Kap. 1: Kompetenzgrundlagen und Strukturprinzipien • 2. Abschnitt: Europäisches Umweltrecht • 1. Primärvertragliche Grundlagen • zu den Tätigkeiten der Union gehört eine Politik auf dem Gebiet der Umwelt (vgl. Art. 3 Abs. 1 lit. l EG a.F.; vgl. auch Art. 2 EG a.F.: „ein hohes Maß an Umweltschutz“), hinsichtlich derer die Union ihre Zuständigkeit mit den Mitgliedstaaten teilt (vgl. Art. 4 Abs. 2 lit. e AEUV) • gemäß der unionsrechtlichen Querschnittsklausel (Art. 11 AEUV) ist die Umweltpolitik der Union Bestandteil aller anderen Unionspolitiken, d.h. ihre Ziele (vgl. Art. 191 AEUV) sind bei Maßnahmen in diesen Bereichen zu berücksichtigen Vorlesung „Internationales und europäisches Umweltrecht“ Sommersemester 2014 / Prof. Dr. Alexander Proelß Kap. 1: Kompetenzgrundlagen und Strukturprinzipien • die Querschnittsklausel führt mithin dazu, dass die umweltpolitischen Schutzgrundsätze (etwa das Vorsorgeprinzip) im Bereich der anderen Politiken als Abwägungsposition zu berücksichtigen sind; Art. 11 AEUV geht demnach über den Gehalt einer Unionszielbestimmung hinaus, wenn ihm auch kein genereller Vorrang des Umweltschutzes entnommen werden kann • der EuGH hat auf Art. 6 EG (= Art. 11 AEUV) u.a. Bezug genommen, um die Einbeziehung von Umweltschutzaspekten bei der Vergabe öffentlicher Aufträge nach unionsrechtlichen Vorschriften über das „wirtschaftlich günstigste Angebot“ zu rechtfertigen (Concordia Bus Finland) Vorlesung „Internationales und europäisches Umweltrecht“ Sommersemester 2014 / Prof. Dr. Alexander Proelß 1 Kap. 1: Kompetenzgrundlagen und Strukturprinzipien • • beachte zudem: der EuGH rechnet den Umweltschutz im Zusammenhang mit den Grundfreiheiten zu den zwingenden Erfordernissen des Allgemeinwohls, die zwischenstaatliche Handelshemmnisse rechtfertigen können (PreussenElektra; dänische Pfandflaschenregelung) 2. Rechts- und Kompetenzgrundlagen • Rechtsgrundlage der unionsrechtlichen Umweltpolitik ist Titel XX AEUV • Art. 191 AEUV formuliert die umweltpolitischen Ziele der Gemeinschaft, Art. 192 AEUV ermächtigt sie zum Erlass umweltbezogener Rechtsakte; Art. 193 AEUV bestimmt schließlich, dass die Mitgliedstaaten „verstärkte Schutzmaßnahmen“ beibehalten oder ergreifen können, soweit sie mit dem Vertrag vereinbar sind Vorlesung „Internationales und europäisches Umweltrecht“ Sommersemester 2014 / Prof. Dr. Alexander Proelß Kap. 1: Kompetenzgrundlagen und Strukturprinzipien • • „verstärkte Schutzmaßnahmen“ müssen mit dem AEU-Vertrag vereinbar sein und der Kommission mitgeteilt werden, vgl. Art. 193 Sätze 2 und 3 AEUV; die Notifizierung an die Kommission hat keine konstitutive Wirkung • beachte: der AEU-Vertrag enthält keine Definition von „Umwelt“; daher ist auf die allgemeine Definition zurückzugreifen, wonach „Umwelt“ i.S.v. Titel XX EG die Umweltmedien Luft, Boden, Wasser, die natürlichen Organismen einschließlich des Menschen sowie die Interdependenzen zwischen diesen und jenen erfasst zentrale Kompetenznorm des Titels XX AEUV ist Art. 192 Abs. 1 AEUV; sie betrifft sowohl die Verbands- als auch die Organkompetenz Vorlesung „Internationales und europäisches Umweltrecht“ Sommersemester 2014 / Prof. Dr. Alexander Proelß 2 Kap. 1: Kompetenzgrundlagen und Strukturprinzipien • Art. 192 Abs. 2 AEUV ist eine auf die aufgelisteten Ausnahmefälle bezogene lex specialis, die ein von Abs. 1 abweichendes Beschlussverfahren (bloße Anhörung des Parlaments; einstimmige Beschlussfassung im Rat) normiert • Art. 192 Abs. 3 AEUV ist Grundlage der allgemeinen Aktionsprogramme, in denen Maßnahmen, Ziele und Prioritäten der EU-Umweltpolitik für einen Zeitraum von 4-10 Jahren in allgemeiner Form festgelegt werden; der Inhalt der Aktionsprogramme ist im Außenverhältnis unverbindlich, muss aber durch Maßnahmen der Union, d.h. im Innenverhältnis verbindlich gemacht werden Vorlesung „Internationales und europäisches Umweltrecht“ Sommersemester 2014 / Prof. Dr. Alexander Proelß Kap. 1: Kompetenzgrundlagen und Strukturprinzipien • das 2002 beschlossene Sechste Aktionsprogramm mit einer Laufzeit von 10 Jahren gibt konkrete Umweltziele zu den vier Schwerpunktbereichen „Klimaänderungen“, „Natur und biologische Vielfalt“, „Umwelt und Gesundheit“ und „Lebensqualität, natürliche Ressourcen und Abfälle“ vor; kürzlich ist das Siebte Aktionsprogramm (bis 2020) in Kraft getreten) • eine weitere Konkretisierung erfolgt durch die Grünbücher der Kommission (Bsp.: Grünbuch „Die künftige Meerespolitik der EU“), die dann ihrerseits im Anschluss an eine Konsultationsphase durch konkrete verbindliche Maßnahmen umgesetzt werden sollen (aber: nicht umgesetzt werden müssen) Vorlesung „Internationales und europäisches Umweltrecht“ Sommersemester 2014 / Prof. Dr. Alexander Proelß 3 Kap. 1: Kompetenzgrundlagen und Strukturprinzipien • (P) Kompetenzabgrenzung • vertikal, d.h. gegenüber den Mitgliedstaaten • Reichweite der relevanten EU-Kompetenzen: ausschließliche, geteilte oder parallele Kompetenzen • auf dem Gebiet der Umweltpolitik ist die Zuständigkeit der Gemeinschaft konkurrierender Natur („geteilt“); dies stellt der AEUVertrag nunmehr ausdrücklich klar (vgl. Art. 4 Abs. 2 lit. e AEUV) und ergibt sich zudem aus Art. 193 AEUV • aber: auch im Falle geteilter Zuständigkeiten können die Mitgliedstaaten nur solange und insoweit tätig werden, als die Union auf dem betreffenden Tätigkeitsfeld untätig geblieben ist (vgl. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 AEUV) Sperrwirkung gemeinschaftlicher Rechtsetzungsaktivitäten (nachträgliche Ausschließlichkeit der Vorlesung „Internationales und europäisches Umweltrecht“ Unionskompetenz) Sommersemester 2014 / Prof. Dr. Alexander Proelß Kap. 1: Kompetenzgrundlagen und Strukturprinzipien • beachte: nach Art. 2 Abs. 2 AEUV nehmen „[d]ie Mitgliedstaaten […] ihre Zuständigkeit erneut wahr, sofern und soweit die Union entschieden hat, ihre Zuständigkeit nicht mehr auszuüben.“ • eine ausschließliche Kompetenz besteht hiernach im gesamten Bereich der Erhaltung der biologischen Meeresschätze im Rahmen der gemeinsamen Fischereipolitik (vgl. Art. 3 Abs. 1 lit. d AEUV) • horizontal, d.h. auf unionsrechtlicher Ebene • problematisch ist die Abgrenzung verschiedener unionsrechtlicher Kompetenzgrundlagen; dies gilt jedenfalls dann, wenn die parallel einschlägigen Kompetenznormen unterschiedliche Gesetzgebungsverfahren vorsehen Vorlesung „Internationales und europäisches Umweltrecht“ Sommersemester 2014 / Prof. Dr. Alexander Proelß 4 Kap. 1: Kompetenzgrundlagen und Strukturprinzipien • ordentliches Gesetzgebungsverfahren (vgl. Art. 289 AEUV): gemeinsame Handelspolitik (vgl. Art. 207 Abs. 2 AEUV), Binnenmarkt (vgl. Art. 114 Abs. 1 AEUV), transeuropäische Netze (vgl. Art. 172 AEUV), Umwelt (vgl. Art. 192 Abs. 1 AEUV), Energie (vgl. Art. 194 Abs. 2 AEUV), Entwicklungszusammenarbeit (vgl. Art. 209 Abs. 1 AEUV) • besondere Gesetzgebungsverfahren: Umwelt (vgl. Art. 192 Abs. 2 AEUV: Einstimmigkeit), Binnenmarkt (vgl. Art. 115 AEUV: Einstimmigkeit), Energie (Maßnahmen überwiegend steuerlicher Art, vgl. Art. 194 Abs. 3 AEUV: Einstimmigkeit), außergewöhnliche Maßnahmen bei Notlagen (vgl. Art. 122 AEUV: Ratsbeschluss) Vorlesung „Internationales und europäisches Umweltrecht“ Sommersemester 2014 / Prof. Dr. Alexander Proelß Kap. 1: Kompetenzgrundlagen und Strukturprinzipien • mögliche Lösungen: • Anordnung formeller Subsidiarität? i.d.R. nein • mit Blick auf Art. 114 AEUV (Binnenmarktharmonisierung Beseitigung von Wettbewerbshindernissen) ist nach Rechtsprechung des EuGH der Hauptzweck/Schwerpunkt der geplanten Maßnahme maßgeblich; dient der Rechtsakt in erster Linie umweltschutzpolitischen Zielen und nur mittelbar der Verwirklichung des Binnenmarkts, ist Art. 192 AEUV einschlägig (Bsp.: einheitliche Umweltqualitätsstandards) • wie aber etwa im Hinblick auf Art. 43 Abs. 3 AEUV? (Kompetenzabgrenzung Umweltschutz / Fischerei) Vorlesung „Internationales und europäisches Umweltrecht“ Sommersemester 2014 / Prof. Dr. Alexander Proelß 5 Kap. 1: Kompetenzgrundlagen und Strukturprinzipien • sinnvollste Lösung: Differenzierung zwischen sachlichgegenständlichen („engen“) und final umschriebenen („weiten“) Kompetenzgrundlagen • Anhaltspunkte für Vorliegen eines weiten (final-orientierten) Kompetenztitels • Existenz von Querschnittsklauseln (vgl. Art. 11 [Umwelt], Art. 114 Abs. 3 [Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz, Verbraucherschutz] und „Chapeau“ des Art. 194 Abs. 1 [Binnenmarkt und Umwelt] AEUV) • Vorbehalte zugunsten mitgliedstaatlicher Regelung („Souveränitätsvorbehalte“), vgl. Art. 194 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV (nicht aber Art. 193 AEUV!) Vorlesung „Internationales und europäisches Umweltrecht“ Sommersemester 2014 / Prof. Dr. Alexander Proelß Kap. 1: Kompetenzgrundlagen und Strukturprinzipien • • (nur) in dem Fall, dass eine Regelung in zwei verschiedene Kompetenztitel fällt, gilt der Vorrang der sachlich-gegenständlichen Kompetenznorm, da die Anforderungen der finalen umschriebenen Grundlagen ohnehin zu berücksichtigen sind (vgl. Art. 11 AEUV) Außenkompetenz (= Zuständigkeit für den Abschluss völkerrechtlicher Verträge) • Art. 191 Abs. 4 UAbs. 1 AEUV begründet keine Außenkompetenz der Gemeinschaft auf dem Feld der Umweltpolitik, sondern setzt diese voraus keine explizite Außenkompetenz der EU auf dem Gebiet des Umweltschutzes • aber: Außenkompetenz ist stets gegeben unter den Voraussetzungen von Art. 216 AEUV (implizite Außenkompetenzen) Vorlesung „Internationales und europäisches Umweltrecht“ Sommersemester 2014 / Prof. Dr. Alexander Proelß 6 Kap. 1: Kompetenzgrundlagen und Strukturprinzipien • beachte: auch nach dem Vertrag von Lissabon ist die Frage der vertikalen Abgrenzung der Außenkompetenzen nicht eindeutig geregelt • Art. 3 Abs. 2 AEUV lautet: „Die Union hat ferner die ausschließliche Zuständigkeit für den Abschluss internationaler Übereinkünfte, wenn der Abschluss einer solchen Übereinkunft in einem Gesetzgebungsakt der Union vorgesehen ist, wenn er notwendig ist, damit sie ihre interne Zuständigkeit ausüben kann, oder soweit er gemeinsame Regeln beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern könnte.“ Vorlesung „Internationales und europäisches Umweltrecht“ Sommersemester 2014 / Prof. Dr. Alexander Proelß Kap. 1: Kompetenzgrundlagen und Strukturprinzipien • richtig wohl: einschränkende Auslegung, da Art. 3 Abs. 1 AEUV die Bereiche auflistet, in welchen die Gemeinschaft über eine ausschließliche Zuständigkeit verfügen soll Vorlesung „Internationales und europäisches Umweltrecht“ Sommersemester 2014 / Prof. Dr. Alexander Proelß 7