Hör auf dein Herz

Werbung
Hör auf dein Herz!
Letzte Woche war Ingrids 60. Geburtstag und nach dem „Goldenen Herbst“-Wochenende laufen die
Vorbereitungen für die Geburtstagsfeier jetzt auf Hochtouren. Harry Vorndran, den sie an dem besagten
Wochenende kennen gelernt hat, ist dabei voll in seinem Element und Ingrid eine echte Stütze. Von ihm
stammt auch die Idee, Ingrids Feier in eine Karaoke Bar zu verlegen. Anfangs hat Ingrid die Idee ganz
und gar nicht gefallen, doch schließlich hat sie eingesehen, dass ihre Wohnung für alle Kollegen und
Freunde sowieso viel zu klein wäre und eine Karaoke Bar ist schließlich auch mal was anderes!
Die Einladungen hat Ingrid auch schon verteilt – bis auf eine: Gernots! Mit der Post will sie sie nicht
schicken und bis jetzt hat sich keine Möglichkeit ergeben, sie Gernot persönlich zu geben. Der hat sich
nämlich, nachdem er von Ingrid und Harry erfahren hat, mal wieder in sein Schneckenhaus
zurückgezogen. Vielleicht kommt diese Gelegenheit ja heute, bei der gemeinsamen
Dienstplanbesprechung, denkt Ingrid sich.
Zur gleichen Zeit sitzt ein schlecht gelaunter und grübelnder Gernot in seinem Büro. Nachdenklich
betrachtet er das Bild, das so lange auf seinem Schreibtisch gestanden hat. Es zeigt ihn und Ingrid in
glücklichen Tagen. „Warum nur musste es soweit kommen, Ingrid. Wir waren doch einmal so
glücklich…“, murmelt er leise vor sich hin. Gernot hat, während er über sich und Ingrid nachdenkt, die
Zeit völlig vergessen und bemerkt daher auch das Klopfen an seiner Tür nicht.
Nach einem weitern Klopfen und einer immer noch ausbleibenden Reaktion öffnet Ingrid die Tür zu
Gernots Büro und lugt vorsichtig hinein. Sie sieht Gernot in Gedanken versunken und ein Bild
betrachtend an seinem Schreibtisch sitzen. Vorsichtig nähert sie sich ihm und bleibt wenige Schritte vor
seinem Schreibtisch stehen. Noch immer scheint Gernot sie nicht bemerkt zu haben. „Gernot?“, ruft sie
leise und mit sanfter Stimme. Erschrocken blickt Gernot auf. Als er Ingrid sieht, lässt er das Bild hastig
in seiner Schreibtischschublade verschwinden, er fühlt sich ertappt. „Mein Gott, Ingrid. Hast du mich
erschreckt!“ „Tut mir leid, Gernot!“, lächelt sie ihn an. „Soll ich später wiederkommen?“ „Nein, nein
schon gut... Setz dich.“ Einladend deutet er auf seine schwarze Ledercouch.
Nach eineinhalb Stunden Dienste hin und her schieben, ist die Arbeit endlich getan. Erschöpft lässt sich
Gernot in die Kissen sinken. „Endlich geschafft…“, seufzt er. „Gernot?“ Etwas in Ingrids Tonfall lässt
Gernot aufhorchen. „Hier.“ Nervös reicht Ingrid Gernot die Einladungskarte. Sie wünscht sich nichts
sehnlicher, als dass Gernot zu ihrer Feier kommen wird. Denn obwohl sie jetzt mit Harry zusammen ist,
wird ihr doch gerade in diesen Tagen schmerzlich bewusst, dass ihr in ihrem Leben was ganz
entscheidendes fehlt und das ist Gernot!! Harry ist ein netter Mann, aber Ingrid kann ihn einfach nicht
bedingungslos lieben, dafür ist Harrys Liebe viel zu fordernd. „Was ist das?“ „Mach’s auf Gernot, dann
wirst du’s schon sehen.“ Ungeduldig entfaltet Gernot das Blatt.
Einladung
Anlässlich meines 60. Geburtstages würde ich mich freuen,
dich am 6.8.2005 ab 18.00 Uhr in der „Karaoke&Tanz Bar
Leipzig“ zu empfangen.
„Karaoke Bar???“ Gernot blickt auf, doch mittlerweile hat Ingrid unbemerkt sein Büro schon wieder
verlassen. Sie konnte seine Reaktion einfach nicht vorhersehen und hat es für besser gehalten zu
verschwinden. Gernot blickt erneut auf die Einladung und sieht, dass Ingrid weiter unten noch ein paar
persönliche Worte hinzugefügt hat.
Gernot, ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn du kommst und es würde mir
unheimlich viel bedeuten, dich dort zu sehen!
Ingrid
Nachdenklich blickt Gernot auf Ingrids Worte. „…würde mir unheimlich viel bedeuten…“ „Ingrid,
Ingrid…“, seufzt Gernot. „Ich wird’ einfach nicht schlau aus dir. Was erwartest du von mir? Was ist mit
diesem Vorndran? Warum schreibst du mir so was?“ Fragen über Fragen plagen Gernot den ganzen
weiteren Tag. Er kann Ingrids Verhalten einfach nicht verstehen.
Spät macht er sich auf den Nachhauseweg. Auf dem Weg zu seinem Auto kommt er am
Schwesternzimmer vorbei. Vorsichtig lugt er um die Ecke und findet Ingrid fleißig am Computer
arbeitend vor. Leise beobachtet er Ingrid einige Zeit, wie er denkt, unbemerkt von ihr. Doch Ingrid hat
schon lange realisiert, dass Gernot sie beobachtet. Schließlich hat sie seine Schritte auf dem Gang
gehört. Unter Tausenden würde Ingrid seine Schritte herausfinden können. Noch immer hat Gernot
nichts gesagt. Ohne sich umzudrehen fragt Ingrid: „ Kann ich was für dich tun, Gernot?“ Gernot zuckt
zusammen, als er erkennt, dass er nicht weiter unentdeckt ist. Lächelnd dreht Ingrid sich um und blickt
über den Rand ihrer Brille hinweg genau in Gernots Augen. Der Blick rührt Gefühle ganz tief in
Gernots Herzen, die er längst für erloschen gehalten hat. „Hast du Angst vor mir?“, fragt Ingrid
grinsend, denn Gernot hat bis jetzt nach wie vor nur den Kopf ins Schwesternzimmer gesteckt. „Wie? ...
Ach so… nein, nein… hab’ keine Angst vor dir…“ Ingrid kann sich nur mit größter Mühe ein Lachen
verkneifen. Sie liebt es, wenn er so ist wie jetzt - unbeholfen und verlegen. „Na, willst du dann nicht
reinkommen und mir sagen, was mit dir los ist?“ „Was meinst du Ingrid?“, fragt Gernot, während er
sich auf einem Stuhl niederlässt. „Ich seh’ dir doch an, dass etwas nicht in Ordnung ist.“ Schweigend
blickt Gernot Ingrid einen Moment an, bevor er antwortet. „Du kennst mich gut Ingrid, aber
trotzdem…. Jetzt ist nicht der geeignete Zeitpunkt, um darüber zu reden.“ „Und wann ist der
gekommen?“ „Vielleicht Morgen, vielleicht in einem Monat, vielleicht in einem Jahr oder vielleicht
nie, Ingrid. Das kommt ganz darauf an.“ „Und auf was kommt das an?“, fragt Ingrid leicht gereizt. Sie
hat keine Lust auf Gernots Spielchen, entweder er sagt ihr, was ihn bedrückt oder eben nicht! „Auf
dich.“ Überrascht sieht Ingrid Gernot an. „Auf mich?“ „Natürlich auf dich.“ „Gernot! Könntest du
vielleicht ein bisschen deutlicher werden?“ „Es ist schon spät, Ingrid und ich bin müde.“ Ohne ein
weiteres Wort zu verlieren, haucht er ihr einen zärtlichen Kuss auf die Wange und verlässt das
Schwesternzimmer. An der Tür dreht er sich noch mal kurz um. „Ich komme übrigens zu deiner
Geburtstagsfeier.“ Ohne auf eine Erwiderung zu warten, fährt Gernot nach Hause und schläft mit
Ingrids Gesicht vor Augen ein.
Nach Ingrids Meinung verläuft die Nachtschicht viel zu ruhig! Dadurch hat sie unheimlich viel Zeit
über sich, Harry und Gernot nachzudenken. Sie kommt zu dem Schluss, dass Harry in keiner Weise mit
Gernot mithalten kann. Harrys Liebe ist fordernd und seine Fürsorge erdrückt sie und lässt ihr kaum
Luft zum Atmen. Wer der attraktivere von beiden ist, ist auch klar! Außerdem hat sie bei Harry einfach
ein ungutes Gefühl. Sie kann sich bei Harry nicht einfach fallen lassen, weil sie nicht sicher ist, ob er sie
im Ernstfall auch wirklich auffängt. Gernot war immer für sie da, besonders als ihre Schwester
gestorben ist, war er ihr sehr nahe. Auch jetzt, da ist Ingrid überzeugt, wäre Gernot auf jeden Fall für sie
da, bei Harry ist sie sich da nicht so sicher! Am Ende ihres Nachtdienstes weiß Ingrid ganz genau, für
wen ihr Herz wirklich schlägt, nie aufgehört hat zu schlagen!!
Als Yvonne und Arzu am frühen Morgen kommen, gibt es eine kurze Schichtübergabe. Ingrid entledigt
sich ihrer Dienstkleidung und verlässt die Station. In Foyer wird Ingrid schon freudig erwartet.
Stürmisch wird sie von Harry geküsst. Ohne den Kuss zu erwidern, dreht Ingrid sich ein Stück von
Harry weg. „Was ist los, Ingrid?“ „Nichts, ich bin nur müde.“ Harry scheint ihre kleine Flunkerei ohne
weiteres zu schlucken, denn er erwidert nichts mehr. Gernot hätte sofort gemerkt, dass etwas nicht in
Ordnung ist und gewusst, dass ich geflunkert hab’, denkt Ingrid bei sich. „Sag mal, hörst du mir
überhaupt zu?“, fragt Harry. „Entschuldige, aber ich war gerade woanders mit meinen Gedanken…“
„Das hab’ ich gemerkt.“ „Tut mir leid, Harry. Ich bin wirklich müde und will jetzt nach Hause.“ Gerade
als Harry und Ingrid die Klinik verlassen wollen, kommt Gernot zur Tür herein. Sofort tritt ein Strahlen
in Ingrids Augen, als sie Gernot erblickt. Dieses Strahlen bleibt auch den beiden Männern nicht
verborgen. „Morgen Gernot.“ „Morgen Ingrid!“, begrüßt Gernot sie herzlich und küsst sie zu ihrer
Überraschung links und rechts auf die Wange. Ohne Harry zu beachteten, lächelt Gernot Ingrid noch
einmal verschmitzt zu und geht dann Richtung Aufzug. Verträumt sieht sie Gernot hinterher. „Ingrid!!“
Jäh werden ihre Gedanken unterbrochen. „Können wir dann jetzt endlich gehen?“, fragt Harry gereizt.
Nachdem sie die Klinik verlassen haben, will Harry wissen, wer das eben war. „Das war mein Chef,
Professor Simoni.“, gibt Ingrid breitwillig Auskunft. „Aha. Begrüßt der alle Mitarbeiter so, oder was?“,
schnauzt Harry sie an. „Sag mal, wie redest du denn mit mir? Gernot und ich arbeiten jetzt schon fast
40 Jahre zusammen.“ Ohne ein weiteres Wort lässt Harry Ingrid einfach stehen, steigt in sein Auto und
fährt davon. Erleichtert atmet Ingrid auf. Sie hat keine Lust, sich gegenüber Harry wegen Gernot zu
rechtfertigen. Dass er sie allerdings einfach stehen gelassen hat, findet Ingrid nicht gerade
prickelnd….
Zu Hause fällt sie totmüde ins Bett und wacht erst wieder auf, als ihr Telefon klingelt.
„Rischke?“, murmelt sie schlaftrunken. … „Nein, Harry. Heute lieber nicht.“ … „Warum? Dann denk’
mal drüber nach. Wer hat mich einfach vor der Klinik stehen lassen und ist wie ein Irrer davon
gefahren?“ „Tut mir leid, Ingrid. Ehrlich! Wir müssen unbedingt miteinander reden.“ „Also gut, dann
komm ein einer Stunde vorbei.“ „In Ordnung, Ingrid. Ich liebe dich!“ Ohne etwas zu erwidern legt
Ingrid den Hörer auf. Seufzend lässt sie sich in die Kissen zurück fallen und legt sich die Worte zurecht,
die sie Harry sagen will, wenn er hier auftaucht.
Exakt eine Stunde später läutet es an Ingrids Tür. „Hallo Ha…“, ihr bleiben die Worte im Mund
stecken. Vor ihr steht nicht Harry sondern Gernot!! „Hallo Ingrid!“ „Gernot, was machst du denn hier?“
„Ich wollte dich fragen, ob du nicht Lust hast, einen Spaziergang mit mir zu machen.“ „Das passt mir
gerade ganz und gar nicht.“ Enttäuscht wendet sich Gernot wieder ab. „Wie konnte ich bloß denken,
dass Ingrid noch was für mich empfindet?“ Im selben Moment, als Ingrid ihre Worte ausgesprochen
hat, erkennt sie, dass sie Gernot damit sehr verletzt hat. „Gernot!“, ruft sie leise. „Ich hab’ das nicht so
gemeint. Ich…“ „Schon gut, Ingrid. Ich geh jetzt besser.“ Und schon ist Gernot verschwunden. Ingrid
fällt es unheimlich schwer, ihn jetzt einfach gehen zu lassen, doch sie weiß, dass sie zuerst die Sache
mit Harry in Ordnung bringen muss. Schweren Herzens sieht sie Gernot nach, wie er die Treppen runter
schleicht.
Fünf Minuten später läutet es erneut an Ingrids Tür und diesmal ist es wirklich Harry, der davor steht.
„Hallo Harry.“ „Hallo Ingrid.“ Zärtlich küsst er sie auf den Mund. „Also… du wolltest reden?“,
ermutigt sie ihn, nachdem sie im Wohnzimmer Platz genommen haben. „Ingrid… ich muss weg aus
Leipzig!“, bricht es aus Harry heraus. „Was?“, Ingrid glaubt sich verhört zu haben. Hat er wirklich
gesagt, dass er aus Leipzig weg muss? In Ingrid macht sich eine unglaubliche Erleichterung breit. „Ich
muss mich um meine Schwester Dorothee kümmern. Sie kann jetzt nach dieser Operation das Gestüt
nicht mehr alleine betreuen. Aber, wenn du willst, kannst du mit mir kommen!“ Hoffnungsvoll blickt er
sie an. „Harry… wie stellst du dir das vor? Meine Arbeit, meine Freunde… das ist alles hier in
Leipzig.“ Und vor allem ist Gernot in Leipzig, fügt Ingrid in Gedanken hinzu. „Gib deine Arbeit auf!
Wir verdienen mit dem Gestüt genug und deine Freunde, die kannst du natürlich so oft besuchen wie du
willst!“ „Meine Arbeit aufgeben? Auf keinen Fall, Harry. Ich liebe meine Arbeit!“ Traurig blickt Harry
Ingrid an. Er weiß, dass er keine Chance hat, Ingrid umzustimmen. Sie würde Leipzig niemals
verlassen! „Dann sehe ich keine Zukunft für uns, Ingrid.“ „Dann hat es eben nicht sein sollen, Harry.
Dennoch habe ich die Zeit mit dir genossen und unser Wochenende mit Udo von Wackerstein werde
ich bestimmt nie vergessen!“ Das entsprach der Wahrheit, auch wenn Ingrid nie aufgehört hat, Gernot
zu lieben, hat sie die Zeit doch genossen. „Und es gibt wirklich nichts, womit ich dich umstimmen
kann, Ingrid?“ Ingrid schüttelt entschieden den Kopf. „Dann ist es jetzt an der Zeit für mich zu gehen.“
Harry steht auf und küsst Ingrid zum Abschied zum letzten Mal auf beide Wangen. „Ich wünsche dir
viel Glück mit Professor Simoni, Ingrid.“ Ingrid schnappt nach Luft und sieht ihn mit großen Augen an.
„Ich meine das ganz ehrlich. Ich bin zufrieden, wenn du glücklich bist. Aber, sollte dein Professor dich
einmal schlecht behandeln, wird er es mit mir zu tun kriegen. Das versprech’ ich dir.“ Ingrid ist so
perplex, dass sie überhaupt nichts erwidern kann. Ist ihre Liebe für Gernot so offensichtlich? „Mach’s
gut, Ingrid. Ich hoffe, wir sehen uns irgendwann mal wieder.“ „Ja, dass hoffe ich auch“, bringt sie
gerade noch über die Lippen. Mit einem letzten Blick auf Ingrid verlässt Harry Ingrids Wohnung und
fährt zu seinem Gestüt zurück.
Tief einatmend lässt sich Ingrid auf ihre Couch fallen, nachdem die Tür hinter Harry zugefallen ist. Mit
allem hat sie gerechnet, aber nicht damit! Am meisten macht ihr zu schaffen, dass ihre Liebe zu Gernot
so offensichtlich ist. Harry kennt sie erst seit ein paar Wochen und er hat Gernot nur einmal kurz
gesehen, wenn ihm da schon auffällt wie sehr sie sich nach Gernot sehnt, was ist dann mit Arzu,
Yvonne, Vladi und all den anderen, die sie seit Jahren kennen? Ihnen muss das dann doch erst recht
aufgefallen sein oder? Eigentlich hat sie gedacht, dass sie ihre Gefühle immer gut unter Verschluss
gehalten hat, aber dem scheint nicht so. Bei dem Gedanken, dass sich ihre Mitarbeiter vielleicht schon
seit Jahren auf ihre Kosten amüsieren, wird Ingrid schlecht. Schnell verdrängt sie diese Gedanken in
ihren Hinterkopf, macht sich noch eine Tasse Tee und geht dann zum Nachtdienst in die Klinik.
Ungeduldig wird Ingrid in der Klinik von Yvonne und Arzu erwartet. „Na endlich, Oberschwester. Da
sind sie ja!“ „Ist was passiert?“, fragt Ingrid alarmiert. „Professor Simoni… er hatte….“ „Yvonne! Was
ist mit Gernot??? Jetzt reden Sie schon, verdammt noch mal!!!“, brüllt Ingrid voller Sorge. „Er hatte
einen Autounfall.“ Ingrid muss sich setzen. „Ist er…?“, fragt sie angsterfüllt mit tränenerstickter
Stimme. „Nein, nein! Um Gottes Willen, nein!“ „Wo ist er?“ „Er liegt auf Zimmer 206.“ Energisch
steht Ingrid auf und will Richtung 206 gehen, doch Arzus Stimme hält sie noch zurück. „Sie sollten
noch wissen, dass der Professor betrunken war, als er den Unfall hatte, Oberschwester!“ „Gernot
betrunken?“, Ingrid kann gar nicht glauben, was sie da hört. Gernot würde nie betrunken Auto fahren!
Schnell läuft sie in die 206. Dort findet sie Gernot schlafend vor. Erleichterung macht sich in ihr breit.
Es scheint ihm soweit gut zu gehen. Vorsichtig setzt sie sich auf die Bettkante an Gernots Bett. Sie
beobachtet ihn einige Zeit schweigend, bevor sie sanft über seine grauen Schläfen streichelt. Gernot
erwacht sofort. Ein glückliches Lächeln huscht über sein Gesicht, als er Ingrid sieht. „Ingrid! Schön,
dass du da bist!“ „Gernot, was machst du nur für Sachen? Ist dir klar, dass du hättest sterben können?“
„Es ist schön, wenn du dir Sorgen um mich machst.“, sagt er und blickt Ingrid dabei tief in die Augen.
Ingrid glaubt, sich in diesem blau zu verlieren. Lange blicken sie sich so in die Augen, bis Ingrid das
unsichtbare Band zwischen ihnen löst. „Willst du mir nicht sagen, warum du betrunken warst?“ Gernot
blickt sie lange schweigend an, bevor er antwortet. „Das war sehr dumm von mir, Ingrid. Ich schäme
mich dafür. Ich weiß selbst nicht mehr, warum ich so viel getrunken hab’.“ In Gernots Augen kann
Ingrid lesen, dass das nicht die ganze Wahrheit ist, doch sie fragt nicht weiter nach. Wenn Gernot ihr
etwas erzählen will, wird er das schon machen. „Was fehlt dir?“ „Mein Fuß ist leicht verstaucht.“,
antwortet Gernot, dankbar für den Themenwechsel. „Morgen darf ich schon wieder raus.“ „Schön zu
hören!“, erwidert Ingrid erleichtert. „Du siehst also, dass ich am Samstag wieder fit sein werde.“
„Samstag?“ „Zu deiner Geburtstagsfeier!!! Ich bestehe auf den ersten Tanz, Ingrid“, grinst er sie an.
„Unter einer Bedingung…“, grinst Ingrid zurück. „Und die wäre?“ Schelmisch sieht Ingrid Gernot an
und flüstert ganz nah an seinem Ohr. „Du singst ein Lied!“ „Auf keinen Fall!“ „Entweder du singst,
oder ich tanze nicht mit dir“, entgegnet Ingrid erbarmungslos. „Du willst, dass ich mich blamiere.“
„Überleg’ es dir mein Lieber. Ich muss jetzt jedenfalls zurück an meine Arbeit.“ Bevor Gernot noch
was erwidern kann, hat Ingrid ihm blitzschnell einen Kuss auf den Mund gehaucht und ist genauso
schnell verschwunden.
Mit einem Lächeln auf dem Gesicht betritt Ingrid das Schwesternzimmer. „Ihr seid ja immer noch da!
Marsch, ab nach Hause ihr zwei!“ „Wie geht’s dem Professor?“, fragt Yvonne besorgt. „Ganz gut,
glaube ich. Ab jetzt mit euch!“ Mit diesen Worten schiebt Ingrid Arzu und Yvonne freundlich aber
bestimmt aus dem Schwesternzimmer.
Endlich ist der große Tag gekommen! Ingrid ist schon früh auf den Beinen und hat in der gemieteten
Bar überall Girlanden, Luftballons und alle mögliche andere Dekoration aufgehängt. Der engagierte DJ
ist auch schon da. Ingrid hofft natürlich, dass viele ihrer Freunde und Kollegen selbst singen werden,
aber man weiß ja nie…
Bei dem Gedanken, in wenigen Stunden Gernot dort oben auf der Bühne stehen zu sehen und singen zu
hören, läuft es Ingrid abwechselnd heiß und kalt den Rücken runter. Sie ist sich ziemlich sicher, dass
Gernot singen wird – hoffentlich! Für Ingrid gäbe es kein schöneres Geschenk. Auch, wenn Gernot
immer behauptet, dass er nicht singen kann, weiß Ingrid, dass das nicht stimmt…
Der erste Gast ist Günther Keller. „Ingrid, alles alles Gute wünsche ich dir zu deinem 60. Geburtstag.
Viel Gesundheit, viel Glück und, und, und… Du weißt ja, was ich dir am meisten Wünsche!“ „Danke
Günther. Schön, dass du da bist. Aber, was meinst du?“ Lautlos formt Günther den Namen „Gernot“
mit den Lippen. „Du bist unverbesserlich“, lacht Ingrid. „Hier, willst du ein Glas Sekt?“ „Danke, gern.
Ihm werden die Augen aus dem Kopf fallen, wenn er dich sieht, Ingrid. Dein Kleid ist ein Traum und
du trägst dein Haar offen. So, wie es Gernot am liebsten mag. Glaub mir, ich kenne doch meinen besten
Freund…“ Ingrid bleibt keine Zeit mehr etwas zu erwidern, denn nach und nach trudeln alle Leute ein,
schließlich auch Gernot. Und wie Günther vorhergesehen hat, ist Gernot sprachlos, als er Ingrid sieht.
Doch auch Ingrid ist angenehm überrascht über Gernots Kleidung. Zum einen trägt er Jeans, was
wirklich sehr selten vorkommt und zum andern das blaue Hemd, dass Ingrid immer so geliebt hat.
Lächelnd hält er ihr den Strauß gelber Rosen vor die Nase. „Hier, für dich. Alles Liebe zum
Geburtstag“, flüstert er mit rauer Stimme in ihr Ohr. Schnell muss Ingrid sich abwenden, um nicht
völlig die Kontrolle über ihre Gefühle zu verlieren. „Hier, ein Glas Sekt.“ Hastig drückt sie Gernot ein
Glas in die Hand und verschwindet dann in der Menge.
Nachdem alle Leute anwesend sind, betritt Ingrid die Bühne. „Ich danke euch, dass ihr so zahlreich
erschienen seid. Es bedeutet mir unheimlich viel den Tag mit den Menschen zu verbringen, die ich am
liebsten hab…“ Nach einer kurzen Pause spricht Ingrid mit belegter Stimme weiter „Wie ihr ja wisst,
sind wir hier in einer Karaoke Bar und es würde mich unheimlich freuen, den ein oder anderen heute
hier oben zu sehen. Wie wär’s zum Beispiel mit dir Günther?“ Alle Augen richten sich auf Günther
Keller, der am liebsten im Erdboden versinken würde. Abwehrend wedelt er mit den Händen, doch auf
Drängen seines Umfeldes hin gibt er sich geschlagen. „Das wirst du büßen, Ingrid!“, lacht er Ingrid an,
als er auf die Bühne kommt. Ingrid gibt ihm einen aufmunternden Klaps auf die Schulter und verlässt
dann die Bühne. In der Menge sieht sie sich suchend nach Gernot um. Sie sieht ihn zusammen bei
Roland und Achim. Als sie näher kommt, hört sie, dass eine hitzige Debatte über einen Patienten im
Gange ist. „Meine Herren!“, sagt sie spielerisch streng. Schuldbewusst drehen die drei sich zu ihr um.
„Hier wird nicht über Patienten geredet!“ „Ist das eine Anweisung, Oberschwester?“, grinst Gernot sie
an. „Und ob!“ „Na, wenn die Oberschwester das anordnet, müssen wir das wohl akzeptieren.“ „Das will
ich auch hoffen.“ Lachend sehen die vier sich an. „Komm, Gernot.“ Ohne ein weiteres Wort nimmt
Ingrid Gernot an die Hand und zieht ihn von Roland und Achim weg. Angenehm überrascht leistet
Gernot keinen Widerstand. „Was gibt’s denn, Ingrid?“ „Ich will, dass du dir ansiehst, wie dein bester
Freund hier vor allen Leuten ein Lied singt.“ „Ganz wie du willst, meine Liebe.“ „Hast du es dir
überlegt?“ „Was?“ „Das mit dem singen.“ „Lass dich überraschen.“ Zärtlich streicht Gernot über
Ingrids rechte Wange und lässt seine Hand auf ihrer Schulter liegen. Einen Moment sehen sie sich tief
in die Augen, doch dann beginnt Günther mit seinem Lied. Lemon tree von Fools Garden gibt er zum
Besten. Kaum hat Günther, die Bühne unter tosendem Applaus verlassen, springt Philipp Brentano auf
die Bühne. „Dieses Lied widme ich meiner Süßen. Arzu, ich liebe dich über alles.“ Und schon hört man
Philipps Stimme, die My heart will go on singt. „Wie süß, nicht wahr, Gernot?“ Statt einer Antwort
schlingt Gernot seine Arme um Ingrids Taille, die mittlerweile vor ihm steht. Instinktiv lehnt sich Ingrid
zurück an Gernots Brust. Gemeinsam lauschen sie Philipps Lied und sehen kurze Zeit später wie eine
strahlende Arzu ihm um den Hals fällt. Nachdem auch Kathrin gemeinsam mit Achim und Roland ein
Lied gesungen hat, löst Gernot seine Arme von Ingrid und entschuldigt sich auf die Toilette. Zumindest
glaubt Ingrid das.
Kurze Zeit später glaubt Ingrid zu träumen. Auf der Bühne steht tatsächlich Gernot, der sie mit seinem
unwiderstehlichsten Lächeln anstrahlt. Er hat sich das Lied Listen to your heart ausgesucht. Während
des ganzen Liedes hält Gernot den Augenkontakt zu Ingrid. Ihr wird ganz schwindlig von der Liebe und
Wärme, die ihr aus seinen Augen entgegenstrahlen. Ein angenehmes Kribbeln hat sich in ihrem ganzen
Körper breit gemacht, als das Lied endet. Alle waren unglaublich beeindruckt, mit wie viel Gefühl
Gernot das Lied rübergebracht hat uns so lässt tosender Applaus den kleinen Raum erbeben. Doch
Gernot hat nur Augen, für seine Ingrid, die zitternd einige Meter von ihm entfernt steht. Langsam gehen
sie Schritt für Schritt auf einander zu. Atemlos sehen alle Anwesenden zu, wie sich Ingrid und Gernot
immer näher kommen. Glücklich fallen sie sich in die Arme und halten sich ganz fest. Gernot löst sich
ein Stück von Ingrid und sieht ihr tief in die Augen. Dann flüstert er ganz nah an ihren Lippen. „Ich
liebe dich, Ingrid.“ Man konnte gerade noch Ingrids „Ich dich auch“ vernehmen, bevor die beiden sich
endlos küssen. Erneut brechen alle in Jubel aus, war es doch für alle klar, dass Ingrid und Gernot für
immer zusammen gehören!
„Komm, lass uns etwas frische Luft schnappen gehen.“, sagt Ingrid atemlos, nachdem sie sich von
Gernot gelöst hat. Während die Party drin weiter ihren Lauf nimmt, reden Ingrid und Gernot draußen
vor der Tür, über alte Fehler, über ihre Gefühle und wie sie alles besser machen werden in Zukunft.
„Und dann, als du mit diesem Vorndran zusammen warst, war ich so schrecklich eifersüchtig. Es war
schrecklich, dich mit diesem Typ zu sehen! Erinnerst du dich an den Tag, als ich abends zu dir kam und
mit dir spazieren gehen wollte?“ Ingrid nickt bestätigend. „Da dachte ich, dass ich dich für immer
verloren hab’. Deswegen hab’ ich mich auch in eine Bar gesetzt und mich voll gesoffen… den Rest der
Geschichte kennst du ja.“ „Versprich mir, dass du das nie wieder machst ja?“ „Hab’ ich denn einen
Grund dazu?“ Statt einer Antwort bekommt Gernot einen zärtlichen Kuss.
„Komm, lass uns wieder rein gehen, mir ist kalt.“, sagt Ingrid lange Zeit später. Die Feier geht noch bis
in die frühen Morgenstunden des nächsten Tages, doch irgendwann sind Ingrid und Gernot ganz für
sich allein und erfüllen sich gegenseitig ihre tiefsten Sehnsüchte.
Herunterladen