Das Bildungssystem der DDR zwischen Anspruch und Wirklichkeit [Literatur zum Thema am 9. 05.] Oskar Anweiler: Schulpolitik und Schulsystem in der DDR, Opladen 1988. 1. Einleitung (S.9) 1.1 Gesichtspunkte für ein Studium des Schulwesens der DDR Die als Folge des zweiten Weltkrieges vollzogene staatliche Teilung Deutschlands ist auch für die Betrachtung der Schulentwicklung in der Deutschen Demokratischen Republik von grundlegender Bedeutung. Im Unterschied zu wissenschaftlichen Analysen anderer Bildungssysteme haben wir es bei der Behandlung der DDR insofern mit einem Sonderfall zu tun, als - die gemeinsame geschichtliche Vergangenheit und die fortbestehende sprachlichkulturelle Gemeinsamkeit eine größere geistige Nähe bedingen, - im Gegensatz dazu jedoch die politisch-ideologischen Systemunterschiede mitten in Deutschland häufig eine gegenseitige Entfremdung bewirken. Beide Momente beeinflussen in starkem Maße den „deutsch-deutschen“ Vergleich. Es ist zwar nicht unsere Aufgabe und Absicht, einen Vergleich des Schulwesens in beiden deutschen Staaten vorzunehmen, aber es liegt auf der Hand, daß ein „impliziter Vergleich“ nicht ausgeschlossen werden kann. Es gehört zu den Besonderheiten der Beschäftigung mit einem anderen als dem eigenen Bildungssystem, daß bestimmte Probleme aus dem eigenen Erfahrungszusammenhang den Anstoß zum „Blick über die Grenzen“ geben können, wie umgekehrt die woanders ermittelten Sachverhalte auf die eigene Situation bezogen werden. Im Falle der DDR liegt das aus den genannten Gründen besonders nahe. […] (S.9) Die Bildungspolitik in der DDR ist ähnlich wie diejenige anderer moderner Staaten mit Problemen konfrontiert, die sich aus der Dynamik der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung, aus den Bildungsbedürfnissen der Bevölkerung oder aus veränderten ideellen Werten ergeben, z.B. mit - der Spannung zwischen Breiten- und Spitzenförderung, - dem optimalen Verhältnis von allgemeiner schulischer Grundbildung und beruflichfachlicher Ausbildung, - dem Problem einer nicht zu übersehenden Entfremdung vieler Jugendlicher von der geltenden gesellschaftlichen und politischen Ordnung, um drei ganz verschiedene Beispiele zu nennen. (S.9) Ein Studium des Schulwesens in der DDR muß daher neben dem zuerst genannten besonderen deutschen Blickwinkel den übergreifenden Zusammenhang moderner Bildungsprobleme berücksichtigen, die in der DDR auf eigene Weise zu lösen versucht werden: der deutsche Aspekt muß durch einen internationalen ergänzt werden. (S.9, 10) Es muß aber noch ein dritter Gesichtspunkt genannt werden, den man als einen theoretischsystematischen bezeichnen kann. Die Beschäftigung mit dem Schulwesen in der DDR kann sich auch von der Frage leiten lassen, welchen Beitrag die dort gemachten Erfahrungen zu einer allgemeinen Klärung pädagogischer Sachverhalte leisten können, etwa zu folgenden: - zur inhaltlichen Bestimmung und formalen Struktur des Begriffs der „Allgemeinbildung“, - zum Konzept eines „erziehenden Unterrichts“, - zu einer Schultheorie, welche die Schule als einen „eigenständigen Lebensraum“ für Kinder und Jugendliche definiert, um wiederum nur drei Beispiele zu nennen. […] (S.10) Die drei hier unterschiedenen Gesichtspunkte – der spezifisch deutsche, der internationale und der theoretisch/systematische – lassen sich nicht scharf voneinander trennen. Bei der folgenden Darstellung und bei der Auswahl bestimmter Probleme spielte die Tatsache eine wichtige Rolle, daß es sich bei der Schule in der DDR um eine in der deutschen Schulgeschichte verankerte Institution handelt, die auch Jahrzehnte nach der deutschen Teilung diese historische Verwurzelung nicht verleugnen kann und will. Zum andern bildet die Zugehörigkeit der DDR zum „sozialistischen Staatensystem“ auch für die Bildungspolitik und die Gestaltung des Schulwesens einen stets vorhandenen, wenn auch im einzelnen unterschiedlich starken Einflußfaktor, und zwar nicht nur in der ideologischen Legitimationssphäre, sondern auch in praktischer Hinsicht. Im offiziellen Selbstverständnis gilt das heutige Schulwesen in der DDR als Erbe aller „fortschrittlichen pädagogischen Ideen“ der Vergangenheit und als Glied eines noch in der Entwicklung befindlichen „sozialistischen Weltsystems der Pädagogik“, dem alle Staaten zugerechnet werden, in denen kommunistische Parteien an der Macht sind. Die Frage nach den jeweiligen „nationalen Besonderheiten“ im Rahmen „allgemeiner sozialistischer Gesetzmäßigkeiten“ dient dabei einer historischen Ortsbestimmung der Schule und Pädagogik in der DDR und zugleich ihrer Abgrenzung gegenüber der „imperialistischen Pädagogik“, die an der Westgrenze der DDR beginnt. In unserer Darstellung werden beide Gesichtspunkte zu berücksichtigen sein: die Schule in der DDR als ein Teil der deutschen Schulentwicklung und gleichzeitig als Glied sozialistischer Bildungssysteme. (S.10) Der schon erwähnte systematische Gesichtspunkt beim Studium des Schulwesens in der DDR gehört in den Zusammenhang einer Theorie des Bildungswesens und einer Theorie der Schule. Beides muß voneinander abgehoben werden, auch wenn die Grenzen fließend sind und in der Fachliteratur nicht immer deutlich gezogen werden. Vereinfacht ausgedrückt, behandeln wissenschaftliche Arbeiten zur Theorie des Bildungswesens die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Bedingungen, die rechtlichen und organisatorischen Formen sowie die verschiedenen Funktionen des Bildungswesens als einer in sich differenzierten Institution, während eine Theorie der Schule vor allem auf den „pädagogischen Kern“ abzielt, also auf Lern- und Erziehungsprozesse, Lehrinhalte und Curricula, Lehrer-Schüler-Interaktionen innerhalb des institutionellen Rahmens der Schule. Die Vielzahl konkurrierender schultheoretischer Ansätze in der [BRD] kontrastiert auffallend mit dem Fehlen einer expliziten Theorie der Schule in der DDR. Das dürfte wissenschaftsimmanente, aber auch gesellschaftspolitische Gründe haben, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden soll; jedenfalls fehlt bisher die Möglichkeit, eine spezifische „sozialistische Schultheorie“ bei der Analyse des Schulwesens in der DDR heranzuziehen. Für eine sozialistische Theorie des Bildungswesens liegen zumindest bildungssoziologische Ansätze vor. (S.10, 11) Die folgende Darstellung sucht die Mitte zu halten zwischen der Behandlung des Schulwesens als einer gesamtstaatlichen Institution und der Untersuchung bestimmter schulpädagogischer Probleme, wie sie in der einzelnen Schule auftreten. Sie legt den Nachdruck auf die Schulpolitik, d.h. auf die politische Gestaltung des Schulwesens im ganzen, und stellt das Schulsystem dar, aber nicht nur in seinem formalen Aufbau, sondern auch in den dort ablaufenden Prozessen; diese wiederum spielen sich auf verschiedenen Ebenen, bis zur konkreten Einzelschule, und eingebettet in verschiedene außerschulische Zusammenhänge ab. „Systeme“ der Bildung und Erziehung bilden nur den Rahmen für Prozesse, sie sind keine statischen Größen, und es wäre falsch anzunehmen, daß das Schulsystem der DDR davon eine Ausnahme machte. (S.11) Der Ausdruck „Schulsystem“ wird hier synonym mit „Schulwesen“ gebraucht, weil mögliche terminologische Unterschiede, die sich aus Anleihen bei der Systemtheorie ergeben könnten, für unseren Zweck ohne Bedeutung sind. Ähnlich verfahren wir bei der Verwendung der Ausdrücke „Bildungssystem“ und „Bildungswesen“. Der Sprachgebrauch ist sowohl international als auch national – in beiden deutschen Staaten – nicht einheitlich, und alle Versuche, zu Standardisierungen zu kommen, sind bisher wenig erfolgreich geblieben. In der DDR spricht man seit 1965 vom „einheitlichen sozialistischen Bildungssystem“ als der Gesamtheit (nahezu) aller staatlichen Bildungseinrichtungen, sogar unter Einschluß kultureller Einrichtungen; dadurch soll auch der Eindruck der planmäßigen Organisation, der Geschlossenheit und funktionalen Abstimmung erweckt werden. Gleichzeitig wird aber der Ausdruck „Volksbildungswesen“ oder synonym „System der Volksbildung“ in einem eingeschränkten Sinne, nämlich für das allgemeinbildende Schulwesen, die Kindergärten, die Volkshochschulen und die Lehrerbildung, verwendet; davon unterschieden wird das „System der Berufsbildung“ sowie das Hoch- und Fachschulwesen. Diese Dreiteilung ergibt sich aus der entsprechenden Aufteilung in drei Verwaltungsressorts und hat, wie der Ausdruck „Volksbildung“ zeigt, darüber hinaus auch historische Wurzeln allgemeiner Art. (S.11) Die vorliegende Darstellung behandelt im wesentlichen das allgemeinbildende Schulwesen, welches den Kern des Bildungssystems ausmacht, aber sie berücksichtigt auch die Beziehungen der allgemeinbildenden Schule zur vorgelagerten Vorschulerziehung und den anschließenden Bildungsbereichen, besonders zur beruflichen Ausbildung. […], zumal das Bildungswesen in seiner Gesamtheit in dem Handbuch von Dietmar Waterkamp im Überblick dargestellt worden ist. (S.11) 1.2 Methodische Probleme und Forschungsstand (S.12) Aus politischen Gründen wird Besuchern aus der [BRD] und dem Ausland der unmittelbare Zugang und ein Einblick in das Schulwesen der DDR erschwert oder ganz verwehrt; systematisch angelegte „Feldstudien“ unabhängiger Wissenschaftler, die sich mit dem Bildungssystem der DDR beschäftigen, können nicht unternommen werden. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Schulwesen der DDR ist daher so gut wie ausschließlich auf schriftliche Quellen verschiedener Art angewiesen: bildungspolitische Verlautbarungen, Schulgesetze und -verordnungen, Lehrpläne, methodische Handbücher und Schulbücher, wissenschaftliche Abhandlungen, Praxisberichte, statistische Daten. […] (S.12) Die skizzierte Quellenproblematik hat dazu geführt, daß seit einigen Jahren in zunehmendem Maße auch die Belletristik, der Spielfilm und das Fernsehen, die relativ häufig Erziehungsund Schulprobleme behandeln, als „Quelle“ herangezogen werden. Hier entstehen natürlich methodische Probleme anderer Art, die aus der Tatsache resultieren, daß erzählende Literatur oder Film ihren eigenen „Gesetzen“ folgen und deshalb nicht als „Abbildungen von Realitäten“, sondern nur als „Indikatoren für Realitäten“ gewertet werden dürfen. Trotzdem ermöglichen solche Medien einen anschaulichen Zugang zu Schulproblemen in der DDR, sie tragen vor allem zu einer differenzierten Betrachtungsweise bei. Mündliche Informationen bei wechselseitigen Besuchen erfüllen ähnliche Funktionen, können aber nur sehr bedingt als wissenschaftlich verwertbare Quelle betrachtet werden. (S.12) Auf einen anderen, oft übersehenen Umstand beim Umgang mit schriftlichen Quellen aus der DDR muß ebenfalls hingewiesen werden: Wir haben es in den amtlichen Verlautbarungen, aber auch in Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften und bei anderen Textarten mit einer kontrollierten und gesteuerten Sprache zu tun. Das hängt mit der staatlichen Zensur und mit der Selbstzensur der Autoren zusammen. Die abstrahierende und verschleiernde Sprache der meisten offiziellen Dokumente beruht auch auf der Scheu, Meinungsgegensätze oder Konflikte nach außen dringen zu lassen; dadurch kann der falsche Eindruck harmonischer Übereinstimmung oder geradliniger Folgerichtigkeit entstehen […]. Es muß also eine „Dechiffrierung“ bestimmter stereotyper Sprachmuster und -wendungen vorgenommen werden, um zu dem Kern eines Problems vorzudringen; in Jahrzehnten eingeübte ideologische Formeln haben für die Eingeweihten auch bestimmte politische Signalwirkungen. […] (S.12, 13) Hinzu kommt der Bedeutungswandel wichtiger pädagogischer Begriffe, die zwar aus der deutschen bildungsgeschichtlichen Überlieferung stammen, die aber […] durch neue Entwicklungen oder den Einfluß ausländischer Vorbilder ihren Inhalt verändert haben. […] Eine völlige Verschiebung ergab sich 1959, als die Bezeichnung „Oberschule“ für die gesamte allgemeinbildende Schule ab Klasse 1 eingeführt wurde; unterhalb der Oberschule existiert in der DDR kein anderer Schultyp. Hier lag die Absicht zugrunde, den alten Unterschied von „Volksschule“ und „Höherer Schule“, der schon 1946 durch die Einführung des Einheitsschulmodells beseitigt werden sollte, auch terminologisch endgültig aufzuheben. (S.13) […] Am Anfang der Beschäftigung mit Erziehungs- und Bildungsproblemen in der „Sowjetzone“, wie die DDR noch bis in die sechziger Jahre meistens genannt wurde, durch westdeutsche Autoren standen praktische Informationsbedürfnisse und politische Interessen. Das galt ähnlich auch für die Beobachtung der Entwicklung in anderen Lebensbereichen, z.B. im Rechtswesen oder in der Wirtschaftsstruktur. Später hat man von einem „vorwissenschaftlichen“ Stadium der DDR-Forschung gesprochen und das starke politische Engagement mancher ihrer Vertreter kritisiert. Letzteres beruhte z.T. auch auf eigenen leidvollen Erfahrungen mit dem kommunistischen Regime in der SBZ/DDR, und diese flossen in die Beurteilung mit ein. Aus dieser ersten Phase, den fünfziger Jahren, stammen auch zwei konzeptionelle Modelle, mit deren Hilfe die Entwicklung in der SBZ/DDR, darunter auch im Bildungs- und Erziehungswesen, analysiert wurde: dasjenige der „totalitären Erziehung“ im Rahmen eines allgemeinen Totalitarismus-Konzepts und die These einer „Sowjetisierung“ des deutschen Bildungswesens und der Pädagogik. Beide Konzepte hängen zusammen; sie beton- ten die entscheidende Rolle der am Vorbild der Sowjetunion orientierten Politik der SED an der radikalen Umgestaltung des Schul- und Hochschulwesens und kritisierten die „totale Politisierung“ der Erziehung sowie die Unterdrückung demokratischer Ideen, wie sie in der sowjetischen Besatzungszone nach Kriegsende bei der damaligen Schulreform wirksam gewesen waren. (S.13, 14) Dieser ersten Phase einer politisch engagierten Beschäftigung mit der Schule und Erziehung in der DDR folgte seit Anfang der sechziger Jahre eine vielleicht als positivistische Bestandsanalyse zu bezeichnende neue Perspektive. Sie hing zusammen mit der seit dem Bau der Berliner Mauer […] veränderten Situation in Deutschland, mit dem Beginn einer dezidierten Bildungsreformpolitik in der Bundesrepublik und mit einem erweiterten wissenschaftlichen Ansatz, der vergleichenden Bildungsforschung, anstelle der verkürzt als „Ostpädagogik“ bezeichneten früheren Richtung. Das Bildungssystem der DDR wurde jetzt vor allem unter Fragestellungen analysiert, die den politisch-ideologischen Aspekt zwar nicht ganz ausklammerten, aber zurückstellten, um stattdessen „systemübergreifende“ Bezüge zu betonen und das Bildungswesen der DDR in seiner realen Funktionsweise zu erklären. Den allgemeinen theoretischen Hintergrund bildeten einmal die „systemimmanente“, d.h. nicht ausdrücklich an den Wertvorstellungen westlicher Demokratien orientierte Betrachtungsweise, zum andern die Elemente einer „Konvergenztheorie“, unter der die Vorstellung einer allmählich sich vollziehenden Annäherung der antagonistischen Systeme in Ost und West in praktischer Hinsicht zu verstehen ist, und zwar aufgrund bestimmter technisch-ökonomischer „Zwänge“. Die Basis solcher Annahmen war das Konzept der „Industriegesellschaft“, welches die politischideologischen Systemunterschiede gleichsam überwölbte. (S.14) Das Resultat dieser bis etwa zur Mitte der siebziger Jahre vorherrschenden Optik waren zahlreiche Studien, die das Bildungswesen der DDR detailliert untersuchten und zunehmend in eine vergleichende Betrachtung einbezogen. Letztere erfolgte in zweierlei Hinsicht: Einmal wurde das Bildungswesen der DDR im Rahmen einer sich etablierenden „vergleichenden Deutschlandforschung“ untersucht, d.h. als Ausschnitt eines umfassenden Vergleichs zwischen den beiden deutschen Staaten und Gesellschaften, zum andern im Rahmen der vergleichenden Bildungsforschung, die das Bildungswesen der DDR, seine Entwicklung und Probleme unter übergreifenden systematischen Gesichtspunkten und nicht vor allem im deutsch-deutschen Vergleich betrachtet. […] (S.14) In der jüngsten, dritten Phase der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Bildungswesen und der Erziehung in der DDR lassen sich einige neue Elemente feststellen. Die Skepsis gegenüber umfassenden Erklärungskonzepten, z.B. gegenüber dem Totalitarismus-Modell oder dem Konzept der Industriegesellschaft, hat auch dazu geführt, daß das Detailwissen ohne einen systematischen Zusammenhang in gewisser Hinsicht wertlos bleibt und nicht zu einer tieferen Erfassung der gesellschaftlichen Probleme, darunter auch derjenigen der Schule und Erziehung, beiträgt. Das Unbehagen einer solchen positivistischen Reduktion brachte zwei sich voneinander unterscheidende Zugangsweisen bei der Analyse des DDR- Bildungssystems hervor: a) eine ideologiekritisch und soziologisch argumentierende Sicht, von der aus die Schule in der DDR beinahe ausschließlich als Instrument der Bewußtseinssteuerung und damit auch Herrschaftssicherung betrachtet wird; b) eine sich vor allem an Kategorien einer erziehungswissenschaftlichen Analyse orientierende Betrachtung, die stärker mit „einheimischen“ pädagogischen Begriffen arbeitet und gegen eine allgemeine „Soziologisierung“ der Bildungsforschung Einspruch erhebt. Das Schulwesen und stärker noch das Hochschulwesen gewinnen aus dieser Sicht den Rang eines relativ autonomen Systems der Wissensgenerierung (Universitäten) und Wissensvermittlung (Schulen), eines Systems, welches bis zu einem gewissen Grade auch immun bleibt gegenüber der ideologisch-politischen Instrumentalisierung. (S.14, 15) […] Zusammenfassend können wir festhalten: Die Publikationen zur Bildungsentwicklung in der DDR haben einerseits den Charakter einer „pädagogischen Zeitgeschichtsschreibung“, d.h. sie analysieren und kommentieren den Ablauf bestimmter Prozesse, zum andern handelt es sich um problemorientierte Studien, die einzelne Sachverhalte unter systematischen oder vergleichenden Gesichtspunkten untersuchen. […] Zusammen mit den skizzierten konzeptionellen Unterschieden ergibt sich somit […] ein relativ pluralistisches Bild der Bildungsforschung über die DDR – ein Zustand, der sich deutlich von demjenigen in der DDR selbst abhebt. (S.15) Seit der Durchsetzung eines parteioffiziellen Deutungsmonopols in den Gesellschaftswissenschaften, darunter auch in den pädagogischen Disziplinen, Anfang der fünfziger Jahre, basiert die Darstellung des Bildungswesens in der DDR, also des eigenen Systems, auf den ideologischen Grundsätzen des Marxismus-Leninismus. Dieser monistische Anspruch der herrschenden Ideologie, der eine Anpassung an die jeweils gültige Parteilinie einschließt, bestimmt bis zur Gegenwart auch den Charakter der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Schulwesen im eigenen Lande ebenso wie mit den Bildungsproblemen außerhalb der DDR, welche Gegenstand der Auslandspädagogik sind. In diesem vorgegebenen Rahmen hat man in der DDR im Jahre 1963 mit einer systematischen schulhistorischen Erforschung der eigenen Entwicklung begonnen. Auffallend ist dabei der zeitliche Rückstand mancher Publikationen gegenüber den über bestimmte Zeitabschnitte oder über einzelne Sachverhalte erschienenen Arbeiten aus der Bundesrepublik Deutschland. Die Ursachen dafür dürften in der schwerfälligen bürokratischen Forschungsplanung, aber auch in den erforderlichen ideologischen Positionsbestimmungen zu suchen sein – beides kostet Zeit. Bis 1987 sind vier zusammenfassende Monographien zur Schulgeschichte nach 1945 erschienen, die bis zum Jahre 1958 reichen, mehrbändige Dokumenteneditionen (bis 1980/81), einige monographische Studien über einzelne Zeitabschnitte oder Problembereiche, eher populärwissenschaftliche Überblicke und zahlreiche Zeitschriftenbeiträge und Dissertationen, wobei letztere in mancher Hinsicht am ergiebigsten sind. (S.15, 16) In allen Veröffentlichungen wird grundsätzlich von einer „Gesetzmäßigkeit“ der Schulpolitik der SED und einer permanenten Höherentwicklung des Schulwesens in der DDR ausgegangen, auch dort, wo die herangezogenen Quellen einer solchen Beurteilung im Wege stehen. Der für die Autoren in der DDR mögliche Zugang zu den Archiven bewirkt noch nicht eine weniger dogmatische Darstellungsweise, obwohl sich aus den Quellen ein differenziertes Bild der Entwicklung ergibt. Auch die Bestandaufnahmen des gegenwärtigen Schulwesens tragen meistens den Charakter von Erfolgsberichten; Schwierigkeiten und Mängel werden übergangen oder bemäntelt. […] (S.16) Im Mittelpunkt der Darstellung stehen die Fakten und nicht die Reflexionen über sie. Die verschiedenen Deutungsversuche können dazu beitragen, Entwicklungen transparenter zu machen, und das bedeutet, je nach Gegenstand und Zeitpunkt den einen Gesichtspunkt stärker als den anderen zu betonen. Vor allem wird angestrebt, den in mancher Hinsicht dramatischen Prozeß der ideellen und sozialen Umgestaltung der Schule im anderen deutschen Teilstaat als solchen lebendig werden zu lassen – Schulpolitik ist das Resultat von Handlungen, und auch Schulsysteme müssen als Produkte äußerer Einwirkungen wie innerer Prozesse, nicht als bloße Organisationsgebilde, begriffen werden. (S.16) 2. Grundzüge der Schulpolitik und Schulentwicklung seit 1945 2.1 Fragen der Periodisierung (S.19) Die Geschichtsschreibung in der DDR, darunter auch die Schulgeschichtsschreibung, verwendet viel Mühe darauf, den historischen Ablauf zu periodisieren und die einzelnen Perioden durch bestimmte allgemeine Formeln zu charakterisieren. Dieser Drang, das historische Kontinuum in Epochen, Perioden und Etappen zu gliedern, ist mehr als nur das Bestreben des Historikers, den Stoff der Geschichte nach bestimmten Ordnungsgesichtspunkten zu gestalten; es zeigt sich darin vielmehr ein finales Geschichtsverständnis, d.h. eine an einem Endziel orientierte Entwicklungsauffassung, in der jede geschichtliche Stufe zugleich Vorstufe der nächsten ist. Seitdem das Interpretationsmonopol der Gesellschaftsentwicklung in der DDR bei den Verwaltern der herrschenden Ideologie liegt und damit auch ein offizielles Geschichtsbild existiert, unterliegt die Periodisierung der Geschichte dem Zwang, einen ungebrochenen Fortschritt von Stufe zu Stufe nachzuweisen. Maßgeblich für die Einordnung und Bewertung der Ereignisse, Entwicklungen und Resultate ist dabei vor allem die aktuelle parteioffizielle Auffassung. Periodisierungsfragen sind deswegen nicht nur fachimmanente Diskussionsgegenstände von Wissenschaftlern, sondern eingebunden in politisch-ideologische Erklärungszusammenhänge, innerhalb derer sie bestimmte Funktionen zu erfüllen haben. (S.19) Für die Schulentwicklung seit 1945 haben die in der DDR vorgelegten Untersuchungen stets den engen Zusammenhang der politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und pädagogischen Entwicklung betont und dabei den entscheidenden Einfluß der „Partei der Arbeiterklasse“, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, als „gestaltende Kraft“ hervorgehoben. Daraus folgt auch eine enge Anlehnung der Periodisierung der Schulentwicklung an die allgemeine Periodisierung der DDR-Geschichte, besonders an die Parteigeschichte der SED. So wichtig diese Zusammenhänge sind, und wie stark der Einfluß der maßgeblichen politischen Kraft in der SBZ/DDR auf die Gestaltung des Bildungswesens auch eingeschätzt werden muß, so kann trotzdem von einer umfassenden Steuerung der Entwicklungen im Bildungswesen durch das politische Zentrum von Beginn an ebensowenig gesprochen werden wie von einer synchronen Entwicklung aller Teilbereiche des Bildungswesens. Es gibt z.B. keine durchgehenden parallelen Entwicklungen im Schulwesen und der Hochschulen, und auch die Geschichte der Berufsausbildung oder der Erwachsenenbildung weist im einzelnen andere Zäsuren auf. (S.19) Schulhistoriker in der DDR haben seit Beginn der sechziger Jahre des öfteren über die Periodisierung der Schulpolitik und Schulentwicklung diskutiert und bestimmte Gliederungen vorgenommen. Dabei wurden zunächst für die Zeit ab 1945 vier […] Perioden unterschieden; seit Ende der siebziger Jahre aber nur noch drei, weil eine Deckungsgleichheit mit der allgemeinen Periodisierung der DDR-Geschichte hergestellt werden sollte. (S.19, 20) Diese Dreigliederung unterscheidet die Zeit von 1945 bis 1949, von 1949 bis 1961 und von 1961 bis zur Gegenwart. Die erste Periode wird, wie schon früher, als „antifaschistisch-demokratische Schulreform“ bezeichnet, die zweite als „Aufbau der sozialistischen Schule“ und die dritte als „Gestaltung des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems“. Es ist bisher noch nicht klar ersichtlich, wann diese letzte und längste Periode als abgeschlossen bezeichnet und durch eine neue vierte abgelöst werden wird. Das Jahr 1971 (der Übergang von Walter Ulbricht zu Erich Honecker) brachte zweifellos für die Geschichte der DDR und teilweise auch für die Schulentwicklung einen bedeutenden Einschnitt, ebenso wurden Anfang der achtziger Jahre deutlich neue Akzente gesetzt. Zu einer parteiamtlich sanktionierten Periodisierung der rund zweieinhalb Jahrzehnte nach 1961 ist es aber noch nicht gekommen. (S.20) […] Da Periodisierungen gedankliche Konstrukte des Historikers sind und keinen allgemeingültigen Anspruch erheben können, entziehen sie sich auch einer endgültigen Festlegung; sie sind letztlich Hilfsmittel, um den geschichtlichen Prozeß in bestimmten Bereichen des politischen, sozialen und kulturellen Lebens nachträglich transparenter zu machen und Wegemarken aufzustellen. Bestimmte Daten markieren dabei nur selten einen tieferen Einschnitt; so hat es z.B. wenig Sinn, die Staatsgründung der [DDR] und ihre Verfassung vom 7. Oktober 1949 als eine Zäsur der Schulgeschichte anzusehen, weil – ähnlich wie in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands – die Weichen für den unterschiedlichen Gang gerade der Schulentwicklung schon vor der Gründung zweier deutscher Staaten im Jahre 1949 gestellt worden sind. (S.20) In unserer folgenden historischen Überblicksdarstellung werden wir nicht einem bestimmten Periodisierungsschema folgen, wie es in der Literatur angeboten wird; es gibt Übereinstimmungen, aber auch einige andere Akzente. Wir fragen vor allem danach, wann die Schulentwicklung erkennbar eine neue Richtung genommen hat, welche Probleme dabei in den Vordergrund getreten sind, welche neuen Lösungen gefunden werden mußten – kurz, wo deutlich eine andere „Qualität“ zutage tritt, die es rechtfertigt, von einer neuen Periode zu sprechen. Die Ereignisse und Entwicklungsabschnitte, an denen sich die Darstellung orientiert, sind die folgenden: die Schulreform von 1946, die ideologische „Umrüstung“ der Schule und Pädagogik nach 1948, die „Polytechnisierung“ der Schule seit 1958, das Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem von 1965. Die Entwicklung bis zur Mitte der achtziger Jahre schließt den historischen Durchgang ab. Es ist nicht beabsichtigt, eine gleichmäßige chronologische Darstellung zu geben; wir verweilen mit Absicht länger an bestimmten Knotenpunkten der Entwicklung und raffen den weiteren Gang der Dinge. Lücken in der Ereignisgeschichte, aber auch bei der Problemauswahl müssen dabei in Kauf genommen werden. Es sollen vor allem die jeweils bestimmenden Motive und charakteristischen Züge, also die dynamischen Faktoren der Schulentwicklung herausgearbeitet werden; in den systematisch angelegten Kapiteln kommen die historischen Bezüge […] ebenfalls zur Sprache. […] (S.20, 21) Andreas Fischer: Das Bildungssystem der DDR. Entwicklung, Umbruch und Neugestaltung seit 1989, Darmstadt 1992. […] 2 Geschichtliche und ideologische Voraussetzungen und Bedingungen der Entwicklung des Bildungswesens (S.6) […] Auch eine noch so kurze und vorläufige Skizze kann aber an den ideologischen Voraussetzungen und weltpolitischen Rahmenbedingungen nicht vorbeigehen, unter denen sich das Bildungssystem im sozialistischen Staat deutscher Nation (so die Verfassung der DDR vom 6. April 1968) bzw. im sozialistischen Staat der Arbeiter und Bauern (so die Fassung von 1974) entwickelt hat. Eine Pädagogik, die sich selbst (wie in der DDR bis zum 1. Dez. 1989) als marxistisch-leninistisch definiert und ihr Selbstverständnis aus Texten marxistischer Klassiker abgeleitet hat, kann zunächst nur von ihren eigenen Prämissen her verstanden werden auch wenn die Namen von MARX und LENIN heute auf den Landkarten Europas rasch verbleichen, Karl-Marx-Stadt wieder Chemnitz und Leningrad nach dem Willen seiner Bewohner wieder Sankt Petersburg heißt. (S.6) 2.1 (S.6) Grundlagen bei Marx und Engels Über dem gewaltigen theoretischen und analytischen Werk von KARL MARX […] und FRIEDRICH ENGELS […] mag manchmal vergessen worden sein, daß sie nicht nur theoretisiert und analysiert, sondern vor allem auch politische Handlungsanweisungen gegeben haben. (S.6) […] Ob dem ursprünglichen Marxismus überhaupt ein Konzept für die praktische Gestaltung des Bildungswesens zugrunde gelegen hat, mag bezweifelt werden. Doch zweifellos liegen von MARX und ENGELS in bezug auf Erziehung, Schule und Vorbildung programmatische Aussagen vor, die als Handlungsanweisungen verstanden werden konnten. ENGELS hatte bereits 1847 in den ‚Grundsätzen des Kommunismus‘ eine Art Aktionsprogramm künftiger kommunistischer (Staats-)Erziehung vorgelegt: (S.7) „Erziehung sämtlicher Kinder, von dem Augenblick an, wo sie der ersten mütterlichen Pflege entbehren können, in Nationalstaaten und auf Nationalkosten. Erziehung und Fabrikation zusammen“. Ganz neu war das nicht. „Nationalisierung der gesamten Erziehung“ hat Wurzeln bereits in Sparta, in PLATOS […] ‚Politeia‘, in TOMMASO CAMPANELLAS […] ‚Civitas Solis‘ (1602/1623), in Nationalerziehungsplänen der französischen Revolutionszeit (CONDORCET, LEPELETIER), in JOHANN GOTTLIEB FICHTES […] ‚Reden an die deutsche Nation‘ (1807/08). „Verbindung von Erziehung und Fabrikation“ geht letztlich wohl auf die ‚Utopia‘ (1515/1516) von THOMAS MORUS […], auf den Philanthropismus und auf utopische Sozialisten des frühen 19. Jahrhunderts zurück. (S.7) Beides wurde auch bald umformuliert. Aus „Erziehung in Nationalanstalten“ (was nach allgemeiner Internatserziehung klang und von ENGELS wohl auch so gemeint war) wurde im ‚Manifest der Kommunistischen Partei‘ (1848) „Öffentliche und unentgeltliche Erziehung aller Kinder“. Aus der sperrigen und an den Philanthropismus erinnernden Formel „Erziehung und Fabrikation zusammen“ wurde „Vereinigung der Erziehung mit der materiellen Produktion usw.“. (S.7) Auch das war nicht neu, verwies vielmehr ausdrücklich auf die bereits von ROBERT OWEN […] versuchte „Verbindung von produktiver Arbeit mit Erziehung der Kinder“ und auf frühkapitalistische Kinderarbeit. Aber durch MARX wurde (1866) Lohnarbeit „auch mit den Händen“ zum unbedingten Imperativ: (S.8) […] Auf der Verwirklichung dieses ‚allgemeinen Naturgesetzes‘ […] beruht MARX‘ Erziehungsbegriff: „Unter Erziehung verstehen wir drei Dinge: Erstens: Geistige Erziehung. Zweitens: Körperliche Erziehung, wie sie in den gymnastischen Schulen und durch militärische Übungen gegeben wird. Drittens: Polytechnische Ausbildung, die die allgemeinen Prinzipien aller Produktionsprozesse vermittelt und gleichzeitig das Kind und die junge Person einweiht in den praktischen Gebrauch und die Handhabung der elementaren Instrumente aller Arbeitszweige. Der Einteilung der jugendlichen Arbeiter sollte ein stufenweise fortschreitender Kursus der geistigen, gymnastischen und polytechnischen Ausbildung angepaßt sein. Die Kosten für die polytechnischen Schulen sollten teilweise durch den Verkauf ihrer Produkte gedeckt werden.“ (S.8) In ‚Das Kapital‘ definierte MARX vollends kategorisch (1867) die „Erziehung der Zukunft, welche für alle Kinder über einem gewissen Alter produktive Arbeit mit Unterricht und Gymnastik verbinden wird, nicht nur als eine Methode zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktion, sondern als die einzige Methode zur Produktion vollseitig entwickelter Menschen“. In dieser Form wurde die Verbindung (vergesellschafteter) Erziehung mit (vergesellschafteter) Produktion zum Bildungs- und Erziehungsprogramm in allen sozialistischen Ländern. (S.8) Politische Handlungsanweisungen waren auch die ‚Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland‘ (März 1848). Auch sie waren in bezug auf Bildung und Erziehung gar nicht spezifisch ‚ marxistisch‘. Die Forderung allgemeiner, unentgeltlicher Volkserziehung läßt sich mindestens bis MORUS und LUTHER zurückführen, die Forderung von Kirche und Staat wohl gar bis auf des Kirchenvaters AUGUSTINUS […] ‚De civitate Dei‘ und bis auf das Bibelwort „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“. Aber MARX‘ Charakterisierung von Religion schlechthin als „Opium des Volkes“ (1844) begünstigte unzweifelhaft die spätere Auslegung im Sinne dezidiert atheistischer und antireligiöser Schulpolitik (auch wenn ENGELS 1891 notierte, man könne religiösen Gemeinschaften doch nicht verbieten, „eigne Schulen aus eignen Mitteln zu gründen und dort ihren Blödsinn zu lehren“). (S.8, 9) Die Reihe der von MARX und ENGELS stammenden Denkanstöße, die für ihre Nachfolger zu Handlungsanweisungen wurden, ließe sich sicherlich noch lange fortsetzen. Zwei davon sind für spätere Bildungspolitik besonders folgenreich geworden. Erstens begründete FRIEDRICH ENGELS in den Schlußsätzen seiner Studie ‚Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft‘ (1880) das Selbstverständnis der von ihm und MARX entwickelten Gesellschaftstheorie als Wissenschaftlicher Sozialismus: (S.9) […] Für marxistisches Wissenschaftsverständnis blieb seither jede Wissenschaft auf den Klassenstandpunkt und auf das Vorantreiben der proletarischen Revolution verpflichtet (und damit auch jeder Unterricht, der wissenschaftlichem Anspruch genügen wollte). Zweitens gab ENGELS in seiner Analyse der Frauenfrage in ‚Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats‘ (1884) wesentliche Anstöße dafür, daß die Teilhabe der Frau an der gesellschaftlichen Produktion und ihre Freisetzung von Familien- und Erziehungspflichten seither als Gradmesser gesellschaftlichen Fortschritts verstanden wurde. Die ‚Denkschrift der deutschen Abteilung (Genf) der Internationalen Arbeiterassoziation‘ hatte 1865 im Kampf gegen die Fabrikarbeit von Frauen noch recht konservativ argumentiert: „Den Frauen und Müttern gehören die Haus- und Familienarbeiten, die Pflegung, Überwachung und erste Erziehung der Kinder, wozu allerdings eine angemessene Erziehung der Frauen und Mütter vorausgesetzt werden muß“. ENGELS kam 1884 zu geradezu entgegengesetzten Schlußfolgerungen: (S.9) „Mit dem Übergang der Produktionsmittel in Gemeineigentum hört die Einzelfamilie auf, wirtschaftliche Einheit der Gesellschaft zu sein. Die Privathaushaltung verwandelt sich in eine gesellschaftliche Industrie. Die Pflege und Erziehung der Kinder wird öffentliche Angelegenheit; die Gesellschaft sorgt für alle Kinder gleichmäßig, seien sie eheliche oder uneheliche… Die Befreiung der Frau wird erst möglich, sobald diese auf großem, gesellschaftlichem Maßstab an der Produktion sich beteiligen kann, und die häusliche Arbeit sie nur noch in unbedeutendem Maß in Anspruch nimmt“. (S.10) Seither wurde die volle Teilhabe der Frau an der Produktion, die Aufhebung ihrer Fesselung an Familienpflichten und die Vergesellschaftung der frühkindlichen Erziehung für Marxisten geradezu zum Maßstab gesellschaftlicher Höherentwicklung. (S.10) Eine ganze Reihe der für spätere sozialistische Bildungspolitik charakteristischen Elemente kann somit wohl unzweifelhaft als direkte Umsetzung von Impulsen der Begründer des Marxismus gelten: öffentliche und staatliche Erziehung aller Kinder, Trennung von Schule und Kirche, Verbindung von Erziehung und materieller Produktion zu polytechnischer Bildung, Teilhabe der Frau an der Produktion, Vergesellschaftung frühkindlicher Erziehung, Verpflichtung des wissenschaftlichen Sozialismus auf den geschichtlichen Auftrag des Proletariats. (S.10) Freilich hätten sich manche dieser Impulse wohl auch in ganz anderen Formen realisieren lassen, als dies seit 1917 in Rußland, seit 1945 in einem Teil Deutschlands tatsächlich geschehen ist. Von MARX sind z.B. auch Äußerungen überliefert, „daß es möglich sei, ein sehr wirksames System der Volkserziehung ohne staatliche Bevormundung einzurichten“; politische Ökonomie gehöre ebensowenig wie Religion in die Schulstuben; nur die Naturwissenschaften, nur solche Wahrheiten, die von allen partiellen Vorurteilen unabhängig seien und nur eine Interpretation zuließen, seien geeignete Gegenstände für die Schule. Die Genauigkeit solcher Überlieferungen ist allerdings nicht unumstritten. (S.10) Den Hauptgrund für die Faszination, die das Werk von MARX und ENGELS immer wieder für pädagogisches Denken auch weit über die sozialistische Welt hinaus ausgeübt hat, bildet aber wohl sein pädagogischer Optimismus: die Überzeugung von der schier unbegrenzten Vervollkommnungsfähigkeit der Menschen in einer künftigen gerechten und humanen Gesellschaftsordnung. (S.10) […] Drittens erzwang das Bemühen um den Aufbau moderner sozialistischer Industriegesellschaften im Zeichen der ‚wissenschaftlich-technischen Revolution‘ noch stärkere Orientierung am Leistungsprinzip mit verstärkter Förderung und Auswahl der ‚Besten und Befähigsten‘ im Bildungssystem. Die Diskussion der bis 1989 in der Pädagogik der DDR immer wieder aufgeworfenen Fragen nach Einheitlichkeit und Differenzierung im Bildungs- wesen Kollektivität und Individualität in der Erziehung, Einheitlich-Grundlegendem und Individuell-Differenziertem in den Bildungsinhalten und letztlich nach der Legitimation von Befähigungsauslese innerhalb eines Einheitsschulsystems blieb letztlich recht abstrakt, weil konkreter Antworten nicht nur in verfängliche Nähe ‚bürgerlicher Begabungstheorien‘ führen konnten, sondern auch – so MARX – „stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher Leistungsfähigkeit … als natürliche Privilegien“ hätten legitimieren müssen. (S.15) Viertens blieb die kritische Gesellschaftsanalyse des Wissenschaftlichen Sozialismus instrumentalisiert als ausschließlich gegen den Klassenfeind zu richtende Waffe. […] Ebendamit wurde die kritische und revolutionäre Gesellschaftstheorie von MARX und ENGELS dialektisch zum Gegenteil ihrer selbst: zur Staatsdoktrin. Als solche wurde der Marxismus-Leninismus von der Volkskammer der DDR am 1. Dez. 1989 abgeschafft. […] (S.15) 2.2 Grundlagen in der Tradition der deutschen marxistischen Arbeiterbewegung (S.15) Unter den Bedingungen kompromißloser Gegnerschaft gegen die bestehende gesellschaftliche und politische Ordnung erfuhren die von MARX und ENGELS gegebenen pädagogischen Anstöße zunächst kaum Weiterentwicklungen. Die spezifisch bildungspolitischen Postulate der ‚Eisenacher‘ (1869) und des ‚Gothaer Programms‘ (1875) gingen kaum über die bereits 1848 formulierten ‚Forderungen der Kommunistischen Partei‘ in Deutschland hinaus. (S.15, 16) Maßgeblich für die Bildungspolitik der deutschen Marxisten blieb für lange Zeit WILHELM LIEBKNECHTS (1826-1900) Rede vor dem Dresdener Arbeiterbildungsverein ‚Wissen ist Macht – Macht ist Wissen‘ (1872), nach dem Urteil späterer Erziehungsgeschichtsschreibung der DDR „die erste umfassende Kritik der deutschen Schulverhältnisse vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus“. Die Kritik erwuchs aus unversöhnlicher Gegnerschaft gegen den bestehenden Staat – das Wilhelminische Kaiserreich: […] (S.16) Nur in vagsten Umrissen zeichnet sich ein egalitär geprägtes Gegenbild ab: „Gleichmäßigkeit der Bildung ist ein Kulturerforderniß. Gleichheit der Bildung das Kulturideal“; „Der Durst nach Wissen ist jedem Menschen angeboren, die Fähigkeiten sind gleichmäßig unter den Menschen verteilt. Nicht Alle haben gleiche Anlagen, aber bei allen normalgebornen Kindern ist die Gesamtsumme der Anlagen gleich, und von den Verhältnissen hängt es ab, ob und wie die Anlagen und welche Anlagen entwickelt werden“. (S.16) Eine konkrete Utopie zukünftiger Erziehung jenseits des Leistungsprinzips zeichnet sich erst in AUGUST BEBELS (1840-1913) ‚Die Frau und der Sozialismus‘ (1883) ab. Individuelle Begabungsunterschied werden zwar nicht bestritten, spielen aber keine Rolle mehr, sobald soziale Gleichheit besteht: […] (S.16) Gleiches Bildungsniveau wird für alle erreichbar sein, sobald die Bildungsfrage aufgehört hat, Geldfrage zu sein: (S.17) „Die Bedürfnisse und die Neigungen sind verschieden und werden, weil in der Natur des Menschen begründet, verschieden bleiben, aber jeder kann sich nach Maßgabe der für alle gleichen Daseinsbedingungen entwickeln“. BEBELS Skizze zukünftiger Erziehung konzentriert sich ganz auf das, was für alle Kinder und Jugendlichen bis zu ihrer Volljährigkeit gleich und gemeinsam sein soll. Insofern ist es nur konsequent, daß auf eventuelle Gliederungen und Verzweigungen der Bildungslaufbahnen nicht eingegangen wird, denn „in einer Gesellschaft, in der durch die allen gewährte höchste Bildungsmöglichkeit die heute bestehenden Unterscheidungen zwischen gebildet und ungebildet verschwinden, werden auch die Gegensätze zwischen gelernter und ungelernter Arbeit verschwinden…“. (S.17) Das ‚Erfurter Programm‘ (1891) setzt einige neue Akzente (unentgeltliche Verpflegung und Lehrmittel in Schulen; höhere Bildung auch für Mädchen) und spricht auch die Auswahl für höhere Bildungseinrichtungen an: „Weltlichkeit der Schule. Obligatorischer Besuch der öffentlichen Volksschulen. Unentgeltlichkeit des Unterrichts, der Lehrmittel und der Verpflegung in den öffentlichen Volksschulen sowie in den höheren Bildungsanstalten für diejenigen Schüler und Schülerinnen, die kraft ihrer Fähigkeiten zur weiteren Ausbildung geeignet erachtet werden“. (S.17) Das Referat von CLARA ZETKIN (geb. Eißner, 1957-1933) vor der sozialdemokratischen Frauenkonferenz 1904 in Bremen gilt als erstes Schulprogramm nach der Jahrhundertwende, das die Grundsätze eines sozialistischen Bildungssystems herausarbeitete. Deutlich werden Stufenaufbau des Schulwesens und Auswahl für weiterführende Schulen, doch die Frage nach der Dauer der für alle Kinder gemeinsamen Schulbildung bleibt ausgeklammert: „An die einheitliche Elementarschule gliedert sich die Mittelschule an, welche für den Besuch der höheren und höchsten Schulanstalten vorbereitet, in welche Schüler und Schülerinnen nach Begabung und Neigung eintreten können. In pädagogische Streitfragen über die Altersgrenze für Elementar- und Mittelschule usw. will ich nicht eintreten“. (S.17) Nach dem Ende des deutschen Kaiserreichs und der Spaltung der Arbeiterbewegung in mehrere, einander bitter bekämpfende Parteien […] identifizierte sich die Sozialdemokra- tische Partei Deutschlands (SPD) mit der durch die Weimarer Verfassung geschaffenen Ordnung und trug bildungspolitisch auch den ‚Weimarer Schulkompromiß‘ mit, obwohl dieser weder die Staatlichkeit der Schule noch die Trennung von Kirche und Schule voll verwirklichte und das Ziel einer für alle Kinder gemeinsamen Schule nur in Gestalt der vierjährigen Grundschulpflicht. (S.17, 18) Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) verblieb dagegen in kompromißloser Gegnerschaft zum Weimarer Staat. Im Sommer 1919 legte die Freie sozialistische Jugend (der spätere Kommunistische Jugendverband) den von EDWIN HOERNLE (1883-1952) ausgearbeiteten ersten Entwurf eines kommunistischen Schulprogramms vor: ein nach dem Rätesystem von der Basis aufwärts organisiertes Schulsystem, in dem Schüler- und Lehrerrat gemeinsam den Schulrat als Vollzugsorgan der Schulgemeinde bilden. Die drei Stufen der Spielschule (vom 3. bis zum 8. Lebensjahr), Grundschule (8.–14. Lebensjahr) und Fachschule (14.-18. Lebensjahr) mit praktischer Ausbildung in der Landwirtschaft bzw. in Produktionsbetrieben sollen obligatorisch sein. Erstmals wird die Auswahl für das Hochschulstudium als vierte Stufe näher erörtert: Nach abgeschlossenem Besuch der Fachschule sollen Lehrer und Schulgemeinde die Fähigkeit zum Hochschulstudium bezeugen. (S.18) 1925 im Reichstag und nochmals 1929 im Preußischen Landtag stellte die KPD der Weimarer Ordnung des Schulwesens ihr ‚Proletarisches Schulprogramm‘ entgegen. Es konkretisiert in radikaler Deutlichkeit den Herrschaftsanspruch des Marxismus und der Kollektiverziehung und nimmt wesentliche Elemente der seit 1917 in der Sowjetunion aufgebauten EinheitsArbeitsschule auf. Schulunterricht und alle unterrichtlichen Veranstaltungen sollen öffentlich sein. Zum Grundtypus der Schulanstalt soll an Stelle der Unterrichtsanstalt das Schulheim werden, zur weltanschaulichen und soziologischen Grundlage des gesamten Unterrichts der Marxismus, zur Grundlage der gesamten praktischen und theoretischen Erziehung die vergesellschaftete Produktion. Unverkennbar sind aber auch starke Einflüsse der damals auch in der Sowjetunion sehr einflußreichen Reformpädagogik. Statt starrer Jahresklassen sollen elastische Arbeitsgruppen die Unterschiedlichkeit der Anlagen und Neigungen berücksichtigen. Von vier Stufen des Bildungswesens sollen drei für jedes Kind verbindlich sein: Spielschule (Kindergarten), Produktions-Grundschule und die nach Fachgruppen gegliederte Produktions-Fachschule. Erfolgskontrolle und Auswahl für die Produktions-Hochschule als vierte Stufe erhalten ein basisdemokratisches Gesicht: „An Stelle der schriftlichen und mündlichen Prüfungen tritt das aufgrund der dauernden gegenseitigen Beobachtungen gewonnene Urteil der Schulgemeinschaft … über die Begabungsrichtung, Gesamtfähigkeit und gesellschaftliche Haltung des Schülers“. Jede Lehrkraft soll neben der theoretisch-pädagogischen Ausbildung mindestens noch einen industriellen oder landwirtschaftlichen Berufszweig voll beherrschen. Neue Lehrkräfte sollen aus der Arbeiterschaft gewonnen werden. (S.19) Spätere Dogmatisierungen des Marxismus als weltanschauliche und soziologische Grundlage des gesamten Unterrichts in der DDR waren somit zweifellos schon in den erklärten bildungspolitischen Zielen der KPD der zwanziger Jahre vorstrukturiert, ebenso wie die Integration von Unterricht und Produktion, Oberschulbildung und Berufsvorbereitung. In anderen Teilbereichen hat die DDR später ziemlich genau das Gegenteil dessen verwirklicht, was die KPD der Weimarer Zeit gefordert hatte. Forderungen reformpädagogischer Herkunft wie nach stärkerer Berücksichtigung unterschiedlicher individueller Begabungen und Fähigkeiten, nach Auflösung der Jahrgangsklassen und Abschaffung aller Prüfungen waren mit der frühen sowjetischen Pädagogik noch parallel gegangen, liefen dem sowjetischen Schulverständnis der Stalinzeit aber strikt zuwider. Manche Programmpunkte aus der Weimarer Zeit haben sich im Schulwesen der DDR bis zur Unkenntlichkeit verändert. Aus der Öffentlichkeit aller schulischen Veranstaltungen ist die Mitsprache von Vertretern gesellschaftlicher Organisationen im Pädagogischen Rat der Schule geworden (einem lediglich beratenden Organ), aus dem Urteil der Schulgemeinde über Begabungsrichtung, Fähigkeit und gesellschaftliche Haltung des Schülers die Mitwirkung von Pionierorganisation und FDJ bei der Schüler- und Studentenbeurteilung. Das wohl kontroverseste Thema schließlich – von MARX, ENGELS, BEBEL nicht angesprochen, von den Schulprogrammen der Weimarer Zeit ins Ermessen der Schulgemeinde bei Ende der Schulpflichtzeit gestellt – ist auch nach 1945 stets prekär geblieben: die Frage nach Zeitpunkt und Kriterien für die Entscheidung zwischen berufs- und hochschulvorbereitenden Bildungsgängen. 2.3 (S.19) Grundlagen in der Tradition der sowjetischen Pädagogik (S.19) Ohne Blick auf die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) als führende Kraft einer Weltbewegung wäre die Entwicklung von Gesellschaft und Erziehung in den seit 1945 entstandenen Volksdemokratien und der DDR kaum verständlich. […] Diskussionen über einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus waren spätestens seit dem Ausschluß der KP Jugoslawiens […] auch in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) beendet. (S.19, 20) Für die Herausbildung spezifischer Züge des Bildungswesens in der späteren DDR haben zwei eng miteinander verbundene Fragen zentrale Bedeutung erlangt: deren (so CHRISTA UHLIG 1990) „zwiespältige Stellung zur Reformpädagogik, die von den politischen Entscheidungsträgern immer zuerst politisch, als mit sozialistischer Pädagogik unvereinbar interpretiert wurde“, und „das komplizierte Verhältnis zur Sowjetpädagogik der 30er und 40er Jahre, die unter den Bedingungen stalinistischer Machtstrukturen geprägt war und einen bestimmten zentralistischen, autoritären Typ von Pädagogik repräsentierte, der … in der 50er und 60er Jahren vor allem rezipiert wurde“. (S.19, 20) […] 3 ETAPPEN DER ENTWICKLUNG DES BILDUNGSSYSTEMS 3.1 Zur Periodisierung (S.29) Für marxistische Geschichtsschreibung hat stets das Schema einer gesetzmäßigen Aufeinanderfolge der Gesellschaftsformen gegolten: […] Im Sinne dieses Geschichtsbildes konnte das ‚Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem‘ 1965 dekretieren: „Das sozialistische Bildungswesen der [DDR] ist dem Bildungswesen in Westdeutschland um eine ganze historische Epoche voraus“. Diesem Schema folgend wurden ausgangs der achtziger Jahre drei Etappen in der bisherigen Entwicklung des Bildungswesens der DDR unterschieden: - Die Etappe der antifaschistisch-demokratischen Schulreform (1945-1949); - die Etappe des Aufbaus der sozialistischen Schule (1949-1961/62); - die Etappe der Gestaltung des einheitlichen sozialistischen Bildungssystemn seit 1961/62. Diesen Stufen ließ sich je ein Schulgesetz und eine Phase der Hochschulpolitik zuordnen: das ‚Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule‘ (auch ‚Einheitsschulgesetz‘ genannt, Mai/Juni 1946), das ‚Gesetz über die sozialistische Entwicklung des Schulwesens in der Deutschen Demokratischen Republik‘ (2. Dez. 1959), ‚Das Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem‘ (auch ‚Bildungsgesetz‘ genannt, 25. Febr. 1965); die ‚Erste‘ (ab 1945, ‚Zweite‘ (ab 1951) und ‚Dritte‘ (ab 1967) ‚Hochschulreform‘. (S.29) So wurde Vergangenes stets zur Vorstufe inzwischen erreichter Höherentwicklung. 1959 wurden die Entwicklungen seit 1945 rückwirkend zur ‚ersten Etappe‘ beim Aufbau des Sozialismus. Noch die letzte aus sozialistischem Selbstverständnis redigierte Gesamt- darstellung des Bildungswesens der DDR (1989) beurteilte Vergangenheit und Zukunft aus überzeitlich-allwissender Perspektive: (S.29, 30) „In diesem antifaschistisch-demokratischen Bildungswesen begannen sich bereits Elemente eines künftigen sozialistischen Bildungswesens auszuprägen. Alles Reaktionäre wurde ausgemerzt und all das bewahrt, was in der deutschen Geschichte an Geist und Kultur hervorgebracht worden war.“ Geschichte war zur Teleologie geworden. – Die grundsätzliche Problematik solcher Urteile ist auch in erziehungsgeschichtlichen Diskussionen der DDR angesprochen worden, wie z.B. im Frühjahr 1989: „Es sollten keine linearen, vereinfachten Betrachtungen historischen Geschehens zugelassen werden. Die Widersprüchlichkeit historischer Erscheinungen ist aufzuhellen und so ein Geschichtsbild zu entwerfen, das dem tatsächlichen historischen Prozeß gerecht wird“. Die Ausarbeitung eines (realistischeren?) Geschichtsbildes ist jedoch nicht mehr abgeschlossen worden. (S.30) […] Die vorliegende Skizze orientiert sich trotzdem an dem in der marxistischen Literatur gegebenen Periodisierungsschema. Erstens möchte sie soweit wie möglich das bis 1989 herrschende Selbstverständnis der DDR-Pädagogik als eines zielgerichtet zu immer höheren Entwicklungsstufen führenden Systems sichtbar machen. Zweitens sieht sie – hierin den Selbstdarstellungen aus der DDR folgend – deutliche Zäsuren ausgangs der vierziger und eingangs der sechziger Jahre. Bis 1949 war das Bildungswesen voll in die mittlerweile entwickelten politischen Strukturen eingeordnet und konnte für die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft in Dienst genommen werden. 1961 war diese abgeschlossen. An Stelle forcierten Klassenkampfs trat die ‚Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft‘, d.h. deren Stabilisierung und ideologische wie ökonomische Absicherung durch Vermittlung differenzierterer Qualifikationen an die nachwachsende Generation. 3.2 Die antifaschistisch-demokratische Schulreform (1945-1949) (S.30) (S.31) […] Der Einfluß der Sowjetunion auf die Neugestaltung des Bildungswesens in der entstehenden DDR ist oft kontrovers diskutiert worden. Ältere westdeutsche Forschung und Publizistik haben oft von planmäßiger Sowjetisierung der deutschen Schule gesprochen. Die Geschichtsschreibung der DDR hat demgegenüber alle Neugestaltungen seit 1945 als Werk der deutschen antifaschistisch-demokratischen Kräfte selbst in Anspruch genommen: die Sowjetische Militäradministration habe sich nie direkt eingeschaltet und auch bei inneren theoretischen Klärungsprozessen nicht administrativ eingegriffen, sondern die Entscheidung letztlich den deutschen Pädagogen selbst überlassen. (S.31) Für beide Sichtweisen lassen sich Zeugnisse aufführen – sogar solche des gleichen Autors. Heinrich DEITERS (1887-1966) berichtet z.B., wie Vertreter der Sowjetischen Militäradministration trotz anfänglicher Bedenken schließlich die Vorstellungen ihrer deutschen Gesprächspartner zur akademischen Lehrerbildung akzeptierten, aber auch, wie die deutschsowjetischen Verhandlungen über den Text des Einheitsschulgesetzes von 1946 „sachlich ohne Bedeutung“ blieben, „da die entscheidenden Bestimmungen von vornherein feststanden“ und von „Beratung und Beschlußfassung im wahren Sinne des Wortes“ keine Rede sein konnte. (S.31) Zum Hauptgrund für die gegensätzlichen Entwicklungen in beiden Teilen Deutschlands ist letztlich wohl das unterschiedliche Demokratie- und Gesellschaftsverständnis der Siegermächte von 1945 geworden. Für die Westmächte blieb politischer und gesellschaftlicher Pluralismus zentrale Bedingung der (parlamentarische) Demokratie. Für marxistisch-leninistisches Verständnis war Einheit der Arbeiterklasse die zentrale Bedingung für den Sieg des Sozialismus, antifaschistisch-demokratische Neuordnung allenfalls eine Zwischenetappe. (S.31) […] Bereits im Oktober 1945 wurden gemeinsam mit der SPD der sowjetischen Besatzungszone Grundsätze für die Erneuerung der deutschen Schule entwickelt. Sie forderten u.a. Säuberung des gesamten Lehr- und Verwaltungspersonals von nazistischen und militaristischen Elementen und die Besetzung der Schulrats- und Leiterstellen mit bewährten Antifaschisten; Beseitigung aller Bildungsprivilegien einzelner Schichten; Schaffung eines einheitlichen Bildungssystems; Trennung von Schule und Kirche; Öffnung des Wegs zu den Hochschulen für alle Befähigten, die durch den Hitlerfaschismus und durch reaktionäre Bildungsprivilegien bisher vom Studium ferngehalten wurden, auch unter Aufhebung herkömmlicher Aufnahmebedingungen. (S.31, 32) Der Zusammenschluß von KPD und SPD in der sowjetischen Besatzungszone zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) am 21./22. April 1946 markiert eine der entscheidenden Weichenstellungen deutscher Nachkriegsgeschichte. Als die SED gegründet wurde, unterschieden sich ihre bildungspolitischen ‚Gegenwartsforderungen‘ zwar noch kaum von bürgerlichen antifaschistisch-demokratischen Positionen. Doch wurden weitergehende Ziele nicht verschwiegen: die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse als grundlegende Voraussetzung zur Errichtung der sozialistischen Gesellschaftsordnung. Seit Juli 1948 definierte sich die SED als „Partei neuen Typus … die unerschütterlich und kompromißlos auf dem Boden des Marxismus-Leninismus steht“. (S.32) Schon vor Gründung der SED […] und dem ‚Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule‘ (Mai/Juni 1946) fielen wesentliche bildungspolitische Vorentscheidungen. Sie setzen großenteils die im gemeinsamen Aufruf von KPD und SPD (18. Okt. 1945) gestellten Forderungen um, verraten im einzelnen aber auch deutliche Orientierungen an sowjetischen Vorbildern: - Am 27. Juli 1945 setzte die Besatzungsmacht deutsche Zentralverwaltungen ein, so für Volksbildung unter PAUL WANDEL (1905 geb., KPD) als Präsidenten. - Am 25. Aug. 1945 löste die Besatzungsmacht alle Privatschulen auf und untersagte jede Neugründung. - Gleichzeitig wurde obligatorischer Fremdsprachenunterricht (Russisch, Englisch oder Französisch) ab dem 5. Schuljahr festgelegt, in höheren Schulen grundsätzlich mit Russisch als Pflichtfach. Einheitliche Lehrpläne für Grund- und Oberschulen (1. Juli 1946) machten den Unterricht in einer modernen Fremdsprache (ab 1951 grundsätzlich Russisch) ab der 5. Klasse obligatorisch und gliederten die Oberschule in drei Gruppen, die noch als stark reduzierte Kurzformen (Klassenstufen 9 bis 12) des neusprachlichen, des mathematisch-naturwissenschaftlichen und des altsprachlichen Gymnasiums erkennbar waren. - (S.32) Ab Juni 1945 wurden Zahntausende von Lehrern durch „Heranziehung geeigneter Antifaschisten ohne pädagogische Vorbildung als Hilfslehrer“ ersetzt (was an sowjetische Vorbilder aus den dreißiger Jahren erinnert). Bis Anfang 1948 wurden im Zuge der Entnazifizierung „zirka 520 000 ehemalige Angehörige der NSDAP, Militaristen und Kriegsverbrecher aus ihren Stellungen in Ämtern, Behörden, Unternehmen usw. entfernt“. Bei Schuljahrsbeginn 1948/49 unterrichteten 49 900 ‚Neulehrer‘ neben 22 600 im Schuldienst verbliebenen oder zwischenzeitlich rehabilitierten ‚Altlehrern‘. Die Erneuerung der Lehrerschaft galt später als „eines der entscheidenden Probleme der gesamten Schulreform, von dessen Lösung vor allem die ideologische Position und damit der Klassencharakter der Schule abhing“. - (S.32, 33) Eine „überparteiliche, einige, demokratische Jugendorganisation ‚Freie Deutsche Jugend‘“ wurde am 26. Febr. 1946 gegründet und am 5. März 1946 zugelassen. Andere Jugendorganisationen wurden gar nicht erst zugelassen. – Bereits im Exil hatte die KPD eine breite proletarische Jugendorganisation anstelle des Kommunistischen Jugendverbandes beschlossen. WALTER ULBRICHT erklärte am 25. Juni 1945 : „Wir verzichten auf die Schaffung eines Kommunistischen Jugendverbandes, denn wir wollen, daß eine einheitliche freie Jugendbewegung entsteht“. Die FDJ versicherte noch im Mai 1947, sie habe „zu keiner Zeit den Anspruch erhoben, die alleinige Vertretung der gesamten deutschen Jugend zu sein“, trat aber bald auch im Hochschulbereich als einzige Vertreterin der Studentenschaft auf. - (S.33) Bewerber aus Arbeiter- und Bauernkreisen wurden bevorzugt zum Studium zugelassen. Ab Oktober 1945 wurden junge Werktätige, Arbeiter und Bauern kurzfristig auf das Hochschulstudium vorbereitet. Ab März 1949 bestanden bis 1962 (in Analogie zu den sowjetischen Arbeiterfakultäten der Jahre 1919-1941) an bis zu 16 Hochschulen Arbeiter-und Bauern-Fakultäten (ABF) zur Studienvorbereitung. Von 1951 bis 1961 wurden 42 531 Zulassungen und 29 758 Absolventen gezählt; die jährlichen Absolventenzahlen der ABF entsprachen einem Anteil zwischen 8,3% und 18,5% der Neuzulassungen zum Hochschulstudium. (S.33) Im Mai/Juni 1946 wurde in allen Ländern der sowjetischen Besatzungszone das ‚Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule‘ verabschiedet, von späterer DDR-Geschichtsschreibung als das „bis dahin bedeutendste Gesetz der deutschen Schulgeschichte“ gewürdigt. Unzweifelhaft kann es eine Sonderstellung in der deutschen Bildungsgeschichte beanspruchen. Erstmals in Deutschland (abgesehen von einer kurzen Episode im Thüringen der zwanziger Jahre) verwirklichte es eine für alle Kinder acht Jahre lang gemeinsame Schule. Zweitens setzte es sich nicht nur gegen die nationalsozialistische, sondern prononciert auch gegen die vor 1933 in Deutschland bestehende Schule insgesamt ab: (S.33, 34) „Sie war eine Standesschule. Für die Söhne und Töchter des einfachen Volkes waren die Tore der höheren Schule und der Hochschule in der Regel verschlossen, weil nicht die Fähigkeit der Kinder, sondern die Vermögenslage der Eltern über deren Bildungsgang bestimmte.“ Drittens ging es von der eindeutigen Konstatierung eines gleichen Rechts aller Jugendlichen auf Bildung aus: „Die neue deutsche Schule muß … so aufgebaut sein, daß sie allen Jugendlichen, Mädchen und Jungen, Stadt- und Landkindern, ohne Unterschied des Vermögens ihrer Eltern das gleiche Recht auf Bildung und seine Verwirklichung entsprechend ihren Anlagen und Fähigkeiten garantiert.“ (S.34) Das erinnert mit der Betonung der Anlagen und Fähigkeiten an Formulierungen der ‚Weimarer Verfassung‘, weist aber inhaltlich darüber hinaus. Die Verwerfung der „Standesschule“, die Hervorhebung bestimmter sozialer Gruppen (Söhne und Töchter des einfachen Volkes, Mädchen, Landkinder) legt Auslegungen des gleichen Rechts auf Bildung im Sinne ‚sozialproportionaler‘ Bildungsbeteiligung nahe. (S.34) Einige dieser Forderungen wurden sofort in Angriff genommen (während z.B. im Westen Deutschlands ein ‚zweiter Bildungsweg‘ zur Hochschule erst in den fünfziger Jahren institutionalisiert, die Unterrepräsentation von Mädchen, Landkindern, Arbeiterkindern erst in den sechziger Jahren als Problem thematisiert wurde). Im Zuge des Lanschulreform wurden die 1945 noch bestehenden über 4000 einklassigen Volksschulen bis 1960 durch Zentralschulen (teils mit angegliederten Schülerheimen) ersetzt. Die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Bildungswesen wurde zunächst eher symbolisch repräsentiert: Im Mai 1947 wurde erstmals in Deutschland eine Frau Minister – MARIE TORHORST (1888-1989) als Volksbildungsminister in Thüringen. (S.34) In anderen Punkten blieb die Reform der Jahre 1945-1949 nicht nur hinter ‚fortschrittlichbürgerlichen‘, sondern auch alten kommunistischen Positionen zurück. Das ‚Einheitsschulgesetz‘ übertrug die Verantwortung für die einzelne Schule dem (vom Landespräsidenten zu ernennenden) Schulleiter. Das enttäuschte alte Forderungen nach kollegialer Schulleitung und Wahl der Schulleitung, entsprach aber dem Schulsystem der Sowjetunion seit den dreißiger Jahren (und dem „Prinzip des demokratischen Zentralismus“). (S.34, 35) Auch alte Wünsche nach einer Universitätsausbildung aller Lehrer blieben unerfüllt. Die im Juli 1946 an allen Universitäten eröffneten Pädagogischen Fakultäten blieben auf die Ausbildung von Lehrern der Klassenstufen 5 bis 8 beschränkt. Die schließliche Neuregelung der Lehrerbildung (15. Mai 1953) übernahm […] das dreiteilige System der Lehrerbildung, das damals in der Sowjetunion bestand, dort aber aus ganz anderen Verhältnissen hervorgegangen war“, und schraubte die Ausbildung des größten Teils der Lehrer auf die Stufe der pädagogischen Fachhochschulen der Weimarer Zeit oder sogar auf diejenige der früheren Lehrerseminare zurück. (S.35) Zwei besonders umstrittene Festlegungen des ‚Einheitsschulgesetzes‘ sind zu Ausgangspunkten späterer Auseinandersetzungen geworden: die mit der 7. Klasse, in Thüringen sogar schon mit dem 5. Schuljahr einsetzende Kursdifferenzierung und der fortbestehende Dualismus von Berufsbildung und hochschulvorbereitender Oberschulbildung ab der 8. Klasse. Der wahlfreie Kursunterricht (von Anfang an wohl Konzession an die damals noch unentbehrlichen Befürworter reformpädagogischer Auffassungen) wurde bereits 1948/49 wieder abgeschafft. Die im ‚Einheitsschulgesetz‘ festgelegte Verwirklichung des Rechts auf Bildung entsprechend den Anlagen und Fähigkeiten der Schüler sah seitdem so aus, das alle Schüler acht Jahre lang den gleichen Unterricht erhielten. (S.35) Zweitens hatte das ‚Einheitsschulgesetz‘ die Oberschule mit Berufs- und Fachschule und mit Einrichtungen der Erwachsenenbildung formal zu einer Oberstufe zusammengefaßt, doch bleiben deren Bestandteile unverbunden und ungleichwertig (erst die durch Besuch von Berufs- und Fachschule vermittelte Bildung sollte als der Oberschulbildung ‚gleichwertig‘ gelten). Dieses institutionelle Nebeneinander berufs- und studienvorbereitender Schullaufbahnen ab der 9. Klasse unterschied die Einheitsschule sowohl von kommunistischen Schulprogrammen der zwanziger Jahre (die eine obligatorische Fachschulstufe als Voraussetzung späteren Hochschulzugangs gefordert hatten) wie vom sowjetischen Schulsystem. Bereits der II. Pädagogische Kongreß forderte am 10. September 1947 „die innere Eingliederung der Oberstufe (Berufsschule und Oberschule) in die Einheitsschule“. […] [Konspekte Martin Morgner] (S.35)