Anatevka bearbeitet von Norbert Hese 1. AKT 1. SZENE Die Küche

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Anatevka
bearbeitet von Norbert Hese
1. AKT
1. SZENE
Die Küche in Tevjes Haus. Golde, Zeitel und Hodel treffen Vorbereitungen für den Sabbat. Sprintze
und Bielke treten mit Holzscheiten ein.
SPRINTZE:
Mama, wo sollen wir das Holz hintun?
GOLDE:
Alberne Frage! Vor den Holzstoß natürlich! Dummes Ding! Wo ist denn Chava?
HODEL:
Sie ist im Stall. Beim Melken.
BIELKE:
Wann kommt denn Papa nach Hause?
GOLDE:
Der Sabbat fängt gleich an, und er schert sich überhaupt nicht darum, nach Hause
zu kommen! Der thront doch den ganzen Tag bloß auf seinem Kutschbock und
fühlt sich als König!
ZEITEL:
Mama, du weißt genau - Papa arbeitet schwer!
GOLDE:
Sein Pferd arbeitet schwer! Und du brauchst deinen Papa nicht bei mir zu
verteidigen! Ich kenne ihn bisschen länger als du! Der kann einen wahnsinnig
machen! (zu sich) Ach, lieber Gott, Erhalt ihn mir noch recht lange! (laut)
Sprintze, hol mir noch paar Kartoffeln 'rein.
(Chava tritt ein. Sie trägt einen Korb und hat ein Buch unter ihrer Schürze.)
GOLDE:
Chava, bist du fertig mit Melken?
CHAVA:
Ja, Mama. (Ihr Buch fallt zur Erde.)
GOLDE:
Hast du schon wieder geschmökert? Muss ein Mädchen überhaupt lesen?
Glaubst du, dadurch kriegst du einen aus dem Märchenbuch?
(hebt das Buch auf und gibt es Chava.) Da!
(Chava geht ab. Spritze tritt mit einem Korb Kartoffeln ein.)
SPRINTZE:
Mama! Jente ist auf dem Weg zu uns! Sie muss jeden Moment hier sein.
HODEL:
Vielleicht hat sie endlich eine gute Partie für dich gefunden, Zeitel.
GOLDE:
Dein Wort in Gottes Ohr.
ZEITEL:
Muss sie ausgerechnet jetzt kommen? Der Sabbat fängt gleich an.
GOLDE:
Räum du deinen Stall auf! - Ich will allein mit Jente sprechen.
SPRINTZE:
Mama, darf ich 'rausgehen, spielen?
GOLDE:
Hast du Füße? - Dann geh?
BIELKE:
Darf ich auch 'raus? (Sprintze und Bielke gehen ab.)
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(Zeitel verlässt die Küche in dem Moment, wo Jente eintritt.)
JENTE:
Golde, mein Täubchen, ich muss dich sprechen. Komm, setz dich. Wo sind deine
Töchter? Sie sind ja Juwelen - Edelsteine sind sie! Du wirst sehen, Goldchen, ich
finde für jede einen Mann! Aber du solltest nicht so mäkelig sein! Selbst der
mieseste Mann - Gott soll mich schützen - ist besser als gar kein Mann. Gott soll
mich schützen. Wer weiß das besser als ich! Seitdem mein Mann gestorben ist,
bin ich eine arme Witwe, allein, niemand, mit dem ich sprechen kann, niemand,
dem ich widersprechen kann.
MOTTEL:
(tritt ein) Guten Abend. Ist Zeitel zu Hause?
GOLDE:
Ja, aber sie hat keine Zeit. Komm später noch mal wieder!
MOTTEL:
Ich möchte ihr gern etwas sagen.
GOLDE:
Später!
ZEITEL:
(tritt ein) Oh, Motel, hab' ich doch richtig gehört!
GOLDE:
Mach du deine Arbeit fertig! (Zeitel geht ab. Zu Mottel) Ich sagte später!
MOTTEL:
(im Abgehen) Jawohl!
JENTE:
Was will denn dieser arme kleine Schneider Mottel bei Zeitel?
GOLDE:
Die beiden sind von Kindesbeinen auf miteinander befreundet.
JENTE:
(wendet sich zu Gehen) Also, will ich mal gehen und mein bescheidenes
Sabbatmahl zubereiten. (Zögert, erwartet etwas. Golde läuft zu ihren Vorräten,
rafft etwas zusammen und tut es Jente in ihr Körbchen. Diese tut, als ob sie nichts
bemerkt hätte.) Also - auf Wiedersehen, Golde. Wie schön, dass wir uns wieder
einmal gegenseitig das Herz ausgeschüttet haben. (Sie will gehen.)
GOLDE:
Jente, du sagtest, du hättest Neuigkeiten für mich.
JENTE:
Großer jüdischer Gott, wo hab' ich bloß meinen Kopf! Eines Tages werd' ich ihn
noch irgendwo liegen lassen und dann -„Gute Nacht, Jente". - Natürlich, die
Neuigkeiten! Du kennst doch Lazar Wolf, den Metzger. Ein guter Mann, ein
feiner Mann. Und ich brauch' dir nicht zu erzählen, dass er wohlhabend ist. Aber
er ist einsam, der arme Mann. Er ist übrigens Witwer... du verstehst? Natürlich
verstehst du! Um's kurz zu machen: Weißt du, auf wen im ganzen Dorf er ein
Auge geworfen hat, was heißt eins - alle beide? Auf Zeitel!
GOLDE:
Meine Zeitel?
JENTE:
Nu, es wird die Zarentochter sein! - Natürlich deine Zeitel!
GOLDE:
So eine gute Partie - für meine Zeitel. Aber Tevje will doch einen gebildeten
Mann. Außerdem kann er Lazar nicht leiden.
JENTE:
Na, was! Er soll ihn ja nicht heiraten! Lazar will die Tochter, nicht den Vater. Hör
mir mal zu, Golde: Schick deinen Mann zu Lazar. Sag ihm aber nicht, weshalb.
Lass das Lazar selbst machen, der wird ihn schon 'rumkriegen. Er ist ein guter
Mann - er ist ein wohlhabender Mann. Stimmt's? Natürlich stimmt's.
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(Jente geht ab)
ZEITEL:
(tritt ein) Was wollte sie denn, Mama?
GOLDE:
Das wirst du noch früh genug erfahren. Mach du deinen Fußboden sauber. (Golde
geht ab.)
(Hodel und Chava treten ein mit Eimern, Schrubbern und Scheuerlappen.)
HODEL:
Ich möchte wissen, ob Jente einen Mann für dich hat!
ZEITEL:
Ich bin nicht wild darauf, dass Jente einen Mann für mich anbringt.
CHAVA:
(neckt Zeitel) Ausgenommen Mottel, den Schneider!
ZEITEL:
Danach hab' ich dich nicht gefragt!
HODEL:
Aber Zeitel! Du bist doch die Älteste! Erst musst du unter die Haube, dann komm'
ich dran.
CHAVA:
Und dann komm ich dran...
HODEL:
(ergänzt) ...wenn Jente einen anbringen sollte!
ZEITEL:
Oh, Jente, Jente, hört mir auf mit Jente!!!
HODEL:
Irgendjemand muss ja schließlich die Ehen vermitteln! Junge Leute können doch
so etwas nicht allein entscheiden!
CHAVA:
Hoffentlich bringt sie einen ganz tollen,
HODEL:
einen interessanten,
CHAVA:
einen in guter Stellung,
HODEL:
einen mit Geld!
JENTE, O, JENTE – MATVHMAKER - Lied
HODEL:
Jente, o, Jente,
ach, bring einen Mann,
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2. SZENE
Tevjes Haus von außen. Tevje tritt auf, er zieht seinen Wagen. Er hält an und setzt sich ganz außer
Atem auf die Deichsel.
TEVJE:
Heute bin ich das Pferd. Lieber Gott, musstest du mein armes, altes Pferd sein
Hufeisen verlieren lassen? Ausgerechnet kurz vor Sabbat? Das war nicht nett! Es
ist doch, weiß Gott, genug, dass du es auf mich, Tevje, abgesehen hast. Mit fünf
Töchtern hast du mich gesegnet, einem armseligen Dasein - was hast du gegen
mein Pferd? Manchmal habe ich das Gefühl, wenn bei dir da oben nichts los ist,
dann sagst du zu dir: „Auf welche Weise könnte ich denn meinem Freund Tevje
wieder mal eins auswischen?“
GOLDE:
TEVJE:
(kommt aus dem Haus) Na, bist du endlich da, mein Ernährer?
(zum Himmel) Wir sprechen uns später.
GOLDE:
Wo ist denn dein Pferd?
TEVJE:
Der Hufschmied hat es zu Sabbat eingeladen.
GOLDE:
Mach, beeil dich! Deinetwegen macht die Sonne nicht später Feierabend. (geht ins
Haus.)
TEVJE:
Wie sagt doch das Gute Buch: „Heile uns, o Herr, und wir werden geheilet
werden!" Mit anderen Worten: „Schick uns die Medizin, die Krankheit haben wir
schon!" (macht eine Geste zur Tür) Ich will mich ja nicht beklagen. Aber mit
deiner gütigen Hilfe, o Herr sind wir fast am Verhungern! Du hast viele, viele
arme Leute geschaffen. Ich sehe natürlich ein, dass es keine Schande ist, arm zu
sein. Aber eine besondere Ehre ist es auch nicht. Was wäre denn nun daran so
furchtbar, wenn ich auch ein kleines Vermögen hätte?
TEVJE:
WENN ICH EINMAL REICH WÄR' - Lied
Wenn ich einmal reich war',
deidel, didel, deidel,
digge,digge,deidel ,didel, dum,
alle Tage war' ich biddy bum,
wäre ich ein reicher Mann.
Brauchte nicht zur Arbeit,
deidel, didel, deidel,
digge,digge,deidel,didel, dum,
wäre ich ein reicher biddy bum,
digge,digge,deidel ,didel Mann.
Ich bau' den Leuten dann ein Haus vor die Nase hier in die Mitte unserer Stadt,
mit festem Dach und Türen aus geschnitztem Holz. Da führt 'ne lange, breite
Treppe hinauf, und noch eine läng're führt hinab. Ja, so ein Haus, das war' mein
ganzer Stolz!
Mein Hof war' voll von Hühnern, Gänsen und Enten und was da sonst noch kräht
und schreit. Alles quakt und schnattert, so laut es kann. Das ist ein (Imitation von
Federviehgeräuschen) War' das ein Spektakel weit und breit! Und jeder hört, hier
wohnt ein reicher Mann!
Wenn ich einmal reich war',
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deidel, didel, deidel,
digge,digge,deidel ,didel, dum,
alle tage war' ich biddy bum,
wäre ich ein reicher Mann.
Brauchte nicht zur Arbeit,
deidel, didel, deidel,
digge,digge,deidel ,didel, dum,
wäre ich ein reicher biddy bum,
digge,digge,deidel ,didel Mann.
Mein Weib stolzierte herum, beladen mit Geschmeide und aufgedonnert wie ein
Pfau. Sie zu sehen, ist eine wahre Pracht. Die feinsten Delikatessen lässt sie sich
servieren, spielt sich auf als „Gnäd'ge Frau", scheucht das Personal bei Tag und
Nacht.
Die allerhöchsten Herren bäten mich um meinen Rat, und sie würden mich
bewundern wie einst König Salomon:„Du bist klug, Reb Trevje! Ein Genie, Reb
Trevje!" Und mein Urteil war' für ' für sie das A und O", (er moduliert) O - o - o oh! Es war' ganz egal, ob ich denen richtig rate oder falsch - wenn man reich ist,
gilt man auch als klug.
Ich hätte Zeit und könnte endlich zum Beten oft in die Synagoge gehn. Ein
Ehrenplatz dort wäre mein schönster Lohn! Mit den Gelehrten diskutiert' ich die
Bibel, so lange, bis wir sie verstehn. Ach, das wünschte ich mir immer schont (er
seufzt)
Wenn ich einmal reich war',
deidel, didel, deidel,
digge,digge,deidel ,didel, dum,
alle Tage war' ich biddy bum,
wäre ich ein reicher Mann.
Brauchte nicht zur Arbeit,
deidel, didel, deidel,
digge,digge,deidel ,didel, dum,
Herr, du schufst den Löwen und das Lamm,
sag, warum ich zu den Lämmern kam!
War' es wirklich gegen deinen Plan,
wenn ich war' ein reicher Mann?
(nach dem Lied treten auf: Motschach, Mendel, Awram und andere Bewohner von
Anatevka.)
MOTSCHACH:
Da ist er! Du hast meine Bestellung für Sabbat vergessen!
TEVJE:
Reb Motschach, ich hab' eine kleine mit meinem Pferd gehabt.
MENDEL:
Trevje! Die Bestellung vom Rabbi hast du auch nicht gebracht!
TEVJE:
Ich weiß, Reb Mendel.
AWRAM:
Tevje! Du hast meine Bestellung für Sabbat vergessen!
TEVJE:
Das sind ja schlimmere Neuigkeiten als die Pest von Odessa!
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AWRAM:
(schwenkt die Zeitung, die er in der Hand hält) Da wir gerade von Neuigkeiten
sprechen - schreckliche Nachrichten kommen von draußen, schreckliche
Nachrichten!
MOTSCHACH:
Was ist denn passiert?
MENDEL:
Was steht denn da?
AWRAM:
(zeigt auf einen Zeitungsartikel) Aus einem Dorf namens Rajanka hat man alle
Juden vertrieben. Sie mussten Hab und Gut zurücklassen. (Alle sehen sich
betroffen an.)
MENDEL:
Aus welche Grund?
AWRAM:
Das steht nicht da.
MOTSCHACH:
Ich wünsch` dem Zaren eine Seuche an den Hals!
ALLE:
Amen!
MENDEL:
(zu Awram) Warum bringst du uns eigentlich nie eine gute Nachricht?
AWRAM:
(hält ihm die Zeitung hin) Findest du eine? Ich hab's ja nur gelesen! -Es war ein
Erlass von oben. Die brauchten wieder mal paar Sündenböcke!
MOTSCHACH:
Die einzigen Böcke, die man melken kann!
AWRAM:
Den'n da oben wünsche ich, dass es sie dort juckt, wo sie nicht hinlangen können!
ALLE:
MENDEL:
Amen!
Entschuldigen Sie, Sie sind sicher nicht aus Anatevka?
PERCHIK:
Nein.
MENDEL:
Und woher sind Sie?
PERCHIK:
Aus Kiew. - Ich habe dort an der Universität studiert.
MOTSCHACH:
Aha! - An der Universität! - Und dort haben Sie gelernt, erwachsene Leute zu
kritisieren!
PERCHIK:
Dort habe ich gelernt, dass zum Leben mehr gehört als Schwatzen. Sie sollten sich
mal darum kümmern, was draußen in der Welt vor sich geht.
MOTSCHACH:
Warum sollte ich mir darüber den Kopfzerbrechen? -Sollen die sich doch die
Köpfe einschlagen!
TEVJE:
Er hat recht. Wie sagt doch das Gute Buch: „Wenn du in die Luft spuckst, landet's
in deinem Gesicht!"
PERCHIK:
Das ist Unsinn! Sie können doch nicht vor dem die Augen verschließen, was sich
in der Welt ereignet.
TEVJE:
Er hat recht!
AWRAM:
Er hat recht - und er hat recht. - Wie können sie alle beide recht haben?
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TEVJE:
Weißt du was? - Du hast auch Recht!
MOTSCHACH:
Da hat er recht! - Der ist ja noch nicht trocken hinter den Ohren! Gut, Schabbes,
Reb Trevje.
DORFBEWOHNER:Gut Schabbes, Reb Tevje.
MENDEL:
(Sie nehmen ihre bestellte Ware und gehen ab, nur Mendel bleibt.)
Trevje, wo ist der Käse für Vater? Mein Käse!
TEVJE:
Ja, natürlich! - so, so, Sie sind aus Kiew, Reb … äh
PERCHIK:
Perchik!
TEVJE:
Perchik. So, so, Sie sind also ganz neu hier? Wie sagt doch Abraham: „Als Gast
weile ich in fremdem Lande."
MENDEL:
Das hat Moses gesagt!
TEVJE:
Kannst du mir verzeihen? König David fasste das in die Worte: „Ich bin
schwerfällig mit dem Mund und der Zunge."
MENDEL:
Das war auch Moses.
TEVJE:
Als Mann mit einer schwerfälligen Zunge hat der allerhand geredet.
MENDEL:
Wo bleibt mein Käse?
(Tevje bemerkt, dass Perchik mit hungrigen Augen auf den Käse schaut.)
TEVJE:
Da, nehmen sie! (reicht ihm ein Stück Käse)
PERCHIK:
Ich habe kein Geld, aber ich bin kein Bettler.
TEVJE:
Da, nehmen Sie schon! Machen sie mir die Freude!
PERCHIK:
Also gut - Gott vergelt's! (Er nimmt den Käse und verschlingt ihn.)
TEVJE:
Danke. - Es ist kein Verbrechen, arm zu sein.
PERCHIK:
Die Reichen sind die Verbrecher auf dieser Welt. Aber eines Tages wird ihr
Reichtum uns gehören.
TEVJE:
Ach, wäre das schön! - Wenn's denen recht ist, mir soll's recht sein.
MENDEL:
Und wer wird dieses Wunder vollbringen?
PERCHIK:
Das Volk. Das einfache Volk.
MENDEL:
Wie Sie?
PERCHIK:
Wie ich.
MENDEL:
Unsinn!
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TEVJE:
Und wovon wollen sie leben, Reb Perchik, bis das „Goldene Zeitalter" anbricht?
PERCHIK:
Ich will Kindern Unterricht geben. Haben Sie Kinder?
TEVJE:
Ich habe fünf Töchter.
PERCHIK:
Fünf?
TEVJE:
Töchter.
PERCHIK:
Mädchen sollten sich auch weiterbilden, sie gehören auch zum Volk.
MENDEL:
(beiseite) Ein Anarchist!
PERCHIK:
Ich würde sie gern unterrichten! Erweiten Sie den Horizont Ihrer Töchter durch
große Ideen!
TEVJE:
Was für große Ideen?
PERCHIK:
In der Bibel stehen genug, gerade für unsere Zeit.
TEVJE:
Aber ich bin ein sehr armer Mann. - Große Ideen gegen Kost und Logis? (Perchik
nickt.) Also gut. Dann bleiben Sie über den Sabbat bei uns. Natürlich essen wir
nicht wie die Fürsten, aber wir hungern auch nicht. Wie sagt doch das Gute Buch:
„Ein blinder Mann findet auch mal ein Huhn."
MENDEL:
Wo steht denn das?
TEVJE:
Na ja, so wortwörtlich steht's nicht drin, es kann auch ein Hahn sein! Gut
Schabbes!
MENDEL:
Der kräht aber nicht bei uns! Gut Schabbes!
PERCHIK:
Gut Schabbes!
(Mendel geht ab, während Tevje und Perchik ins Haus gehen.)
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3. SZENE
Das Innere von Tevjes Haus. Tevjes Töchter sind bereits auf der Bühne. Tevje und Perchik treten ein.
TEVJE:
Gut Schabbes, Kinder!
TÖCHTER:
(laufen ihm entgegen) Gut Schabbes, Papa!
TEVJE:
Kinder! (Sie bleiben Stehen.) Das ist Perchik. Perchik, das ist meine älteste
Tochter.
PERCHIK:
Gut Schabbes!
ZEITEL:
Gut Schabbes!
PERCHIK:
Sie haben eine reizende Tochter.
TEVJE:
Ich habe fünf reizende Töchter! (Er winkt die Mädchen zu sich, sie fliegen ihm in
die Arme. Er küsst eine nach der anderen.) Die ist mein... die ist mein... die ist
mein ... die ist mein (Mottel tritt ein, Beinahe wird er auch von Tevje geküsst.)
Der nicht! Perchik, das ist Mottel Kamzoil, und er ist...
GOLDE:
(tritt ein; zu Mottel) Wie schön, dass du schon wieder da bist!
TEVJE:
Die ist auch mein! - Golde, das ist Perchik aus Kiew. Er verbringt den Sabbat mit
uns. Er ist Lehrer. ( zu Sprintze und Bielke) Möchtet ihr Unterricht bei ihm
nehmen? (Beide kichern.)
PERCHIK:
Ich bin ein wirklich guter Lehrer, ein sehr guter Lehrer.
HODEL:
Ich hab' mal gehört: Ein Rabbi, der sich selbst anpreisen muss, ist meistens sein
einziger Zuhörer.
PERCHIK:
Ihre Tochter hat eine witzige und schnelle Zunge!
TEVJE:
Den Witz hat sie von mir. - Wie sagt doch das Gute Buch –
GOLDE:
Lass jetzt das Gute Buch in Ruhe! Geh, wasch dich!
TEVJE:
Die schnelle Zunge hat sie von ihr.
GOLDE:
Mottel, bleibst du auch zum Essen? (Mottel macht eine Geste wie: „Gern, wenn
ich darf") Natürlich, welche Ehre! Zeitel, also zwei mehr. Sprintze, Bielke,
wascht euch! Zeitel, deck den Tisch.
ZEITEL:
Mottel kann mir helfen.
GOLDE:
Meinetwegen. Chava, du gehst mit! (zu Perchik) Sie können sich draußen am
Brunnen waschen.
(Töchter, Mottel und Perchik gehen ab.)
GOLDE:
Tevje, ich muss dir etwas sagen.
TEVJE:
Warum sollte es heute anders sein? (Er beginnt zu beten.)
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GOLDE:
Tevje, ich habe dir etwas zu sagen -
TEVJE:
Pscht! Ich bete! (betet)
GOLDE:
(nachdem sie einen Moment gewartet hat) Lazar Wolf will mit dir sprechen.
TEVJE:
(unterbricht sein Gebet) Der Fleischer? - Was will er? (betet weiter)
GOLDE:
Ich weiß nicht. Er hat nur gesagt, es wäre wichtig.
TEVJE:
Was kann der schon Wichtiges wollen! - Ich hab' nichts für ihn zu schlachten,
(betet weiter)
GOLDE:
Wenn der Sabbat vorbei ist, gehst du hin und sprichst mit Ihm.
TEVJE:
„Sprichst mit Ihm!" - Worüber denn? Wenn der sich einbildet, er könnte meine
neue Milchkuh kaufen, dann irrt er sich. (Er betet weiter.)
GOLDE:
Tevje sei kein Ochse! Der Mann will dir was Wichtiges mitteilen, dann kannst du
zumindest mal mit ihm sprechen.
TEVJE:
„Mit ihm sprechen!" - Worüber denn? Er will meine neue Milchkuh! (betet)
GOLDE:
(befiehlt) Du sprichst mit ihm!
TEVJE:
Na schön! Wenn der Sabbat vorüber ist, werde ich mit ihm sprechen.
(Tevje und Golde gehen ab. Er betet immer noch. Zeitel, Mottel und Chava
bringen den Esstisch herein. Chava geht wieder ab.)
ZEITEL:
Mottel, Jente war hier.
MOTTEL:
Ich hab' sie gesehen.
ZEITEL:
Wenn die sich auf einen einigen, hab' ich bald Hochzeit! Und dann ist es zu spät
für uns! Du solltest heute Abend bei meinem Vater um meine Hand anhalten! Am
besten - gleich!
MOTTEL:
Warum sollte er plötzlich eine andre Meinung von mir haben! Ich bin nur ein
armer Schneider!
ZEITEL:
Mottel! Auch ein armer Schneider hat Anrecht auf ein bisschen Glück.
MOTTEL:
Das ist wahr.
ZEITEL:
(eindringlich) Wirst du mit ihm sprechen? Wirst du mit ihm sprechen?
MOTTEL:
Also gut. Ich werde mit ihm sprechen.
TEVJE:
(tritt ein) Es ist schon spät! Wo seid ihr denn alle? So was!
MOTTEL:
(folgt ihm) Reb Trevje ...
TEVJE:
(beachtet ihn nicht) Kommt, Kinder, kommt! Wir wollen die Kerzen anzünden!
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MOTTEL:
Reb Tevje! (fasst Mut) Reb Tevje! Reb Tevje!
TEVJE:
Ja? Was gibt' s? (laut) Bitte, Mörtel, was gibt' s denn?
MOTTEL:
(erschrocken) Gut Schabbes, Reb Teyje!
TEVJE:
(irritiert) Gut Schabbes! Gut Schabbes! - Kommt, Kinder, kommt!
(Tevjes Familie, Perchik und Mottel versammeln sich um den Tisch. Golde zündet die Kerzen an und
murmelt dabei ein Gebet.)
TEVJE UND GOLDE:
SABBAT-GEBET - Lied
(singen ihre Töchter an)
Schenke euch der Herr stets seine Güte!
Schütze euch der Herr stets vor Schmach!
Er verlässt euch nie
und gibt euch euer täglich Brot!
Sende euch der Herr Stolz und Demut,
wende er von euch Not und Leid. '
Stärke sie, o Herr,
mit aller deiner Herrlichkeit.
TEVJE:
Gottes Segen sei immer mit euch!
(Hinter den Anwesenden wird es hell. Man sieht hinter einem transparenten
Vorhang andere Familien beim Schein von Sabbat-Kerzen singen.)
GOLDE:
Herr, erhöre mein Gebet und lenke sie.
TEVJE UND GOLDE:
Laß sie gut sein
als Mütter und Frau'n
TEVJE:
Gib jeder einen Mann, der sie ernähren kann.
TEVJE UND GOLDE:
Schenke euch der Herr seine Güte.
schütze euch der Herr vor Gefahr.
Schenke ihnen Glück
und lenke ihr Geschick.
Erhör unser Gebet.
Amen.
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4. SZENE
Im Wirtshaus am folgenden Abend, Awram, Lazar und verschiedenen Dorfbewohner sitzen an den
Tischen. Lazar wartet voller Ungeduld. Er trommelt mit den Fingern auf der Tischplatte und
beobachtet die Eingangstür.
LAZAR:
Reb Motschach.
MOTSCHACH:
Ja, Lazar Wolf.
LAZAR:
Bitte, bring mir eine Flasche Kognak, den besten, den du hast. - Und zwei Gläser.
AWRAM:
Den besten, den er hat, Reb Lazar?
MOTSCHACH:
Was ist denn passiert? - Willst du ein Gelage veranstalten?
LAZAR:
Es kann eins draus werden. Vielleicht sogar eine Hochzeit.
MOTSCHACH:
Eine Hochzeit? Na, herrlich!
ERSTER RUSSE: Wir hätten gern'was zu trinken. - Setz dich, Fedja.
MOTSCHACH:
Wodka? Branntwein?
FEDJA:
Wodka.
MOTSCHACH:
Kommt sofort.
(Tevje tritt ein. Lazar, der bis jetzt die Eingangstür beobachtet hat, wendet sich ab
und tut gleichgültig.)
TEVJE:
Guten Abend!
MOTSCHACH:
Guten Abend, Tevje!
MENDEL:
Was willst denn du hier so früh?
TEVJE:
(leise zu Mendel) Er will meine neue Milchkuh kaufen, (laut) Guten Abend, Reb
Lazar!
LAZAR:
Ah, Tevje! Setz dicht Trinkst du einen mit? (schenkt ein)
TEVJE:
Das kann ich dir nicht abschlagen! (trinkt)
LAZAR:
Und wie geht's dir so, Tevje?
TEVJE:
Es geht so!
LAZAR:
Na also!
TEVJE:
Und wie geht's dir so?
LAZAR:
Genauso.
TEVJE:
Oh, das tut mit aber leid!
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LAZAR:
(schenkt ein) Wie geht's übrigens deinem Schwager in Amerika?
TEVJE:
Ich glaube, es geht im gut.
LAZAR:
Hat er geschrieben?
TEVJE:
In letzter Zeit nicht.
LAZAR:
Und woher willst du wissen, dass es ihm gut geht?
TEVJE:
Wenn's ihm schlecht ginge, hätt' er geschrieben. (Schenkt sich noch ein Glas ein.)
LAZAR:
Tevje, ich nehme an, du weißt, weshalb ich mit dir sprechen wollt.
TEVJE:
(trinkt) Ja, ja ich weiß Reb Lazar. Aber es ist zwecklos, darüber zu sprechen.
LAZAR:
(aus der Fassung gebracht) Warum sollten wir nicht?
TEVJE:
Warum sollten wir! Warum soll ich sie abstoßen?
LAZAR:
Du hast ja noch mehr davon!
TEVJE:
Ich verstehe: Heute willst du eine, morgen willst du vielleicht zwei!
LAZAR:
(entsetzt) Zwei? - Was will ich denn mit zweien?
TEVJE:
Dasselbe wie mit einer!
LAZAR:
(schockiert) Tevje! Die Angelegenheit ist sehr wichtig für mich!
TEVJE:
Was ist daran so wichtig für dich?
LAZAR:
Ehrlich gesagt, ich bin so einsam!
TEVJE:
(entsetzt) Einsam? - Wovon sprichst du denn eigentlich?
LAZAR:
Das weißt du nicht?
TEVJE:
Wir sprechen von meiner neuen Milchkuh, die du mir abkaufen willst.
LAZAR:
(starrt erst Tevje an, dann bricht er in Gelächter aus) Eine Milchkuh!
Damit ich nicht so einsam bin!
(Er brüllt vor Lachen. Tevje starrt ihn vollkommen verwirrt an.)
TEVJE:
Was ist da so komisch?
LAZAR:
Ich habe von deiner Tochter gesprochen. Von deiner Tochter Zeitel. (Bricht
erneut in Gelächter aus; Tevje kann es nicht fassen.)
TEVJE:
Von meiner Tochter Zeitel?
LAZAR:
Jawohl, von deiner Tochter Zeitel. Ich sehe sie jeden Donnerstag bei mir im
Fleischerladen. Sie hat auf mich einen sehr guten Eindruck gemacht. Sie gefallt
mir gut! Und, was mich anbetrifft, Tevje, so weiß du ja, dass ich nicht schlecht
dastehe. Komm gib. mir deine Hand, und die Heirat ist perfekt. Aussteuer
brauchst du für sie nicht. Vielleicht springt für dich noch was dabei 'raus!
14
TEVJE:
(schreit) Schäm dich was! Schäm dich! (verschluckt sich) Was meinst du damit?
Meine Zeitel ist doch nicht für Geld zu kaufen!
LAZAR:
(beruhigt ihn) Also gut! Wie du willst! Sprechen wir nicht von Geld! Die
Hauptsache ist, dass wir uns einig werden. Und ich werde gut zu ihr sein.
(bewegt) Ich hab' sie gerne. Wie denkst du darüber?
TEVJE:
(zum Publikum) Wie denk' ich darüber? Wie denk' ich darüber?
Ich hab' den Kerl nie ausstehen können! Warum auch ! Man kann sich mit
ihm allerdings sehr angeregt unterhalten. Aber bloß über Leber und
Nieren. Andererseits: Nicht jeder kann ein Gelehrter sein. Und wenn man
Geld hat, wird niemand Schafskopf zu dir sagen. - Und bei einem
Fleischer würde meine Zeitel keinen Hunger kennen. Allerdings gibt's da
ein Problem. Er ist viel älter als sie. Das ist ihr Problem! Aber sie ist viel
jünger als er! Das ist sein Problem! Für mich war er immer nur
„ein Fleischer". Ich habe ihm Unrecht getan. Ich glaube,
er ist ein guter Mann. Er hat sie gern, er wird alles versuchen,
sie glücklich zu machen, (wendet sich zu Lazar) Wie ich darüber denke?
Ich bin einverstanden.
LAZAR:
(freudig) du bist einverstanden?
TEVJE:
Ich bin einverstanden.
LAZAR:
O Tevje! Wie ich mich freue! Darauf wollen wir anstoßen!
TEVJE:
Warum nicht? (prostet ihm zu) Auf dich!
LAZAR:
(erhebt ebenfalls sein Glas) Nein, mein Freund, auf dich!
TEVJE:
Auf uns beide!
LAZAR:
Auf unsere Abmachung!
TEVJE:
Auf unsere Abmachung! Auf unser Wohlergehen!
Auf Gesundheit und Glück! (Der Fiedler tritt auf.) Zum Wohl.
ZUM WOHL - L'Chaim - Lied
TEVJE:
(singt) Zum Wohl! Zum Wohl! L'Chaim!
TEVJE u. LAZAR:L'Chaim! L'Chaim! Zum Wohl!
LAZAR:
(gesprochen) Reb Motschach!
MOTSCHACH:
Ja, Lazar Wolf?
LAZAR:
Eine Runde für alle!
MENDEL:
Wie kommen wir denn dazu?
LAZAR:
Ich habe mit eine Braut ausgehandelt!
DORFBEWOHNER: Wen? Wen? Wen denn?
LAZAR:
Tevjes Älteste - Zeitel.
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DORFBEWOHNER: Ich gratuliere! - Glück und Segen! – Mazeltov (singen) Auf Lazar Wolf!
TEVJE:
Auf Zeitel!
DORFBEWOHNER: Auf Zeitel! Sie lebe!
LAZAR:
Mein Weib!
ALLE:
Zum Wohl! L'Chaim!
L'Chaim! L'Chaim! Zum Wohl!
Die Hochzeit wird ein Ereignis sein,
wir werden Gäste sein!
Trinkt! L'Chaim! Zum Wohl!
Erhebt das Glas,
nehmt einen tiefen Schluck,
trinkt auf die junge Braut,
trinkt auf das junge Paar!
Bleibt ewig jung
Und bleibt euch immer treu,
dann bleibt die Liebe neu,
so wie im ersten Jahr!
Auf euch und eure Zukunft!
Auf Leben, auf Liebe und Glück!
Was je das Schicksal auch bringen mag,
heut ist ein Feiertag!
Trinkt! L’Chaim! Trinkt aus!
Dai-dai-dai-dai-dai-dai-dai.
ERSTER RUSSE: Za va sha, Zdarovie,
Friede sei mit euch, Nasdrovie!
Gott bewahre euch vor Zwietracht und vor Hass!
Za va sha, Zdarovie,
Friede sei mit euch, Nasdrovie!
Gott bewahre euch vor Zwietracht und vor Hass!
Hey!
ALLE:
Erhebt das Glas,
nehmt einen tiefen Schluck,
trinkt auf die junge Braut,
trinkt auf das junge Paar!
Auf euch und eure Zukunft!
Auf Leben, auf Liebe und Glück!
Was je das Schicksal auch bringen mag,
heut ist ein Feiertag!
Trinkt! L’Chaim! Trinkt aus!
(turbulentes Finale und Blackout)
16
5. SZENE
Die Straße vor der Gastwirtschaft. Aus dem Wirtshaus kommen: Der Fiedler, Tevje, Lazar, die
anderen Dorfbewohner und die Russen, sie trällern noch: „Zum Wohl! Zum Wohl! L'Chaim!
LAZAR:
Tevje, weißt du auch, dass wir nach der Hochzeit miteinander verwandt sind? Dann bist du mein Papa!
TEVJE:
Dein Papa! Ich hatte mir zwar immer schon einen Sohn gewünscht, aber einen,
der ein bisschen jünger ist als ich.
WACHTMEISTER: (tritt auf) Guten Abend, Tevje! Was wird den bei Motschach gefeiert?
TEVJE:
Ich habe meine älteste Tochter verheiratet.
WACHTMEISTER:Herzlichen Glückwunsch, Tevje.
TEVJE:
Vielen Dank, Euer Ehren.
(alle gehen. Tevje und der Wachtmeister bleiben.)
WACHTMEISTER:Tevje, ich habe eine Neuigkeit, die ich Ihnen mitteilen möchte - als Ihr Freund.
TEVJE:
Ja, Euer Ehren?
WACHTMEISTER: Ich informiere Sie, weil ich Sie gern mag. Sie sind ein zurückhaltender,
ehrbarer Mann, auch wenn Sie ein Jude sind.
TEVJE:
So ein Kompliment bekommt man nicht oft zu hören. - Und Ihre Neuigkeit?
WACHTMEISTER: Wir haben Befehl von oben erhalten, dass demnächst hier in Anatevka eine
kleine, inoffizielle Demonstration stattzufinden hat.
TEVJE:
(erschrocken) Ein Pogrom? Hier?
WACHTMEISTER: Nein. Nur eine kleine, inoffizielle Demonstration.
TEVJE:
Wie klein?
WACHTMEISTER: Wirklich nichts Ernstes. Wir müssen halt bisschen Wirbel machen. Falls ein
Inspektor vorbeikommen sollte, soll er sehen, dass wir unsere Pflicht getan haben.
- Ich persönlich habe keinerlei Verständnis dafür, dass zwischen Menschen
Unruhe gestiftet werden muss. - Ich dachte, ich sage Ihnen Bescheid, damit Sie es
den anderen sagen können.
TEVJE:
Ich danke Ihnen, Euer Ehren. Sie sind ein guter Mensch. Wenn ich so sagen Darf:
Schade, dass Sie kein Jude sind.
WACHTMEISTER: Das hab' ich an Ihnen so gern, Tevje: sie verlieren nie Ihren Humor.
TEVJE:
Vielen Dank, Euer Ehren. Auf Wiedersehen! (Wachtmeister geht ab, Tevje blickt
zum Himmel.) Lieber Gott, musst du mich ausgerechnet heute mit dieser
Neuigkeit überraschen? Ich weiß, wir sind das „auserwählte Volk". Aber könntest
du nicht ab und zu mal ein anderes auserwählen? Trotzdem - besten Dank dafür,
dass du einen Mann für meine Zeitel geschickt hast. - L'Chaim!
(Der Fiedler tritt auf, umkreist Tevje, dann tanzen beide ab.)
17
6. SZENE
Vor Tevjes Haus. Perchik unterrichtet Sprintze und Bielke, während diese Kartoffeln schälen. Hodel
stehen am Brunnen und macht Eimer sauber.
PERCHIK:
Und nun, Kinder, will ich euch aus der Bibel die Geschichte von Laban und Jacob
erzählen. Und dann wollen wir darüber sprechen.
Einverstanden? (Sprintze, Bielke und Hodel nicken.)
Gut. Also: Laban hatte zwei Töchter, Lea und die bildschöne Rachel.
Jacob liebte Rachel. die Jüngere. Und er hielt bei Laban um ihre Hand an.
Laban stimmte zu, aber nur, wenn Jacob sieben Jahre für ihn arbeiten würde.
SPRINTZE:
War Laban so ein Ausbeuter?
PERCHIK:
Er war Arbeitgeber! - Nachdem nun Jacob sieben Jahre für Laban gearbeitet hatte
- wisst ihr, was geschah? Laban wollte Jacob zum Narren halten und ihm die
hässliche Lea geben. Um Rachel zu kriegen, musste er weitere sieben Jahre für
Laban schuften. Also, Kinder, was lehrt uns die Bibel? Traue niemals einem
Arbeitgeber! Habt ihr das verstanden?
SPRINTZE:
Ja, Perchik!
BIELKE:
Ja, Perchik!
PERCHIK:
Gut. Und nun ...
GOLDE:
(kommt aus der Scheune) Ist Papa noch nicht aufgestanden?
HODEL:
Nein, Mama.
GOLDE:
Dann Schluss jetzt mit dem Unterricht. Dann müssen wir heute Papas Arbeit
mitmachen. Wie lange wird er wohl noch schlafen? Er kam heute nach Hause
getorkelt und fiel wie ein Toter ins Bett. Ich konnte kein Wort aus ihm
herauskriegen.
(Sprintze und Bielke gehen in die Scheune zu Hodel.)
Ruf mich, wenn Papa aufsteht.
(Golde geht ab. Hodel pumpt Wasser in einen Eimer.)
.
HODEL:
Das war vorhin sehr interessanter Unterricht, Perchik.
PERCHIK:
Findest du?
HODEL:
Ich weiß allerdings nicht, ob unser Rabbi mit deiner Bibelauslegung
einverstanden wäre.
PERCHIK:
(ironisch) Na, sein Sohn erst recht nicht!
HODEL:
Vorsicht, meine kleinen Schwestern petzen gern!
PERCHIK:
(geringschätzig) Und was weißt du von ihm, außer, dass er des Rabbis Sohn ist?
Würdest du dich auch für ihn interessieren, wenn er der Sohn vom Schuster oder
vom Klempner wäre?
HODEL:
Eins weiß ich jedenfalls von ihm. Er hat keine verrückten Ideen und hat nicht die
Absicht, die Welt umzukrempeln.
18
PERCHIK:
Aha! Für dich ist jede neue Idee verrückt. Überleg mal, was Gott gesagt hat – „Es
werde Licht!"
HODEL:
Das hat er aber nicht zu dir persönlich gesagt! (hochnäsig) Guten Tag! (schickt
sich an zu gehen)
PERCHIK:
Oh, bist du klug! Anscheinend sogar ein wenig intelligent.
HODEL:
(bleibt wieder stehen) Danke!
PERCHIK:
Wozu hast du eigentlich deinen Verstand mitbekommen? Ohne Wissensdrang
rostet er ja ein wie ein nicht benutztes Werkzeug! Guten Tag, Hodel!
HODEL:
Wir haben hier eine alte Tradition: Ein junger Mann hat sich einem jungen
Mädchen gegenüber respektvoll zu benehmen! Aber für einen Neunmalklugen
sind unsere Traditionen natürlich zu verstaubt!
PERCHIK:
Weißt du überhaupt, dass in den Städten junge Menschen miteinander gehen,
ohne dass sie ein Heiratsvermittler zusammengebracht hat? Sie gehen Hand in
Hand miteinander spazieren. sie tanzen sogar zusammen.- Ganz neue Tänze.
Kennst du den? (Er ergreift Hodel und fängt an, mit ihr zu tanzen. Er summt die
Melodie.)
Gefällt dir’s?
HODEL:
O ja, gut, sehr gut!
TEVJE:
(tritt auf; er hat Kopfschmerzen) Bielke! Sprintze! (Er verwechselt seine Töchter.)
HODEL:
Papa, ich bin doch Hodel!
TEVJE:
Und wo ist Zeitel?
HODEL:
In der Scheune, Papa.
TEVJE:
Hol sie her. (Hodel geht in die Scheune.) Na, Reb Perchik? Wie war heute der
Unterricht?
PERCHIK:
(blickt unentwegt auf das Scheunentor) Für den Anfang - nicht schlecht!
GOLDE:
(tritt auf) Naa? Ausgeschlafen? Was war denn heute Nacht los, außer dass du blau
warst wie ein Veilchen? Hast du Lazar Wolf gesehen? Was hat er gesagt? Was
hast du gesagt? Was hast du mir zu sagen?
TEVJE:
Geduld, teures Weib! Eins nach dem anderen. Wie sagt doch das Gute Buch? „
Gute Nachrichten laufen nicht weg, und schlechte lassen sich nicht verjagen." Übrigens gibt es noch ein anderes Wort, das da sagt...
GOLDE:
Dieser Mann macht mich noch meschugge!
TEVJE:
Ah, Zeitel, mein Lämmchen, komm mal zu Papa! Zeitel, ich möchte dir
gratulieren. Du wirst bald heiraten.
GOLDE:
(fällt aus allen Wolken) Heiraten?
ZEITEL:
Wie meinst du das, Papa?
19
TEVJE:
Lazar Wolf hat mich um deine Hand gebeten.
GOLDE:
(erregt) Ich hab's geahnt.
ZEITEL:
(bestürzt) Lazar Wolf, der Fleischer...
GOLDE:
(voller Wonne) Oh, lieber Gott, ich danke dir, ich danke dir.
TEVJE:
Und was sagst du dazu, Zeitel?
GOLDE:
Was soll sie dazu sagen? - Meine Älteste ist nun Braut! - Mögest du mit ihm alt
werden in Ehren und Reichtum, anders als Fruma-Sara, die erste Frau von Ihm.
Sie war ein grässliches Weib, Gott hab' sie selig. Da ist meine Zeitel doch was
ganz anderes. Und nun muss ich mich bei Jente bedanken. - Meine Zeitel! Braut!
(Sie rennt weg,)
HODEL u. CHAVA: Viel Glück Zeitel! Mazeltov. (Hodel und Chava gehen ab.)
TEVJE:
Und sie, Perchik, wollen Sie ihr nicht auch gratulieren?
PERCHIK:
(ironisch) Gratuliere dir, Zeitel, zu dem reichen Freier!
TEVJE:
Hast du's schon wieder mit den Reichen? Was passt dir denn am Reichtum nicht?
PERCHIK:
Reichtum ist Kein zum Heiraten. Geld ist ein Fluch!
TEVJE:
ZEITEL:
Möge mich der Herr damit beladen und ihn mir nie wieder abnehmen! Zeitel
weiß, dass ich nur ihr Glück will, nicht wahr, Zeitel?
Ja, Papa.
TEVJE:
(zu Perchik) Sehen Sie?
PERCHIK:
O ja, ich sehr, sehr gut! (geht ab)
TEVJE:
Zeitel, mein Bund, du bist so still? Freust du dich nicht über diese glückliche
Fügung?
ZEITEL:
(bricht in Tränen aus) Oh, Papa! Oh, Papa!
TEVJE:
Was hast du denn? Komm, sag es mir doch.
ZEITEL:
Papa! Ich will ihn nicht heiraten, ich kann ihn nicht heiraten, ich kann nicht.
Wenn es des Geldes wegen ist, geh' ich lieber Steine klopfen. Ich will jede Arbeit
tun, nur zwinge mich nicht, ihn zu heiraten. Bitte, Papa! Bitte, Papa!
TEVJE:
Also gut. Ich werde dich nicht zwingen!
ZEITEL:
Ich danke dir, Papa.
TEVJE:
Es war wohl vom Schicksal nicht vorgesehen, dass du alle Annehmlichkeiten des
Lebens haben solltest und dass wir auf unsere alten Tage ein bisschen Freude
gehabt hätten, nach all der harten Arbeit.
MOTTEL:
(tritt auf, ganz außer Atem) Reb Tevje, darf ich dich sprechen?
TEVJE:
Später, Mottel, später.
20
MOTTEL:
Ich würde aber gern jetzt mit dir sprechen.
TEVJE:
Nicht jetzt, Mottel, ich habe Sorgen.
MOTTEL:
Gerade darüber will ich mit dir sprechen. Ich glaube, ich kann dir helfen.
TEVJE:
Helfen? Hilf mal einer Leiche, wenn sie tot ist! Geh, Mottel, geh!
ZEITEL:
Hör ihn doch wenigstens an, Papa.
TEVJE:
Also gut. Hast du eine Zunge - dann sprich!
MOTTEL:
Reb Tevje, ich habe gehört, du hast die Absicht, Zeitel zu verheiraten.
TEVJE:
Ohren hat er auch!
MOTTEL:
Ich hab jemand für Zeitel!
TEVJE:
Was für ein Jemand ist denn das?
MOTTEL:
Wie für sie gemacht!
TEVJE:
So, so! Wie für sie gemacht!
MOTTEL:
Passt wie'n Handschuh!
TEVJE:
So, so! Passt wie'n Handschuh!
MOTTEL:
Beste Maßarbeit!
TEVJE:
Wie für sie gemacht! - Beste Maßarbeit! - Hör auf zu reden wie ein Schneider!
Raus mir der Sprache - wer ist es?
MOTTEL:
Aber bitte nicht von Freude schreien!
TEVJE:
Na schön! Wer ist es?
MOTTEL:
Wer ist es?
TEVJE:
(macht eine Pause) Wer ist es?
MOTTEL:
Wer ist es?
TEVJE:
Wer ist es?
MOTTEL:
Ich bin's. Ich.
TEVJE:
(Starrt Mottel an, dann wendet er sich amüsiert zum Publikum.)
Er ist es! Er selbst! (zu Mottel) Du bist wohl vollkommen übergeschnappt!
(zum Publikum) Der muss verrückt sein! (zu Mottel) sich selber 'ne Braut
aussuchen! Was glaubst du denn, was du bist? Bräutigam, Hochzeitsgesellschaft
und Heiratsvermittler - alles in einer Person? - Ich glaube, du willst sogar die
Trauung selbst vornehmen. Du kannst doch nicht normal sein!
MOTTEL:
Bitte, Reb Teyje, schrei mich nicht so an. Natürlich bin ich nicht mein eigener
Heiratsvermittler, das wäre ein wenig ungewöhnlich.
21
TEVJE:
Ungewöhnlich? - Das wäre verrückt!
MOTTEL:
Die Zeiten ändern sich, Reb Tevje. Zeitel und ich, wir haben uns vor mehr als
einem Jahr verlobt.
TEVJE:
(vollkommen überrumpelt) Was? Dir habt euch heimlich verlobt?
ZEITEL:
Ja, Papa.
TEVJE:
Hab' ich über meine Töchter überhaupt nicht mehr zu bestimmen? Oder braucht
niemand mehr einen Vater zu fragen?
MOTTEL:
Ich wollte dich schon vor einiger Zeit fragen, Reb Tevje. Aber ich wollte erst das
Geld für eine eigene Nähmaschine zusammensparen.
TEVJE:
Hör auf, Unsinn zu reden! Du bist weiter nichts als ein armer Schneider.
MOTTEL:
Das stimmt, Reb Tevje! Aber auch ein armer Schneider hat Anrecht auf ein
bisschen häusliches Glück, (schaut triumphierend auf Zeitel.) Ich verspreche dir,
Reb Tevje, dass deine Tochter bei mir nicht hungern wird.
TEVJE:
(wendet sich tief beeindruckt zum Publikum.) Der fängt ja an, wie ein Mann zu
reden. Andererseits: Was für eine Ehe soll denn das werden mit so einem armen
Schneider! Andererseits: Er ist ein ehrlicher und fleißiger Handwerker.
Andererseits kann es ihm folglich nie schlechter gehen, höchstens besser!
Also, Kinder, wann wollen wir Hochzeit machen?
ZEITEL:
Danke dir, Papa!
MOTTEL:
Reb Tevje, du wirst es nicht bereuen.
TEVJE:
Ich werd' es nicht bereuen? Ich hab' es schon bereut!
ZEITEL:
(schmiegt sich an Tevje) Danke, Papa!
MOTTEL:
(ergreift Tevje beim Arm) Danke, Papa!
TEVJE:
Danke, Papa! (Er wendet sich zu Gehen.) Sie haben sich heimlich verlobt!
(wendet sich nochmals zu Zeitel und Mottel.) Jugend von heute! (Plötzlich fällt
ihm etwas Furchtbares ein.) Golde! Was soll ich Golde sagen? Wie soll ich es ihr
beibringen? (blickt zum Himmel) Hilf! (geht ab)
22
7. SZENE
Tevjes Schlafzimmer. Das Zimmer ist vollkommen dunkel. Man hört ein Stöhnen. Dann nochmals. Es
folgt ein Schrei.
TEVJE:
(schreit) Aaaah! Lazar! Mottel! Zeitel!
GOLDE:
Was ist denn?
TEVJE:
Hilfe! Hilfe!! Hilfe!!!
GOLDE:
Tevje! Tevje! Wach auf! (Golde zündet die Lampe an, der Lichtschein fällt auf
den schlafenden Tevje, der im Bett liegt, Golde sitzt in ihrem Bett.) Tevje!
(schüttelt ihn) Was ist denn los mit dir? Warum schreist du denn so?
TEVJE:
(schickt auf, schrickt zusammen) Wo ist sie? Wo ist sie?
GOLDE:
Wer denn? Wen suchst du denn?
TEVJE:
Fruma-Sara, Lazar Wolfs erste Frau! Hier hat sie eben noch gestanden!
GOLDE:
Was redest du da für einen Unsinn, Tevje! - Fruma-Sara ist seit Jahren tot! Du
musst geträumt haben! Erzähl mir deinen Traum, werd` ich dir sagen, was er
bedeutet!
TEVJE:
Er war furchtbar!
GOLDE:
Erzähle!
TEVJE:
Gleich - aber erschrick nicht!
GOLDE:
(ungeduldig) Erzähle!
TEVJE:
Also, hör zu! Am Anfang hab' ich geträumt, dass wir zu Haus ein Feier hatten,
alles, was Beine hat, war hier. Auch Musikanten. (Während er spricht, betreten
das Schlafzimmer Männer, ein Rabbi, Frauen und Musikanten. Tevje, im
Nachthemd, steht auf mischt sich unter die Traumgestalten.) Mitten im Traum wer kommt 'rein? Deine Großmutter, Zeitel, Gott hab' sie selig.
(unruhig) Meine Großmutter Zeitel? - Wie sah sie aus?
TEVJE:
Blendend - für eine Frau, die dreißig Jahre tot ist! Natürlich stand ich sofort auf,
um die zu begrüßen. Sie sagte: (Oma Zeitel tritt ein. Tevje geht auf sie zu und
begrüßt sie pantomimisch.)
TEVJES DREAM – Lied
OMA ZEITEL:
(singt) Gesegnet sollst du sein!
ALLE:
Mazeltov! Mazeltov!
Die Zeitel wird bald frein!
ALLE:
Mazeltov! Mazeltov!
23
OMA ZEITEL:
Als guten Schwiegersohn kriegt ihr von mir zum Lohn den Schneider Mottel
Kamzoil.
GOLDE:
(entsetzt) Mottel?
OMA ZEITEL:
Er ist so treu und fromm!
ALLE:
Mazeltov! Mazeltov!
OMA ZEITEL:
So sanft wie Absalom!
ALLE:
Mazeltov! Mazeltov!
OMA ZEITEL:
Und brav und still ist er wie'n Fisch im Toten Meer, der Schneider Mottel
Kamzoil!
GOLDE:
Ein Schneider? - Nein, nein, das stimmt nicht! - Sie meint den Fleischer!
(Tevje, der zu Golde ans Bett gekommen war und ihr zugehört hatte, rennt zurück
zu Oma Zeitel.)
TEVJE:
(singt) Nein, nein, das stimmt nicht, Oma,
's ist kein Schneider!
Du meinst den Fleischer, Oma,
mit dem Namen Lazar Wolf!
OMA ZEITEL:
(geht in die Luft und schreit) Nein!
(singt)
Ich mein' den Schneider, Tevje,
keinen anderen!
Die kleine Zeitel, die wird seine Braut,
Mottel wird ihr angetraut!
Und so wird es gemacht!
ALLE:
Mazeltov! Mazeltov!
OMA ZEITEL:
Das wäre doch gelacht!
ALLE:
Mazeltov! Mazeltov!
OMA ZEITEL:
Er ist der beste Mann,
den Zeitel kriegen kann,
der Schneider Mottel Kamzoil.
GOLDE:
(spricht vom Bett aus) Wir haben es doch schon den Nachbarn bekanntgegeben! Der Handel mit dem Fleischer ist perfekt!
TEVJE:
(singt)
Die lieben Nachbarn, Oma,
wissen alles!
Es ist perfekt, oh, Oma,
mit dem Fleischer Lazar Wolf!
OMA ZEITEL:
(geht wieder in die Luft und schreit) Nein!
(singt)
Lass doch die lieben Nachbarn
24
klatschen, tratschen!
Und dieser Lazar Wolf! Lass ihn! Ich weiß,
er macht dir die Hölle heiß!
ALLE:
Gesegnet sei dein Haus!
Mazeltov! Mazeltov!
Bald ist der Hochzeitsschmaus!
Mazeltov! Mazeltov!
Und Gott gibt euch zum Lohn
den besten Schwiegersohn,
den Schneider Mottel Kamzoil.
TEVJE:
(spricht) Es ist ein Fleischer!
ALLE:
(singt) Den Schneider Mottel Kamzoil!
TEVJE:
(spricht) Nein, Lazar Wolf!
(singt mit Chor) Den Schneider Mottel Kamzoil...
ALLE:
Seht! Des Fleischers Weib, entstiegen aus der Gruft! Ach, wird der sich freun! Sorgt dafür, daß man ihn ruft! Fruma-Sara! Fruma-Sara! Fruma-Sara! FrumaSara! Fruma-Sara!
(schreit) Tevje! Tevje!
(singt) Deine Tochter Zeitel wird die Frau von meinem Gatten!
ALLE:
Ihrem Gatten!
FRUMA-SARA:
So verhöhnst du deine alte Freundin Fruma-Sara!
ALLE:
Fruma-Sara!
FRUMA-SARA:
Sag mal, hast du keinerlei Respekt vor Frauenehre?
ALLE:
Frauenehre!
FRUMA-SARA:
Siehst du deine Tochter schon im Geist in meinen Kleidern?
ALLE:
Ihren Kleidern!
FRUMA-SARA:
So ein Vater wie Tevje lässt das nicht geschehen!
ALLE:
Nicht geschehen!
FRUMA-SARA:
Sag, du gabst den Segen nicht zu deiner Tochter Hochzeit!
ALLE:
Tochter Hochzeit!
FRUMA-SARA:
Sage mir, es ist nicht wahr! Dann ist der Fall erledigt!
ALLE:
Erledigt.
(Fruma-Sara beginnt Tevje zu würgen. Der Chor läuft schreiend von der Bühne.)
25
GOLDE:
(Während Tevje von Fruma-Sara gewürgt wird.)Ein böser Geist! In den Dorfteich
soll er fallen! In die Erde soll er sinken! So ein furchtbarer Traum! Und das alles
wegen diesem Fleischer! Großmutter Zeitel - Gott hab' sie selig - hat all die
Mühsal auf sich geladen und hat den weiten Weg aus dem Jenseits hierher
gemacht. Nur um den Schneider Mottel Kamzoil zu preisen. Das tat sie nur zu
unserem Besten! Was Besseres gibt es nicht! Amen!
TEVJE:
Amen!
GOLDE:
(singt)
Die Oma hat ganz recht!
Mazeltov! Mazeltov!
Der Schneider ist nicht schlecht!
Mazeltov! Mazeltov!
Nun kriegen wir zum Lohn
den besten Schwiegersohn,
den Schneider Mottel Kamzoil.
TEVJE:
Nun kriegt sie nicht den Mann –
GOLDE:
Mazeltov! Mazeltov!
TEVJE:
- mit dem der Krach begann.
GOLDE:
Mazeltov! Mazeltov!
TEVJE:
Die Oma kam hierher, befahl uns (gesprochen) wie heißt er?
GOLDE:
Den Schneider Mottel Kamzoil!
TEVJE und GOLDE:
Den Schneider Mottel Kamzoil!
Den Schneider Mottel Kamzoil!
Den Schneider Mottel Kamzoil!
(Golde geht zu Bett.)
TEVJE:
(murmelt zum Himmel) Ich danke dir! (Dann geht auch Tevje zu Bett.)
26
8. SZENE
Die Dorfstraße und das Innere von Mottels Schneiderladen. Mottel und Chava sind im Laden.
Dorfbewohner gehen vorüber.
EIN HÄNDLER: Gurke! Saure Gurke!
EINE FRAU:
(aufgeregt) Hast du schon gehört? Tevjes Tochter Zeitel heiratet Mottel nicht
Lazar Wolf!
DORFBEWOHNER: Nein!
EINE FRAU:
Ja!
MENDEL:
Zeitel heiratet Mottel?
EINE FRAU:
Ja!
DORFBEWOHNER:
Nein! (Sie laufen in den Laden und umringetn Mottel.) Mazeltov! - Gratuliere! Mazeltov! - Viel Glück!
MOTSCHACH:
(kommt die Straße entlang) Weshalb denn diese Aufregung?
AWRAM:
Die Zeitel wird bald heiraten!
MOTSCHACH:
Ja, ich weiß, Lazar Wolf, den Fleischer, Das find' ich wundervoll!
AWRAM:
Nein, sie heiratet Mottel, den Schneider!
MOTSCHACH:
Mottel, den Schneider? Das find ich schrecklich! (läuft in den Laden) Mazeltov,
Mottel! (umarmt ihn) Ich gratuliere dir herzlichst!
EINE FRAU:
(zu Schandel, Mottels Mutter, die gerade aus dem Laden ihres Sohnes kommt)
Stimmt das, Zeitel heiratet deinen Mottel? Ich kann es nicht glauben!
SCHANDEL
(gekränkt) Warum soll sie nicht? Hast du was gegen meinen Sohn?
EINE FRAU:
Oh, entschuldige, Schandel! - Mazeltov!
DORFBEWOHNER: (im Laden) Mazeltov! Mazeltov!
MOTTEL:
(zu Jussel, dem Hutmacher) Jussel, hast du einen Hochzeitshut für mich?
JUSSEL:
Lazar Wolf hat einen bei mir bestellt. - Aber so ein Hut ist nicht billig!
MOTTEL:
Hab ich seine Braut - nehm' ich auch seinen Hut!
JUSSEL:
Dann komm, Mottel, komm!
MOTTEL:
(zu Chava) Chava, würdest du bitte für ein paar Minuten auf den Laden
aufpassen!
CHAVA:
Natürlich, Mottel.
27
MOTTEL:
Ich bin gleich wieder zurück.
(Alle, außer Chava, verlassen den Laden.)
ALLE:
Mazeltov!!
(Chava begleitet sie auf die Straße)
DORFBEWOHNER: (gehen am Laden vorüber zu Chava) Wir haben eben von deiner .Schwester
gehört... Mazeltov, Chava … Mazeltov Chava!
CHAVA:
Danke schön! Vielen Dank!
(Alle, außer Chava, gehen ab. Fedja, Sascha und ein anderer Russe treten zur
gleichen Zeit auf. Sie kommen über die Straße und versperren Chava den Weg in
den Laden.)
SASCHA u. RUSSE: (äffen die anderen mit leichtem Akzent nach) Mazeltov, Chava! Mazeltov,
Chava!
CHAVA:
Wurden Sie mich bitte vorbeilassen?
SASCHA :
(stellt sich ihr in den Weg) Warum? Wir möchten Ihnen gratulieren!
RUSSE:
Mazeltov, Chava!
FEDJA:
(ruhig) Komm, lass das!
SASCHA :
Was ist denn los mir dir?
FEDJA:
Ich sagte, lass das!
SASCHA :
Wie kommst du mir denn vor Fedja!
FEDJA:
(sehr bestimmt) Auf Wiedersehen, Sascha! (Sascha und der Russe wissen nicht,
was sie machen sollen.) Ich sagte, auf Wiedersehen! Verschwindet! (Sascha und
der Russe schauen Fedja verwundert an und gehen.) Tut mir leid, Chava. Sie
haben es nicht böse gemeint.
CHAVA:
Meinen Sie? (Sie geht in den Laden. Fedja folgt ihr.) Kann ich etwas für Sie tun?
FEDJA:
O ja - unterhalten Sie sich ein bisschen mit mir!
CHAVA:
Lieber nicht. (Die Situation ist ihr peinlich.)
FEDJA:
Ich habe Sie oft in Awrams Buchladen gesehen. Es gibt im Dorf nicht viele
Mädchen, die gern lesen. (Ein Gedanke schießt ihm durch den Kopf. Er zeigt ihr
das Buch, das er in der Hand hält.) Soll ich Ihnen dieses Buch leihen? Es ist sehr
gut.
CHAVA:
Nein, danke,
FEDJA:
Warum nicht? Weil ich kein Jude bin? Denken Sie etwa so über uns. Wie die da
über euch denken? - Das glaube ich von Ihnen nicht.
(Mottel tritt ein. Chava legt das Buch auf die Ladenfläche.)
MOTTEL:
Guten Tag, Fedja! Hast du irgendeinen Wunsch?
28
FEDJA:
Nein danke, (wendet sich zum Gehen)
MOTTEL:
Vergiss dein Buch nicht!
CHAVA:
Das gehört mir.
MOTTEL:
Dank dir, Chava, dass du den Laden bewacht hast.
(Chava nimmt das Buch und verlässt mit Fedja den Laden.)
FEDJA:
(bereits auf der Straße) Auf Wiedersehen, Chava!
CHAVA:
Auf Wiedersehen!
FEDJA:
(ergänzt mit sanftem Nachdruck) Fedja!
CHAVA:
Auf Wiedersehen Fedja!
(Sie gehen nach verschiedenen Seiten ab. Mottel probiert seinen Hochzeitshut.)
29
9. SZENE
Ein Teil von Trevjes Hof. Abends. Zeitel tritt auf. Sie trägt ihr Brautkleid. Es folgen: Tevje, Golde,
Hodel, Bielke, Chava, Sprintze und Verwandte. Mottel tritt auf, begleitet von Eltern und Verwandten.
Viele Gäste folgen. Sie tragen brennende Kerzen. Die Männer nehmen auf der rechten Seite ihr Plätze
ein, die Frauen auf der linken. Zeitel und Mottel stehen nun in der Mitte. Mottel schmückt Zeitel mit
dem Brautschleier. Vier Männer, gefolgt vom Rabbi, tragen den Hochzeits-Baldachin herein, und
zwar so, dass Mottel und Zeitel darunter stehen. Die Hochzeitsgesellschaft beginnt zu singen.
10. SZENE
Wenn sich der Vorhang öffnet, sieht man den ganzen Hof von Tevjes Anwesen. Ein Teil davon ist
hinter der Mitte, senkrecht zum Bühnenausschnitt, durch eine kleine Trennwand unterteilt. Rechts und
links davon sind lange Tafeln aufgestellt. Die Musikanten spielen. Alle tanzen, wie es die Tradition
gebietet. Nach dem Tanz setzen sich alle auf die Bänke, die entlang der Tafeln stehen: Die Männer
rechts - die Frauen links. Motschach steigt auf einen Schemel und bittet um Ruhe. Der Lärm ebbt ab.
ALLE:
Pscht! Pscht! Ruhe! Reb Motschach! Pscht! Pscht!
MOTSCHACH:
Liebe Freunde! Wir haben uns hier versammelt, um an der Freude unserer beiden
Neuvermählten Zeitel und Mottel teilzuhaben. Mögen sie in Frieden miteinander
leben bis an das Ende ihrer Tage. Amen.
ALLE:
Amen!
(Der Rabbi geht langsam zu seinem Tisch. Mendel ist bei ihm.)
MOTSCHACH:
Ah, da kommt unser Rabbi! Möge er noch viele, viele Jahre unter uns weilen!
RABBI:
- Amen!
ALLE:
Amen!
MOTSCHACH:
Es ist mir eine Ehre, mitteilen zu dürfen, dass die Brauteltem den
Neuvermählten folgende Geschenke mit in die Ehe geben: Ein neues Federbett,
zwei Federkissen, …
GOLDE:
(zischt) Gänsefederkissen.
MOTSCHACH:
Gänsefederkissen. Und diese beiden Leuchter.
ALLE:
Mazeltov!
MOTSCHACH:
Und nun lasst uns in unserer Festesfreude derer gedenken, die nicht mehr unter
uns weilen, unserer lieben Verblichenen, die in Not und Armut lebten und in Not
und Armut starben. (Alle schnäuzen sich vor Ergriffenheit. Motschach wartet
einen Moment.) Genug der Tränen! (Die Trauer ist sofort verflogen.) Nun lasset
uns fröhlich und zufrieden sein.
Ich sehe, Tevje, wir kommen etwas ungelegen. Es tut mir leid.
Aber wir haben Befehl für heute Abend. - Für das ganze Dorf, (zu den
Musikanten) Macht weiter! Spielt, spielt! -(zu seinen Soldaten) Also los!
(die Russen beginnen ihr Zerstörungswerk. Sie springen über die Tische,
zerreißen die Federkissen, zerschlagen Geschirr und Fenster. Ein Soldat wirft die
30
zwei Kronleuchter, das Hochzeitsgeschenk der Brauteltern, auf den Boden.
Perchik rauft mit ihm. Er wird von einem Knüppel getroffen und fällt hin. Die
Gäste flüchten.)
HODEL:
(wirft sich neben ihn) Perchik! (Die Gäste sind nun alle verschwunden)
WACHTMEISTER:
(zu seinen Soldaten) So, das genügt, (zu Tevje) Es tut mir aufrichtig Leid, glauben
Sie mir!
TEVJE:
(Tevje antwortet nicht)
WACHTMEISTER: (zu seinen Soldaten) Kommt! (Der Wachtmeister und die Soldaten gehen ab.)
GOLDE:
(zu Hodel) Hilf ihm ins Haus.
(Hodel stützt Perchik und führt ihn ins Haus.)
TEVJE:
(ganz ruhig zu seinen Familienmitgliedern) Was steht ihr hier herum? Kommt!
Räumen wir auf!
(Sie beginnen, Ordnung zu machen. Sie heben Scherben auf, bringen die
zerrissenen Betten ins Haus, Zeitel hebt die beiden Leuchter auf, einer ist
zerbrochen. Plötzlich hört man aus einem Nachbarhaus den Lärm der
zerstörungswütigen Soldaten. Alle stehen für einen Moment wie gelähmt da. Dann
räumen sie weiter auf, während der Vorhang fällt.)
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2. AKT
Prolog
Vor Teyjes Haus. Tevje sitzt auf einer Bank.
TEVJE:
(zum Himmel) Das war eine schöne Mitgift, die meine Zeitel zu ihrer Hochzeit
von dir bekommen hat. War das notwendig? Lassen wir das - Zeitel und Mottel
sind nun schon fast zwei Monate verheiratet. Aber sie sind beide so glücklich,
dass sie gar nicht merken, wie dreckig es ihnen geht. Ich weiß, du bist sehr
überlastet - Kriege und Revolutionen und Seuchen und Überschwemmungen und
all die anderen kleinen Dinge, welche die Leute sonst noch an dich herantragen.
Aber könntest du dich nicht mal eine Sekunde von deinem Katastropheneinsatz
frei machen? Nicht für mich. Für Mottel! Was würde dir das schon ausmachen!
Und wenn du schon mal in der Nähe bist - das linke Hinterbein von meinem Pferd
- fall' ich dir sehr auf die Nerven? - Dann entschuldige bitte. Was steht in der
Bibel? Muss ich dir erzählen, was in der Bibel steht! (geht ab)
1. SZENE
Vor Teyjes Haus. Nachmittag. Hodel tritt auf, gefolgt von Perchik. Sie ist gereizt
PERCHIK:
Was hast du denn, Hodel?
HODEL:
Was soll ich schon haben? Wenn du abreisen musst, dann bitte!
PERCHIK:
Ich muss wirklich. Ich werde morgen früh in Kiew erwartet.
HODEL:
Das hast du bereits gesagt. - Also, dann leb wohl!
PERCHIK:
Große Veränderungen bahnen sich an in unserem Land.
Gewaltige Veränderungen. Nur - von allein kommen sie nicht in Gang.
HODEL:
Aha! Du glaubst natürlich, dass es ohne dich nicht geht!
PERCHIK:
Ich bin nicht der einzige. Und so wie ich denken viele: Juden, Christen, viele
Menschen. Sie können und wollen die Willkür in unserem Land nicht mehr
ertragen. Verstehst du das nicht?
HODEL:
Doch, doch, ich verstehe. Also, wenn du unbedingt gehen willst, dann leb wohl!
PERCHIK:
Ich stehe vor einer großen und schweren Aufgabe.
HODEL:
Dann leb wohl, Perchik.
PERCHIK:
Bevor ich gehe, (er zögert, dann fasst er Mut) da ist eine gewisse Frage, die ich
gerne noch mit dir diskutiert hätte.
HODEL:
Ja, und?
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PERCHIK:
Eine politische Frage.
HODEL:
Und die wäre?
PERCHIK:
Wie stehst du zu der Ehe?
Das ist eine politische Frage?
PERCHIK:
In theoretischem Sinne schon, (doziert) Die Verbindung zwischen Mann und
Frau, bekannt unter dem Begriff „Ehe", basiert auf gegenseitigem Vertrauen, auf
gemeinsamer Geisteshaltung und auf gesellschaftskritischer Weltanschauung -
HODEL:
und Zuneigung!
PERCHIK:
Und Zuneigung.- Diese Verbindung ist von großer soziologischer Bedeutung. In
ihr spiegeln sich Einigkeit und Solidarität.
HODEL:
Und Zuneigung.
PERCHIK:
Jawohl. Und ich persönlich bin ja auch nicht abgeneigt. Verstehst du?
HODEL:
Ich dachte, du fragst mich, ob ich dich heiraten will.
PERCHIK:
In theoretischem Sinne schon!
HODEL:
Ich hoffte, du würdest es auch wirklich tun!
PERCHIK:
Also nehme ich an, du stimmst zu? Können wie uns als verlobt betrachten,
obwohl ich dich verlassen muss?
HODEL:
Ja, Perchik, ich gehe mit dir! Und wann werden wir heiraten, Perchik?
PERCHIK:
Ich lasse dich nachkommen, sobald ich kann. Es wird kein leichtes Leben sein,
Hodel.
HODEL:
Es wird leichter sein, wenn wir zusammen sind.
PERCHIK:
Ja.
TEVJE:
(tritt auf) Guten Abend.
PERCHIK:
Guten Abend. Reb Tevje, ich habe eine schlechte Nachricht. Ich muss
Anatevka verlassen.
TEVJE:
Wann?
PERCHIK:
Noch heute.
TEVJE:
Schade, Perchik. Wir werden dich alle vermissen.
PERCHIK:
Aber ich habe auch eine gute Nachricht. Sie können mir gratulieren.
TEVJE:
Gratulieren? Wozu?
PERCHIK:
Wir haben uns verlobt.
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TEVJE:
Verlobt?
HODEL:
Ja, Papa, wir sind verlobt. (nimmt Perchiks Hand)
TEVJE:
(er trennt sie sanft.) Nein, ihr seid es nicht! - Ich weiß, dass du ihn gern hast und
dass er dich gern hat. Aber du gehst fort von hier, und du bleibst da. Also, gute
Reise, Perchik. Ich wünsche dir, dass du sehr glücklich wirst, und meine Antwort
ist nein.
HODEL:
Bitte, Papa! - Verstehst du uns denn nicht?
TEVJE:
Ich verstehe euch sehr gut. Ich habe Mottel und Zeitel meine Erlaubnis gegeben,
und nun glaubt ihr, das gleiche Recht zu gaben. Tut mir leid, Perchik. Ich mag
dich gern, aber du gehst weg von hier. Meine besten Wünsche begleiten dich, aber
meine Antwort bleibt nein.
HODEL:
Du verstehst uns nicht, Papa.
TEVJE:
(sehr ruhig) Du hörst mir ja nicht zu. Ich sage nein, so Leid es mir tut, Hodel. Wir
werden schon einen Mann für dich finden. Hier in Anatevka.
PERCHIK:
Reb Tevje!
TEVJE:
Ist noch was?
PERCHIK:
Wir wollten nicht um Ihre Erlaubnis bitten, sondern um Ihren Segen. Wir werden
bald heiraten.
TEVJE:
(zu Hodel) Ihr bittet mich nicht um Erlaubnis?
HODEL:
Aber wir hätten gern deinen Segen.
TEVJE:
Ich höre wohl nicht ganz recht! Meinen Segen! Wofür? Dass ihr mich übergeht?
Das gibt es nicht! Wo führt das hin? Dahin: Ein Mann sagt mir, er wird heiraten.
Er fragt mich nicht, er sagt es mir. Aber zuerst mal verlässt er sie.
HODEL:
Er verlässt mich nicht, Papa.
PERCHIK:
Sobald ich kann, lasse ich sie nachkommen und heirate sie. Ich liebe sie.
TEVJE:
(ahmt ihn nach) „Ich liebe sie!" - Liebe! Ist wohl was Neues! Andererseits haben
sie eigenmächtig gehandelt, ohne die Eltern zu fragen, ohne Heiratsvermittler.
Andererseits - wie war denn das bei Adam und Eva? Hatten die einen
Heiratsvermittler? - Ja, sie hatten einen! Dann scheinen die beiden denselben
Heiratsvermittler zu haben, (zuckt mit den Achseln) Also gut, Kinder, ihr habt
meinen Segen und meine Erlaubnis.
HODEL:
O danke, Papa. Du weißt nicht, wie glücklich du mich machst.
TEVJE:
(zum Publikum) Was blieb mir andres Übrig?
PERCHIK:
Vielen Dank, Papa.
TEVJE:
(sorgenvoll) „Vielen Dank, Papa!" - Und was soll ich deiner Mutter erzählen?
Noch einen Traum?
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PERCHIK:
Vielleicht erzählen Sie ihr, dass ich verreise, um einen reichen Onkel zu besuchen
oder irgend so was,
TEVJE:
Bitte, Perchik! Ich weiß schon, wie ich meine Frau zu behandeln habe. (Perchik
und Hodel ab; Tevje angriffslustig) Golde! Golde! (Golde kommt aus dem Haus,
Teyje nun sehr ängstlich.) Hallo, Golde! Ich habe eben gerade mit Hodel und
Perchik gesprochen.
GOLDE:
Und?
TEVJE:
Die scheinen ganz vernarrt ineinander zu sein.
GOLDE:
Und?
TEVJE:
Und! - Ich habe mich entschlossen, ihnen die Erlaubnis zur Verlobung zu geben,
(will ins Haus gehen)
GOLDE:
(hält ihn zurück) Was? - Einfach so? - Ohne erst mich zu fragen?
TEVJE:
(brüllt) Wer fragt denn da dich? Ich bin der Vater!
GOLDE:
Und wer ist er? Ein Habenichts! Er hat nichts, absolut nichts!
TEVJE:
Das will ich nicht sagen. Wie ich hörte, hat er einen reichen Onkel, einen sehr
reichen Onkel, (ändert das Thema) Er ist ein guter Junge, Golde. Ich mag ihn. Er
ist ein bisschen meschugge, aber ich mag ihn. Und, was wichtiger ist, Hodel mag
ihn. Hodel liebt ihn.
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2. SZENE
Die Dorfstraße. Jente, Zeitel und andere Dorfbewohner kommen und gehen. Jente und Zeitel begrüßen
sich.
JENTE:
Ach Zeitel! Zeitel, mein Täubchen! Rate, wen ich gerade gesehen habe! Deine
Schwester Chava mit diesem Fedja! Und das ist nicht das erste Mal, dass ich die
beiden zusammen gesehen habe.
ZEITEL:
Du hast Chava mit Fedja gesehen?
JENTE:
Hab' ich die zusammengebracht? - Na also! - Übrigens war ich heute zufällig auf
dem Postamt, und da sagte man mir, dass ein Brief da wäre – für deine Schwester
Hodel.
ZEITEL:
O, wie schön! Den muss ich gleich holen! (will gehen)
JENTE:
Ich hab' ihn schon. Er ist von ihrem Zukünftigen, von Perchik. (gibt Zeitel den
Brief)
ZEITEL:
Da wird sich Hodel aber freuen. Sie hat schon sooo darauf gewartet. -Aber, der ist
ja offen?
JENTE:
Der ist offen? (Zeitel geht ab. Jente beobachtet sie, bis sie verschwunden ist.
Dann wendet sie sich zu einer Gruppe von Dorfbewohnern.) Rifka, Rifka! Ich
habe tolle Neuigkeiten!
(singt) Ihr kennt doch Perchik, den jungen Hitzkopf?
Denkt ihr noch an die Hochzeit
von Zeitel und Mottel? Als Perchik schamlos tanzte
mit Tevjes Tochter Hodel? Ja, wie man hört, sitzt Perchik
im Gefängnis, in Kiew!
DORFBEWOHNER: Nein!
(Jente und die erste Gruppe gehen ab. Eine Frau tritt auf und geht zu einer
zweiten Gruppe.)
ERSTE FRAU:
(spricht) Schandel, Schandel weißt du das Neueste?
(singt)
du kennst doch Perchik, den jungen Hitzkopf!
Denkst du noch an die Hochzeit.
da tanzte er mit Hodel.
ja, wie man hört, sitzt Hodel im Gefängnis, in Kiew!
DORFBEWOHNER: Nein! Fürchterlich! Fürchterlich!
MENDEL:
(Zweite Gruppe geht ab. Eine zweite Frau geht zur dritten Gruppe)
ZWEITE FRAU: Mendel!
Du kennst doch Hodels Perchik,
den Hitzkopf aus Kiew!
Denkst du noch an die Hochzeit
von Zeitel und Mottel?
36
Ja, wie man hört, sitzt Mottel im Gefängnis,
weil er zur Hochzeit tanzte!
MENDEL:
Nein!
ZWEITE FRAU: In Kiew!
(Dritte Gruppe geht ab. Mendel geht zur vierten Gruppe.)
MENDEL:
(spricht)
Rabbi! Rabbi!
(singt)
Du kennst doch Perchik mit seinen Weltreformen!
Weißt du, wie damals Tevje
zum Tanz die Golde holte?
Ja, wie man hört, sitzt Tevje im Gefängnis,
und Golde fuhr nach Kiew.
DORFBEWOHNER: Nein!
MENDEL:
Doch, es stimmt!
DORFBEWOHNER: Nicht möglich!
MENDEL:
Es stimmt!
(Vierte Gruppe geht ab. Awram geht zu fünften Gruppe. Jente tritt auf. Sie bleibt
in einiger Entfernung stehen und lauscht.)
AWRAM:
(schreit) Hört alle mal her! Schreckliche Nachrichten!
Ganz schreckliche!
(singt)
Ihr kennt doch Perchik,
mit dem begann das Unglück!
Ich hörte heut von jemand, der es weiß:
Die Golde sitzt im Zuchthaus!
Die Hodel floh nach Kiew! '
Mottel lernt jetzt tanzen,
und Tevje spielt verrückt.
Sprintze hat die Masern,
nur's Pferd, das ist gesund!
JENTE:
(singt) Das kommt davon, wenn Fraun mit Männern tanzen!
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3. SZENE
Vor dem Bahnhof von Anatevka. Es ist Morgen. Hodel tritt auf und geht zu einer Bank. Tevje folgt ihr,
er trägt ihren Koffer.
HODEL:
Du musst nicht warten, Papa, sonst kommst du zu spät zu deiner Kundschaft.
TEVJE:
Bloß noch paar Minuten. - Hat er Schwierigkeiten, dein Held? (Hodel nickt.)
Verhaftet? - (Sie nickt.) - Schon verurteilt?
HODEL:
Ja. Aber er hat nichts Unrechtes getan. Er denkt nie an sich. Was er auch tut - er
handelt nur aus Menschenliebe.
TEVJE:
Aber - wenn er nichts Unrechtes getan hat, dann hätte er doch keine
Schwierigkeiten.
HODEL:
Papa, wie kannst du so etwas sagen - ein gescheiter Mann wie du! Was tat denn
Joseph Unrechtes, und Abraham und Moses? Und die haben auch viel ertragen
müssen.
TEVJE:
Und warum willst du mir nicht sagen, wo er jetzt ist, dein Joseph?
HODEL:
Er ist weit, Papa, sehr weit. - In Sibirien.
TEVJE:
In Sibirien! Und er mutet dir zu, Vater und Mütter zu verlassen, ihm in diese
Eiswüste zu folgen und ihn dort zu heiraten?
HODEL:
Nein, Papa. Ich will zu ihm. Ich lasse ihn nicht allein. Er steht vor einer großen
und schweren Aufgabe. Und dabei will ich ihm helfen.
TEVJE:
Aber Hodel! Mein Kind! Und wer, mein Kind, wird die Hochzeit für euch
ausrichten, dort in Sibirien?
HODEL:
Papa, ich verspreche dir, dass wir uns unter einem Baldachin trauen lassen
werden, wie es unser Glaube vorschreibt.
TEVJE:
(versucht, heiter zu sein) Zweifellos sind auch paar Rabbis in Sibirien. - So! Und
nun grüße ihn von mir recht herzlich - deinen Moses! Ich habe immer gewusst,
dass er ein guter Junge ist. Sag ihm, ich verlasse mich darauf, dass er gut zu
meiner Tochter sein wird. Sag ihm das.
HODEL:
Papa, Gott allein weiß, wann wir uns wieder sehen.
TEVJE:
Also legen wir unser Schicksal in seine Hände. (Er küsst Hodel - geht - hält an schaut zurück und blickt zum Himmel.) Bitte, beschütze sie und sorge dafür, dass
sie immer schön warm angezogen ist. (Er geht ab.)
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4. SZENE
Die Dorfstraße. Einige Monate später. Dorfbewohner treten auf.
AWRAM:
Reb Motschach, weißt du schon das Neueste? Mottel und Zeitel haben
Familienzuwachs bekommen.
MOTSCHACH:
Mottel und Zeitel haben Familienzuwachs bekommen? - Ich muss ihnen
gratulieren!
RABBI:
Na, so was!
MENDEL:
Mazeltov!
ERSTERMANN: Mazeltov!
(Schandel kommt angelaufen. Sie trifft eine Frau.)
EINE FRAU:
Schandel, wo läufst du denn hin?
SCHANDEL:
Zu meinem Jungen. Zu Mottel. Er hat doch ein Kind bekommen.
DORFBEWOHNER:
Mazeltov, Mazeltov, Glück und Segen, Schandel!
Mottels Schneiderwerkstatt. Mottel und Chava sind im Laden. Golde und
Dorfbewohner drängen sich um Mottel. sie gratulieren ihm. Sie treten zur Seite,
und man sieht eine gebrauchte Nähmaschine.
FEDJA:
Wissen die immer noch nichts von uns?
(Chava .schüttelt den Kopf.)
Du musst es ihnen sagen!
CHAVA:
Ich möchte schon, aber ich habe Angst davor.
FEDJA:
Chava, dann lass mich deinen Vater sprechen.
CHAVA:
Nein! Das wäre das Schlimmste, was wir tun könnten. Ganz bestimmt!
FEDJA:
Lass es mich versuchen.
CHAVA:
Nein! Ich werde mit Vater reden, ich verspreche es dir.
(Tevje tritt auf.)
FEDJA:
(streckt ihm seine Hand entgegen) Guten Abend.
TEVJE:
(gibt ihm lasch die Hand) Guten Abend.
FEDJA:
(sieht Chava viel sagend an) Guten Abend, (geht ab)
TEVJE:
Guten Abend. - Worüber habt ihr beiden denn gesprochen?
CHAVA:
Über nichts Besonderes. Was man eben so spricht.
39
(Tevje geht zu Mottels Laden.)
CHAVA:
Fedja und ich - wir kennen uns schon lange, dass ...
TEVJE:
(dreht dich um) Chava, es wäre mir lieber, wenn du dir solche Freunde von Leibe
hieltest. Vergiss nicht, wer du bist und wer dieser da ist.
CHAVA:
Er hat einen Namen, Papa.
TEVJE:
Natürlich. Alle Kreaturen auf Erden haben einen Namen.
CHAVA:
Fedja ist keine Kreatur, Papa. Fedja ist ein Mann.
TEVJE:
Wer sagt, dass er keiner ist. Ich sage nur, dass er keiner von uns ist. Wie sagt doch
das gute Buch: „Man soll schön unter sich bleiben!" Mit anderen Worten: „Ein
Fisch kann wohl einen Vogel heiraten. Aber wo wollen sie miteinander wohnen?"
(Tevje geht zu Mottels Laden. Chava hält ihn fest.)
CHAVA:
Die Welt ändert sich, Papa.
TEVJE:
Nein. Es gibt Dinge für uns, die sich nicht ändern. Es gibt Dinge, die werden sich
nie ändern!
CHAVA:
Darüber denken wir anders!
TEVJE:
Was heißt „wir"?
CHAVA:
Fedja und ich. Wir wollen heiraten.
TEVJE:
Hast du den Verstand verloren? Weißt du, was das bedeutet, einen zu heiraten, der
einen anderen Glauben hat?
CHAVA:
Aber, Vater...
TEVJE:
Nein, Chava! Ich sage nein! Du sollst niemals wieder davon sprechen! Du sollst
niemals wieder seinen Namen nennen! Du sollst ihn niemals wieder sehen! Hast
du mich verstanden?
CHAVA:
Ja, Papa. Ich habe dich verstanden.
(Golde kommt mit Sprintze und Bielke aus Mottels Laden.)
GOLDE:
Ach, da seid Dir? - gehn wir nach Hause, Abendbrot essen. Es wird Zeit.
TEVJE:
Erst will ich Mottel neue Nähmaschine sehen!
GOLDE:
Die kannst du ein andermal sehen.
TEVJE:
Ruhe! Mutter, mach mich nicht wütend! Du weißt, wenn ich wütend bin, wagt
keine Fliege mehr zu husten.
GOLDE:
Hab’ ich eine Angst vor dir! Nach dem Abendessen wird’ ich in Ohnmacht fallen.
- Komm nach Hause!
40
TEVJE:
(streng) Golde! Der Herr im Haus bin ich! Und das Familienoberhaupt bin auch
ich! - Ich will Mottels neue Nähmaschine sehen, und zwar jetzt! (Er schreitet zur
Ladentür, öffnet sie, schaut in den Laden, schließt Tür wieder, wendet sich zu
Golde.) so! Kommt nach Hause!
(Tevje, Golde, Bielke, Sprintze gehen ab. Chava bleibt und schaut ihnen nach.)
6. SZENE
Eine Landstraße. Später Nachmittag. Tevje zieht seinen Wagen.
TEVJE:
(sinkt erschöpft auf seinen Wagen) Wie lange wird dieses niederträchtige Pferd
noch krankfeiern - mit seinem schlimmen Bein? (blickt zum Himmel) Lieber Gott!
Wenn ich auf zwei Beinen laufen kann, warum kann es das Pferd nicht auf
dreien? - Ich weiß, ich sollte nicht zu ungerecht mit ihm sein. Es ist ja auch eins
deiner Geschöpfe und hat dieselben Rechte wie ich: das Recht, krank zu sein; das
Recht, hungrig zu sein; und das Recht, zu arbeiten wie ein Pferd! Ach, lieber Gott,
dieser Wagen! Ich bin ganz fertig vom vielen Ziehen! Ich weiß, ich weiß. Ich zieh
ihn ja schon wieder! (Er beginnt, seinen Wagen zu schieben.)
GOLDE:
(aus dem Hintergrund) Tevje! (Sie kommt angelaufen, vollkommen außer sich.)
Tevje!
TEVJE:
(bestürzt) Was ist? - Was hast du denn?
GOLDE:
Unsre Chava. Sie ist seit heute morgen verschwunden. Mit Fedja.
TEVJE:
Was?
GOLDE:
Ich habe sie überall gesucht. Ich war sogar beim Pfarrer. Er hat mir erzählt - die
beiden sind verheiratet.
TEVJE:
Verheiratet? (Golde nickt.) Geh nach Hause, Golde. Wir haben ja noch ein paar
Kinder. Geh nach Hause, Golde. Du hast deine Arbeit. Ich habe meine Arbeit.
GOLDE:
Und Chava?
TEVJE:
Chava ist für uns gestorben. Wir wollen sie vergessen. Geh nach Hause. (Golde
geht ab.)
(singt)
CHAVALEH
Kleiner Spatz! Kleine Chavaleh!
Warum gingst du fort? Warum tust du uns weh?
Wenn ich wüsste, wo du bist,
ob du, mein Spatz wirklich glücklich bist
und ob ich dich wiederseh'?
Chavaleh, Chavaleh.
Kleiner Spatz! Kleine Chavaleh!
Du warst immer so ein liebes, kleines Ding.
41
Oh, wie Papa an dir hing!
Zärtlich und sanft war mein Vögelchen.
Ob ich dich einmal wiederseh'?
Chavaleh, Chavaleh.
Papa, ich möchte mit dir sprechen. (Tevje beachtet sie nicht, er will seinen Wagen
weiterschieben.) Halt, Papa! Höre mich wenigstens an. Papa, ich bitte dich,
versuch uns zu verstehen!
TEVJE:
Ich soll versuchen, euch zu verstehen? Wie soll ich das! Soll ich denn alles
verleugnen, woran ich glaube? Andererseits: Wie kann ich denn mein eigenes
Kind verleugnen? Andererseits: Wie kann ich dem Allerhöchsten meinen
Allerwertesten zuwenden, Leute! - so beweglich bin ich nicht! Andererseits … da
gibt's kein „Andererseits" Nein, Chava. Nein - nein - nein!
CHAVA:
Papa! Papa!
7. SZENE
Lazar, Awram, Mendel Motschach und andere Dorfbewohner treten auf.
RABBI:
Golde, ist Tevje da?
GOLDE:
Ja. Er ist drüben im Haus. Warum? Ist was passiert?
AWRAM:
(zu Bielke und Sprintze) Holt mal euren Vater her. (Sprintze gehen ab.)
GOLDE:
Was ist denn los? Warum schart ihr euch zusammen wie eine Hammelherde? Was
habt ihr denn?
(Tevje tritt auf)
AWRAM:
Reb Tevje, hast du den Wachtmeister heute schon gesprochen?
TEVJE:
Nein. Warum?
LAZAR:
Im Ort gehen Gerüchte um. Du kennst ihn doch gut. Und da dachten wir, dass er
dir vielleicht gesagt hätte, was wahr ist und was nicht.
TEVJE:
Gerüchte? Was für Gerüchte?
AWRAM:
Jemand aus Zolodin hat erzählt, dass in St. Petersburg ein Erlass herausgegeben
wurde, dass alle . . . Pscht. Pscht.
(Der Wachtmeister und zwei Soldaten treten auf.)
TEVJE:
Willkommen, Euer Ehren. Was gibt's Neues?
WACHTMEISTER: Ich sehe, Sie haben Besuch.
TEVJE:
Das sind alles gute Freunde.
42
WACHTMEISTER:
Das trifft sich gut. Was ich zu sagen habe, ist auch für ihre Ohren bestimmt. Tevje, wie viel Zeit brauchen Sie, um Ihr Haus und Ihre Sachen zu verkaufen?
(Totenstille. Niedergeschlagen schauen alle Tevje an.)
TEVJE:
Warum sollt ich mein Haus verkaufen? Ist es jemand im Wege?
WACHTMEISTER:
Ich bin hierher gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass sie Anatevka verlassen
müssen.
TEVJE:
Und wie komme ausgerechnet ich zu dieser Ehre?
WACHTMEISTER:
Natürlich nicht nur Sie, Tevje. Alle. Erst hatte ich geglaubt, dass man mit Ihnen
eine Ausnahme machen würde. Ihre Tochter ist ja nun verheiratet mit einem...
TEVJE:
Meine Tochter ist für mich gestorben.
WACHTMEISTER:
Ich verstehe. - Auf jeden Fall: Der Erlass trifft Sie alle. Sie müssen fort.
TEVJE:
Aber dieses Fleckchen Erde war immer unsere Heimat. Warum sollen wir fort von
hier?
WACHTMEISTER:
(irritiert) Ich weiß nicht, warum. - Überall in der Welt sind Unruhen. Und
Unruhestifter.
TEVJE:
(ironisch) Wie wir.
WACHTMEISTER:
Übrigens sind Sie nicht die einzigen, die weg müssen. Ihre Leute müssen alle
Dörfer verlassen - Zolodin - Rablewka - der ganze Bezirk muss geräumt werden.
(Dorfbewohner mach ihrem Unwillen Luft.) Ich habe einen Befehl erhalten, der
besagt, dass Sie Ihre Häuser zu verkaufen haben und den Ort innerhalb von drei
Tagen verlassen müssen.
DORFBEWOHNER: Drei Tage! - In drei Tagen!
TEVJE:
Sie kennen uns doch ein Leben lang. Und Sie wollen diesen Befehl ausführen?
WACHTMEISTER:
TEVJE:
Ich habe damit nichts zu tun. Verstehen Sie das nicht?
(voll Bitterkeit) Wir verstehen.
Und was geschieht, wenn wir uns weigern?
WACHTMEISTER: Dann wird man Sie zwingen.
LAZAR:
Wir werden uns Verteidigen!
2. DORFBEWOHNER: Weigert euch zu gehen!
43
3. DORFBEWOHNER: Gebt euer Land nicht auf! Wir werden kämpfen!
WACHTMEISTER: Gegen unsere Armee? Ich gebe Ihnen den Rat, lassen Sie das!
Und ich gebe Ihnen auch einen Rat: Verlassen Sie mein Haus! (Die Dorfbewohner
bedrängen den Wachtmeister und die zwei Soldaten.) Noch ist das mein Haus und
mein Boden! - Verlassen Sie mein Haus! (Wachtmeister und Soldaten gehen.)
WACHTMEISTER: (dreht sich im Gehen um) Sie haben drei Tage Zeit. (geht ab)
So weit ich zurückdenken kann, haben unsere Familien hier gelebt. Und nun
sollen wir einfach gehn.
MOTSCHACH:
Wir sollten uns mit den Leuten aus Zolodin zusammentun. Vielleicht haben die
eine Idee.
ERSTER MANN: Wir sollten uns verteidigen! Auge um Auge, Zahn um Zahn!
TEVJE:
Sehr gut! Dann wäre bald die ganze Welt blind und ohne Zahn!
MENDEL:
Rabbi, wir warten doch nun schon ewig auf den Messias. Jetzt könnte er kommen!
Das wäre der richtige Moment!
RABBI:
Nun, werden wir eben woanders auf ihn warten. Inzwischen fangen wir an zu
packen.
1. DORFBEWOHNER: (im Abgehen) Er hat recht.
ERSTER MANN: Nur drei Tage Zeit.
MOTSCHACH:
Wie soll ich in dieser Zeit mein Geschäft verkaufen. Und meine Ware!
ERSTER MANN: Wo soll ich hin... mit meiner Frau, meinen Schwiegereltern und drei Kindern?
(Alle gehen ab außer Jente, Golde, Awram, Lazar, Mendel und Teyje.)
JENTE:
Na ja: Anatevka war nicht gerade der "Garten Eden"!
GOLDE:
Und letzten Endes: Was gab's denn hier schon groß?
(singt)
ANATEVKA
Was war denn hier schon los?
Was war denn hier schon da?
JENTE:
Ein Bett!
LAZAR:
Ein Tisch!
MENDEL:
Ein Stuhl
AWRAM:
Ein Schrank!
TEVJE:
Man hätte hier längst schon mal ein Streichholz dranhalten sollen!
MENDEL:
Ein Baum!
44
AWRAM:
Ein Strauch!
GOLDE:
Was ist schon 'n Herd!
LAZAR:
Oder 'n Haus!
MENDEL:
Leute, die mal hier waren, können sich später nicht einmal daran erinnern, dass sie
hier waren.
GOLDE:
Ein Stückchen Holz!
JENTE:
Ein Stückchen Stoff!
ALLE:
Was lässt man hier?
Nicht sehr viel –
außer Anatevka.
Anatevka, Anatevka,
fröhliches, trauriges Anatevka,
hier war der Sabbat ja so schön.
Bald wird man ein Fremder sein an fremdem Ort,
und man findet keinen Menschen dort aus Anatevka.
Wir gehörn zu Anatevka.
Fleißiges, ärmliches Anatevka!
Geliebtes Dörfchen! Kleine Heimatstadt.
GOLDE:
Es ist ein Ort wie jeder andere.
MENDEL:
Und unsere Vorfahren mussten schon viele Orte Hals über Kopf verlassen.
TEVJE:
(zuckt mit den Achseln) Vielleicht tragen wir deshalb immer den Hut auf dem
Kopf.
45
8. SZENE
Vor Tevjes Haus. Mottel und Zeitel beladen einen Handwagen und einen Gepäckkarren mit ihrer
Habe. Sprintze und Bielke kommen mit Bündeln.
SPRINTZE:
Wo werden wir in Amerika hingehen?
MOTTEL:
Zu Onkel Abraham. Bloß, der weiß noch nichts davon.
SPRINTZE:
Ach, ich wünschte, ihr würdet mit dem Kindchen mit uns kommen.
Wir bleiben in Warschau, bis wir genug Geld zusammen haben; dann kommen
wir nach.
GOLDE:
(kommt mit Pokalen) Mottel, sei vorsichtig damit. Meine Eltern - Gott hab' sie
selig - schenkten sie uns zur Hochzeit.
ZEITEL:
(zu Bielke und Sprintze) Kommt, Kinder, helft mir, die letzten Sachen packen. (Sie
gehen ins Haus.)
TEVJE:
Komm, Golde, wir müssen bald gehn.
GOLDE:
Gehn! Das sagt sich so einfach!
TEVJE:
Wir werden bald wieder zusammen sein. Mottel. Zeitel und das Kind kommen
bald nach, du wirst sehen. Dieser Mottel ist ein Prachtkerl.
GOLDE:
Und Hodel und Perchik?
TEVJE:
(macht Spaß) Vielleicht kommen sie uns jeden Sabbat besuchen - aus Sibirien. du weißt doch, was Hodel schreibt. Er sitzt im Gefängnis, und sie geht arbeiten.
Er wird nun bald entlassen, und sobald er draußen ist, wollen die beiden die Welt
aus den Angeln heben. Es könnte ihnen also gar nicht besser gehen. Na, und die
anderen Kinder haben wir ja alle bei uns.
GOLDE:
(still) Nicht alle.
TEVJE:
(scharf) Alle! - Komm, Golde, wir müssen uns fertig machen.
GOLDE:
Ich muss erst noch den Fußboden fegen.
TEVJE:
Den Fußboden fegen?
GOLDE:
Ich lasse doch das Haus nicht schmutzig zurück! (Sie geht hinter das Haus, Tevje
folgt ihr.)
TEVJE:
Zeitel, ist drin alles fertig?
ZEITEL:
Gleich, Papa!
(Chava und Fedja treten auf. Zeitel will ins Haus gehen. Sie sieht Chava und
Fedja.) Chava! (Chava läuft zu ihr, sie umarmen sich, Zeitel schaut zum Haus.)
Papa wird dich sehen!
CHAVA:
Ich will ihn sehen. Ich möchte ihm „Leb wohl" sagen.
ZEITEL:
Er wird nicht zuhören.
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CHAVA:
Aber hören wird er mich schon!
ZEITEL:
Vielleicht ist es besser, ich gehe zu Mama und sage ihr, dass . . .
GOLDE:
(kommt hinter dem Haus vor) Chava! (Sie geht zu Chava, während Tevje gerade
mit einem Seil aus dem Haus kommt. Er sieht Chava und Fedja, dreht sich um,
geht wieder ins Haus und bückt sich, um einen Reisekorb zu verschnüren. Er kehrt
Chava und Fedja den Rücken.)
CHAVA:
Papa, wir sind gekommen, um uns zu verabschieden.
TEVJE:
(Antwortet nicht. Er lässt sich in seiner Arbeit nicht stören.)
CHAVA:
Wir gehen auch fort von Anatevka. Nach Krakau.
FEDJA:
Wir bleiben nicht unter Menschen, die es übers Herz bringen, anderen so etwas
anzutun.
CHAVA:
Wir wollten gern, dass ihr das wisst.- Leb wohl, Papa, leb wohl Mama. (Sie wartet
auf eine Antwort, bekommt keine und wendet sich zum Gehen.)
FEDJA:
Ja, wir ziehen auch weg von hier. Gewalt vertreibt die einen, Gleichgültigkeit die
anderen. - Komm Chava.
ZEITEL:
Lebt wohl! Chava .. . Fedja!
TEVJE:
(flüstert Zeitel zu, während er zum nächsten Koffer geht) Gott sei mit euch!
ZEITEL:
(Schaut ihn an. Dann sagt sie sanft zu Chava.) Gott sei mit euch!
CHAVA:
Wir werden euch nach Amerika schreiben – wenn ihr wollt.
GOLDE:
Wir sind bei Onkel Abraham.
CHAVA:
Ja, Mama.
(Chava und Fedja gehen. Tevje dreht sich um und schaut ihnen nach. Einen
Moment ist es ganz still. Dann wendet sich Tevje zu Golde.)
TEVJE:
(mit gespielter Entrüstung) Wir sind bei Onkel Abraham! Wir sind bei Onkel
Abraham! Muss denn das so hinausposaunt werden?
GOLDE:
Hör auf zu schreien! Sieh lieber zu, dass du mit der Packerei vorankommst! Wir
müssen den Zug kriegen!
(Tevje schiebt den Wagen in die Mitte der Bühne. Mottel lädt den Reisekorb auf.
Zeitel bringt das Kind aus dem Haus. Man verabschiedet sich voneinander.)
ZEITEL:
Auf Wiedersehen, Papa. (Sie umarmen sich.)
GOLDE:
Auf Wiedersehen, Zeitel.
TEVJE:
Kommt bald nach!
(Tevje wirft noch einen letzten Blick auf das Kind. Dann gehen Zeitel und Mottel
mit ihrem Handwagen ab. Tevje geht nun zu seinem Wagen.)
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BIELKE u. SPRNTZE: (hopsen kindisch umher)
Wir fahren mit der Eisenbahn und dann mit einem Schiff.
Wir fahren mit der Eisenbahn und dann mit einem Schiff.
GOLDE:
Lasst das! – Noch sind wir nicht in Amerika!
TEVJE:
Kommt Kinder, es ist soweit!
Tevje setzt seinen Wagen in Bewegung. Die anderen Dorfbewohner und der Fiedler schließen sich an.
Einen letzten Moment sind alle zusammen. Dann gehen die Dorfbewohner zu verschiedenen Zeiten in
entgegengesetzten Richtungen ab. Tevjes Familie bleibt allein auf der Bühne. Tevje beginnt seinen
Wagen in Richtung Hinterbühne zu ziehen. Seine Familie folgt ihm. Der Fiedler bleibt zurück und
spielt sein Thema. Dann klemmt er sich seine Violine unter den Arm und folgt der Familie während
der Vorhang fällt.
.
ENDE
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