Martin Sabrow Der ostdeutsche Herbst 1989 – Wende oder Revolution? Herrschaftsverlust und Machtverfall. Festkolloquium zu Ehren von Hans-Ulrich Thamer, LWL-Landesmuseum für Kunst- und Kulturgeschichte, Domplatz 10, 48143 Münster, 11.10.2008, 11.00-11.30 Die bald seit 20 Jahren andauernden Bemühungen um die historische Einordnung des so überraschenden wie unvermuteten Zusammenbruchs der diktatorischen Einparteienherrschaft im europäischen Sozialismus belegen zumindest eins ganz unzweifelhaft, dass hier nämlich in besonderem Maße Zeitgeschichte als Streitgeschichte auftritt, in der Real- und Rezeptionsgeschichte untrennbar ineinander verschlungen sind. So hat allein die Frage nach der historisch korrekten Bezeichnung für den Zusammenbruch des SED-Staates eine Kontroverse entfacht, in der dem Nachweis, dass der Begriff im Herbst 1989 zunehmend „im Sinne systemstürzender Veränderungen“ benutzt wurde 1, mit dem volkspädagogischen Gegenargument begegnet wird, dass es „für eine sich auch als Aufklärung verstehende Historiografie gänzlich inakzeptabel“ sei, „dem Volk [...] den Begriff einer Wende“ zuzubilligen.2 Schauen wir hinter dem Arbeitsfeld volkspädagogischer Sprachregelungsambitionen auf die Realität der Sprachverwendung, so zeigt sich, dass die Erinnerung an den Umbruch von 1989 in starkem Maße fragmentiert ist. Die unterschiedlichen Bezeichnungen deuten auf ein mehrfach gespaltenes Milieugedächtnis, in dem voneinander abgeschottete Bilder der DDR-Vergangenheit weitgehend unverbunden nebeneinander stehen. Politisch dominant ist dabei ein „Revolutionserinnerung“, die den öffentlichen Diskurs wie das offizielle Gedenken beherrscht und die DDR als einen im Herbst 1989 – bzw. zwischen den Kommunalwahlen im Mai 1989 und den 1 Michael Richter, Die Wende. Plädoyer für eine umgangssprachliche Benutzung des Begriffs, in: Deutschland Archiv 40, 2007, S. 861-868, hier S. 865. 2 Rainer Eckert, Gegen die Wende-Demagogie – für den Revolutionsbegriff, in: Ebd., S. 1084-1086, hier S. 1085. In seinem Plädoyer für die Verwendung des Terminus „friedliche Revolution“ führt Eckert weiterhin an, dass die „Masse der Ostdeutschen inzwischen die Erinnerung an die Revolution verdrängt oder vergessen hat. Genau hier gilt es anzusetzen. [...] Diejenigen, die die Möglichkeit besitzen, mit ihren jeweiligen Mitteln die öffentliche Meinung mit zu prägen, haben mit diesem Privileg auch die Verantwortung zur Stärkung eines demokratischen Geschichtsbewusstseins übernommen.“ Ebd., S. 1085 f. Mit Recht wies Richter in seiner Replik darauf hin, dass mit solchen Erwägungen der systematische Unterschied zwischen Wissenschaft und Erinnerungskultur gänzlich aufgehoben sei: „Als Historiker bin ich historischen Tatsachen verpflichtet, weniger pädagogischen Erwägungen.“ Michael Richter, Ebenfalls gegen die Wende-Demagogie und für den Revolutionsbegriff, in: Ebd., S. 1086 f., hier S. 1087. Martin Sabrow 1 von 13 13.05.2016 Volkskammerwahlen im Mai 1990 - mutig überwundenen Unrechtsstaat konturiert. Schon die den Begriff der „friedlichen“ oder der „demokratischen Revolution“3 vielfach meidende Alltagssprache im Osten der Republik deutet zugleich die parallele Existenz einer gesellschaftlich dominanten ‚Wendeerinnerung’ an, die sich mit der dauerhaften Spaltung von öffentlichem Geschichtsbild und individueller Erfahrung abgefunden hat. Parallel existiert ein weiteres und in Netzwerken politischer und fachlicher Natur organisiertes Milieugedächtnisses früherer DDR-Eliten, das eine vereinigungskritische Anschlußerinnerung pflegt, die die DDR als Normalstaat und die Vereinigung als koloniale Unterwerfung mit Zustimmung der Kolonisierten in gezielter Analogie zum Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich 1938 erscheint.4 Nun vollzog sich nach gängigen historischen Kriterien die weltgeschichtliche Wende von 1989/91 in Deutschland, durchaus als eine Revolution - auf deren einzelne Etappen ich hier aus Zeitgründen nicht eingehen kann, insofern sie einen nicht umkehrbaren Wandel der politischen und sozialen Zustände herbeiführte5 und mit der bisherigen Herrschafts- und Gesellschaftsordnung auch die Gültigkeit des bislang geltenden Normengefüges aufhob. Vorausgesetzt, dass wir den Revolutionsbegriff nicht radikal historisieren und allein in den spannungsreichen Dualismus von konstitutioneller und monarchischer Herrschaft einlassen, wie Langewiesche gestern vorschlug, oder an den Fortschrittsglauben der klassischen Moderne binden, wie ich selbst gestern argumentierte, gilt: Nicht die Blutigkeit des Umsturzes macht den Begriff der Revolution aus, sondern die Unumkehrbarkeit der von ihr bewirkten plötzlichen Veränderung. Eine scheiternde Revolution wird in den hergebrachten Mustern der Weltorientierung als Hochverrat verhandelt; eine siegreiche Revolution aber setzt mit der historischen Zäsur zugleich neue normative Maßstäbe des Handelns und Denkens, die sich aus den alten Verhältnissen nicht hätten ergeben können. Dass die gängige Sprachpraxis dem Staatsbankrott von 1989 ungeachtet der fachhistorischen Mehrheitsmeinung und auch trotz aller Anstrengungen der öffentlichen Gedenkpolitik die Anerkennung als Revolution verweigert, lässt sich aus dem unheilvollen Einfluss der „Ewiggestrigen“ nicht befriedigend erklären. Nur 173 Vgl. Damm/Thompson auf dem Dresdner Historikertag, 1.10.2008. Roesler. 5 H. Günter, Revolution, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Darmstadt 1992, S. 958973, hier S. 958. 4 Martin Sabrow 2 von 13 13.05.2016 23% der Ostdeutschen wollen nach den Umfragen der letzten Jahre die DDR „zurückhaben“. Meine These ist, dass die verbreitete Scheu vor dem „R-Wort“ im Umgang mit dem Umbruch von 1989/90 sich nicht allein auf die Bildung unterschiedlicher Erinnerungsgemeinschaften nach 1989 und beklagenswerte Integrationsschwächen des Projekts Deutsche Einheit zurückführen lässt, sondern ebenso stark aus den Eigentümlichkeiten des historischen Umbruchs selbst ergibt, der mehr vom Machtverfall der kommunistischen Herrschaft als vom Machterwerb einer erstarkenden Gegnerschaft bestimmt war. Der rasche und widerstandslose Zerfall der SED-Herrschaft im Herbst und Winter 1989 war im wahrsten Sinne des Wortes eine ‚unerhörte Begebenheit‘. Sie sprengte den Denkrahmen der Politik, überstieg die Phantasie der Öffentlichkeit, und sie strafte auch die prognostische Kompetenz der Gesellschaftswissenschaften und besonders der DDR-Forschung Lügen.6 Der Befund, daß der Zusammenbruch der DDR sich hinter dem Rücken der Akteure und Beobachter abspielte, führt freilich zu der naheliegenden Vermutung, daß das Ende nicht vorhergesehen wurde, weil es nicht vorhergesehen werden konnte und seine entscheidenden Kausalfaktoren sich nicht auf der Ebene des politischen Handeln abbildeten. Im nachhinein hat eine solche Sicht allerdings mit der normativen Kraft des Faktischen zu kämpfen, die zeitgenössische Offenheit durch historische Folgerichtigkeit zu ersetzen tendiert. Die Annahme, daß die DDR 1989 mit historischer Zwangsläufigkeit zusammengebrochen sei, ist weit verbreitet, und sie stützt sich im wesentlichen auf drei Erklärungslinien: den Verlust der blockpolitischen Bestandsgarantie, den volkswirtschaftlichen Bankrott und die Kraft der politischen Gegnerschaft. Keiner der drei Faktoren scheint mir für sich allein oder auch im multifaktoriellen Zusammenspiel hinreichend plausibel, um für sich allein oder zusammen den Zusammenbruch der DDR befriedigend zu erklären: Ihre Beistandsgarantie. hatte die 6 Vgl. exemplarisch die aus abwägender und durchaus nicht unkritischer Beobachtung gewonnene Einschätzung Gert-Joachim Glaeßners, der 1988 feststellte: „In den 15 Jahren der Ära Honecker hat die DDR an internationalem Gewicht und innerer Stabilität gewonnen.“ (Die DDR in der Ära Honecker. Politik - Kultur - Gesellschaft, Opladen 1988, S. 11) Im Jahr darauf urteilte derselbe Autor, daß es der DDR „um die Konsolidierung des Erreichten (gehe) und darum, die Weichen für eine krisenfreie Entwicklung der DDR-Gesellschaft bis zur Wende des Jahrhunderts zu stellen. Sie kann dabei, nicht zur Unrecht, eine selbstbewußte Bilanz der Ära Honecker aufmachen“. (Gert-Joachim Glaeßner, Die andere deutsche Republik. Gesellschaft und Politik in der DDR, Opladen 1989, S. 73). Selbst Zbigniew Brzezinski sprach 1989 in seiner Abrechnung mit dem ‚gescheiterten kommunistischen Experiments‘ der DDR als einzigem Ostblockstaat noch relative Stabilität und wirtschaftliche Entwicklungspotenzen zu. (Zbigniew Brzezinski, Das gescheiterte Experiment. Der Untergang der kommunistischen Systeme, Wien 1989, S. 239) Martin Sabrow 3 von 13 13.05.2016 Sowjetunion ihren Satellitenstaaten schon in der polnischen Krise 1981 entzogen; wirtschaftlich war die DDR 1989 angeschlagen, aber nicht bankrott, und sie hatte mit einer desaströsen wirtschaftlichen Lage die ganzen achtziger Jahre hindurch zu kämpfen gehabt; machtpolitisch stellte die immer wieder durch Westexilierung geschwächte Opposition bis zum Tag der Maueröffnung keine ernsthafte Bedrohung des aufgerüsteten Machtapparats der SED-Diktatur dar. Realhistorische Kausalfaktoren allein können nicht plausibel machen, weshalb in einem Land, in dem sich anders als in anderen Ostblockstaaten keine starke oppositionelle Tradition auszubilden vermocht hatte, die Gegnerschaft zum System im Laufe des Jahres 1989 plötzlich wie ein Steppenbrand das Land entflammte.7 Sie allein können nicht begreiflich machen, warum am Ende die Herrschenden selbst in Lähmung verfielen und widerstandslos zusahen, wie ihnen die Macht von einer spontanen und unorganisierten „Vernunft der Straße“ (Christoph Hein) aus den Händen genommen wurde.8 Meine These ist, dass die bekannten realhistorischen Interpretationsmuster in diesem Fall einer zusätzlichen Deutungsdimension bedürfen, die sich weniger auf das äußere Geschehen und objektive politische oder wirtschaftliche Umstände des Zusammenbruchs der DDR richtet als auf die Denk- und Vorstellungswelt, in der diese Umstände wahrgenommen wurden. Ein möglicher Indikator für die Stabilität und die Erosion der kommunistischen Diktatur sind dabei die Geltungskraft bzw. die Brüchigkeit des Konsenszwangs, den die SED-Herrschaft über ihre Bevölkerung ausübte und in dem sie sich auch kraftspendend selbst spiegelte. Die DDR war eben nicht nur eine totale, fürsorgliche oder moderne Zwangsherrschaft9, sondern auch 7 Diese These wird gestützt durch Untersuchungen zum Mentalitätswandel der ostdeutschen Bevölkerung: „Der sich 1989 vollziehende abrupte Zusammenbruch fast jeder gefühlsmäßigen Bindung an das DDR-Regime bei bisher loyalen Bürgern erklärt sich ja nicht als plötzlicher Reflex auf eine etwa ebenso abrupte Verschlechterung der allgemeinen wirtschaftlichen oder politischen Lage der Massen, sondern aus dem spätestens mit dem BRD-Besuch Honeckers sich rasant vertiefenden mentalen Wandel.“ (Heinz Niemann, Meinungsforschung in der DDR. Die geheimen Berichte des Instituts für Meinungsforschung an das Politbüro der SED, Köln 1993, S. 56) 8 Das vielleicht sprechendste Beispiel ist hier die fast groteske Kette von Mißverständnissen und Fehlperzeptionen, die in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 die Mauer in Berlin einstürzen ließ, weil Partei, MfS, Grenztruppen und Volkspolizei - gleichermaßen in „große[r] Aufgeregtheit, Unsicherheit und lähmende Irritation“ paralysiert - dem Ansturm von knapp 100.000 Ost-Berlinern an den Grenzübergangsstellen in Berlin nachgaben. (Hans-Hermann Hertle, Der Fall der Mauer, Opladen 1996, S. #) In der Literatur wird dieses Phänomen bislang eher metaphorisch umschrieben als historisch erklärt: „Das alte System erwies sich als zu entkräftet, als daß es die ‚Wende‘ zu verhindern gewußt hätte, zumal sich die oppositionelle Bewegung wie ein Flächenbrand ausbreitete.“ (Jesse, Der innenpolitische Weg, S. 120) 9 Die Reichweite der genannten Charakterisierungen zur Ortsbestimmung der DDR thematisiert: Konrad Jarausch, Realer Sozialismus als Fürsorgediktatur. Zur begrifflichen Einordnung der DDR, in: Martin Sabrow 4 von 13 13.05.2016 eine Zustimmungsdiktatur, die die vorgebliche Einheit und Einmütigkeit von Herrschenden und Beherrschten immerfort von oben proklamierte und von unten auf den verschiedensten Ebenen akklamieren ließ: in den Zustimmungsritualen der Staats- und Parteiorgane wie in den 100%-Ergebnissen von Volkskammerwahlen, in den Verständigungspraktiken der wissenschaftlichen Forschung wie in der konsensorientierten Spruchpraxis von Zivilgerichten, in der machtvollen Straßenkundgebung wie im geständnisfixierten Schauprozess. Ein aufdringliches Bild von Geschlossenheit prägte die politische Inszenierung der Macht als kollektive Führung, die abweichende Auffassungen als Todsünde des Fraktionismus brandmarkte. Der Neuaufbau der Städte nach dem Zweiten Weltkrieg stellte die Schaffung von Plätzen zur Demonstration politischer Einigkeit obenan, und die Geschichte sozialistischer Macht ist eine Geschichte von Massenaufmärschen und Manifestationen, die immer wieder die Macht der Einigkeit und die Einigkeit der Macht in Szene setzten sollten. Noch im Untergang hielt die SED-Führung bei den Kommunalwahlen vom 5. Mai 1989 ihr auf Fälschung beruhendes Konsensideal einer fast 100%igen Zustimmung höher als den möglichen Legitimationsgewinn durch Glaubwürdigkeit, den eine ungeschönte Abstimmung hätte bringen können. Bei der Abstimmung des Politbüros am 16. Oktober 1989 stimmte auch Erich Honecker für seine eigene Absetzung, so wie 1971 auch der Rücktritt Walter Ulbrichts als Konsens inszeniert worden war. In dieser „Leidenschaft für die Einmütigkeit“ kommt ein Grundmuster kommunistischer Herrschaft zum Ausdruck. Es wirkte ebenso in der blutigen Geständniserzwingung der stalinistischen Repression, die auf das juristische Indiz nichts, auf die gestehende Zustimmung des Verfolgten zu seiner Anklage hingegen alles gab, wie in der Agonie der SED-Herrschaft, als der Nachfolger Honeckers sich der verhängnisvollen rhetorischen Umarmung durch Honecker nicht erwehren konnte, die ihn sofort seines letzten politischen Kredits in der Bevölkerung beraubte. Das den Charakter der teleologischen SED-Herrschaft nicht weniger prägende Gegenstück der Konsensfixierung in der sozialistischen Sinnwelt war das Fortschrittsparadigma samt seiner politischen Avantgarde- und Erziehungskomponente. In der politischen Herrschaftskultur des SED-Staates zeigte es sich vor allem als utopischer Allmachtsglaube. „Auf dem Wege der sozialistischen Aus Politik und Zeitgeschichte, B 20/98, S. 33-46. Vgl. auch: Ders. (Hg.), Dictatorship as Experience (erscheint 1999). Martin Sabrow 5 von 13 13.05.2016 Entwicklung werden wir alle bei uns vorhandenen Schwierigkeiten überwinden könnten“, dekretierte Ulbricht auf der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952. Hinter diesen Worten verbarg sich ein aus der Sowjetunion der dreißiger Jahre entlehnter Glaube an die Allmacht der eigenen Kraft, der von enormer Mobilisierungskraft war. Auf Ulbrichts Proklamation, daß nun der Aufbau des Sozialismus beginne, entbrandete unter den Delegierten ein nicht enden wollender Beifallssturm, und er beflügelte Ulbricht zu einem Satz, in dem der utopische Allmachtsgehalt des stalinistischen Fortschrittsdenkens zum Ausdruck kommt: „Wir werden das Wort ‚unmöglich‘ aus dem deutschen Lexikon streichen!“10 Ein weiteres Merkmal des stalinistischen Fortschrittskonzept bildet seine unerschütterliche und durch keinen Fehlschlag zu brechende Zukunftsgewißheit, die noch die Baupläne in der Berliner Stalinallee als „Blick in Deutschlands Zukunft“ feierte.11 Auch hier markierte die 2. Parteikonferenz vom Juli 1952 das Ausgangsdatum mit ihrem Beschluß, „daß in der Deutschen Demokratische Republik der Sozialismus planmäßig aufgebaut wird“. Hier tritt zum ersten Mal die Amalgamierung von Fortschritt und Plan zutage, die im weiteren das Bild der gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR und vor allem die Wahrnehmung ihrer Gestalter prägen sollten. Fortschrittsgläubigkeit und Planungseuphorie schufen eine gedachte Wirklichkeit, die sich vom permanenten Zwang zur Plankorrektur ebensowenig erschüttern ließ wie von der allgegenwärtigen Diskrepanz zwischen Planvorgabe und Planrealität. Als der V. Parteitag der SED fünf Jahre später in Fortführung dieses Beschlusses eine „Schlacht der 1000 Tage“ proklamierte, war der Verlautbarung nicht anzumerken, daß in der Zwischenzeit statt gleichmäßiger Entwicklung ein Wechselbad von rücksichtsloser Stalinisierung, Volksaufstand und Neuem Kurs geherrscht hatte: „Die Volkswirtschaft der Deutsche Demokratische Republik ist innerhalb weniger Jahre so zu entwickeln, daß die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung der DDR gegenüber der Herrschaft der imperialistischen Kräfte im Bonner Staat eindeutig bewiesen wird und infolgedessen der Pro-Kopf-Verbrauch unserer werktätigen Bevölkerung mit allen wichtigen Lebensmitteln und Konsumgütern den Pro-Kopf-Verbrauch der Gesamtbevölkerung in Westdeutschland erreicht und übertrifft.“12 10 Wollweber, S. 357. Blick in Deutschlands Zukunft. Zu den Entwürfen der architektonischen Neugestaltung Berlins an der Stalinallee, in: Neues Deutschland, 13.9.1951. 12 Walter Ulbricht, Über die Dialektik unseres sozialistischen Aufbaus, S. 94. 11 Martin Sabrow 6 von 13 13.05.2016 In den späten sechziger und vor allem in den siebziger Jahren unterlag auch dieser emphatische Fortschrittsglaube einem schleichenden Wandel. Während ‚Fortschritt’ unter Ulbricht noch alle Bereiche des sozialen Lebens bis hin zu Moral und Partnerschaft erfaßt hatte, wurde er unter Honecker zu einer reduktionistischen Größe, die sich immer stärker verengte und unter Entleerung ihres utopischen Gehaltes „vom Morgen zum Heute“13 schrumpfte, um in der „Verknüpfung des sozialökonomischen und des wissenschaftlich-technischen Fortschritts“ ihre Standardphrase zu finden.14 Dahinter verbarg sich ein zunehmenden Sinnverlust des Fortschrittsbegriffs überhaupt, der seine einst inflationäre Verwendung im letzten Jahrfünft der DDR spürbar zurückdrängte. Das Wort „Fortschritt“ hatte als Leitkategorie der sozialistischen Moderne in ihrer finalen Krise nahezu ausgedient, und ihr heimlicher Nachfolger hieß „Wettlauf mit der Zeit“. Die Postmoderne hat die DDR nicht mehr erreicht. Aber der in die Krise geratene Fortschritt konnte sich in ihr am Ende nur noch um den Preis der zunehmenden Abkapselung und Ritualisierung behaupten. Im Laufe der achtziger Jahre kam dem SED-Staat nicht nur die Zukunft abhanden, sondern auch der Fortschritt.15 In der späten Honecker-Ära wurde das Jahr 2000 seltener beschworen als in der frühen Ulbricht-Ära, und am Ende der achtziger Jahre war der zeitlich diffus und räumlich immer weiter eingeengte Fortschrittsbegriff seiner realitätskonstituierenden Kraft im sozialistischen Sinnhorizont gänzlich verlustig gegangen und zu einer überlebten Floskel der langue de bois geworden, die nur noch in der Sprache von SED-Funktionären anders als ironisch gebraucht wurde.16 Während der Fortschrittsbegriff in der DDR seinen lexikalischen Sinn unverändert wahrte, wandelte sich sein Stellenwert in der politischen Herrschaftskultur der DDR 13 Staritz, Geschichte der DDR, S. 176 Wissenschaftlich-technischer Fortschritt – Arbeiterklasse – Neuererbewegung, in: der neuerer, H. 2/1976, S. 44-52, hier S. 44. Sigrid Meuschels Diagnose zufolge wurde im realen Sozialismus die soziale Utopie selbst in weite Ferne geschoben, aber Teile von ihr wie Gleichheit, Homogenität, Sicherheit in die Gegenwart geholt. „Deren Legitimität bemaß sich seither nicht länger an ihren Zukunftspotentialen, sondern sollte vor einer schlechteren Vergangenheit und im zeitgenössischen Vergleich mit westlichen Gesellschaftsordnungen bestehen können.“ Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, S. 26. 15 „Der Glaube, der wissenschaftlich-technische Fortschritt werden die kommunistische Zukunftsgesellschaft, zumindest was ihre materiell-technische Grundlage und ihre sozialen und kulturellen Errungenschaften betrifft, quasi automatisch herbeiführen, ist dahin.“ Gert-Joachim Glaeßner, Wissenschaftlich-technische Revokution – Intelligenz – Politik in der DDR. Soziale und ideologische Differenzierungsprozesse und ihre Folgen für das politisch-gesellschaftliche System, in: Tradition und Fortschritt in der DDR. Neunzehnte Tagung zum Stand der DDR-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1986, S. 11-27, hier S. 26. 16 „1989 schließlich hatte die Jahrestagspropaganda zeitkulturell nichts mehr anzubieten.“ Gries, Zum „Geburtstag der Republik“, S. 310. 14 Martin Sabrow 7 von 13 13.05.2016 von einem utopischen Aufbruchskonzept mit totalitären Zügen in den fünfziger Jahren zu einer wissenschaftlich berechenbaren Plangröße in den sechziger Jahren, um dann in den siebziger Jahren mehr und mehr zu einer fremdbestimmten Herausforderung zu Erschließungsfunktion werden überhaupt und schließlich auch den Rest mit seiner seiner kulturellen legitimatorischen Bindungskraft zu verlieren. Zukunftsverlust und Fortschrittsverlust spiegeln die Aushöhlung eines auf das Neue gerichteten Zeitverständnisses in der politischen Kultur des SED-Staates, dessen ursprüngliche Mobilisierungskraft sich am Ende gegen diesen Staat selbst richtete und ihn als eine erstarrte Welt ohne Zukunft demaskierte. Ebenso lässt sich das immer raschere Ausgreifen der staatlichen Legitimations- und ‚kollektiven Identitätskrise‘17 in der Spätphase der DDR am fortschreitenden Zerfall ihrer nicht mehr Konsensfixierung als ‚verständlich zurückzuführen, die und selbstverständlich nun parallel zu hingenommenen‘ ihrer erodierenden Geschlossenheit und Abschottung in ihrer tagtäglich reproduzierten Fiktionalität sichtbar wurde.18 Diesen Zerfall demonstriert die Welle empörter Briefe, die Kurt Hagers Büro erreichte, nachdem der ZK-Sekretär im April 1987 den Vormarsch von Glasnost und Perestroika zum bloßen Tapetenwechsel gemacht hatte, ihn demonstriert die zunehmende Aufsässigkeit gegen die immer deutlicher als absurd empfundenen Spielregeln oder die Aufspaltung des individuellen Verhaltens in äußere Anpassung innere Flucht in den Zynismus, von der in der Rückschau so viele Stimmen zeugen.19 Das Verbot des Sputnik im November 1988 führte zu empörten Massenprotesten in einem Land, das an die staatliche Regulierung des gedruckten Wortes gewohnt war wie kaum ein anderes; die Fälschung der kommunalen Wahlergebnisse vom 5. Mai 1989 demaskierten plötzlich ein System, das nie zuvor in den Verdacht geraten war, den in Abstimmungen zum Ausdruck kommenden Wählerwillen ernstlich respektieren zu wollen. 17 Klaus-Jürgen Scherer, Gab es eine DDR-Identität?, in: Rolf Reißig/Gert-Joachim Glaeßner (Hg.), Das Ende eines Experiments. Umbruch in der DDR und deutsche Einheit, Berlin 1991, S. 296-316, hier S. 305. 18 Zum Verhältnis von „Fiktionen“ und „Realität“ in der finalen Krise der DDR s. auch: Alf Lüdtke, Die DDR als Geschichte. Zur Geschichtsschreibung über die DDR, in: Aus Parlament und Zeitgeschichte, B 36/98, S. 3-16, hier S. 11 f., u. ders., Sprache und Herrschaft in der DDR. Einleitende Überlegungen, in: Ders./Peter Becker (Hg.), Akten. Eingaben. Schaufenster. Die DDR und ihre Texte. Erkundungen zu Herrschaft und Alltag, Berlin 1997, S. 11-26, bes. S. 21 ff. 19 Ebd., S. 110 ff. Martin Sabrow 8 von 13 13.05.2016 Der Bankrott der DDR im Herbst 1989 war ebenso sehr ein kulturelles und wie ein politisches oder volkswirtschaftliches Phänomen. Schon der städtebaulicher Verfall und die ökologischer Devastierung hatten nicht erst in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre eingesetzt, aber erst mit der Veränderung der Wahrnehmungs- und Wertungsstandards eroberten sie das Bewußtsein der Bevölkerung in einer Weise, daß rückblickend zu bloßem Niedergang wurde, was zeitgenössisch durchaus auch als bemerkenswerte Bauleistung und respektable Restaurierung des historischen Erbes etwa in Dresden oder Berlin registriert worden war.20 Die in der Wende auftauchenden Enthüllungen über Amtsmißbrauch und Existenzprivilegien der alten Eliten fanden dann in der Bevölkerung auch deswegen eine westlichen Beobachtern oft erstaunliche Resonanz, weil sie die Verabschiedung und Distanzierung von den gewohnten und gelebten Orientierungsrahmen auf dem Wege der Empörung ermöglichten: „Also ich muß sagen, für mich ist da im nachhinein, als dann so alle Schweinereien aufgedeckt wurden, irgendwo eine Welt zusammengebrochen. Und ich habe lange gebraucht, lange gebraucht, bis ich das verdaut hatte, weil ich mich derart auch benutzt und mißbraucht gefühlt hatte.“21 Schließlich öffnete der Umbruch offenbar auch vielen Werkzeugen der Diktatur etwa in der Staatssicherheit erst das volle Bewußtsein für den Charakter ihrer Beziehungen zu ihren gedungenen und gedrungenen Zuträgern.22 Noch Günter Gaus hob 1983 in seiner im Rückblick so fragwürdig gewordenen „Ortbestimmung“ der DDR den „unverwechselbaren Charakter des Ensemblespiels von Kleinstadt, Dorf und Landstraße“ hervor und streifte aufmerksamen Auges durch Ost-Berlins streifen, ohne so etwas wie städtebaulichen Verfall überhaupt wahrzunehmen. (Gaus, Wo Deutschland liegt, S. 172 und 83 f.) 21 Interviewäußerung einer um 1950 geborenen Angehörigen der ‚Intelligenz‘ von 1991, zit. b. Dieter Geulen, Politische Sozialisation in der DDR. Autobiographische Gruppengespräche mit Angehörigen der Intelligenz, Opladen 1998, S. 259. Aufschlußreich ist in unserem Zusammenhang die als Protokoll einer Selbsterfahrung abgefaßte Bericht eines Redakteurs des Neuen Deutschland über Wandlitz, der noch in der Wende in Buchform publiziert wurde (Peter Kirschey, Wandlitz/Waldsiedlung – die geschlossene Gesellschaft. Versuch einer Reportage. Gespräche. Dokumente, Berlin (O) 1990). Zur Thematisierung und Kanalisierung des seit November 1989 die öffentliche Debatte beherrschenden Korruptionsvorwurfs siehe: Volker Klemm, Korruption und Amtsmißbrauch in der DDR, Stuttgart 1991. 22 Auch unter Berücksichtigung eines wunschbiographischen Selbstschutzfaktor bleibt die Kluft zwischen der Perzeption vor und nach 1989 etwa in der folgenden Interviewäußerung eines ehemaligen Führungsoffiziers des Ministeriums für Staatssicherheit erstaunlich: „Allerdings muß ich sagen, ich hatte es während meiner ganzen Tätigkeit im MfS immer mit IMs zu tun, die nicht zu einer Zusammenarbeit gezwungen worden sind. Sondern es gab, in welchem Grad und auf welchem Gebiet auch immer, eine gewisse Interessenübereinstimmung. So habe ich das damals von meiner Seite aus gesehen. [...] Ich habe jetzt im nachhinein auch eine andere Erfahrung gemacht. Einem IM, den ich geführt habe, bin ich jetzt zufällig in einem Warenhaus begegnet. Er hat mich um ein Gespräch gebeten. Bei diesem Gespräch hat er mir gesagt, daß er sehr große Angst hatte, wenn er zu unseren Gesprächen gekommen ist. Das habe ich, in seinem Fall, bei den Gesprächen gar nicht bemerkt. Darum sage ich: Aus meiner subjektiven Sicht ist es so gewesen, daß ich der Auffassung war, er arbeitet freiwillig mit. [...] Warum ich nicht bemerkt habe, daß er Angst hatte, weiß ich nicht.“ (Zit. b. 20 Martin Sabrow 9 von 13 13.05.2016 Der seit Mitte der achtziger Jahre auch aus den Akten zu entnehmende Delegitimierungsprozeß verlief bekanntlich für die Machthaber durchaus nicht unbemerkt. Wieder und wieder ist die besorgniserregend anschwellende Westwanderung der Wissenschaftler, die Zunahme der Reisekader, das Eindringen westlichen Gedankenguts Gegenstand von Berichten und Abwehrmaßnahmen auf allen Ebenen des Partei- und Staatsapparats. Doch der entscheidendste Umstand für die Selbstlähmung der Macht lag vielleicht in dem Paradoxon, daß über erstaunlich lange Zeit die Erosion in der Maske der Festigung auftrat, die innere Destabilisierung der oktroyierten Wirklichkeitsordnung innen wie außen als Stabilisierung des wahrgenommen sozialistischen wurde. Aus Systems diesem durch Blickwinkel internationale bilden Integration Stabilität und Zusammenbruch der DDR weniger ein unvereinbares Paradoxon als vielmehr ein unlösbares Bedingungsgefüge: Gerade weil die äußere Fassade der diskursiven Herrschaftslegitimation ohne Risse blieb und durch die wachsende internationale Anerkennung sogar noch Stärkung erfuhr, konnte die innere Aushöhlung ungestört voranschreiten und in eine plötzliche Implosion münden.23 Und womöglich erklärt sich eben hieraus auch das weitverbreitete Unbehagen an der Etikettierung des DDR-Untergangs als Revolution: Der Untergang des SED-Staates folgte weniger aus der Niederlage gegen einen erstarkten Gegner, sondern besiegelte vor allem eine innere Auflösung aus eigener Schwäche. An den Herbstereignissen des Jahres 1989 läßt sich der atemberaubende Verfall der im SED-Staat geltenden Wirklichkeitssicht nicht nur für die Unterworfenen, sondern auch für die ideologischen Träger des Regimes Schritt um Schritt nachvollziehen. Ihn protokollierte beispielsweise für Leipzig Hartmut Zwahr und am eindringlichsten für den Tag, an dem vielleicht das Schicksal der DDR besiegelt wurde, für den 9. Oktober: „Die Dozentin, die von der Karl-Marx-Universität gekommen war, spürte, wie das Ausgrenzungsmuster, das sie verinnerlicht hatte, zerfiel. ‘Ich las die Anschläge, über die Verhaftungen, auch den Bericht einer ehemaligen Studentin von Olaf Georg, Klein, Plötzlich war alles ganz anders. Deutsche Lebenswege im Umbruch, Köln 1994, S. 89) 23 Zu einem analogen Ergebnis kommt Ralph Jessen in seiner Untersuchung des von ihm so genannten ‚kommunikativen Stils‘ im DDR-Sprachritualismus, wenn er feststellt, „daß sich in der kommunikativen Praxis die Handlungen und Interessen von Herrschaftsinstanzen und Herrschaftsadressaten verquickten und eine Art paradoxe, auf Stagnation zulaufende Eigendynamik entfalteten, in der die ‚Fügsamkeit‘ in Herrschaftszumutungen und die Unterordnung unter Sprachnormen ungewollt und schleichend den Bestand des Herrschaftssystems selbst unterhöhlten“. (Jessen, Diktatorische Herrschaft, S. 73) Martin Sabrow 10 von 13 13.05.2016 mir: Warum begegnet ihr uns so, mit diesem Haß in den Augen, so feindlich?, fragte sie. Seltsam. So dachte ich auch, aber über die andere Seite.’ Das Schlimmste scheint“, so kommentiert Zwahr diesen Bericht einer die Seite wechselnden DDRBürgerin, „daß sich Ausgrenzungsmuster derart halten konnten. Waren sie nicht Ergebnis einer verheerenden Indoktrination und eines zerstörerischen Realitätsverlustes?“ In diesem Fall aber zerfiel eine jahrzehntelang tagtäglich neu bestärkte Wirklichkeit in Minuten; die Universitätsdozentin bleibt in der belagerten Nikolaikirche: „Von draußen drangen Pfiffe und Buhrufe zu uns herein. Wir dachten, es gelte uns, weil man wisse, wer hier mit drinnen sitzt. Ich hatte Angst. Ich setzte meine Brille auf, die andere, die stabilere.“24 Das Handeln der Dozentin, die mit einem Mal die Seite wechselt, steht für die massenhafte Kündigung eines gesellschaftlichen Grundkonsenses auf allen Ebenen des gesellschaftlichen und staatlichen Handelns, der nicht zuletzt auf einer künstlichen Wirklichkeitsordnung aufgebaut war.25 Damit findet auch der bemerkenswerte Umstand eine Erklärung, daß die Abwendung vom SED-Regime nach einer Erhebung von Infratest aus dem Spätherbst 1989 sich in dessen Agonie unterschiedslos durch alle Bevölkerungsgruppen in der DDR zog und die Gruppe der ideologisch Überzeugten nicht anders erfaßte als die in loyaler Widerwilligkeit Lebenden.26 Die restlose Zerstörung des Legitimationsglaubens gegenüber dem bisherigen Herrschaftssystem ging, wie dasselbe Gutachten resümiert, mit einem „Prozeß der völligen Neuorientierung“ einher, der das Denken und Fühlen der Beteiligten „zwischen Wut und Schuldgefühlen, einem neu erwachenden Selbstbewußtsein aber auch Selbstzweifeln“ schwanken ließ.27 Im Zuge dieser Entwicklung wurde eine über Jahrzehnte hinweg aufgebaute ‚öffentliche Realität‘ in demselben Maße zur Irrealität, in dem sie ihre sprachlichen Vermittlungswerkzeuge 24 Hartmut Zwahr, Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR, Göttingen 1993, S. 92. 25 Freilich verlief dieser Verfall nicht einheitlich, und der friedliche Verlauf des Umbruchs von 1989 sollte nicht vergessen lassen, daß den Demonstranten am 9. Oktober in Leipzig NVA-Truppen gegenüberstanden, die nach dem Empfang von scharfer Munition mit dem Schießbefehl rechneten und trotzdem in der Realität des Herrschaftssystems lebten: „Ich hätte es wohl getan. Man war da so drin.“ (Aussage eines NVA-Offiziers, der am 9.10.1989 in Leipzig eingesetzt war, in: Infratest Kommunikationsforschung, Die aktuelle Situation in der DDR nach dem 09.11.1989. Gruppendiskussion mit Bewohnern aus der DDR, München 1989, S. 19) 26 „Der Bruch mit dem alten sozialistischen System stalinistischer Prägung und dessen Repräsentanten ist einhellig. Er reicht vom enttäuschten Kommunisten bis zum sich militant gebärdenden Antikommunisten.“ (Infratest, Die aktuelle Situation, S. 41) 27 Ebd., S. 39. Analoge Beispiele für den Bereich der Medien bei: Roland Reck, Wasserträger des Regimes. Rolle und Selbstverständnis von DDR-Journalisten vor und nach der Wende 1989/90, Münster 1996, S. 259 f. Martin Sabrow 11 von 13 13.05.2016 verlor. Übrig blieben als Relikte einer künstlichen Weltordnung die vordem Herrschenden, denen nun für ihr eigenes Tun buchstäblich die Worte fehlten, wie der vormalige ZK-Sekretär für Agitation und Propaganda im Januar 1990 in der Verhandlung über seinen Parteiausschluß vor der Zentralen Schiedskommission der SED-PDS vorführte: „‘Nein, ich habe nicht bewußt gelogen, ja, es muß ja so herauskommen. Ich will nur noch mal folgendes sagen. Dagegen stand ..., ich kann nur das sagen ..., ich habe gesagt, ich bedauere zutiefst, daß ich nicht den Schritt getan habe, aus diesem Wissen heraus, in der Führung die Fragen so aufzuwerfen. [...] Die zweite Frage ist [...], daß danebenstand die Frage, wenn wir in den Massenmedien von der Erfolgspropaganda – ich nenne diesen Begriff hier mal, weil, es war ein stehender Begriff -, wenn wir davon abgehen und dem Gegner Raum geben ... Ich muß das jetzt so zitieren, wie das jetzt, heute, nicht wahr, eh, eh, eh, eh, eigenartig klingt ...‘ Zwischenruf: ‚Du darfst die Begriffe von damals ruhig verwenden.‘ ‚Erfolgspropaganda, dann, eh, die Frage, den Anfängen wehren. [...] Gerade nach den Ereignissen in Ungarn und in Polen stand die Frage, den Anfängen wehren und nicht irgendwelchen Dingen Raum geben, die der Gegner, der politische Gegner ausspielen kann. [...] Und ich kann nur sagen, daß das keine bewußte Handlung war, obwohl sie als solche erscheinen muß, weil sie so gewirkt hat.‘“28 Der Verfall einer oktroyierten Wirklichkeitsordnung half eine Parteidiktatur in den Untergang zu treiben, deren Machtsäulen äußerlich noch bis zum Abend des 9. November unversehrt dastehen, und er kann einen erklärenden Beitrag zu der unerhörten Begebenheit liefern, daß „ein paar hundert Schmuddelkinder aus den Kellern der Gemeindehäuser und ein gutes Dutzend evangelischer Pastoren [...] die waffenstarrende Diktatur überwunden“ haben29, der – mit Mary Fulbrook zu sprechen - der ‚Wille zum Herrschen‘30 verloren gegangen war. Fazit Für den Umbruch von 1989 scheint mir ganz offensichtlich, dass die kulturellen Bedingungsfaktoren des Machtverfalls eine stärkere Rolle spielen als die politischen Handlungsfaktoren des revolutionären Machterwerbs. Der besondere Charakter des 28 Äußerung Joachim Herrmann, 20.1.1990, zit. n. Kirschey, Geschlossene Gesellschaft, S. 78 Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989, Bonn 1998, S. 341. 30 Fulbrook, Anatomy of a Dictatorship, S. 257. 29 Martin Sabrow 12 von 13 13.05.2016 Umbruchs in der DDR 1989/90, der mehr auf dem Verfall von Konsensordnung und Fortschrittsperspektive beruhte als auf der Entfaltung politischer Gegenmwacht setzt sich in der Uneinheitlichkeit seiner nachträglichen Benennung fort. Begriffsgeschichtlich ungeachtet seiner stupenden Gewaltlosigkeit zweifellos unter den gängigen Revolutionsbegriff subsumierbar, präsentiert der Herbst 1989 sich erinnerungsgeschichtlich als ein Staatsbankrott, und seine im Gedächtnis unserer Zeit haftenden Bildikonen sind die hilflosen Sprecher der Macht wie Schabowski und mit ihnen die freudetrunkenen Massen bei der Maueröffnung, aber eben keine Helden des Umsturzes und Bannerträger des Neuen. Im semantischen Streit um den Umbruch 1989/90 als Wende oder Revolution spiegelt sich daher nicht so sehr ein ärgerliches Fortleben ostalgischer Ressentiments im Kampf der Systeme als vielmehr eine sensible Reaktion auf das Ende einer Moderne, die noch an den Fortschritt glaubte. Im Machtverfall der kommunistischen Diktatur genauso wie in der späteren Erinnerung präsentiert die Revolution von 1989/90 sich eben nicht mehr mit Karl Marx als Lokomotive der Weltgeschichte, sondern als deren historischer Prellbock31, der am Ende eines falschen Weges steht. Mit der Zuerkennung des Revolutionsprädikats verbindet sich für den Umbruch 1989/90 zugleich die Entleerung des Revolutionscharakters, der die Emphase seiner vorwärtsstürmenden Sprengkraft gegen die Biederkeit eines historischen Bremsassistenten eingetauscht hat. 31 Ein Prellbock, auch Pufferwehr oder Gleisabschluss, dient dem Abschluss eines Gleises bzw. Stumpfgleises einer Eisenbahnstrecke und verhindert, dass ein Zug oder ein Waggon über das Schienenende hinaus rollen kann. Prellböcke sind meist so beschaffen, dass möglichst viel Energie des rollenden Zuges aufgenommen werden kann, damit der Zug nach Möglichkeit unbeschädigt bleibt. Der Prellbock kann dabei unter Umständen verformt oder zerstört werden. Wikipedia. Martin Sabrow 13 von 13 13.05.2016