In kleinen Schritten ins große Glück Immer wieder sieht Gernot während der gerade laufenden Dienstbesprechung verstohlen zu Ingrid hinüber. Aus einem für ihn unersichtlichen Grund wirkt sie heute besonders anziehend auf ihn, und seine Gedanken gehen weit zurück in die Zeit, als er und Ingrid noch ein glückliches Paar waren. Wie oft hatte er ihr damals eigentlich gesagt oder gezeigt, dass er sie liebte? Viel zu wenig, das weiß er spätestens seit dem Tag, an dem Ingrid sich von ihm getrennt hatte. Und er? Er hatte nie auch nur den Versuch unternommen, Ingrid zu überzeugen, dass ihr Schritt ein Fehler gewesen war – er hatte einfach geschwiegen. Als Ingrid jetzt kurz aufblickt, treffen sich ihre Blicke für einen Moment, der beiden wie eine kleine Ewigkeit vorkommt. Dieser kurze Blick reicht, um in beider Herzen ein Gefühlschaos ohnegleichen auszulösen. Den Rest der Besprechung verfolgen beide recht unkonzentriert. Zu sehr sind ihre Gedanken mit sich und dem anderen beschäftigt. Ingrid hatte bei Gernots Blick das Gefühl, in seinen blauen Augen zu ertrinken. So wie damals, als sie noch glücklich miteinander waren. In diesem Moment würde sie sich einfach gern in seine starken Arme schmiegen, aber sie ruft sich energisch zur Vernunft. Sie überlegt, ob Gernot so eine Berührung überhaupt zulassen würde. Wahrscheinlich nicht, denn musste sie nicht annehmen, dass er, der in der Zeit seit ihrer Trennung ja einige mehr oder weniger heftige Affären hatte, sich nichts mehr aus ihr machte? Sonst hätte er ihr das doch sicher längst gezeigt. Innerlich sind sie im Moment weiter voneinander entfernt, als je zuvor. Ingrid wirft einen wehmütigen Blick zu Gernot hinüber, der in diesem Moment die Besprechung beendet. „Ingrid! Einen Moment bitte noch!“, hält er Ingrid zurück, als alle Mitarbeiter sein Büro verlassen. Ingrid ist erstaunt, folgt seiner Bitte aber. „Na, Gernot! Was kann ich für Dich tun?“ „Ich dachte eigentlich eher daran, etwas für Dich zu tun.“ Erstaunt blickt Ingrid ihn an. „Du? Für mich?“ „Wäre das so ungewöhnlich?“, fragt Gernot und kommt auf sie zu. „Ja, schon.“, antwortet Ingrid zögerlich. „Warum?“ Gernot steht jetzt genau vor Ingrid, und zwar so nah, dass sie seinen Atem auf ihrem Gesicht fühlen kann. Vorsichtig legen sich seine Hände um ihre Taille. „Warum, Ingrid?“, fragt er jetzt noch einmal. Durch die Berührung seiner Hände gerät Ingrid in eine Situation, in der sie nicht weiß, wie sie sich verhalten soll. Wie oft hatte sie sich seit dem Tag ihrer Trennung gewünscht, Gernot würde ihr wieder einmal so nahe kommen. Doch plötzlich bekommt sie es mit der Angst zu tun. Sie windet sich aus Gernots Armen und geht zur Tür. „Du schuldest mir noch eine Antwort, Ingrid.“, hört sie Gernots Stimme hinter sich. Sie dreht sich zu ihm um. Irgendwie tut er ihr leid, wie er mit hängenden Schultern dort mitten in seinem Büro steht. „Gernot, ich…, kannst Du Dich daran erinnern, wann Du das letzte Mal etwas wirklich für mich getan hast?“ Verlegen senkt Gernot den Blick. „N..nein.“, sagt er leise. „Na, siehst Du, da werde ich mich doch wundern dürfen, wenn Du plötzlich auf die Idee kommst, etwas für mich tun zu wollen.“ Mit diesen Worten hat Ingrid sein Büro bereits verlassen und ein etwas verdutzt dreinschauender Gernot bleibt alleine zurück. Ingrid hat nicht einmal wissen wollen, was er für sie tun wollte. Eigentlich hatte er sie heute zum Abendessen einladen wollen. Doch daran war jetzt wohl nicht mehr zu denken. Und er hatte sich davon eine Wende in dem gespannten Verhältnis zwischen Ingrid und ihm erhofft. Dass diese Wende am heutigen Tag auf eine ganz andere Art und Weise eintreten sollte, ahnt jetzt noch keiner der beiden. Als Gernot sich an diesem Tag dann auf den Heimweg macht, ist es schon später Abend. Vor drei Stunden hatte ein Stromausfall in der Klinik einen Notstand ausgelöst, aber jetzt haben seine Ärzte alles soweit wieder im Griff, dass Gernot nach Hause fahren kann. Die Straßen liegen noch immer in völlige Dunkelheit. Es ist den Stadtwerken wohl noch immer nicht gelungen, den Fehler zu finden. Hochkonzentriert beobachtet Gernot die Straße. Weit und breit ist nichts zu sehen. Vor sich auf der Straße sieht er nur das Licht der Scheinwerfer seines Wagens. Im Bruchteil einer Sekunde meint er eine Person am Straßenrand zu erkennen, doch bei näherem Hinsehen sieht er nichts, wahrscheinlich haben ihm seine Augen in dieser völligen Dunkelheit einen Streich gespielt. Irgendwo hört er einen dumpfen Knall, kann aber nichts Außergewöhnliches feststellen, als er den Wagen anhält und aussteigt. „Wird wohl ein Ast gewesen sein, der auf der Straße lag.“, sagt er halblaut zu sich selbst, setzt sich wieder hinters Steuer und setzt seine Fahrt fort. Bald darauf ist er zuhause angekommen und fällt todmüde in einen erholsamen Schlaf. Auch Ingrid hat den ganzen Abend in der Klinik verbracht. Dieser Stromausfall hatte ihre ganze Energie gefordert, und so macht sie sich völlig erschöpft auf den Heimweg. Da alle Stromleitungen betroffen sind, fährt auch die Straßenbahn nicht bis zur Kochstraße. Also muss Ingrid wohl oder übel zu Fuß gehen. Das bedeutet eine halbe Stunde strammen Fußmarsch und Ingrid ärgert sich, dass sie ausgerechnet heute die Windjacke mit den Reflektorstreifen zuhause gelassen hat, statt sie wie immer in ihre Arbeitstasche zu stecken. So ganz wohl ist Ingrid nicht dabei, in ihrer dunklen Kleidung durch die stockdunklen Straßen zu laufen. Sie kommt trotz allem ganz gut voran und hat schon die Hälfte des Weges geschafft. Aus dem Augenwinkel erkennt sie, dass von hinter ihr ein Auto herankommt. Der Fahrer fährt ziemlich langsam, wohl, um in dieser Dunkelheit die Orientierung nicht zu verlieren. Plötzlich übersieht Ingrid einen hochstehenden Stein, stolpert, und fühlt einen dumpfen Schlag in die Seite. Dann merkt sie wie sie fällt und einen Abhang hinunterrutscht. Das erste, was Ingrid wieder mitbekommt, ist ein helles Licht vor ihren geschlossenen Augen. Vorsichtig blinzelt sie. Es ist die Morgensonne, die ihr ins Gesicht scheint. Ingrid versucht sich zu erinnern, was passiert war. Aber ihr fällt nichts ein. Als sie sich aufrichten will, bemerkt sie, dass sie ihre Beine nicht bewegen kann. Sie versucht, sich in eine halbwegs stabile Rückenlage zu legen und ihre Hände greifen suchend um sich, bis sie ihre Tasche gefunden hat. Endlich hat sie ihr Handy gefunden. Die Beherrschtheit, mit der sie jeden Tag ihren Beruf ausübt, gibt ihr jetzt die Kraft, mit dieser Situation besonnen umzugehen. Innerhalb kurzer Zeit trifft der Notarztwagen bei Ingrid ein und die Sanitäter verfrachten sie bald darauf in den Rettungswagen, um sie in die Sachsenklinik zu bringen. In der Notaufnahme der Sachsenklinik herrscht das übliche Tohuwabohu. Der Notarzt übergibt Ingrid in die Obhut von Dr. Globisch. „Ingrid Rischke. Polytrauma nach Verkehrsunfall. Nicht intubiert.“ Kathrin Globisch ist entsetzt. „Oberschwester. Wie ist denn das passiert?“ „Ich weiß nicht.“, antwortet Ingrid schwach. „Haben Sie Schmerzen?“ „Nein. Frau Dr. Globisch, ich fühle meine Beine nicht.“ Routiniert macht sich Dr. Globisch daran, Ingrid zu untersuchen. Sie bittet Arzu, die mittlerweile in den Behandlungsraum gekommen ist, Roland Heilmann zu verständigen, der auch kurz darauf eintrifft. „Ingrid. Was machen Sie denn für Geschichten? Wenn man sie aber auch mal fünf Minuten alleine lässt…“, versucht Roland zu scherzen. Dann lässt er sich von Kathrin kurz über Ingrids Gesundheitszustand aufklären. „Thorax röntgen – und zur Sicherheit ein CT.“, ordnet Roland an. Arzu schiebt die Liege mit Ingrid aus dem Behandlungsraum hinaus und fährt mit ihr die diversen Untersuchungs-Stationen ab. Dann bringt sie Ingrid wieder zurück in die Notaufnahme. „Wird schon werden, Oberschwester.“, versucht Arzu Ingrid Mut zu machen. „Sicher haben Sie recht, Arzu.“, erwidert Ingrid leise. Roland Heilmann kommt zurück in den Behandlungsraum. Dank der digitalen Radiologie kann er die Röntgenaufnahmen und das CT direkt hier vor Ort begutachten. „Mmh.“ „Was ist mit mir, Dr. Heilmann?“ „Auf den Aufnahmen ist nicht das Geringste zu erkennen. Keine inneren Verletzungen, keine Frakturen, die Wirbelsäule ist völlig o.k..“ „Ja, aber…“ „Ich weiß, was Sie sagen wollen, Ingrid. Aber ich glaube, die Lähmung Ihrer Beine hat psychische Ursachen. Sonst müsste man auf den Aufnahmen etwas sehen. Es kommt oft vor, dass ein Schock die Ursache für solche Lähmungserscheinungen ist. Aber das wissen Sie ja selbst.“ Ingrid nickt. Sie kann die Diagnose noch nicht fassen. Sie wusste nur zu genau, dass bei Lähmungen, die durch einen Schock oder Ähnliches ausgelöst wurden, nie mit Bestimmtheit gesagt werden kann, wie lange dieser Zustand anhalten wird. Ein verzweifelter Blick aus Ingrids Augen trifft Roland mitten ins Herz. Es fällt ihm nicht leicht, Ingrid so im Ungewissen lassen zu müssen. „Ich werden Professor Simoni verständigen. Er soll sich die Sache mal ansehen.“ „Aber der ist doch seit heute morgen auf einer Tagung in Dresden.“, wirft Kathrin Globisch ein. „Trotzdem…“ Roland verlässt den Raum, um zu telefonieren. Kathrin bereitet unterdessen alles für Ingrids stationäre Aufnahme vor. „Sie brauchen jetzt erst mal Ruhe. Ich glaube, es ist besser, wir geben Ihnen ein Einzelzimmer.“ Über Ingrids Gesicht huscht ein schiefes Grinsen. „Das wird Frau Marquardt aber gar nicht recht sein, eine Kassenpatientin im Einzelzimmer. Wer soll das bloß bezahlen?“ „Na, sehen Sie, Oberschwester. Sie machen ja schon wieder Witze.“, sagt Roland, der mittlerweile wieder hereingekommen ist. „Und?“, will Kathrin von ihm wissen. „Er kommt, so schnell er kann.“ Bei diesen Worten legt er Ingrid tröstend die Hand auf den Arm. Ob Roland ahnt, wie sehr sie sich in den letzten Stunden gewünscht hat, dass Gernot bei ihr wäre? Bald darauf wird Ingrid auf ihr Zimmer auf der chirurgischen Station gebracht. Drei Stunden später trifft Gernot in der Klinik ein. Nachdem er sich von Roland die Aufnahmen hat zeigen lassen, führt ihn sein nächster Weg direkt zu Ingrid. Leise öffnet er die Tür und tritt ein. Ingrid hat den Kopf zum Fenster gedreht und sieht hinaus. Sie hat nicht bemerkt, dass Gernot mittlerweile neben ihrem Bett steht. Vorsichtig legt Gernot seine linke Hand auf Ingrids linken Arm. Ingrid zuckt durch die unerwartete Berührung leicht zusammen und dreht den Kopf. „Ingrid.“ Gernot versagt fast die Stimme. Schmal und blass liegt Ingrid in ihrem Bett. „Hallo!“, sagt Ingrid leise. Gernot setzt sich neben Ingrid auf die Bettkante. Noch immer liegt seine Hand auf ihrem Arm. Ingrid tut es in diesem Moment sehr gut, Gernots Hand zu spüren. Es scheint ihr, als würde etwas von seiner Kraft, die er momentan ausstrahlt, durch diese Berührung auf sie übergehen. „Dr. Heilmann sagt, Du kannst Dich nicht erinnern, wie das passiert ist?“, Gernot deutet auf ihre Beine. „Doch. Ich kann mich jetzt wieder an einiges erinnern. Ich bin gestern nach dem Stromausfall zu Fuß nach Hause gegangen. Nach ungefähr der Hälfte des Weges habe ich gemerkt, dass von hinten ein Auto auf mich zukam. Als ich zur Seite gehen wollte, bin ich gestolpert. Dann habe ich nur noch einen Schlag gespürt und gemerkt, wie ich fiel.“ Bei Ingrids Worten zuckt Gernot unmerklich zusammen. Er erkundigt sich genau nach Ort und Zeit des Unfalls. Als Ingrid ihm die Stelle nennt, an der sie heute morgen lag, als sie wieder zu sich kam, und ihm sagte, wann sie sich auf den Heimweg gemacht hatte, legt sich eine eiserne Klammer um Gernots Herz. Sein Pieper, der in diesem Moment losgeht, erspart es ihm, weiter Ingrids Gegenwart ertragen zu müssen. Gernot hastet aus Ingrids Zimmer hinaus, doch statt auf direktem Weg in die Notaufnahme zu gehen, verschwindet er kurz im Treppenhaus. Dort lehnt er sich für einen Moment an die Wand und versucht, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Dazu lässt ihm sein Pieper, der schon wieder losgeht, allerdings keine Zeit. Nachdem er seine Arbeit in der Notaufnahme erledigt hat, geht Gernot nicht wieder zurück in die Klinik, sondern erst zu seinem Auto. Aufmerksam streift sein Blick über den Wagen und bleibt am rechten vorderen Kotflügel an einer Delle hängen, die gestern morgen noch nicht da war. Aus Gernots Gesicht weicht alle Farbe. Also doch… Ingrid ist erschöpft von den vielen Untersuchungen, und liegt müde in ihrem Bett. Doch an Schlaf ist nicht zu denken. Wieder und wieder zermartert sie sich den Kopf. Hatte der Autofahrer denn nicht gemerkt, dass er irgendetwas oder irgendjemand angefahren hatte? Allerdings, wie hätte er sie auch sehen sollen, so dunkel, wie sie gekleidet gewesen war? Dann fällt ihr wieder Gernots Besuch bei ihr ein. Er hatte so blass ausgesehen, als er in die Notaufnahme geeilt war. Ob er so sehr um sie besorgt war? Oder hatte er in den letzten Tagen wieder viel zu viel gearbeitet, und dann auch noch dieser Kongress?! Lange würde er diesen Tages- und Arbeitsrhythmus bestimmt nicht mehr durchhalten. Wenn sie ihn doch nur überzeugen könnte, dass es für seine Gesundheit besser wäre, etwas kürzer zu treten. Über die Sorge um Gernot vergisst Ingrid ihre eigenen Sorgen für eine Weile. Bald darauf sinkt sie erschöpft in die Kissen und fällt in einen traumlosen Schlaf. Da die Ärzte bei Ingrid keinerlei Verletzungen feststellen können, die für die Lähmung ihrer Beine verantwortlich sein könnten, wird ein Psychologe hinzugezogen, der mit Ingrid am nächsten Tag ein langes Gespräch führt, dem noch viele weiter folgen sollen. Dr. Heilmann sieht keinen Grund dafür, dass Ingrid sich nicht mittels eines Rollstuhls durch die Klinik bewegen dürfte. Ingrid ist froh darüber, aus ihrem Bett hinaus zu können und ist fast den ganzen Nachmittag mit dem Rollstuhl in der Klinik unterwegs. Nachdem sie Yvonne und Arzu einen kurzen Besuch abgestattet hat, begibt sie sich auf den Weg in den Garten. Unterwegs begegnet sie Gernot. Sie erschrickt, als sie zu ihm hinaufsieht. Ganz grau sieht sein Gesicht aus. „Hallo, Ingrid.“, lächelt Gernot sie an und kommt auf sie zu. Ingrid versucht, ihre Sorge um sein Aussehen zu überspielen. „Hallo, Gernot. Ich will gerade in den Garten. Dr. Heilmann hat mir erlaubt, aufzustehen. Obwohl, von stehen kann man in meinem Fall ja im Moment nicht sprechen.“ Der sarkastische Unterton in Ingrids Stimme lässt Gernot innerlich erschauern. Doch er hat sich sehr schnell wieder im Griff. „Hast Du was dagegen, wenn ich Dich in den Garten begleite, Ingrid?“ „Nein, wieso denn? Komm.“ Ingrid lässt es zu, dass Gernot ihren Rollstuhl in den Garten hinausfährt. Gernot ist froh, dass Ingrid dadurch sein Gesicht nicht sehen kann. Sonst hätte sie den entsetzten Blick gesehen, mit dem er sie die ganze Zeit betrachtet und sicherlich nach dem Grund dafür geforscht. Er schiebt Ingrids Rollstuhl zu einer Bank und setzt sich neben Ingrid. Schweigend sitzen sie eine Weile nebeneinander, bis Gernot merkt, dass Ingrid ihre Hand auf seine legt, die auf seinem Oberschenkel ruht. „Wir hatten lange keine Zeit mehr, einfach mal so beieinander zu sitzen.“, sagt Ingrid leise. Gernot legt seine andere Hand auf Ingrids. „Ja, stimmt.“ Sie genießen es im Moment einfach, so nah bei dem anderen zu sein. Als die Sonne hinter dem Klinikdach versinkt, beginnt Ingrid zu frieren. „Gernot?“ „Mmh?“ „Es ist kühl geworden. Ich möchte zurück auf mein Zimmer.“ „Ich bringe Dich hinauf.“ Gernot schiebt den Rollstuhl hinein und kurz darauf sind sie in Ingrids Zimmer angekommen. Er hebt Ingrid aus dem Rollstuhl und legt sie behutsam auf das Bett. In diesem Moment sind sie sich so nah, dass bei beiden die Gefühle und Gedanken Achterbahn fahren. Instinktiv denken beide daran, wie schön es wäre, den anderen nie mehr loslassen zu müssen. Fürsorglich deckt Gernot Ingrid noch zu. „Ich sehe nachher noch mal nach Dir. Dann können wir bereden, wie es jetzt mit Dir weitergehen wird, wenn Du möchtest.“ „Ja. Ist gut.“ Auch wenn Ingrid der Gedanke an eine Zukunft im Rollstuhl gar nicht behagt, schleicht sich doch unterschwellig ein Glücksgefühl ein, da sie durch diesen Unfall Gernot wieder viel näher gekommen ist, als sie das vor wenigen Tagen noch für möglich gehalten hätte. Die Sorgen, die Gernot sich um sie macht, deutet sie als Zeichen dafür, dass sie ihm doch nicht so ganz gleichgültig ist. Lange wartet Ingrid an diesem Abend, doch Gernot kommt nicht zu ihr. Sollte es so sein wie früher, dass er über seiner Arbeit einfach alles vergaß? Als Vladi das nächste Mal in Ingrids Zimmer kommt, bittet sie ihn, ihr dabei zu helfen, in den Rollstuhl zu kommen. Mit geübten Griffen bewerkstelligt Vladi das in Windeseile. „Danke, Vladi.“, lächelt Ingrid ihn an. „Gern geschehen, Oberschwester.“ Schon ist er wieder verschwunden. Ingrid fährt mit dem Rollstuhl den Gang entlang. Ob Gernot noch immer arbeitet? Entschlossen lenkt Ingrid den Rollstuhl in das dunkle Vorzimmer. Aus Gernots Büro fällt ein fahler Lichtschein. Er scheint also noch da zu sein. Als Ingrid gerade näher heranrollen will, hört sie Gernots Stimme. „Günther, ich weiß einfach nicht mehr weiter. Ingrid hatte einen Unfall.“ „…“ „Nein, körperlich scheint sie völlig in Ordnung zu sein, aber ihre Beine…“ Ingrid hört, wie sich in Gernots Stimme Tränen mischen. „…sie kann ihre Beine nicht mehr bewegen, Günther.“, ruft er erregt. Nach einer kleinen Pause hört sie, wie er sagt: „…und ich bin schuld, Günther.“ Gernot sollte Schuld an ihrem Unfall sein? Aber wie ist das möglich? Die Erklärung dafür bekommt Ingrid, als Gernot weiterspricht. „Ich bin an diesem Abend genau die Strecke gefahren, die Ingrid nach Hause gelaufen ist. Irgendwann habe ich dann gemeint, eine Person am Straßenrand gesehen zu haben. Es war stockfinster durch den Stromausfall. Im nächsten Moment dachte ich, einen dumpfen Knall gehört zu haben. Ich bin ausgestiegen und habe gerufen und versucht, etwas zu erkennen. Aber da war nichts.“ Gernot weint jetzt hemmungslos. Ingrid sitzt völlig erstarrt in ihrem Rollstuhl. Sie kann einfach nicht glauben, was sie da gerade hört. „Günther…“, fährt Gernot jetzt fort, „…ich habe Schuld. Es passt einfach alles zusammen. Was soll ich denn nur tun? Wenn ich Ingrid die Wahrheit sage, werde ich sie für immer verlieren. Und wenn ich schweige, werde ich sie auch verlieren. Dabei liebe ich sie doch so sehr.“ Ingrid hat genug gehört. Langsam kehrt wieder Leben in sie zurück und leise entfernt sie sich mit ihrem Rollstuhl wieder. Als sie in ihrem Zimmer ankommt, laufen ihr unaufhörlich die Tränen übers Gesicht. Allerdings nicht, weil sie mit ihrem Schicksal hadert, sondern wegen der letzten Worte, die Gernot zu Günther gesagt hatte. Er hat Angst sie zu verlieren und, was viel wichtiger ist, er liebt sie. Dass Gernot so für sie empfindet, macht es für Ingrid viel leichter, sich mit ihrer Lähmung zu arrangieren. Sie empfindet nicht einmal Ärger oder Hass, weil er an ihrem derzeitigen Zustand nicht unschuldig ist. Dafür quillt ihr Herz in diesem Moment über vor Liebe und Sehnsucht. Innerhalb des Bruchteils einer Sekunde weiß Ingrid, dass sie auf jeden Fall versuchen wird, sich und Gernot eine zweite Chance zuzugestehen. Komme was wolle. Aber auf der anderen Seite hat Ingrid Hemmungen, ihm das auch zu sagen. Sie wollte nicht, dass er denkt, aufgrund ihrer Lähmung wolle sie sich an ihn klammern, um nicht alleine sein zu müssen. Mit diesen Gedanken ist Ingrid noch beschäftigt, als es leise an ihre Tür klopft. „Herein.“ Die Tür öffnet sich und Gernot kommt herein. „Hallo, Ingrid.“ „Hallo, Gernot. Schön das Du da bist.“, sagt Ingrid ehrlich erfreut. Sie beobachtet ihn sehr genau. Seine Augen sind rotgeweint und er zittert am ganzen Körper. Doch Gernot ist sich sicher, dass Ingrid das im Halbdunkel des Zimmers unmöglich auffallen kann. „Hilfst Du mir bitte ins Bett, Gernot?“ „Sicher.“ Er hebt sie auf seine Arme und trägt sie die paar Schritte zum Bett hinüber. Tief atmet er den Duft von Ingrids Parfüm ein. Ingrid hat die Arme um seinen Hals geschlungen und ihr Kopf lehnt an seiner Schulter. Bevor Gernot sie auf das Bett legen kann, haucht Ingrid ihm einen sanften Kuss auf die Wange, was Gernot dazu veranlasst, ihr sein Gesicht zuzudrehen. Sie sehen sich für einen Moment in die Augen. „Danke, dass Du mir hilfst.“ Gernot schweigt. Dafür kommen seine Lippen den ihren sehr nahe. Ein unendlich zärtlicher Kuss verschließt Ingrids Lippen. Dann legt er sie behutsam auf das Bett und deckt sie fürsorglich zu. „Versuch, zu schlafen, Ingrid. Ich sehe morgen früh wieder nach Dir. Es ist Dir doch sicher lieber, wenn wir das Gespräch über Deine Reha auf morgen verschieben, oder?“ „Ja, Du hast Recht, ich bin sehr müde.“ Gernot streicht ihr zärtlich über die Wange, bevor er ihr eine gute Nacht wünscht und sie mit ihren Gedanken alleine lässt. Glücklich lächelnd lässt sich Ingrid in die Kissen sinken. Eigentlich müsste sie böse auf Gernot sein, weil er ihr nicht die Wahrheit sagt. Aber sein Kuss und seine Berührungen lassen keine bösen Gedanken in Ingrid aufkommen, in ihr ist einfach nur Glück. Unbewusst ist Ingrid sogar dazu bereit, sich mit ihrer Lähmung halbwegs abzufinden. Hauptsache, sie würde Gernot wieder nahe sein können und sie würden die Liebe, die sie zweifellos füreinander empfinden, endlich ausleben können. Doch auch in Gernot sieht es in diesem Moment nicht so viel anders aus. Dass Ingrid es zugelassen hatte, dass er sie küsste, erfüllt ihn mit einem solchen Glücksgefühl, dass er darüber sogar sein schlechtes Gewissen und seine Selbstvorwürfe vergisst. Gerne hätte er sie noch länger im Arm gehalten und sie wieder und wieder geküsst. Aber das traute er sich nicht. Denn genau in diesem Moment hatte sich sein Gewissen gemeldet. ‚Du bist ein Lügner. Du bist schuld an Ingrids Unfall. Wegen Dir sitzt sie jetzt im Rollstuhl. Du hast kein Recht auf ein neues Glück mit ihr. Du hast sie nicht verdient.’ Deswegen hatte er vorhin Ingrids Zimmer relativ schnell wieder verlassen und war zurück in sein Büro gegangen, um sich anschließend auf den Heimweg zu machen. Als er an der Stelle vorbeikommt, wo Ingrid den Unfall hatte, hält er den Wagen an. Er steigt aus und bleibt eine ganze Weile nachdenklich dort stehen. Unaufhörlich laufen Tränen über seine Wangen. Auch wenn er und Ingrid sich wieder sehr nahe gekommen sind in den letzten Stunden, sieht er nicht die Möglichkeit, mit Ingrid wieder eine gemeinsame Zukunft zu haben. Zwischen ihnen würden immer dieser verdammte Unfall und vor allen Dingen sein Schweigen stehen. Dabei wünscht er sich nichts mehr als Ingrid für immer an seiner Seite zu haben. Als Gernot am nächsten Morgen vor Dienstbeginn in Ingrids Zimmer kommt, sitzt Ingrid aufgerichtet im Bett und frühstückt. Gernot hält eine Hand hinter seinem Rücken, als er Ingrids Zimmer betritt. „Guten Morgen, Ingrid.“ Er geht zu ihr und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. „Guten Morgen.“, erwidert Ingrid lächelnd. „Für Dich.“ Gernot zaubert hinter seinem Rücken einen Strauß gelber Rosen hervor. „Wie schön. Danke.“ Ingrid riecht an den Blumen. „Du hast es nicht vergessen…“ „Ingrid. Wie sollte ich so etwas vergessen.“ Gernot zieht sich einen Stuhl heran. „Ingrid. Ich habe gestern Abend noch mit Günther telefoniert. Er hat einen guten Freund, dessen Klinik ideal für Deine Reha wäre. Vorhin hat Günther mich angerufen. Er hat einen Platz für Dich dort bekommen. Du kannst übermorgen schon dorthin.“ Ingrid ist erstaunt. „Das geht aber schnell.“ „Wir werden Dich direkt von hier aus dorthin verlegen.“ „Aber, ich brauche doch…“ „Darum werde ich mich kümmern, wenn es Dir Recht ist. Gib mir Deinen Schlüssel und ich werde Deine Sachen für die Reha zusammenpacken. Du musst mir nur aufschreiben, was Du so alles brauchst.“ Ingrid ist erstaunt über Gernots Angebot. „Aber, das kann doch auch Yvonne…“ „Nein, lass mal. Ich mache das gerne.“ Ob das ein Versuch Gernots ist, sein schlechtes Gewissen zu beruhigen? „Also, gut. Ich schreibe Dir nachher alles auf.“ „Gut, ich komme dann heute nach Dienstschluss und hole den Zettel und den Schlüssel ab.“ Er steht auf, schiebt den Stuhl zur Seite und beugt sich kurz zu Ingrid hinunter, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben. Ingrid schließt für einen kurzen Moment ihre Augen, um dieses Gefühl voll auszukosten. Als sie die Augen wieder öffnet, hat Gernot ihr Zimmer wieder verlassen. Überpünktlich erscheint Gernot an diesem Spätnachmittag bei Ingrid und lässt sich die Liste mit den Dingen, die Ingrid benötigt, und ihren Schlüssel aushändigen. „Du kannst Dich auf mich verlassen, Ingrid.“, sagt er mit einem Unterton in der Stimme, der Ingrid aufhorchen lässt. Zwei Stunden später steht Gernot mit einem Koffer und einer prall gefüllten Reisetasche wieder in Ingrids Zimmer. „Da bin ich wieder.“ „Das ging aber schnell.“, staunt Ingrid. Gernot stellt den Koffer und die Tasche in die Ecke des Zimmers und setzt sich ans Fußende von Ingrids Bett. „Ingrid, ich möchte Dich morgen gerne selbst in die Klinik von Dr. Römer bringen…“ Warum tut Gernot das alles für sie? Es wäre doch viel einfacher für ihn, sie mit einem Krankenwagen transportieren zu lassen. Er könnte doch einfach so weitermachen wie vor ihrem Unfall. „Ja, sehr gerne.“, hört Ingrid sich sagen. „Schön.“, erwidert Gernot mit einem unwiderstehlichen Lächeln. Sie unterhalten sich eine ganze Weile über die bevorstehende Reha, bis Gernot merkt, dass Ingrid müde wird. „Ich werde jetzt gehen. Ich wünsche Dir eine gute Nacht.“ Er legt ihr seine Hand auf den Unterarm. Diese Berührung brennt wie Feuer auf Ingrids Haut. Auch Gernot durchläuft ein angenehmes Prickeln. „Gernot?“ „Ja?“ „Komm mal etwas näher.“ Gernot beugt sich ein Stück zu ihr hinunter. „Noch näher.“ Bei diesen Worten legt Ingrid ihm ihre Hände in den Nacken und zieht sein Gesicht ganz dicht zu sich heran. Ihre Lippen legen sich weich auf die seinen und sie versinken in einem langen, zärtlichen Kuss. „Was war denn das?“, grinst Gernot, als er sich danach wieder etwas aufrichtet. Ingrid ist etwas verunsichert. „Ich…ich, entschuldige.“ Zärtlich streichelt Gernot ihr über das Gesicht. „Diesen wundervollen Kuss soll ich entschuldigen. Ich denke ja nicht daran.“, lächelt er sie an und küsst sie nun seinerseits so zärtlich, wie Ingrid es gar nicht von ihm kennt. „Schlaf gut, mein Schatz.“, flüstert Gernot leise, als er seine Lippen von den ihren löst. „Gute Nacht, Liebster.“, erwidert Ingrid zärtlich. In diesem Moment sind beide restlos glücklich. Ingrid hat ihre gesundheitlichen Probleme vergessen und Gernot hört für eine Weile auf, sich selbst Vorwürfe zu machen wegen Ingrids Unfall. In dieser Nacht sehnen sich beide so sehr nach dem anderen… Früh ist Gernot am nächsten Morgen schon wieder auf den Beinen. Ingrid ist sehr froh darüber, dass Gernot sie in die Klinik von Dr. Römer fährt. Er lässt es sich auch nicht nehmen, bei den Aufnahmeuntersuchungen dabei zu sein. Nachdem sie noch eine Weile zusammen gesessen haben, als die Untersuchungen beendet sind, macht Gernot sich am Abend auf den Rückweg nach Leipzig. Es fällt ihm schwer, Ingrid hier zurücklassen zu müssen, und das hat ganz bestimmt nichts mit seinem Gewissen zu tun. Auch Ingrid ist traurig, hier allein zurückbleiben zu müssen. Gernot verspricht ihr, sie am nächsten Wochenende zu besuchen und verabschiedet sich dann mit einem zärtlichen Kuss von ihr. „Fahr vorsichtig. Und vergiss mich nicht.“, ruft Ingrid ihm noch hinterher. Lächelnd winkt Gernot ihr noch einmal zu und ist froh, dass er bereits ein Stück von Ingrid entfernt ist. So kann sie die Tränen, die ihm jetzt über die Wangen laufen, zum Glück nicht sehen. Vergessen würde er sie bestimmt nicht. Immer wieder lief in den letzten Nächten der Unfall in seinen Träumen ab. Und am Ende erwachte er schweißgebadet, weil ihm in seinen Träumen eine unerbittliche Ingrid die Verzeihung verweigerte. Alle Untersuchungen in der Reha bringen für Ingrid keine neue Erkenntnis. Ihre Lähmung scheint tatsächlich psychosomatischen Ursprungs zu sein. Das ist ein kleiner Wermutstropfen, der Ingrid aber nicht daran hindert, sich auf das nächste Wochenende und damit auf Gernots Besuch zu freuen. Am frühen Sonntagmorgen ist Gernot schon da und sie verbringen unbeschwerte Stunden miteinander, bis Gernot sich abends wieder zärtlich von ihr verabschiedet. Inzwischen sind sich beide ihrer Gefühle für den anderen wieder vollkommen sicher. Sich ihre Gefühle aber auch zu gestehen, dazu haben beide nicht den Mut. Gernot nicht, weil er nicht will, das Ingrid glaubt, er mache sich nur wieder an sie heran, um mit seinen Schuldgefühlen fertig zu werden, wenn sie erfährt, dass er schuld an ihrem Unfall ist. Und Ingrid, weil sie Gernot nicht mit einer gelähmten, im Rollstuhl sitzenden Partnerin belasten will. Auch an den folgenden zwei Wochenenden erscheint Gernot pünktlich sonntags morgens bei Ingrid und sie verbringen glückliche Momente miteinander. Immer wieder kommt es zu zärtlichen Berührungen, liebevollen Umarmungen oder Küssen. Beide genießen es sehr, dem anderen wieder so nahe zu sein. Aber keiner der beiden hat es bisher gewagt, dem anderen offen seine Liebe zu gestehen. Zu groß sind die Hemmungen, die beide durch ihre persönliche Situation haben. Ingrid durch ihre Lähmung und Gernot durch sein Schweigen. Als Ingrid drei Tage nach Gernots letztem Besuch erfährt, dass sie am nächsten Tag entlassen wird, ruft sie sofort bei Gernot zu Hause an. „Simoni.“ „Ich bin’s.“ „Ingrid!“ Aus Gernots Stimme kann Ingrid echte Freude heraushören. „Was sind das denn für Geräusche im Hintergrund?“ Sie hört ein Hämmern und Sägen. „Ach, ich habe den Fernseher an. Da läuft gerade so eine Heimwerker-Soap. Einfach fürchterlich.“, lacht Gernot. Ingrid genießt es, Gernots Lachen zu hören. „Morgen werde ich entlassen.“ „Wundervoll. Ich hole Dich ab, ja?“ „Wenn es Dir keine Umstände macht…“ „Ingrid. Wo denkst Du hin?“ „O.k.. Dann bis morgen.“ „Bis morgen, mein Schatz.“, raunt Gernot mit seiner rauen Stimme ins Telefon, so dass bei Ingrid selbst über die weite Entfernung heiße und kalte Schauer ausgelöst werden, die ihr abwechselnd über den Rücken laufen. Glücklich lächelnd legen beide wieder auf. Vor lauter Grübeleien findet Gernot in dieser Nacht keinen Schlaf. Bis jetzt hat er noch keinen Schimmer, wie er Ingrid beibringen soll, dass sie nicht in ihre Wohnung zurückkehren wird. Aber das wäre technisch unmöglich, denn Ingrids Wohnung liegt im dritten Stock und es gibt dort keinen Aufzug. Deswegen hatte Gernot in den letzten zwei Wochen die Villa rollstuhlgerecht umbauen lassen. Vor dem Haus wurde die Treppe durch eine flache Rampe ersetzt und die Stufen zum Wohnzimmer hinunter wurden ebenfalls durch eine Rampe überbrückt. Die Treppe nach oben hatte jetzt zusätzlich noch einen Rollstuhllift bekommen und alle Türen sind auf ein rollstuhlgerechtes Maß verbreitert worden. Als besondere Überraschung für Ingrid hat Gernot im Garten einen Pavillon aufstellen lassen, der nun direkt am Gartenteich steht. Bei all diesen Veränderungen hatte er weniger an Ingrids Behinderung gedacht, sondern hauptsächlich daran, es der Frau, die er über alles liebte, so schön und annehmlich wie möglich zu machen. Vor allen Dingen wollte er aber für sie da sein. Pünktlich zur verabredeten Zeit erscheint Gernot am nächsten Morgen bei Ingrid. Nachdem er sie mit einem zärtlichen Kuss begrüßt hat, bringt er Ingrids Gepäck in sein Auto und kehrt dann zurück zu Ingrid, die gerade noch ein abschließendes Gespräch mit Dr. Römer führt. „So, wir können.“, strahlt Ingrid ihn an. Fürsorglich schiebt Gernot den Rollstuhl hinaus aus der Klinik, hebt Ingrid in seinen Wagen und klappt den Rollstuhl zusammen, um ihn zu Ingrids Gepäck in den Wagen zu packen. „Dann wollen wir mal…“, sagt Gernot fröhlich, als er den Wagen startet. Nach ungefähr einer Viertelstunde lenkt Gernot den Wagen auf einen Parkplatz. „Was ist los?“, fragt Ingrid erstaunt. „Ich muss Dir etwas sagen, Ingrid.“ Ingrid wird hellhörig. Würde Gernot ihr jetzt gestehen, dass er schuld an ihrem Unfall ist. Wie sollte sie dann reagieren? Aber ihre Gedanken darüber sind unnötig. „Du kannst nicht in Deine Wohnung zurück.“ „Aber warum denn nicht?“ „Aber Ingrid. Da gibt es doch keinen Aufzug und Du wohnst im dritten Stock. Wie willst Du das denn bewerkstelligen?“ Ingrid treten Tränen in die Augen. Daran hatte sie ja die ganze Zeit gar nicht gedacht. „Was soll ich denn jetzt machen.“ Gernot lächelt sie liebevoll an und wischt ihr mit der Hand die Tränen fort. „Du wirst bei mir in der Villa wohnen.“ Ingrid blickt ihn fragend an, sagt aber nichts. Noch immer weint sie. „Ich werde mich um Dich kümmern, Ingrid.“, sagt Gernot leise und legt seine Hand auf ihren Arm. „Gernot, das geht doch nicht…“, schluchzt Ingrid, „…ich will Dir auf keinen Fall zur Last fallen.“ „Ingrid! Red’ nicht so einen Unsinn.“ Er beugt sich zu Ingrid hinüber und küsst sie zärtlich auf die Wange. „Nicht mehr weinen. Wir schaffen das schon.“, sagt er tröstend. Nachdem Ingrid sich beruhigt hat, startet Gernot den Wagen wieder und sie setzen ihre Fahrt fort. Nach einiger Zeit parkt Gernot den Wagen vor der Villa. Er packt den Rollstuhl aus und schiebt ihn neben die Beifahrertür. Dann hebt er Ingrid aus dem Wagen und setzt sie behutsam in den Rollstuhl. Nachdem er den Rollstuhl durch den Vorgarten geschoben hat, staunt Ingrid nicht schlecht. „Gernot…“, flüstert sie ergriffen. Der beugt sich von hinten über ihre Schulter und flüstert ihr ein „Willkommen zuhause!“ ins Ohr, bevor er zärtlich ihren Hals küsst. Dann schiebt er den Rollstuhl die Rampe hinauf und öffnet die Haustür. Als Ingrid die Umbauten sieht, die Gernot hat vornehmen lassen, bricht sie abermals in Tränen aus. Gernot hockt sich neben den Rollstuhl und streichelt ihr sanft übers Haar. Unter seiner Berührung beruhigt Ingrid sich tatsächlich, und als Gernot sie dann die Rampe hinunter in den Garten schiebt, ist Ingrid entzückt von dem wunderschönen Pavillon, den Gernot für sie hat bauen lassen. „Der ist wunderschön, Gernot.“ „Das ist mein Willkommensgeschenk für Dich.“ Er streicht sanft über ihre Wange. „Möchtest Du ein Glas Wein, Ingrid?“ „Gerne.“ Gernot verschwindet im Haus und holt eine Flasche Wein aus dem Keller. Währenddessen rollt Ingrid mit ihrem Rollstuhl unter den Pavillon. Warum tat Gernot das alles für sie? Ob er sie tatsächlich so sehr liebte, wie er es Günther an jenem Abend gestanden hatte? Da kehrt Gernot auch schon mit zwei Gläsern und der entkorkten Weinflasche zu ihr zurück. Er füllt den Wein in die Gläser und reicht eins davon Ingrid. Dann prostet er ihr zu. „Zum Wohl, Ingrid.“ „Zum Wohl.“, erwidert Ingrid. Sie verbringen einen wundervoll entspannten Abend, der erst endet, als Ingrid allmählich müde wird. „Zeigst Du mir, wie der Treppenlift funktioniert?“, wendet sie sich an Gernot. „Selbstverständlich.“ Er schiebt Ingrid hinein ins Haus bis zum Treppenanfang. Er erklärt ihr die Bedienung des Treppenlifts und einen Moment später ist Ingrid schon oben angekommen. Gernot ist neben ihr die Treppe hinaufgegangen und geht jetzt vor, um die Tür zum Gästezimmer zu öffnen. Ingrids Augen weiten sich vor Erstaunen. Das Zimmer sah völlig anders aus als damals, als sie mit Gernot gemeinsam hier gelebt hatte. Früher stand darin nur ein schmales Bett und ein Kleiderschrank. Jetzt hingen am Fenster die Gardinen aus Ingrids Schlafzimmer in der Kochstraße, außerdem hat Gernot all die Möbel aus ihrem Schlafzimmer hierher bringen lassen. Als Gernot bemerkt, wie ergriffen Ingrid ist, legt er ihr die Hand auf die Schulter. Ingrid legt ihre Hand auf seine. „Danke. Danke für alles.“, flüstert sie so leise, dass Gernot es gerade eben hören kann. „Schon gut.“, erwidert er. Dann hebt er Ingrid aus dem Rollstuhl und setzt sie auf dem Bett ab. Er hilft ihr dabei, sich für die Nacht umzuziehen und deckt sie anschließend fürsorglich zu. „Komm, setz Dich noch einen Moment zu mir.“, bittet Ingrid, als sie merkt, dass Gernot das Zimmer verlassen will. Gernot leistet ihrer Bitte nur zu gern Folge. Ingrid legt ihre Hand auf seinen Oberschenkel und streicht sanft darüber. „Du tust so viel für mich.“ „Das ist noch viel zu wenig.“, erwidert Gernot und senkt den Kopf etwas. Seine Gedanken drehen sich wieder um den Unfall und um sein Schweigen Ingrid gegenüber. Damit Ingrid seine innere Zerrissenheit nicht bemerkt, beugt er sich zu ihr hinunter, küsst sie zärtlich und zieht sich mit einem liebevollen „Schlaf gut.“ in sein Schlafzimmer zurück. Ingrid liegt in dieser Nacht noch lange wach. Sie hatte genau an Gernots Augen gesehen, dass er sich selbst Vorwürfe macht, auch seine innere Zerrissenheit ist ihr keinesfalls entgangen. Aber darüber hinaus ist sie sehr zufrieden damit, wieder in Gernots unmittelbarer Nähe leben zu können. Hatten sie vielleicht doch noch eine ernstzunehmende Chance auf eine gemeinsame Zukunft? Aber noch immer hatte es keiner der beiden gewagt, dem anderen seine Liebe zu gestehen. Seit vier Wochen lebt Ingrid nun schon in der Villa. Gernot umsorgt sie, so gut er kann, und wenn er in der Klinik ist, schaut ein mobiler Pflegedienst zweimal am Tag nach Ingrid. Den Rest des Tages kommt sie ganz gut allein zurecht, denn mittlerweile hat sie sich mit ihrem Handicap ganz gut arrangiert. Sie genießt es, dass Gernot sich jetzt immer viel Zeit für sie nimmt. Außerdem schauen ihre Kollegen aus der Klinik regelmäßig vorbei, so dass Ingrid beinahe jeden Tag Besuch bekommt und damit auch genügend Abwechslung hat, um nicht immer mit ihrem Schicksal zu hadern. Alle, die Ingrid besuchen, bewundern sie dafür, wie sie mit ihrem Schicksal fertig wird. Auch wenn sie Ingrid immer als starke Frau kennen gelernt hatten, dieses Schicksal erforderte doch von einem Menschen eine ganz besondere innere Stärke. Und diese Stärke schöpfte sie vor allen Dingen aus Gernots Liebe und der Liebe, die sie für ihn empfand. Gernot kommt auch an diesem Tag pünktlich nach Hause. Er findet Ingrid im Garten vor. „Hallo!“, winkt sie ihm zu, als sie ihn über die Terrasse kommen sieht. „Hallo!“ Gernot kommt zu ihr und beugt sich zu ihr hinunter, um ihr einen Kuss zu geben. „Wie war Dein Tag?“, fragt Ingrid ihn und lässt sich von Gernot den neuesten Kliniktratsch erzählen. Gemeinsam lachen sie über die Anekdoten, die Gernot so mit nach Hause bringt. Nach dem Abendessen bleiben sie noch eine Weile gemütlich im Wohnzimmer sitzen. Gernot hat Ingrid aus dem Rollstuhl gehoben und auf die Couch gesetzt. Dann setzt er sich neben sie und legt ihr seinen Arm um die Schultern. So sitzen sie eine ganze Weile. Während Ingrid es einfach genießt, so nah bei Gernot sein zu können, schwirren die Gedanken in Gernots Kopf hin und her. In der letzten Nacht hatte er beschlossen, Ingrid heute die Wahrheit über den Unfall zu sagen und sich den ganzen Tag damit befasst, wie er ihr das beibringen sollte. Doch er war zu keinem Ergebnis gekommen. Deshalb beschließt er jetzt, die Sache durchzuziehen. Ingrid wundert sich, dass Gernot plötzlich aufsteht und unruhig im Wohnzimmer hin und her läuft. „Was hast Du plötzlich?“, fragt sie ihn. „Ingrid…“, vor Aufregung klingt Gernots Stimme ganz heiser. „Ingrid…ich muss Dir unbedingt etwas sagen.“ Er stockt. „Ja?“ Gernot kommt auf Ingrid zu und bleibt dicht vor ihr stehen. Dann kniet er sich vor sie und greift nach ihren Händen und blickt lange darauf. „Ich bin mir im Klaren darüber, dass Du, wenn ich Dir jetzt etwas sage, wahrscheinlich nie wieder etwas mit mir zu tun haben willst. Aber ich kann nicht länger schweigen.“ Er hebt den Blick von Ingrids Händen und sieht ihr direkt in die Augen. Er atmet noch einmal tief durch. „Ich bin der Autofahrer, der Dich damals angefahren hat, Ingrid. Du musst mir glauben, ich habe nichts gewusst. Bis zu dem Zeitpunkt, als Du mir in der Klinik von Deinem Unfall erzählt hast. Aus Angst habe ich geschwiegen. Nicht aus Angst davor, mich für meine Tat verantworten zu müssen, sondern aus Angst, Dich zu verlieren. Es tut mir so leid, und ich würde alles dafür geben, die Dinge ungeschehen zu machen. Ich erwarte auch nicht, dass Du mir verzeihst, denn ich weiß, mein Verhalten ist unverzeihlich. Aber ich danke Dir für die vergangenen wunderschönen Wochen, die wir trotz des Unfalls miteinander verbringen konnten. Doch jetzt ist es Zeit für mich, mich der Verantwortung zu stellen. Ich werde morgen bei der Polizei eine Selbstanzeige erstatten und mit den Konsequenzen klarkommen müssen. Aber Du musst Dir keine Sorgen machen. Ich werde in eine meiner Eigentumswohnungen ziehen. Das Haus hier habe ich vor zwei Wochen auf Dich überschreiben lassen. Es soll Dir auch finanziell an nichts fehlen.“ Er richtet sich auf und lässt Ingrids Hände los. „So, jetzt weißt Du Bescheid. Ich gehe dann jetzt. Sollte etwas sein, erreichst Du mich in den nächsten Tagen bei Günther, doch Du wirst sicher froh sein, mich nicht mehr sehen zu müssen. Aber eins will ich Dir noch sagen, bevor ich gehe. Ich liebe Dich, Ingrid.“ Seine Augen haben sich mit Tränen gefüllt. Ingrid blickt ihm in die Augen. Als sie gerade anfangen will zu sprechen, dreht Gernot sich um und schickt sich an, das Haus zu verlassen. „Gernot! Geh nicht! Bitte!“ „Glaub mir, Ingrid. Es ist so das Beste für Dich.“ „Nein!!!“, ruft Ingrid entschlossen. Ohne es zu merken, stützt Ingrid die Hände auf dem Sofa ab und steht auf. Langsam macht sie ein, zwei Schritte auf Gernot zu. Gernot, der sich auf Ingrids entschlossenen Nein-Ruf noch einmal zu ihr umgedreht hatte, reißt seine Augen weit auf. Dann läuft er Ingrid entgegen, die mühsam einen Fuß vor den anderen setzt und auf ihn zukommt. Plötzlich verlässt Ingrid ihre Kraft und Gernot kann sie gerade noch rechtzeitig mit seinen Armen auffangen. Er stellt sie behutsam wieder auf die Beine. „Ingrid…“, schluchzt er. Er legt seine Arme fest um Ingrid, um sie zu stützen. „Mein Gott, Ingrid, Du kannst wieder gehen…“ Ein Weinkrampf schüttelt ihn und jetzt ist es Ingrid, die ihn stützt. So stehen sie eine ganze Weile da und halten sich fest, bis Ingrid leise sagt: „Ich möchte mich gern wieder hinsetzen.“ „Sicher.“ Ganz behutsam führt Gernot sie zurück zur Couch. Nachdem Ingrid sich gesetzt hat, will Gernot sich wieder aufrichten und sich von ihr entfernen. Doch Ingrid verhindert dass, indem sie seine Hand festhält. Verwundert schaut Gernot sie an, als Ingrid ihn neben sich auf die Couch zieht. Sie streichelt sanft mit ihrer anderen Hand über Gernots Brust. Noch immer laufen Tränen über Gernots Gesicht. „Ingrid, ich…, ich…“ Ingrid ahnt, was er sagen will. „Geh nicht, Gernot. Ich brauche Dich doch.“, sagt sie leise und streicht weiter mit der Hand zärtlich über seine Brust. „Aber…“, schluchzt Gernot, „…jetzt brauchst Du mich doch erst recht nicht mehr. Du kannst wieder laufen…“ Ingrid lächelt ihn liebevoll an und sieht im tief in seine blauen Augen. „Dummkopf. Natürlich brauche ich Dich. Wie soll ich denn ohne Dich leben, ich liebe Dich doch.“ „Ach, Ingrid!“ Weinend bricht Gernot in ihren Armen zusammen. Tröstend streichelt Ingrid ihm übers Haar und versucht, ihn zu beruhigen. Lange Zeit später gelingt es ihr dann auch endlich. Völlig erschöpft liegt Gernot in ihren Armen. Die vergangenen Wochen haben seinen Nerven sehr zugesetzt, weil er Ingrid gegenüber nicht ehrlich war und er sich immer wieder große Vorwürfe deswegen gemacht hatte. Dann richtet er sich auf und sieht Ingrid lange an. „Warum hasst Du mich nicht? Ich habe doch Dein Leben zerstört, zumindest für einige Wochen. Kannst Du mir das überhaupt verzeihen?“ Ingrid erwidert seinen Blick. „Gernot. Niemals könnte ich Dich hassen, dazu liebe ich Dich viel zu sehr. Außterdem habe ich Dir schon einen Tag nach dem Unfall verziehen.“, sagt Ingrid leise. „Wie?“ Fragend sieht Gernot sie an. Ingrid berichtet ihm über das Gespräch zwischen ihm und Günther, dessen Zeuge sie unfreiwillig geworden war. „Und in dem Moment, als Du zu Günther gesagt hast, was Du für mich empfindest, habe ich Dir bereits verziehen. Die letzten Wochen haben mir deutlich gemacht, dass Du mich wirklich liebst. Denn nur, um Dein schlechtes Gewissen zu beruhigen, hättest Du nicht so einen Aufwand tätigen müssen.“ Sie beugt sich zu ihm und gibt ihm einen sanften Kuss auf den Mund. „Ich bin so froh.“, sagt Gernot, erleichtert darüber, dass Ingrid ihm verziehen hat. Er legt seine Arme um sie und zieht sie fest an sich. „So eine Frau wie Dich habe ich Idiot gar nicht verdient.“, sagt er und bevor sie in einem nicht enden wollenden, leidenschaftlichen Kuss versinken, flüstert er an Ingrids Lippen: „Ich liebe Dich über alles.“ Als sie ihre Lippen voneinander gelöst haben, schmiegt Ingrid sich fest an ihn. So sitzen sie noch lange beieinander. Viel später räkelt sich Ingrid gähnend in Gernots Armen. „Müde, mein Schatz?“ „Ja, sehr. Es war doch ein bisschen sehr viel heute.“ „Komm, gehen wir schlafen.“ Gernot steht auf und reicht Ingrid seine Hände, um sie zu sich hochzuziehen. Ingrid setzt behutsam einen Schritt vor den nächsten. Gernot legt einen Arm um Ingrids Schulter, um sie zu stützen. So gehen sie langsam bis zur Treppe. Dort hebt Gernot Ingrid kurz entschlossen auf seine Arme und trägt sie hinauf. Oben will er den Weg zu Ingrids Zimmer einschlagen, als diese ihm plötzlich die Arme fest um den Hals schlingt und zärtlich seinen Hals küsst. „Ich möchte diese Nacht nicht allein sein.“, sagt sie leise. Gernot dreht sich mit ihr um und trägt sie in sein Schlafzimmer. Er legt sie auf das Bett und setzt sich neben sie. „So besser?“, fragt er und lächelt sie an. „Ich weiß nicht. Noch nicht so richtig.“ Ingrid klopft mit der flachen Hand neben sich auf das Bett. Gernot versteht sofort, steht auf und geht um das Bett herum. Dann legt er sich neben Ingrid, die sich sofort in seinen Arm kuschelt. Eine ganze Weile genießen sie einfach diese Nähe, bis Gernot plötzlich merkt, dass Ingrids Hand sich daran macht, die obersten Knöpfe seines Hemdes zu öffnen. Langsam schiebt sie ihre Hand in das geöffnete Hemd und beginnt, die darunter liegende Haut zu streicheln. Er legt seine Hand auf ihre und verhindert, dass sie ihn weiter streicheln kann. Dann richtet er sich ein wenig auf, um Ingrid anzusehen. „Ingrid. Bist Du sicher, dass wir das Richtige tun? Sollten wir nicht abwarten, was die Ärzte sagen?“ Doch Ingrid denkt nicht im Traum daran, auf diese Nacht mit Gernot zu verzichten. „Ich war mir noch nie so sicher….“, flüstert sie ganz nah an seinen Lippen, bevor sie ihn fordernd zu küssen beginnt. Genießerisch schließt Gernot die Augen und kostet diese Berührungen Ingrids aus. Währenddessen machen sich ihre Hände daran, Gernot sein Hemd auszuziehen und als das geschafft ist, unterstützen ihre Lippen die Arbeit ihrer Hände. „Du!“, seufzt Gernot sehnsüchtig und macht sich nun seinerseits daran, Ingrids Körper mit seinen Lippen und Händen zu erkunden. Schon bald können beide ihr Begehren nach dem anderen nicht mehr unterdrücken und gemeinsam erleben sie ein grandioses Feuerwerk der Liebe und Leidenschaft. In dieser Nacht lassen sie der aufgestauten Sehnsucht nach dem geliebten Partner und all ihren Gefühlen freien Lauf und schlafen erst gegen Morgen erschöpft, aber glücklich ein. Die Morgensonne kitzelt Ingrid am nächsten Morgen wach. Gernot liegt noch schlafend neben ihr. Mit einem liebevollen Blick betrachtet sie ihn eine ganze Weile. Wie sie diesen Mann liebte, trotz oder gerade wegen seiner Eigenheiten. Sie hatte ihm einfach nicht böse sein können, dass er ihr nach dem Unfall nicht die Wahrheit gesagt hatte, weil er ihr gleichzeitig in den vergangenen Wochen seine unendliche, bedingungslose Liebe auf eine geradezu hinreißende Art bewiesen hatte. Im Gegensatz zu ihrer früheren Beziehung war er in dieser Zeit immer für sie da gewesen, hatte sie wie eine ebenbürtige Partnerin behandelt – ungeachtet dessen, dass sie beide ja glauben mussten, dass Ingrid für immer mit einer Behinderung würde leben müssen. Während Ingrid ihren Gedanken nachhängt, erwacht Gernot neben ihr. „Guten Morgen, mein Schatz.“ Er räkelt sich neben Ingrid und schlingt die Arme um sie. Ingrid dreht sich in seinen Armen zu ihm. „Guten Morgen, Liebling.“, kann sie gerade noch sagen, bevor Gernot ihr den Mund mit einem atemberaubend zärtlichen Kuss verschließt. Eng aneinandergekuschelt bleiben sie noch eine ganze Weile liegen. „Nie hätte ich gedacht, dass wir noch einmal so eine Nacht miteinander verbringen würden. Ich dachte, Du würdest mich nie wieder sehen wollen, wenn ich Dir die Wahrheit sage…“, sagt Gernot leise. „Du sollst nicht so viel denken. Lass die Dinge doch einfach auf uns zukommen. Daran ändern kannst Du sowieso nicht viel. Aber ich weiß, das wir beide aus unseren Fehlern von damals gelernt haben – und das ist doch die beste Voraussetzung, oder?“ „Voraussetzung wofür?“, fragt Gernot. „Für eine gemeinsame Zukunft?!“ „Ingrid. Du willst es wirklich noch mal mit mir versuchen? Du machst mich zum glücklichsten Mann der Welt.“ Er richtet sich auf, beugt sich über sie und küsst sie stürmisch. Nachdem Ingrid seinen Kuss genauso stürmisch erwidert hat, grinst sie ihn an. „Das ist zum Beispiel einer der Gründe, warum ich mir sicher bin, dass es dieses Mal gut geht.“ „Was?“ Gernot schaut sie verständnislos an. „Früher hättest Du mich nie so geküsst. Und solch eine Nacht wie die vergangene haben wir noch nie erlebt, oder?“ „Nein, Du hast Recht. Die letzte Nacht war die schönste meines Lebens.“, erwidert Gernot. „Aber hoffentlich bleibt sie nicht die einzige.“, fügt Ingrid grinsend hinzu. „Auf gar keinen Fall…“, spielt Gernot den Entrüsteten, „…ich lasse Dich nie wieder fort, Ingrid.“ Er wird eine Spur ernster, bevor er weiterspricht. „Keine Sekunde meines Lebens möchte ich mehr ohne Dich sein. Ich habe in den letzten Wochen endlich erkannt, dass Du das Wichtigste in meinem Leben bist. Alles andere zählt nicht, wenn Du nur bei mir bist. Und ich werde Dich nie mehr loslassen.“ Bei seinen letzten Worten zieht er Ingrid noch enger in seine Arme und verschließt ihr dann den Mund mit einem leidenschaftlichen Kuss. Eine ganze Weile später löst er seine Lippen von denen Ingrids und sieht ihr tief in die Augen. Ingrid erwidert seinen Blick und ihre Hände streichen währenddessen sanft durch seine Haare. Dann zieht sie seinen Kopf zu sich hinunter und küsst ihn nun ihrerseits mit einer Zärtlichkeit, die Gernot erbeben lässt. Mit einem wohligen Seufzer erwidert er Ingrids Kuss, der allmählich fordernder wird. Ihre Hände verlassen seine Haare und wandern bald über seinen ganzen Körper, in dem sie eine solche Flamme des Begehrens entzünden, dass Gernot glaubt, innerlich zu verbrennen. „Ingrid…“, stöhnt er leise, bevor er sich daran macht, sie auf den Flug zu den Sternen mitzunehmen. Erst durch das Klingeln von Gernots Wecker kehren sie allmählich wieder in die Wirklichkeit zurück. „Das gerade war unbeschreiblich…“, flüstert ein erschöpfter Gernot an Ingrids Ohr. „So etwas habe ich noch nie erlebt…“, erwidert eine ebenso erschöpfte, aber überglückliche Ingrid. „Ich glaube, das, was wir haben, ist einmalig.“, sagt sie eine Weile später. „Wir müssen aufpassen, dass wir das nicht wieder zerstören…“ „Ja, Du hast Recht, Ingrid. Und ich werde meinen Teil sofort dazu beitragen.“ Er setzt sich auf und kniet sich dann neben Ingrid auf das Bett. Zärtlich nimmt er ihre Hände in die seinen und sieht ihr tief in die Augen. „Mein lieber Schatz. Ich weiß, dass ich Dich eigentlich gar nicht verdient habe, aber ich möchte Dich trotzdem keinen Augenblick meines Lebens mehr entbehren müssen. Du hast mir in den letzten Wochen gezeigt, was wahre Liebe ist, nämlich, dass man einem geliebten Menschen auch den größten Fehler verzeihen kann. Dafür danke ich Dir. Und ich bin mir vollkommen sicher, dass ich jetzt das einzig richtige tue, wenn ich Dich frage, ob Du meine Frau werden willst. Willst Du?“ Ingrid, die sich jetzt auch aufsetzt, hat Tränen des Glücks in den Augen. „Ja, Gernot. Denn Du bist die Liebe meines Lebens.“, erwidert sie ohne Umschweife. Gernot, der noch immer neben Ingrid kniet, drückt sie zurück in die Kissen, um ihr gegenseitiges Versprechen mit einem unendlich scheinenden Kuss zu besiegeln. Viel später geht Gernot dann hinunter ins Wohnzimmer, um mit Dr. Römer zu telefonieren und ihm über Ingrids Genesung genauestens Bericht zu erstatten. Er vereinbart mit ihm einen Besuchstermin am Nachmittag und legt den Hörer wieder fort. Noch eine ganze Weile steht er am Fenster und blickt nachdenklich hinaus in den Garten. So in Gedanken versunken merkt er gar nicht, dass Ingrid langsam auf ihn zukommt. Heute fällt ihr das Laufen schon um Einiges leichter als am Vorabend. Sie bleibt dicht hinter ihm stehen und haucht ihm einen Kuss in den Nacken, bevor sie ihre Arme um ihn schlingt und ihren Kopf auf seinen Rücken legt. Gernot legt seine Hände auf ihre und streichelt zärtlich darüber. Schweigend genießen sie diese Nähe, bis die Stille von einem knurrenden Geräusch unterbrochen wird. „Oh, der Herr hat Hunger.“, lacht Ingrid leise in Gernots Rücken, als sie das Geräusch als Gernots Magenknurren identifiziert. Gernot dreht sich in ihren Armen zu ihr um und zieht sie so eng an sich, dass Ingrid fast keine Luft mehr bekommt. „Ja, Hunger auf Dich.“ Er küsst sie stürmisch, bis Ingrid ihn ein Stück von sich wegdrückt. „Spinner.“, sagt sie liebevoll und streicht ihm über die Wange. Dann windet sie sich aus seinen Armen und greift nach seiner Hand. Sie zieht ihn mit sich in die Küche und gemeinsam zaubern sie ein wunderschönes Frühstück auf den Tisch. Nach dem Frühstück ruft Gernot in der Klinik an und berichtet Barbara von Ingrids Genesung und dass er heute nicht in die Klinik kommen wird, um Ingrid zu Dr. Römer begleiten zu können. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich Ingrids Genesung in der Klinik und alle freuen sich mit ihr. Als Ingrid und Gernot dann eine Woche später Arm in Arm in der Klinik zum Dienst erscheinen, freuen sich alle Mitarbeiter und Kollegen mit den beiden, dass sie sich endlich wiedergefunden haben. Denn dass beide sich trotz ihrer Trennung immer noch sehr geliebt hatten, war dem Klinikpersonal nicht entgangen. Ingrid und Gernot genießen ihr Glück in vollen Zügen. Ingrid fühlt sich jetzt als Gernots gleichwertige Partnerin und nicht mehr als bloßes Anhängsel, so wie sie es damals war. Und sie genießt es, dass Gernot jeden Augenblick, in dem er ihr nah sein kann, dazu benutzt, ihr seine Liebe zu zeigen. Mal durch einen zärtlichen Kuss, mal durch eine stürmische Umarmung. Und Gernot weiß, dass er alles daran setzen wird, Ingrid nie wieder unglücklich zu machen. Vier Wochen später heiraten Gernot und Ingrid in aller Stille. Als Gernot am Abend des Hochzeitstages seine Frau in die Arme nimmt, wissen beide, dass für sie ein langer, dunkler Weg zu Ende gegangen ist und vor ihnen ein breiter, heller Weg in eine Zukunft voll Liebe, Leidenschaft, Wärme, Nähe und Zärtlichkeit liegt, den sie gemeinsam gehen werden. Ende.