Christa Jordan-Rudolf Überlegungen zu den Berichten von Natascha Kampusch und ihre Bedeutung für die Prävention Präventionsarbeit „nach Kampusch“: Die Fantasien der Kindern und der Erwachsenen haben ein Gesicht und eine Geschichte bekommen. Die Bilder haben sich eingebrannt – das Verlies, das Gesicht des Täters, sein Haus, aber vor allem Natascha Kampusch selbst. Was wir, wenn wir die Sensationslust überwunden haben (und sind wir doch ehrlich, die meisten sind ihr anheim gefallen – zumindest kenne ich kaum jemanden, die/der das erste Interview nicht gesehen hat), von Frau Kampuschs Aussagen für die allgemeine Gewaltprävention lernen können, ist enorm. Auch, wenn wir von Frau Kampusch wissen, dass sie keine sexuelle Gewalt erlebt hat, lohnt sich ein Innehalten, um für die Gewaltprävention ganz allgemein wichtige Punkte festzuhalten (trotz der Tatsache, dass sich der sogenannte Fremdtäter wieder ins Zentrum des Interesses gedrängt hat, obwohl er doch nur einen kleinen Prozentsatz ausmacht. Aber es ist eben einfacher, sich mit Unbekannten auseinanderzusetzen, als mit Menschen, die man kennt und vielleicht auch sehr gerne hat). Natascha Kampusch hat den Tag ihrer Entführung sehr ausführlich geschildert: Sie war an diesem Tag traurig, weil sie eine Auseinandersetzung mit ihrer Mutter hatte. Es ging darum, dass der Vater sie am Vortag zu spät zur Mutter zurückgebracht hatte. Die Mutter war auf den Vater, aber auch auf sie wütend. Zum Trotz ist sie am nächsten Morgen ohne sich wieder versöhnt zu haben zur Schule gegangen. An der Tür ist ihr noch der Merksatz ihrer Mutter eingefallen: „Wir sollen nie böse auseinander gehen.“ Natascha Kampusch erinnerte sich noch daran, gedacht zu haben, “mir ist ohnehin noch nie etwas passiert, wieso sollte es ausgerechnet jetzt sein.“ Auf der Straße hat sie "ihn von Weiten schon stehen gesehen.“ Sie hatte ein komisches „Bauchgefühl“, dass da irgendetwas nicht stimmt und wollte die Straßenseite wechseln. Dann aber dachte sie, „ er wird mich schon nicht beißen“ und ist weitergegangen. Als er sie ins Auto zerrte, wollte sie schreien, aber „es kam kein Ton aus mir heraus“. Natascha Kampusch hatte kurz vor ihrer Entführung ein eigenartiges Gefühl – aber sie hat es weggewischt, so wie wir alle es sehr oft mit Gefühlen machen. Viele Frauen, die vergewaltigt wurden, berichten, dass sie vorher ein komisches Gefühl hatten. Wir Menschen scheinen ein sehr sensibles Sensorium für das Erkennen bedrohlicher Situationen zu haben, nur vertrauen wir diesem nicht. Ein zentraler Bereich der Prävention ist der Umgang mit Gefühlen. Es ist wichtig, Kindern ihre Intuition zu lassen, ja, sie darin zu bestärken, auf ihre Gefühle zu hören. Oft vertrauen Bezugspersonen Kindern nicht, glauben ihnen ihre Empfindungen nicht oder fühlen sich davon belästigt und im ruhigen Ablauf gestört (das Kind schreit z. B.: „Mir ist so heiß!“ Die Bezugsperson antwortet: „Lass den Pullover an – es ist doch kalt“ oder das Kind meint: „Ich will nicht zu Tante Frieda“ und die Bezugsperson sagt darauf: „Na geh´, die ist doch so lieb“ – ohne sich zu erkundigen warum das Kind dort nicht hin will). Es verlangt von uns Erwachsenen viel Einfühlungsvermögen und viel Geduld, die Wahrnehmungen und Emotionen von Mädchen und Buben ernst zu nehmen, aber es fördert die Beziehung, die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes und ist der beste Schutz gegen jede Form von Gewalt. Natascha Kampusch schildert auch, dass sie schreien wollte aber nicht konnte. Eine typische Reaktion in so einer Schrecksituation, in der die meisten Menschen erstarren. Dennoch fordern viele Präventiongruppen, vor allem die Selbstverteidigungskurse „ihr müsst den Täter anschreien“. Ein gut gemeinter Rat, der seine Wirkung leicht verfehlen kann, wenn es in der Situation selbst nicht möglich ist. Kinder können dann Schuldgefühle bekommen, weil sie es doch gelernt, aber nicht geschafft haben, das Gelernt auch umzusetzen („hätte ich geschrien, so wäre mir das nicht passiert – ich bin ja selber schuld“). Es ist für die Betroffenen entlastend, zu erfahren, dass man in gefährlichen Situationen oft nicht so reagieren kann wie man gerne würde. Ebenfalls wichtig ist die Schilderung von Natascha Kampusch darüber, dass sie an dem Tag ihrer Entführung traurig war und mit ihren Gedanken noch beim Streit mit ihrer Mutter. Sie war abgelenkt und daher im Hier und Jetzt nicht völlig präsent; wäre sie es gewesen, hätte sie vielleicht eher auf ihr „Bauchgefühl“ gehört. Frauen berichten häufig davon, dass sie nur dann belästigt werden, wenn sie einen „schlechten Tag“ haben. Reflektierte Präventionsarbeit bedeutet, Kindern nicht vorzumachen, hundertprozentiger Schutz sei möglich, sondern auf die komplexen Faktoren hinzuweisen, die zu (sexuellen) Übergriffen oder Gewalt führen können und sie darin zu bestärken – im Sinne einer Sekundär- bzw. Tertiärprävention – sich auch im Nachhinein Hilfe und Unterstützung zu holen. Sehr eindringlich klingen uns auch noch Kampuschs Worte über die Mutter des Täters im Ohr. Sie wollte vor allem ihr ersparen, dass sie die andere Seite ihres Sohnes kennen lernt; auch deshalb konnte sie so lange nicht fliehen. Auch Bekannte und Nachbarn des Täters wollte sie schonen. Zudem wusste sie, dass er sich im Falle einer Aufdeckung töten würde und fühlt sich, indirekt betrachtet, jetzt auch als seine Mörderin. Es ist unglaublich, wie viel Verantwortung Natascha Kampusch für den Täter übernimmt. Leider geschieht das fast immer: die von Gewalt Betroffenen übernehmen die Schuld. Für die präventive Arbeit bedeutet das, dieses Thema unbedingt im Vorfeld mit Mädchen und Buben zu besprechen. Die Verantwortung und die Schuld für Übergriffe und Gewalt liegt immer ganz allein bei der/dem Erwachsenen; er/sie macht Kinder nur glauben, sie seien schuld. Vielleicht kann durch Natascha Kampuschs Aussagen und den Berichten der Nachbarn und Arbeitskollegen, darüber, dass der Täter, „ der freundliche, hilfsbereite, höfliche Nachbar von nebenan war“, das Bild, das die Gesellschaft von Tätern/Täterinnen hat oder gerne hätte, etwas korrigieren helfen. TäterInnen sind keine „Monster“ – sie sind von außen betrachtet meist so unauffällig wie Herr Priklopil von allen beschrieben wurde – das macht es so schwer, sie zu erkennen und es macht es auch schwer, sich eindeutig zu ihnen zu verhalten. Auf der anderen Seite macht Kampusch uns bewusst, dass von Gewalt Betroffene nicht immer ängstlich, scheu und hilfsbedürftig in Erscheinung treten müssen. Jedenfalls hat sie die nach wie vor vorhandenen Bilder vom "grausamen Monster" und "für immer verschreckten Opfer" eindrücklich durcheinander gebracht. Speziell für Pädagoginnen und Pädagogen, die von Gewalt betroffene Kinder/Jugendliche oft eine zeitlang begleiten, ohne, dass die Gewalt bewiesen bzw. beendet werden kann, ist der "Pakt", den Natascha Kampusch bereits im Alter von 13 Jahren mit ihren "späteren Ich" eingegangen ist, eine bedeutende Information. Viele Mädchen und Buben, die (sexualisierter) Gewalt ausgesetzt sind, können erst als ältere Jugendliche oder Erwachsene über das sprechen, was war. Aber oft schon haben wir und andere, die im Gewaltschutzbereich tätig sind, Sätze gehört wie: "Die Gewissheit, dass meine Lehrerin mit geglaubt hätte, wenn ich in der Lage gewesen wäre, zu erzählen, was mir passiert ist, hat mir die Kraft gegeben, durchzuhalten. Ich wusste, dass der Zeitpunkt kommt, an dem ich stark genug sein werde." zitiert aus und nach: Interview mit Natascha Kampusch ORF "Thema spezial", 6. Sept. 2006