Mitgliedstaaten auf einen Begriff. Sie ist Anknüfungspunkt der Freizügigkeit (Art. 21 AEUV), des Wahlrechts
zum Europäischen Parlament und auch zu den demokratischen
Organen der lokalen Gebietskörperschaften in den Mitgliedstaaten (Art. 22 AEUV) und des diplomatischen Schutzes durch
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alle Mitgliedstaaten unter den Bedingungen des Art. 23 AEUV.
Schon seit dem Vertrag von Maastricht (1993) haben alle Unionsbürger auch das Petitionsrecht am EP und das Recht, sich
an den europäischen Bürgerbeauftragten zu wenden (Art. 24
AEUV).
b. Neu mit dem Vertrag von Lissabon eingeführt wurde insbesondere das Konzept, dass das Europäische Parlament die Vertretung nicht mehr der Völker der Mitgliedstaaten, sondern der
Unionsbürger ist (Art. 10 II, Art. 14 II EUV). Hinzu tritt die Bürgerinitiative (Art. 11 IV EUV), insgesamt wird damit betont, dass
die Bürger nach den demokratischen Grundsätzen der Union
die entscheidende Basis legitimer Politik sind.
B. Bitte bearbeiten Sie den folgenden Fall in der Form eines
kurzen Gutachtens :
In Deutschland darf Bier nach den einschlägigen Vorschriften u.a. im
Biersteuergesetz nur auf den Markt gebracht werden, wenn es dem
sog. Reinheitsgebot (Malz, Hopfen und Wasser als alleinige Zutaten)
entspricht. Begründet wird diese Vorschrift damit, dass dies für die Gesundheit der Menschen wichtig wäre und auch der Verbraucher sicher
sein müsse, dass er nur „reines“ Bier verzehrt, wenn er Bier trinkt. Alle
deutschen Brauereien sind darauf eingestellt, nicht dagegen die ausländische Konkurrenz. Hier werden nicht nur Konservierungsmittel zugesetzt, sondern auch etwa Reis oder andere Stoffe für den Brauvorgang verwendet. Auch B ist Straßburg stellt Bier mit solchen Zusatzstoffen her, zumal es sich länger hält und besser transportieren lässt.
Als B wieder einmal einen großen Posten Bier in Flaschen und Fässern
aus Frankreich nach Deutschland importiert hat und hier verkaufen will,
macht S die zuständigen Behörden darauf aufmerksam und verlangt,
dass diese unfaire Konkurrenz unterbunden werde. Die Behörde untersagt B daraufhin den Vertrieb seines Bieres in Deutschland. B meint,
ein solches Verbot sei im Binnenmarkt der EU gar nicht möglich.
Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren meint das zuständige Gericht,
dass diese Verfügung gegen den Grundsatz des freien Warenverkehrs
verstoßen könnte und daher möglicherweise rechtswidrig sei. Es legt
dem EuGH die Frage vor, ob Art. 34 AEUV dahingehend auszulegen
sei, dass er einem innerstaatlichen Verbot des Vertriebs von aus Frankreich importiertem Bier in Deutschland, das dem Reinheitsgebot nicht
entspricht, entgegensteht. Wie wird der EuGH entscheiden?
Lösungsskizze:
A. Zulässigkeit der Vorlage nach Art. 267 AEUV
Die Vorlage ist zulässig, wenn die Voraussetzungen des Art. 267 AEUV
erfüllt sind.
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I.
Zuständigkeit des EuGH (gegenüber dem Gericht) nach Art. 256 III
AEUV zuständig, soweit durch die Satzung nichts anderes festgelegt ist. Bisher keine anderweitige Regelung.
II. Vorlageberechtigt sind nur Gerichte. Hier problemlos, da das Verwaltungsgericht auf jeden Fall ein Gericht ist.
III. Vorlagegegenstand: Frage der Auslegung oder der Gültigkeit von
EU-Recht: Hier geht es um den Grundsatz der Freiheit des Warenverkehrs (Art. 34 AEUV) und seine Reichweite.
IV. Entscheidungserheblichkeit: Der Gerichtshof entscheidet nur, wenn
es auf die Beantwortung der Frage ankommt.
V. Vorlagepflicht (Art. 267 III AEUV): Dies gilt nur für letztlinstanzliche
Gerichte. Das Verwaltunggericht darf vorlegen, muss aber nicht.
VI. Vorlagefrage:
Ist Art. 34 AEUV dahingehend auszulegen, dass er einem Verbot des
Vertriebs von aus Frankreich importiertem Bier in Deutschland, das dem
Reinheitsgebot nicht entspricht, entgegensteht?
B. Prüfung der Vorlagefrage
Art. 34 AEUV steht dem Vertriebsverbot entgegen, wenn die Voraussetzungen der Vorschrift erfüllt sind: Art 34 AEUV muss anwendbar
sein, es muss eine mengenmäßige Beschränkung oder eine Maßnahme gleicher Wirkung gegeben sein und diese darf nicht gerechtfertigt
sein (vgl. Art. 36 AEUV).
I.
Anwendbarkeit des Art. 34 AEUV
Art. 34 AEUV muss anwendbar sein. Das setzt voraus, dass es
kein einschlägiges Sekundärrecht gibt und dass der sachliche
Anwendungsbereich gegeben ist.
1. Sekundärrecht, das auf den vorliegenden Sachverhalt anwendbar wäre, ist nicht ersichtlich.
2. Sachlicher Anwendungsbereich
Der sachliche Anwendungsbereich ist gegeben, wenn es sich
um Waren handelt, wenn eine staatliche Maßnahme vorliegt
und wenn ein grenzüberschreitender Sachverhalt gegeben ist.
a. Waren sind alle körperlichen Gegenstände, die Gegenstand
eines Handelsgeschäfts sein können. Bier ist eine Ware.
b. Staatliche Maßnahme: Hier geht es um ein von der Behörde
verhängtes Verbot es Absatzes des Bieres (+)
c. Grenzüberschreitender Bezug. Die Maßnahme betrifft importiertes Bier, also ist ein grenzüberschreitender Sachverhalt
gegeben.
3. Ergebnis: Art. 34 AEUV ist anwendbar.
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II. Mengenmäßige Beschränkung. Hierunter fallen Einfuhrverbote oder
Kontingentierungen der erlaubten Einfuhren. Dies ist hier nicht gegeben.
III. Maßnahme gleicher Wirkung.
Der Begriff der Maßnahme gleicher Wirkung ist zunächst sehr weit
zu verstehen. Nach der sog. „Dassonville-Formel“ fallen darunter
alle Maßnahmen, die direkt oder mittelbar, tatsächlich oder
potentiell den Fluss der Waren von einem zum andern Markt
beeinträchtigen. Nicht darunter fallen aber nach der späteren
Rechtsprechung des EuGH (Keck) solche Maßnahmen, die nur die
Verkaufsmodalitäten betreffen und nicht das Produkt selbst.
Schließlich hat der EuGH diese weite Formel auch insofern
eingeschränkt, als Maßnahmen, die nicht diskrimierend wirken, also
die eingeführte und inländische Waren gleichermaßen treffen, nur
dann Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige
Beschränkungen sind, wenn sie nicht durch zwingende
Erfordernisse des Gemeinwohls gerechtfertigt sind (Cassis-deDijon). Dabei muss die Verhältnismäßgkeit gewahrt sein.
1. Dassonville-Formel: Das Verbot, die importierte Ware in
Deutschland abzusetzen, beeinträchtigt zumindest mittelbar
und durchaus tatsächlich die Einfuhr des Bieres. Denn niemand
wird Bier nach Deutschland einführen, wenn er es nicht vermarkten kann.
2. Keck-Formel: Hier richtet sich die Maßnahme gegen Bier, das
nicht in einer bestimmten Weise gebraut wurde und demgemäß
andere als die in Deutschland erlaubten Stoffe enthält. Sie ist
also produktbezogen und nicht eine Modalität für den Verkauf,
wie es etwa die Ladenöffnungszeit wäre.
3. Die Maßnahme ist insofern nicht diskriminierend, als sie alles
Bier in Deutschland betrifft, also importiertes ebenso wie inländisches Bier. Fraglich ist aber, ob sie durch zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls gerechtfertigt ist. Als Begründung
des Reinheitsgebots wurden der Schutz der Gesundheit und
der Verbrauer angeführt.
a. Gesundheitsschutz und Verbraucherschutz sind Gründe des
Gemeinwohls, die als öffentliche Interessen dem Absatz von
Lebensmitteln entgegengesetzt werden können.
b. Fraglich ist indessen, ob diese Gründe hier einschlägig und
zu berücksichtigen sind. Denn es kann nicht davon ausgegangen werden, dass Bier, das in anderen Mitgliedstaaten
zulässigerweise auf den Markt kommt, die Gesundheit der
Deutschen beeinträchtige. Was den Verbraucherschutz betrifft, so ist das Anliegen, den Verbraucher nicht über die
Qualität des Bieres zu täuschen, durchaus beachtlich.
c. Verhältnismäßig ist eine Maßnahme nur, wenn sie geeignet,
erforderlich und angemessen ist. Das Verbot ist hier zwar
geeignet, aber eine entsprechende Kennzeichnung der Ware
wäre ein weniger einschneidendes Mittel.
4. Ergebnis: Das Reinheitsgebot und damit das darauf gestützte
Verbot der Vermarktung des aus Frankreich eingeführten Bieres in Deutschland sind nicht mit Art. 34 AEUV vereinbar.
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III. Rechtfertigung nach Art. 36 AEUV
Art. 36 AEUV sieht eine Rechtfertigung selbst für diskriminierende
Beschränkungen nach Art. 34 AEUV vor, soweit die hier genannten
Zwecke verfolgt werden. In Betracht kommt hier nur der
Gesundheitsschutz. Das hierfür keine Grundlage im Sachverhalt ersichtlich
ist, wurde bereits festgestellt. Daher kommt Art. 36 AEUV nicht zur
Anwendung.
IV. Ergebnis: Das Verbot verstößt gegen Art. 34 AEUV und ist nicht
nach Art. 36 AEUV zu rechtfertigen.
Antwort auf die Vorlagefrage:
Art. 34 AEUV ist dahingehend auszulegen, dass er einem Verbot des
Vertriebs von aus Frankreich importiertem Bier in Deutschland, das
dem Reinheitsgebot nicht entspricht, entgegensteht.
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