Gebet und Engagement – Christen mischen sich ein

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Christen mischen sich ein - mit Gebet und Engagement
Berlin, 1. Mai 2005, gespannte Ruhe am Morgen dieses sonnigen Frühlingstages,
der seit 18 Jahren für inzwischen rituell anmutende Gewaltausbrüche auf der
Straße berüchtigt ist. Stände mit politischen Infos, Kinderspielen oder Döner
werden rund um den Mariannenplatz mitten in der Kreuzberger „Szene“
aufgebaut. Vorbereitungen für das „Myfest 2005“, eine Initiative von Anwohnern,
Geschäftsleuten und Parteien im Bezirk, um in der traditionellen
„Randalegegend“ Akzente für ein friedlicheres Miteinander zu setzen.
Ungewohnte Klänge kommen von der großen Bühne vor dem beeindruckenden
Portal der St.-Thomas-Kirche: Soundcheck einer Rockband, die von Gott, Jesus
und Frieden singt. Vorbereitungen für den Open-air-Gottesdienst der Initiative
Gemeinsam für Berlin zusammen mit dem „Jugendgebetskonzert“.
Rock gegen Gewalt
Es soll speziell für den Frieden in der Stadt an diesem Tag gebetet werden. Um
11 Uhr sind fast 1.000 Menschen aus allen Teilen der Stadt da, aus
verschiedenen Konfessionen und Traditionen, um miteinander an diesem
gesellschaftlich brisanten Ort Gottesdienst zu feiern. Eine besondere Art des
politischen Gebets und der Einmischung vor Ort! Etwa 120 Kinder verfolgen
gespannt das gleichzeitige Programm in der Kirche. Weitere Aktionen folgen
während des Tages: leere Flaschen und Dosen, also mögliche „Wurfgeschosse“,
werden von Jugendgruppen entsorgt; Gemeinde-Bands lassen beim Straßenfest
christliche Lieder hören; kleine Betertrupps sind am Nachmittag und Abend in
den besonders von Gewaltausbrüchen bedrohten Straßen unterwegs. Alle
Beteiligten sind mit den Berlinern gespannt, ob es in diesem Jahr gelingt, der
Gewalt Einhalt zu bieten.
Politisch und fromm
Dieser 1. Mai macht deutlich, dass die alten Einteilungen offenbar nicht mehr
gelten: hier links, liberal und politisch-gesellschaftlich orientiert - dort fromm und
konservativ, auf Gebet und Mission fokussiert, aber unpolitisch. Die „Frommen“,
oft pauschal Evangelikale genannt, entdecken in zunehmendem Maß ihre
gesellschaftliche und politische Verantwortung. Die „Liberalen“ in den Kirchen
(auch eine nicht immer zutreffende Schublade) wenden sich wieder mehr dem
„Kerngeschäft“ des Glaubens zu, betonen Spiritualität und Verkündigung.
„Mission“ ist bei vielen von ihnen nicht mehr etwas, von dem man sich mit
Bedacht absetzt, sondern Hauptauftrag der Kirche. Genauso wie bei den anderen
„Politik und Gesellschaft“ nicht mehr zu vernachlässigende Nebensache sind,
sondern Konsequenz von Glauben und Gebet. Nun ist es nicht etwa so, dass
lediglich der kleinste gemeinsame Nenner zwischen den früher unvereinbaren
Positionen gesucht würde. Nein, es gibt eine wirkliche Bewegung zur Mitte und
zur Ganzheitlichkeit des christlichen Glaubens hin. Das lässt für die Zukunft eines
gesellschaftsrelevanten und zugleich missionarischen Christentums in unserem
Land hoffen.
Mit Gebet fängt alles an
„Schuster bleib bei deinem Leisten“ werden Kirchen und Christen öfter von außen
gemahnt. Die Chancen dieser Konzentration der Kompetenz werden wieder mehr
wahrgenommen, wenn auch in unterschiedlicher Gestalt: zum Glauben einladen,
Gottes Liebe erfahrbar machen, biblische Werte vermitteln. Zum Kern christlicher
Spiritualität gehört ohne Zweifel auch das Gebet. „Gebet ist ein Dienst, der durch
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nichts ersetzt werden kann“ ist ein gern zitierter Satz. In den letzten etwa fünf
Jahren hat die Zahl der Initiativen und Aufrufe zum Gebet für unser Land stark
zugenommen. Dabei geht es nicht allein um den guten Brauch des sonntäglichen
Fürbittengebets. Der Einzelne ist vielmehr aufgerufen, in gesonderten
Veranstaltungen oder zu hause sehr konkret zu beten: für mehr christliche Werte
in der Politik, für Veränderung in den gesellschaftlichen Problembereichen
unseres Landes oder etwa für das Klima an den Schulen oder das Wohl seiner
Kommune.
Kreative Vielfalt
Es haben sich vielfältige Formen entwickelt. Kreative Elemente und gut
aufbereitete Informationen gehören in der Regel dazu. Es gibt
Gebetsbewegungen, die Politik und gesellschaftliche Entwicklungen im ganzen
Land in den Blick rücken und dazu schriftliche Anleitungen versenden (z. B.
Gebet für das Land, Der Wächterruf, 40 Tage beten und fasten für unser Land).
Stadtgebets-Gottesdienste (etwa in Frankfurt/M., Nürnberg, Berlin) und
regionale Gebetstage (z. B. am 3. Oktober) sind eher kommunal ausgerichtet.
Eine spezielle Form für jüngere Menschen sind die Jugendgebetskonzerte (auf
Kongressen, als übergemeindliche Stadtinitiativen oder in Ortsgemeinden). Hier
mischt sich viel gesungenes Lob Gottes mit konkreten Fürbitteteilen in kleinen
Gruppen. Die jungen Leute beten mit Hingabe z. B. für das Bildungswesen, eine
neue Wertorientierung ihrer Generation oder den Abbau der Arbeitslosigkeit. Das
Gebetsfrühstück gibt es nicht nur im Deutschen Bundestag, sondern auch für
Verantwortliche aus christlichen Kirchen und Werken, für bestimmte
Berufsgruppen und für Journalisten. In Berlin treffen sich z. B. rund 120
christliche Verantwortungsträger zwei Mal im Jahr, ein Mal davon im Festsaal des
Roten Rathauses, dem Sitz des Regierenden Bürgermeisters.
Ansichtssache vor Ort
Letzteres kennzeichnet einen Trend: Gebet findet nicht mehr nur in
Gottesdiensten, Gebetsstunden oder „im stillen Kämmerlein“ statt, sondern an
relevanten Orten, für die man besonders um Gottes Segen bitten will. Auch das
Gebet auf der Straße oder vor öffentlichen Gebäuden wird eine zunehmend
praktizierte Form. Fokus kann die eigene Wohnstraße, ein sozial schwieriger
Stadtteil, eine Schule o. a. sein. Solche Gebetsgänge beginnen in der Regel
unauffällig ohne Öffentlichkeit. Immer öfter aber erbitten (und bekommen)
Christen auch einen Raum zum gemeinsamen Gebet in ihrer Firma, Verwaltung,
Uni oder Schule. Warum soll auch Christen verwehrt sein, was Moslems zusteht?
Ein weiterer Schritt kann ein Gebetsgottesdienst auf einem öffentlichen Platz sein
(u. a. Frankfurt/M. an jedem 3. Oktober oder beim Jesus-Tag am 11. September
2004 vor dem Brandenburger Tor mit 40.000 Teilnehmern oder bei Dorffesten).
Nicht selten werden Kommunalpolitiker um die Nennung von speziellen
Herausforderungen und Problemen ersucht, für die sie Veränderung erhoffen.
Gelegentlich folgen Politiker/innen auch persönlich der Einladung, auf
Gebetsveranstaltungen ihre Sicht der Nöte und Herausforderungen darzustellen
(dafür müssen sie nicht notwendig selber einen Zugang zum Gebet haben).
Von Teilnehmern wird häufig berichtet, dass ihre persönliche Betroffenheit von
einer Not oder ihre persönliche Identifikation mit den Problemen ihrer Kommune
durch die konkrete Anschauung vor Ort erheblich steigt. Gewiss ist das Gebet
zuerst auf die Erwartung des verändernden Eingreifens Gottes gerichtet. Aber im
zweiten Schritt fördert Gebet durchaus politisches Bewusstsein und
bürgerschaftliches Engagement. Denn wer ernsthaft betet, kann sich selber als
Gottes „Erfüllungsgehilfe“ nicht ausschließen.
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Segnen statt Meckern
Bis vor kurzem waren christliche Kreise eher für ihr Misstrauen gegenüber den
politisch Verantwortlichen bekannt. Kritik, nicht immer sachlich fundiert, an den
Entscheidungen der Herrschenden, ob links oder rechts, führte eher zu Distanz
denn zu Solidarität. Glücklicherweise hat sich das zu ändern begonnen – und es
muss weiter gehen in Richtung auf eine kritische Solidarität. Wer vor Gott für die
demokratisch gewählten Vertreter/innen in Kommune, Land, Bund und Europa
eintritt, kann nicht in einer meckernden Distanz verharren. Es muss uns um
politische Weisheit und um das persönliche Wohlergehen jedes einzelnen
politisch Verantwortlichen gehen. Es muss uns um Gottes Gunst und Segen für
unsere Stadt bzw. das Land gehen. Aus dem biblischen Verständnis der Obrigkeit
als Gottes Werkzeug werden wir selbstverständlich auch für Männer und Frauen
in politischen Ämtern beten, deren politische Meinung wir nicht teilen. Wir
unterscheiden zwischen Amt und Mandat auf der einen Seite und politischer
Partei und Position auf der anderen. Deswegen gilt für politisch wache
Beter/innen sicherlich der Grundsatz: nicht zuerst fordern, sondern fördern; nicht
meckern, sondern segnen.
Gottes gute Absichten
Apropos Segen: In welche Richtung von Veränderung soll man denn beten? Was
erwarten glaubende und auch für Politik und Gesellschaft betende Christen als
Gebetserhörung? Gewiss sollen ernsthaft betende Menschen nicht ihre private
politische Einschätzung in Bittgebete kleiden. Auch gehören besserwisserische
Ratschläge nicht hinein. Dennoch legen Gläubige, denen das Wort Gottes als
Richtschnur gilt, diese selbstverständlich auch an politisches Beten und Handeln
an. Kriterien sind das christlich-jüdische Menschenbild und die Leben fördernden
Maßstäbe der Bibel. Ohne fundamentalistische Engführung können sie die
Richtung für unser Beten angeben. Ebenso können sie auch als Kriterien an die
Programmatik der Parteien angelegt werden. So lagen den „Wahlprüfsteinen“
der Deutschen Evangelischen Allianz die Zehn Gebote als Leitlinie zugrunde.
Gewiss ist weder vom Handeln der Parteien noch von der Wirkung unserer
Gebete eine 1:1-Umsetzung christlicher Werte in politisches Handeln zu
erwarten. Aber eine deutliche Richtung wird dennoch gewiesen.
Das bedeutet nun für das politisch-gesellschaftliche Beten:
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Es muss gut informiert und nicht „blauäugig“ sein.
Es soll politischen Realismus atmen und nicht Utopie.
Es soll pro und nicht contra sein – insbesondere im Bezug auf die politisch
handelnden Personen.
Es darf mutig in der konkreten Erwartung und dennoch offen für Gottes
Überraschungen sein.
Es ist auf die heilsamen Absichten Gottes für Individuen und das
Gemeinwesen ausgerichtet.
Es betet Segen, Frieden und Gelingen hinein in das oft mühsame politische
Alltagsgeschäft.
Es ruft Gottes Schutz vor Terroranschlägen und Krisen über unserem Land
und seinen Mandatsträgern aus.
Es ist nicht auf vordergründige Erfolge, sondern auf das Kommen des
Reiches Gottes hin orientiert und weiß daher um den Unterschied zwischen
Vorläufigem und Ewigem.
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Ganzheitlicher Glaube und bürgerschaftliches Engagement
Selbstverständlich wird das Gebet eingebettet sein in einen ganzheitlichen
Glaubensvollzug. Das ist nicht nur der Glaubwürdigkeit von Christen und Kirchen
zuträglich, sondern vom Auftrag des Evangeliums her unabdingbar. Zum klaren
Wort der Verkündigung gehört der einladende Lebensstil. Zum Wortzeugnis vom
in Christus rettenden Gott gehört das Sichtbarmachen der Liebe Gottes durch
gute Taten. Mund und Hand, Reden und Handeln sind von der Bibel her längst
eine Einheit, lange bevor „Ganzheitlichkeit“ als moderner Begriff da war.
Gelegentlich brauchen Einzelne und Gemeinden hier noch Ermutigung, das auch
konsequent und kreativ auszuleben.
In Zeiten leerer werdender öffentlicher (und kirchlicher) Kassen bieten sich neue
Chancen für das ehrenamtliche Engagement im sozialen Bereich. Die
Professionalisierung und Staatsfinanzierung der Diakonie hat leider auch eine
weitgehende Abkopplung der praktischen Nächstenliebe vom Gemeindeleben
bewirkt. Diese Tendenz wird in den nächsten Jahren zu einem Teil wieder
umgekehrt werden müssen. Das kann man bedauern. Man kann es aber auch als
neue Chance für das freiwillige bürgerschaftliche Engagement nutzen, das im
kirchlichen Raum ehrenamtlicher Dienst heißt. Die öffentliche Hand empfängt
derartige Initiativen mit offenen Armen (was nicht unbedingt heißt mit
Zuschüssen). Hier ist Phantasie des Glaubens gefragt. Beispiel gebend etwa eine
lebendige freikirchliche Gemeinde in Berlin-Spandau, die sich in der
Stadtteilkonferenz engagiert und substanzielle Hilfe für Kinder und Jugendliche in
einem sozial schwierigen Kiez leistet. Nach Aussage von Fachleuten verspricht
die Christliche Freiwilligenagentur des ökumenischen Netzwerks Gemeinsam für
Berlin ein Modellprojekt zu werden. Sie vermittelt Freiwillige aus Gemeinden und
darüber hinaus möglichst passgenau in soziale Projekte. Durch praktische Hilfe
für bedürftige Menschen wird Menschlichkeit und Nächstenliebe sichtbar. Die
Agentur hilft auch bei der Verwirklichung eigener Projektideen, z. B.
Schularbeitenhilfe für Migrantenkinder in der Schule um die Ecke von der Kirche.
Selbstverständlich spielen auch Gebetsgruppen und Gottesdienste als Angebot
eine Rolle.
Veränderung wird möglich
Die genannten Beispiele mögen die Phantasie anregen, wie Gebet und
Engagement ineinander wirken und unsere Umgebung positiv verändern können.
Genau so wie der freiwillige soziale Dienst ist natürlich auch das Engagement in
der Politik ein extrem fordernder ehrenamtlicher oder beruflicher Dienst an der
Gemeinschaft, der nicht hoch genug zu schätzen ist. Politiker/innen in
Kommunen, Ländern und Bund sollen sich auf die gläubigen Christen verlassen
können. Kritische Solidarität, Dank und Anerkennung für ihren stellvertretenden
Dienst, Unterstützung durch konkrete Fürbitte, schließlich hier und da auch
eigenes Engagement in Parteien und staatlichen Institutionen sind Formen, die
bereits gelebt werden und in Zukunft noch ausgebaut werden können.
Am Schluss zurück zum 1. Mai 2005. „Der friedlichste 1. Mai seit fast 20 Jahren“
titelten die Zeitungen am nächsten Morgen. Politik, Polizei, Bürger und Medien
waren sich einig: die kluge Taktik der Polizei zusammen mit dem
Friedensengagement der Bürger waren erfolgreich. Zu den letzteren zählen sich
auch die Christen, die sich eingemischt haben und öffentlich betend für den
Frieden der Stadt eingetreten sind. Dazu gehören ebenso die jungen Leute, die
„Munition“ in Form von Flaschen entsorgt haben und auf der Straße musizierten -
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und die Beter, die in der Szene unterwegs waren. Die Gebetserhörungen waren
tatsächlich in der Zeitung zu lesen.
Mut machend und weit greifend schreibt Joseph Kardinal Ratzinger, jetzt Papst
Benedikt XVI., in seinem Anfang 2005 erschienenen Buch „Werte in Zeiten des
Umbruchs“ (S. 88): „Die gläubigen Christen sollten sich als … schöpferische
Minderheit verstehen und dazu beitragen, dass Europa das Beste seines Erbes
neu gewinnt und damit der ganzen Menschheit dient.“ Darum lohnt es sich,
mutig zu beten und beherzt zu handeln.
Der Autor: Axel Nehlsen, verheiratet, drei erwachsene Kinder, evang. Pfarrer,
derzeit hauptamtlicher Geschäftsführer von Gemeinsam für Berlin e. V., einem
überkonfessionellen Netzwerk für Mission und gesellschaftliches Engagement,
tätig in den Vorständen der Berliner und der Deutschen Evang. Allianz
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