Andreas Eisl, Ischl „Ein Mensch, der sich seiner selbst ganz bewusst ist, ist immer im Exil. Erst wenn du Stück für Stück alles ablegst, was dir von anderen aufgebürdet, aufgezwungen wird, baust du allmählich deine eigenen Werte auf – das schließt auch den Selbstzweifel mit ein.“ Gao Xingjian, Literaturnobelpreisträger 2000. Aus: Ein interkultureller Blick. In: Günter Abel (Hrsg.): Kreativität. Sektionsbeiträge Band 1. Universitätsverlag der TU Berlin 2005: S.655 Heutzutage leben wir in einer sogenannten Wertegesellschaft. Eine Menge Leute haben ihre eigenen Moralvorstellungen anzubieten, buhlen um deine Aufmerksamkeit, möchten dir helfen deinen Weg durch die Wirren des Lebens zu bestreiten. Beinahe schon mit den Methoden eines hanseatischen Marktschreiers machen sie dich darauf aufmerksam, dass genau ihre Ware die Beste für dich sein muss. Der größte Fisch zum kleinsten Preis und dann auch noch mit der besten Qualität und nach Hause geliefert, metaphorisch gesprochen. Während der eine sich erst zögerlich und nach langem gründlichen Überlegen entscheidet, wird der andere schnell in den Bann, einer dieser Wunder anpreisenden Personen gezogen. Im Endeffekt verkaufen sie eine Ideologie und um ihre Argumente auf ein festes Fundament zu stellen, erhöhen sie nicht nur ihre Ware, sondern decken auch allerlei Fehler und Missstände bei der Konkurrenz auf. Ihr letztendliches Ziel besteht darin, die Erwerber der Ideologie endgültig auf ihre Seite zu ziehen. Doch was sind Werte eigentlich? Ausgangsprodukte von Wertvorstellungen, Moral und Ethik sind grundsätzlich die Wertenden selbst, sie entscheiden in einem steten Prozess, was für sie wichtig und wünschenswert ist. Bei Werten handelt es sich um Vorstellungen über Eigenschaften, die Objekten, Ideen und Beziehungen von einzelnen Personen, Gruppen oder einer Gesellschaft hinzugefügt werden. Es gibt verschiedene Arten von Werten, zum einen kann eine Unterscheidung zwischen materiellen und immateriellen Werten erfolgen, zum anderen kann zwischen Werten als Mittel und Werten durch Fühlen differenziert werden. Werte definieren Sinn und Bedeutung innerhalb eines Sozialsystems und sind die konstitutiven Elemente der Kultur. Schon seit jeher lebten die Menschen in sozialen Gemeinschaften, durch gleiche Wertvorstellungen begründeten sie ein harmonisches Zusammenleben untereinander, denn eine Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn sich jedes Element an gewisse Grundregeln und -gesetze hält, deren Gültigkeit sich auf die Werte, Ethik, Moral der Gruppe rückführen lässt. Sie sorgen für Ordnung und grenzen die Gesellschaft nach außen hin ab, was zusätzlichen Zusammenhalt hervorruft. Immer schon gab es dadurch Differenzen und Reibungsflächen zwischen verschiedenen Gruppen, die in ihrer Abgeschlossenheit oft unterschiedliche Wertvorstellungen entwickelten. Kämpfe und Kriege war nicht selten die Folgen dieser Auseinandersetzungen, ihre grundsätzlichen Ziele sind dabei immer, dem Kontrahenten den eigenen Willen, die eigene Ideologie aufzuzwängen. Manchmal in einem schleichenden Prozess, in der auf ein Einlenken des Gegenübers gehofft wird, oft aber auch in Form eines offenen Konflikts, in dem Intoleranz und Abscheu weithin sichtbar zum Ausdruck kommen. Weltweit unabhängig von jeglichen Faktoren gibt es in jeder Art von menschlichem Zusammenleben, auch bei einzelnen Personen, eine gewisse Grundhaltung, in der Werte wie Selbstbestimmung, Sicherheit, Macht, Anerkennung, Suche nach Glück, Gruppenzugehörigkeit und guter Wille fundamentale Bestandteile darstellen. Zwar scheint jede Form einer Gesellschaft diese Grundwerte zu besitzen, in der Praxis ist eine gleiche Umsetzung aber oft nicht gegeben. Da es aus der Sicht eines einzelnen Individuums manchmal vorteilhafter ist, sich nicht an die Wertvorstellungen und deren abgeleitete Gesetze in der Gesellschaft zu halten, wird von dieser ein Sanktions- und Bestrafungssystem bei Nichteinhaltung der Normen aufgestellt. Womit es letztendlich zur Einschränkung der Freiheit jedes Einzelnen kommt, für die gesamte Gruppe ist dies natürlich von Vorteil, doch einer einzelnen Person wird ein System aufgezwungen und aufgebürdet, das sie in ihrer freien individuellen Entfaltung behindert und beeinträchtigt. Und genau an diesem Punkt kommen wir zu der Einsicht, das wir nur mit einem Durchbrechen dieser Konventionen und Regeln zu besseren, selbst urteilenden und selbst denkenden Individuen heranreifen können. Die Gesellschaft hält den Einzelnen schon von Geburt an in einem Käfig der Traditionen und Vorschriften und versucht ihn ein Leben lang in der Unmündigkeit zu halten. Schon von klein auf erziehen einen die Eltern und erklären was „gut und böse“ ist und versuchen einen, auf das große Leben vorzubereiten. Im Endeffekt führen sie auf diesem Weg nur fort, was ihnen selbst von ihren Eltern beigebracht wurde. Natürlich unterlaufen die Wertvorstellungen einer Gesellschaft einen Wandel, denn im heranwachsenden Alter steht den Erwachsenen durchaus eine Konflikthaltung der Jugendlichen gegenüber, trotzdem verändern sie sich nie in eine Richtung, die der persönlichen Freiheit des Einzelnen mehr Möglichkeiten zugestehen. Im Gegenteil tendieren die heutigen Werte immer mehr, die Rechte zu beschneiden und der Freiheit des Einzelnen weiter Grenzen zu setzen. Um nun diesem eigentlich grausamen System entkommen zu können, muss sich jeder ein Selbstbewusstsein schaffen. Nicht in dem heute gebräuchlichen Sinn, sondern in der ursprünglichen Bedeutung, sich selbst bewusst zu sein. Denn laut Immanuel Kant gilt das allgemeine Selbstbewusstsein als die Voraussetzung für Erkenntnis. Den Alltag bestreiten wir in einer Weise, die nur schwerlich als aus dem eigenen Bewusstsein erfolgt betrachtet werden kann. Maschinengleich werden immer die gleichen Reaktionsmuster und Verhaltensweisen an den Tag gelegt, die wir schon von Kind auf gelernt und als richtig erachtet haben. Die Gesellschaft gibt so eigentlich vor, was wir zu tun haben, um nach ihren Regeln Erfolg und Anerkennung zu haben. In der ständig von bekannten Mustern strotzenden Welt bleibt oft keine Zeit, um über seine Handlungen nachzudenken, die Wertvorstellungen der Gruppe sind zu unseren eigenen geworden. Selbstständiges Überlegen verkommt als unnützes Zeitvergeuden, werten und handeln wird vor das Denken gesetzt. Selbstbewusstsein bedeutend in erster Instanz, sich selbst als ein eigenständiges Individuum verstanden zu haben. Weitergehend führt der Begriff dahin, sich seinen eigenen mentalen Zuständen bewusst zu sein und dass diese in anderen Menschen nicht gezwungenermaßen gleich aussehen müssen. Es besteht natürlich die Möglichkeit dass andere Menschen die Werte, die wird als gut und richtig ansehen, für böse und falsch halten. Der wichtigste Bestandteil zur Entwicklung einer eigenständigen Person ohne Abhängigkeiten und Vorurteilen ist die kritische Selbstreflexion. Dadurch kann man sein Handeln hinterfragen und selbst Schlüsse über dessen Sinnhaftigkeit und Gerechtigkeit ziehen. Nach und nach entstehen dadurch im eigenen Ich Einstellungen, die aber noch nicht von großer Stabilität geprägt sind. Von diesem Punkt weg kann man durch sein gewonnenes Selbstbewusstsein eigene Werte, Moral und Ethik aufbauen, deren Inhalte sich mit fortwährender Zeit immer mehr festigen. Natürlich ist in diesem neu gefundenen Ich auch der Selbstzweifel ein begleitendes Element, denn die kritische Selbstreflexion fällt über die eigene Person nicht immer eine positive Entscheidung, sondern bringt auch Fehler und Unfähigkeiten gnadenlos an die Oberfläche. Dadurch stellt das Zweifeln auch die Weichen zur Verbesserung der eigenen Werte und des Umgangs mit anderen Menschen. Eine Person, die nun seine eigenen Wertvorstellungen fernab der Meinung der Gesellschaft in der er lebt, entwickelt hat, wird von dieser als erstes wohl Intoleranz entgegengestellt bekommen. Gruppen verurteilen schnell Meinungen, die sich an der ihrigen stoßen. Außerdem verwechselt eine Gesellschaft gern die Wahrheit mit der Mehrheit und macht sich somit zum vermeintlichen Hüter der wirklichen guten Grundsätze und Gesetze. Wenn nun jemand offen seine eigenen Wertvorstellungen in der Öffentlichkeit auslebt, so hat er stets mit der Bestrafung oder Sanktionen durch das System, welches die Moral der Gesellschaft in Gesetze umgesetzt hat, zu rechnen. Zuerst wird vermutlich mit Unverständnis und Abneigung gegenüber der Person reagiert, die sich selbst bewusst geworden ist und nun eigene Wertvorstellungen frei von jeglichen Gruppenzwängen hat. Unterschwellig spielt möglicherweise auch ein gewisser Neid mit, denn dieser selbstbewusste Mensch hat sich eine gewisse Freiheit geschaffen, nach der sich die einzelnen Individuen in ihrem Innersten auch sehnen. Der von seinen Ketten Befreite hat kein Recht dazu, frei seines Weges zu gehen, denn sie selbst sind ja auch immer noch an die kurze Leine gelegt. Doch andererseits scheinen sie von ihrem möglichen Retter keine Hilfe annehmen zu wollen, denn nicht Interesse oder Bitten um Befreiung treten in den Vordergrund, sondern Abscheu und Isolation. Der Selbstbewusste wird in ein Exil getrieben, von der Gesellschaft geächtet und absichtlich missverstanden. Damit wird versucht, das scheinbar abtrünnige Schaf wieder zurück in die große Herde zurückzuführen, zum Wohl der ganzen Gruppe. Jeder einzelne Tier spendet in der Kälte beim Zusammenrücken doch Wärme und erhöht bei einem Angriff die Gefahr des Überlebens der restlichen Herde. In gewisser Weise handelt es sich jedoch auch um ein freiwilliges Exil, denn neue freie Mensch ist sich durchaus der Konsequenzen im Klaren, die ihn erwarten, wenn er seine Schritte auf die offene Heide lenkt, weit entfernt von jeglichen Zäunen, die seinen Bewegungsdrang einengen könnten, jedoch auch nicht mehr in der vermeintlichen Sicherheit, die ihm seine Herde bot. Er ist sich des Neids und auch der Verachtung bewusst, seine kritische Selbstreflexion ermöglicht es ihm Einblick in die Gedankenwelt der Gruppenmitglieder zu erlangen. Seine Entscheidung für ein freies Leben mit eigenen Wertvorstellungen erfolgt aus freiem Willen.