Skript 01

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WS 2013/14
Prof. Dr. Hans-Werner Hahn
Vorlesung: Europäische Revolutionen 1848/49
I.
Gliederung der Vorlesung:
10. 4. Einleitung – Die Ursachen der Revolutionen von 1848.
17. 4. Unruhen in Europa und die Februarrevolution in Frankreich.
24. 4. Die deutsche Märzrevolution.
8. 5.
Die Verrechtlichung der deutschen Revolution.
15. 5. Die deutsche Nationalversammlung und die einzelstaatlichen Parlamente.
22. 5. Das Ende des "Völkerfrühlings": Nationalitätenkonflikte und Kriege in Europa.
29. 5. Revolution und Öffentlichkeit Teil 1: Politische Strömungen und Vereine/Parteien.
5. 6.
Teil 2: Gesellschaftliche Interessen, Revolutionserwartungen, -bilder, -helden.
12. 6. Ursachen und Folgen der "Septemberkrise" und die Chance einer zweiten Revolution.
19. 6. Sieg der Gegenrevolution in Österreich und Preußen.
26. 6.
Reichsverfassung und Kaiserwahl.
3. 7. Die Reichsverfassungskampagne und ihr Scheitern.
10. 7. Ursachen und Folgen des Scheiterns der europäischen Revolutionen.
II.
Wichtigste Veröffentlichungen zur Revolution von 1848
A) Darstellungen und Forschungsberichte
Christof DIPPER/ Ulrich SPECK (Hrsg.), 1848. Revolution in Deutschland, Frankfurt am Main
1998.
Dieter DOWE/ Heinz-Gerhard HAUPT/ Dieter LANGEWIESCHE (Hrsg.), Europa 1848.
Revolution und Reform, Bonn 1998.
Lothar GALL (Hrsg.), 1848. Aufbruch zur Freiheit, Frankfurt am Main 1998.
Frank ENGEHAUSEN, Die Revolution von 1848/49, Stuttgart 2007.
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Rüdiger HACHTMANN, Epochenschwelle zur Moderne. Einführung in die Revolution von
1848/49, Tübingen 2002.
DERS., 150 Jahre Revolution von 1848. Festschriften und Forschungserträge, 2 Teile, in:
Archiv für Sozialgeschichte XXXIX, S. 447-493; XL, S. 337-401.
Dieter HEIN, Die Revolution von 1848/49, 3. Aufl. München 2004.
DERS., Revolution in Deutschland und Europa. 1848/49 in Neuerscheinungen des
Jubiläumsjahres, in: Neue Politische Literatur 44, 1999, S. 276-310.
Dieter LANGEWIESCHE, Europa zwischen Restauration und Revolution 1815-1849. (=
Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Bd. 13) 4., überarb. u. erw. Aufl. München 2004.
DERS., Die deutsche Revolution von 1848/49 und die vorrevolutionäre Gesellschaft:
Forschungsstand und Forschungsperspektiven, Teil II, in: Archiv für Sozialgeschichte XXI,
1981, S. 458-498 und XXI, 1991, S. 331-443.
Frank Lorenz MÜLLER, Die Revolution von 1848/49, Darmstadt 2002.
Walter SCHMIDT u. a., Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution 1848/49, 3., erg. u.
überarb. Aufl. Berlin 1973.
Wolfgang SIEMANN, Die deutsche Revolution von 1848/49, (= Moderne Deutsche
Geschichte, Bd. 5) Frankfurt am Main 1985.
Jonathan SPERBER, The European Revolutions. 1848-1851, 2. Ed. Cambridge 2005.
Veit VALENTIN, Geschichte der deutschen Revolution 1848-1849, 2 Bde., Berlin 1930-31,
Neudruck Köln 1970.
Hans-Ulrich WEHLER, Von der Reformära bis zur industriellen und politischen "Deutschen
Doppelrevolution" 1815-1845/49, (= Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2) 4. Aufl.
München 2005.
B) Quellenpublikationen zur deutschen Revolution
Walter GRAB (Hrsg.), Die Revolution von 1848/49. Eine Dokumentation, München 1980.
Hans FENSKE (Hrsg.), Quellen zur deutschen Revolution 1848-1849, Darmstadt 1996.
Hans OBERMANN (Hrsg.), Flugblätter der Revolution. Eine Flugblattsammlung zur Geschichte
der Revolution von 1848/49, Berlin 1970.
Stefan GERBER (Hrsg.), Revolution 1848/49, (= Quellen zur Geschichte Thüringens, Bd. 13)
Erfurt 2000.
-2-
III.
Vom schwierigen Umgang mit einer gescheiterten Revolution
A) Revolutionsbegriff
Revolutionen sind besondere Verlaufsformen des historischen Prozesses, die seit langem
eine besondere Beachtung in der historischen Forschung gefunden haben. Revolution im
modernen Sinne meint eine "politisch-soziale Totalumwälzung". Dieser moderne Revolutionsbegriff ist, wie vor allem der frühere Jenaer Historiker Karl GRIEWANK herausgearbeitet
hat, erst das Produkt der Neuzeit. Seine entscheidende politische Aufladung erhielt dieser
Begriff durch die Französische Revolution von 1789. Sie wurde nicht nur als große und
zielgerichtete Umgestaltung der französischen Verhältnisse empfunden, sondern auch als
Beginn einer neuen dynamischen Entwicklungsgeschichte der ganzen Menschheit, die einem
unumkehrbaren Fortschritt Bahn brach. Die neue Wortbedeutung stand nicht mehr nur für
eine besondere Form von Geschehen, sie stand zugleich für die Machbarkeit von Fortschritt.
Revolution: das war nun eine Sache der Erkenntnis (Notwendigkeit einer Revolution), der
wohldurchdachten Organisation, der bewussten und begründeten Absicht zur Umgestaltung
der Welt. Während das Bürgertum schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts - vor allem
in Deutschland - eher auf Revolutionsvermeidung und den Weg der Reformen setzte, wurde
die sozialistische Bewegung seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts zum wichtigsten
Träger des Revolutionsgedankens. Für Karl MARX waren die vom sozialökonomischen
Wandel vorbereiteten Revolutionen die "Lokomotiven" des historischen Prozesses.
Ausführlich
zum
Revolutionsbegriff:
Karl
GRIEWANK,
Der
neuzeitliche
Revolutionsbegriff. Entstehung und Entwicklung, Weimar 1955, Neudruck Hamburg 1992.
B) Revolutionsforschung
Die Auseinandersetzungen um den Revolutionsbegriff haben mehrere Revolutionstheorien
hervorgebracht. Gestützt auf das Revolutionsverständnis von MARX, ENGELS und LENIN hat
die marxistische Geschichtswissenschaft versucht, die gesamte Neuzeit durch die drei
Revolutionszyklen - frühbürgerliche, bürgerliche (u. a. 1848) und proletarische Revolution analytisch zu erschließen. Die marxistische Revolutionstheorie hat zeitweise die Debatten
befruchtet, aber sich schon vor 1989 aufgrund des ihr eigenen Dogmatismus den Blick auf
wichtige Bereiche von Revolutionsverläufen verstellt. Das Gleiche galt für im Westen
entstandene Revolutionstheorien, mit denen versucht wurde, eigene entwicklungsgeschichtliche Perspektiven von universalem Zuschnitt zu entwickeln.
Gegenüber den Revolutionstheorien sind vor allem drei Kritikpunkte vorzubringen:
1. Sie sind zu sehr vom jeweiligen Fortschrittsdenken bestimmt.
2. Dadurch gerät aus dem Blickfeld, dass die neuzeitlichen Revolutionen meist nicht auf
ein großes Ziel gerichtet sind, sondern von einer Fülle unterschiedlicher Trägerschichten und Interessen geprägt sind. So spricht die neuere Forschung zur Französischen Revolution vom Nebeneinander der staatlich-politischen, der städtischen und
der bäuerlichen Revolution.
3. Im Grunde sind alle Versuche gescheitert, aus der historischen Revolutionsanalyse
prognostische Revolutionstheorien zu entwickeln.
C) Neue Tendenzen bei der Erforschung der Revolution von 1848/49
Neuere Arbeiten zu den europäischen Revolutionen des Jahres 1848 haben ebenfalls
gezeigt, dass das Revolutionsgeschehen zwar Gemeinsamkeiten und Zusammenhänge
aufwies, aber zugleich auch von sehr unterschiedlichen Akteuren, Verlaufsformen und
Interessen bestimmt war. Das konnte in einer Zeit, die von einem tief greifenden sozialen,
wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Umbruch geprägt war, und bei dem unterschiedlichen Entwicklungstempo in den einzelnen Teilen Europas eigentlich auch gar nicht
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anders sein. Selbst in Bezug auf einzelne Revolutionen, also etwa der deutschen Revolution
von 1848, ist es heute nicht mehr möglich, diese Revolution mit einem eindeutigen Etikett zu
versehen. Früher hat man oft von der "bürgerlichen Revolution" gesprochen. Zwar ist es
unbestritten, dass es 1848 in Deutschland auch um die Durchsetzung bürgerlicher Ziele Verfassungsstaat, Einheit der Nation, neue Wirtschaftsordnung - ging. Aber diesen
zukunftsweisenden Zielen standen auch ganz andere gegenüber. Für große Teile der
Gesellschaft war die Revolution auch der Versuch, ihre alte, scheinbar bewährte Lebenswelt
gegen die Eingriffe der Moderne zu verteidigen. Die neuen erfahrungs- und wahrnehmungsgeschichtlichen Forschungsansätze, die sich mit dem Verhalten und den Wahrnehmungen in
"kleinen" Lebenswelten beschäftigen, haben den Blick auf eine ganz andere Seite der Revolution gerichtet und deutlich gemacht, dass wir es auch in Deutschland 1848 mit zwei großen
Revolutionsebenen zu tun haben: der Ebene der institutionalisierten Revolution (Parlamente,
Vereine, Presse, Verbände), die dauerhafte neue Strukturen schaffen wollte, und der Ebene
der spontanen Revolution, die in der Tradition älterer Protestformen stand und bei der es vor
allem um konkrete Forderungen aus der jeweiligen Lebenswelt ging (gerechte Löhne,
bezahlbare Preise, Schutz bisheriger Arbeits- und Lebensformen). Es gab Verbindungen
zwischen beiden Ebenen, aber jeder Strang wies zunächst einmal eine eigene Rationalität,
eigene Erfolge und Niederlagen auf.
D) Die Revolution von 1848/49 in der Geschichtskultur der Deutschen
Die Revolution von 1848 gehörte lange Zeit zu den umstrittensten Ereignissen der neueren
deutschen Geschichte. Die konservativen Zeitgenossen sprachen spöttisch vom "tollen Jahr",
von der Revolution der Romantiker (Barrikadenkämpfer) oder vom unfähigen Frankfurter
Professorenparlament. Die negative Einschätzung der Revolution von 1848 im Geschichtsbild
der Deutschen hat sich im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr und mehr verfestigt. Die Gründe
lagen darin, dass wichtige Ziele der Revolution - die deutsche Einheit - am Ende von oben,
von BISMARCK durch militärische Erfolge verwirklicht wurden und dass sich auch der
Großteil des Bürgertums ein Geschichtsbild aufdrängen ließ, das in 1848 entweder ein
zweitrangiges Vorspiel oder sogar eine Sackgasse auf dem Weg zur deutschen Einheit sah.
Nur linksliberale Kreise und dann vor allem die erstarkende Sozialdemokratie stellten sich in
die Tradition von 1848 und erinnerten etwa 1898 an die noch nicht eingelösten Hoffnungen.
Auch in der Weimarer Republik, die in mancher Hinsicht an 1848 anknüpfte, gelang es
nicht, 1848 als positives Ereignis im Geschichtsbild der Deutschen zu verankern. Dazu trug
auch bei, dass sich die konservativ geprägte deutsche Geschichtswissenschaft wie schon im
Kaiserreich vergleichsweise wenig mit 1848 beschäftigte. Die erste große wissenschaftliche
Gesamtdarstellung der Revolution blieb bezeichnenderweise einem Außenseiter der Zunft
vorbehalten. Der linksliberale Veit VALENTIN, dem die deutsche Historikerzunft wegen seiner
Kritik an der Kriegspolitik des Reiches, die Karriere blockierte, legte 1930 ein umfassendes
Werk vor, das die Positionen der demokratischen Linken mit Sympathie betrachtete und die
Bedeutung von 1848 für die Demokratie herausstrich.
Erst die totale Niederlage im Zweiten Weltkrieges und die Teilung Deutschlands führten
zu einer neuen Annäherung an 1848, mit der man im Westen wie im Osten der Öffentlichkeit
durch das Erinnern an die "besseren Seiten" deutscher Geschichte neue Orientierungsangebote machen wollte. Vor allem SED und DDR versuchten seit 1948, die Beschäftigung
mit der Revolution von 1848 politisch zu instrumentalisieren und die Geschichtswissenschaft
für eine angeordnete Identitätsstiftung in die Pflicht zu nehmen. 1948 lag das Schwergewicht
noch auf dem nationalen Vermächtnis von 1848, das gegen die angelaufene Weststaatsgründung mit großem Aufwand ins Feld geführt wurde. Zum 125. Jahrestag 1973 hatte sich
dies grundlegend geändert. Jetzt standen im Zeichen der deutschen Zweistaatlichkeit die internationalistischen Traditionen von 1848 im Zentrum. In der DDR, so wurde argumentiert,
waren die Ideale von 1848 durch den Sieg der Arbeiterklasse verwirklicht.
-4-
In Westdeutschland nahmen sich Politik und Geschichtswissenschaft zunächst weniger
intensiv des Revolutionsthemas an. Erst mit der Öffnung zur Sozialgeschichte und der
Debatte über den deutschen Sonderweg in die Moderne (Land der gescheiterten Revolution)
kam seit den sechziger Jahren Bewegung in die Revolutionsgeschichtsschreibung. Auch wenn
die Geschichtswissenschaft sich hier nicht einfach in die Pflicht der Politik nehmen ließ und
staatlich verordnete Geschichtsbilder produzierte, gab es um 1970 auch im Westen einen
folgenreichen Anstoß aus der Politik. Bundespräsident Gustav HEINEMANN (SPD) rief 1970
dazu auf, sich mehr mit der Geschichte der deutschen Freiheitsbewegungen zu befassen und
nicht zuzulassen, dass die DDR diese Traditionen in Entwicklungsstufen zum kommunistischen Zwangsstaat verfremde. Damit wurde der deutsch-deutsche Streit um das Erbe von
1848 intensiviert.
Heinemanns Anstoß hat in Westdeutschland einerseits die Beschäftigung mit 1848
verstärkt und die Bedeutung der Revolution von 1848 für die deutsche Demokratiegeschichte
fester als je zuvor im Geschichtsbewusstsein verankert. Sie hat aber auch dazu geführt, alte
Revolutionsmythen (Heckerkult) zu beleben und neue Revolutionsmythen zu schaffen. Es
kam zu einer Überschätzung, ja Verklärung der Gewaltaktionen und Straßenproteste. Die
neue Sichtweise in Teilen der Bundesrepublik wies schließlich insofern Parallelen zum DDRGeschichtsbild auf, als auch hier teilweise vom Verrat des Bürgertums an der Revolution oder
wenigstens vom Versagen des Bürgertums gesprochen wurde.
In den achtziger Jahren traten die Versuche einer politischen Vereinnahmung der
Revolution - sei es im Sinne der Herrschaftsstabilisierung der SED oder im Sinne einer
besseren, demokratischeren Kultur der alten Bundesrepublik - wieder zurück. Das Revolutionsbild erwies sich als zu vielschichtig, um es rasch zu politischen Zwecken
einzusetzen. Man kann sogar davon sprechen, dass es gewisse Annäherungen zwischen den
Historikern beider deutscher Staaten gab, etwa in der Frage nach der Rolle des Bürgertums,
bei der auch die DDR-Geschichtswissenschaft von der Verratsthese abzurücken begann.
Das, was heute am intensivsten diskutiert wird, nämlich die neuen Erkenntnisse zum
Nebeneinander unterschiedlicher Revolutionsstränge und die Revolution als Verteidigungsschlacht von Modernisierungsopfern, ist allerdings vorwiegend das Verdienst der westdeutschen Forschung. Während man in der DDR beim alten Grundmuster vom
Entscheidungskampf zwischen Feudalismus und Kapitalismus blieb und den Blick vor allen
auf die zukunftsweisenden Aspekte der Revolution richtete, rezipierte man in der alten
Bundesrepublik die neuen Ansätze der französischen und anglo-amerikanischen
Revolutionshistorie, löste die Revolution in mehrere eigenständige Teilrevolutionen auf und
präparierte auch die vormodernen Elemente dieser Revolution heraus. Dies hat sich auch in
den Publikationen und Ausstellungen des Jubiläumsjahres 1998 niedergeschlagen.
IV. Ursachen der Revolution von 1848/49.
Literaturhinweise: Das Thema Ursachen der Revolution wird v. a. bei
WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte ausführlich behandelt. Dessen "Aufriss einer
historisch-systematischen Analyse der Revolutionsursachen" (Bd. 2, 660-702) bietet
wichtige Anregungen, ist aber auch auf Kritik gestoßen ist (Vgl. LANGEWIESCHE, 1991).
Weitere Literatur:
Jürgen BERGMANN, Wirtschaftskrise und Revolution. Handwerker und Arbeiter 1848/49.
Stuttgart 1986.
Manfred GAILUS, Straße und Brot. Sozialer Protest in den deutschen Staaten unter besonderer
Berücksichtigung Preußens, 1847-1849, Göttingen 1990.
Lothar GALL, Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft, München 1993.
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Jürgen KOCKA, Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung
im 19. Jh., Bonn 1990.
Die Frage nach den Ursachen gehört zu den schwierigsten Komplexen der Revolutionsforschung. Die älteren Verschwörungstheorien, mit denen konservative Kräfte Revolutionen
als Werk kleiner Gruppen interpretierten, sind ebenso unbefriedigend wie andere monokausale Erklärungen. Die ökonomische Ursachenerklärung leidet schon daran, dass die 1845
abgegebene Prognose von Friedrich ENGELS, nach der im wirtschaftlich fortgeschrittenen
England die Revolution naturnotwendig kommen müsse, 1848 gerade nicht eingetreten ist.
Das politische System in England überstand die Krisen der vierziger Jahre, weil es sich jetzt
wie zuvor als anpassungsfähig erwies. Auf dem Kontinent sah das anders aus. Hier führten
die wirtschaftlichen und sozialen Krisenerscheinungen zu einer tief greifenden Krise des
politischen Systems. Man kann nun eine Fülle von Krisenfaktoren benennen, die 1848 erklären helfen, eine Hierarchie dieser Faktoren oder das Herauspräparieren der Hauptursache
dürfte jedoch kaum möglich sein.
A) Langfristig wirkende Bedingungen:
1. Wirtschaftlicher und sozialer Wandel:
Deutschland befand sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in einem umfassenden
sozialen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungsprozess. Die wichtigsten sozialökonomischen Faktoren waren das Bevölkerungswachstum (1815-1848: 23,7 auf 34,5 Millionen), der wirtschaftliche Strukturwandel von vorindustriellen zur industriellen Produktionsformen und der Wandel von der ständischen zur bürgerlichen, auf der Rechtsgleichheit basierenden Gesellschaft. In den vierziger Jahren erreichte die so genannte Pauperismuskrise ihren
Höhepunkt. Hauptursache war das Bevölkerungswachstum, dem kein ausreichendes
Wirtschaftswachstum gegenüberstand. Die traditionellen Erwerbszweige waren am Ende ihrer
Integrationsfähigkeit angelangt, moderne Industriezweige noch nicht weit genug entwickelt.
Hinzu kam, dass die neuen Industrien auch die Strukturkrise traditioneller Gewerbe verstärkten. All dies ließ die Zahl der Unterschichten gerade in den vierziger Jahren stark
anwachsen. Diese Bevölkerungsteile, die fast 60% der Gesellschaft stellten, setzten sich
freilich aus sehr heterogenen Teilen mit unterschiedlichen Interessen und kulturellen
Prägungen zusammen (Handwerksgesellen, Heimgewerbetreibende, Tagelöhner, Gesinde,
Fabrikarbeiter, Bettler und Vaganten). Ihre schlechte soziale Lage führte zu wachsenden
Protesten, bei denen es aber in der Regel nicht um direkte Veränderungen des politischen
Systems ging.
Vom sozialen Wandel betroffen waren nicht nur die Eigentumslosen, der so genannte
"vierte Stand", sondern auch Bauern und Bürger. Bauern waren vielfach unzufrieden mit dem
Staat, weil er die Bauernbefreiung nicht zügig abschloss und zu große Rücksicht auf den Adel
nahm, verlangten aber andererseits Schutz des Staates vor Übergriffen der landlosen Unterschichten. Hinzu kam, dass wirtschaftliche Lage, soziale Stellung und die jeweiligen
Interessen von Bauern innerhalb Deutschlands sehr unterschiedlich ausfallen konnten. Auch
innerhalb des Bürgertums gab es im Vormärz nicht nur gemeinsame Ziele. Aufstrebende
Industrielle oder aufklärerischen Zielen verbundene Bildungsbürger forderten Rechtsgleichheit und damit etwa auch Gewerbefreiheit oder Gleichstellung der Juden, die aber wiederum
von großen Teilen des Stadtbürgertums abgelehnt wurden, weil dadurch alte Privilegien
aufgehoben worden wären.
2. Politische Reformforderungen:
Trotz solcher unterschiedlicher Interessen nahmen in den bürgerlichen Schichten während
des Vormärz die politischen Gemeinsamkeiten deutlich zu. Verbindende Elemente waren der
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bürgerliche Herrschaftsanspruch in den Städten und das Streben nach kommunaler Selbstverwaltung, das gerade in den vierziger Jahren aufblühende Vereinswesen, die Orientierung
an modernen bürgerlichen Werten und Verhaltensweisen sowie das Eintreten für nationale
Einigung und verfassungspolitischen Fortschritt. Der Ruf nach Reformen in den deutschen
Einzelstaaten und einem neuen nationalen Zusammenhalt wurde im Vormärz gerade in der
jüngeren Generation immer lauter. Die deutschen Regierungen reagierten auf den wachsenden
Wunsch nach Reformen unterschiedlich. Das von METTERNICH geführte Österreich setzte den
harten Repressionskurs fort. Preußen schien seit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms
IV. den Forderungen der liberalen Opposition zunächst entgegenzukommen, doch auch hier
blieb der Reformansatz schließlich wieder stecken. Bis 1847 verstärkte sich deshalb nahezu
überall in Deutschland der Druck einer sich mehr und mehr politisierenden Gesellschaft. Die
aus bisherigen staatlichen, sozialen und wirtschaftlichen Bindungen herausgerissenen
Menschen suchten neue Orientierungen. Das sich im Vormärz herausbildende fünfgliedrige
System von Parteirichtungen bot neue Bindungen und Antworten an.
B) Kurzfristig wirkende Bedingungen:
Der Politisierungsprozess der Gesellschaft wurde durch kurzfristig wirksame Krisenfaktoren im Laufe des Jahres 1847 weiter verstärkt.
1. Gesellschafts- und Wirtschaftskrisen:
Die vierziger Jahre vermitteln das Bild eines Nebeneinanders von wirtschaftlichen Krisen
und Fortschritten. Einerseits beschleunigte sich mit dem Eisenbahnbau der industrielle Fortschritt, andererseits bremsten Strukturkrisen alter Gewerbe sowie Konjunkturkrisen neuer wie
alter Art diese wirtschaftliche Dynamik wieder ab. Zwischen 1845 und 1847 erlebte
Deutschland einen ersten von der modernen Industrie getragenen Wachstumszyklus. WEHLER
spricht deshalb von der deutschen Doppelrevolution 1845/1848, wobei die Gleichzeitigkeit
der industriellen und politischen Revolution als besonderer Belastungsfaktor angesehen wird.
Der Aufschwung von 1845 konnte sich nicht mit aller Kraft entfalten, weil die Strukturkrise
der vorindustriellen Bereiche, eine 1846/47 von Missernten hervorgerufene Agrarkrise und
eine im Herbst 1847 ausbrechende internationale Handels- und Kreditkrise bremsend wirkten.
Im Ursachenkomplex der 48er Revolution besitzt die Agrarkrise von 1846/47 einen hohen,
freilich nicht dominierenden Stellenwert. Die Missernten (Kartoffelfäule) führten zu drastischen Preissteigerungen, schwächten die Kaufkraft, wirkten sich damit ungünstig auf die
Nachfrage nach Gewerbeerzeugnissen und rissen die Gewerbewirtschaft auch durch eine
allgemeine Geldverknappung in die Krise. Aufgrund der Lebensmittelknappheit kam es 1847
in weiten Teilen Deutschlands zu zahlreichen Hungerrebellionen. Die Märzrevolution von
1848 war zwar keine direkte Fortsetzung dieser Hungerrevolten, denn letztere flauten im
Herbst 1847 nach den besseren Ernten wieder ab. Dennoch wirkten Agrarkrise und Hungerunruhen indirekt auf Ausbruch und Verlauf der Revolution ein. Die Agrarkrise belastete die
gesamtwirtschaftliche Entwicklung und trug auch zu einer internationalen Handels- und
Kreditkrise bei, die von England aus seit Ende 1847 Europa erschütterte und zu zahlreichen
Konkursen und steigender Arbeitslosigkeit führte. Die damit verbundenen wirtschaftlichen
Schwierigkeiten wirkten sich auch 1848/49 noch aus, was die ohnehin schwierigen Problemlösungen weiter komplizierte. Noch wichtiger als die wirtschaftlichen Auswirkungen der
Agrarkrise waren aber ihre sozialen und politischen Folgen. Hungerkrise und Hungerunruhen
haben in Deutschland das schon vorhandene Gefühl von Verunsicherung und Ausweglosigkeit weiter verschärft. In den Unterschichten wuchs die Bereitschaft zur Normverletzung und
gewaltsamen Protesten. Bei den besitzenden Schichten wuchs die Furcht vor einer sozialen
Revolution und dem Verlust des Eigentums.
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2. Verstärkung der Legitimationskrise:
Immer mehr Menschen bezweifelten, dass das alte System noch in der Lage war, den
negativen Begleiterscheinungen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Krisen entgegenzuwirken. Die Legitimationskrise, die sich schon zuvor abgezeichnet hatte, erreichte nun ihren
Höhepunkt. Vor allem das Bürgertum verlor, aufgeschreckt durch das Ausmaß der sozialen
Proteste, 1847 vollends das Vertrauen in die Steuerungsfähigkeit der Regierungen. Die
Opposition nahm die unhaltbaren Zustände zum Anlass, den Ruf nach Veränderung zu
verstärken. Die Regierungen suchten noch einmal Zuflucht in der Zensur, konnten aber den
raschen Verfall ihres öffentlichen Ansehens nicht mehr aufhalten. Die liberale Opposition
nutzte nun die Chance, um ihren Reformanliegen eine größere Resonanz zu verschaffen und
die Regierungen weiter unter Druck zu setzen. Dies zeigte die Offenburger Versammlung
vom September 1847, wo die demokratische Richtung ihr Programm definierte, ebenso wie
die Heppenheimer Versammlung vom Oktober 1847 und andere Treffen deutscher Liberaler.
Teilweise lösten sich die verunsicherten alten Gewalten unter diesem Druck zwar aus der
bisherigen Erstarrung. Am Bundestag in Frankfurt wurde im Laufe des Jahres 1847 über
Reformvorschläge einzelner Staaten diskutiert, die Fragen der Zensur, der Verteidigungspolitik und der Handels- und Verkehrspolitik betrafen. Dabei zeigte sich aber rasch, dass die
wichtigste Führungsmacht des Deutschen Bundes, Österreich, nach wie vor kein echtes
Interesse an grundlegenden Reformen besaß. Auch die Vorschläge des preußischen Generals
von RADOWITZ, durch Reformen dem befürchteten revolutionären Ausbruch vorzubeugen,
richteten in Wien letztlich nichts mehr aus. Das Scheitern der nationalen Reformansätze und
die festgefahrene Situation in der innerpreußischen Verfassungsfrage verstärkten daher den
Unmut in der politisch interessierten deutschen Öffentlichkeit. Auch das trug dazu bei, einem
revolutionären Lösungsversuch Bahn zu brechen.
C) War die deutsche Revolution von 1848 unvermeidbar?
Von Teilen der Forschung, vor allem von marxistischer, aber auch von bürgerlicher Seite ist
diese Frage klar bejaht worden. WEHLER vertritt beispielsweise die Ansicht, dass die
Dynamik der aufgestauten Probleme und die Legitimationsverluste der Herrschenden zu weit
fortgeschritten waren, um die Revolution noch zu vermeiden. Demgegenüber betonen andere
wie Thomas NIPPERDEY, dass die Revolution trotz einer schon weit verbreiteten Revolutionsfurcht der Konservativen und trotz der Hungerrevolten keineswegs unausweichlich gewesen
sei. Einig sind sich die Historiker freilich in der Einschätzung, dass wir es in Deutschland an
der Jahreswende 1847/48 mit einer schwierigen Situation zu tun haben, einem Zustand der
Stagnation ohne Zukunftsperspektive. Eine Revolution schien in der Luft zu liegen. Hausgemachte Probleme gab es genug. Die Revolution musste also nicht unbedingt importiert
werden. Trotzdem bleibt es fraglich, ob die Dinge im Frühjahr 1848 so gelaufen wären, wie
sie dann gelaufen sind, wenn es nicht den von außen kommenden zündenden Funken und die
mit der Pariser Februarrevolution eintretende Veränderung der gesamteuropäischen Konstellation gegeben hätte.
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