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Es gilt das gesprochene Wort!
Thüringer Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur
Christoph Matschie
Rede zur Eröffnung der Dauerausstellung
„Haft, Diktatur, Revolution. Thüringen 1949-1989“
- schriftliche Fassung für die Homepage der Stiftung Ettersberg -
(Rede gehalten am Mittwoch, 4. Dezember 2013, 11.30 Uhr,
Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße, Erfurt)
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Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht,
Mitglieder des Bundestages,
Mitglieder des Thüringer Landtages,
Vertreter des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien Dr. Thomas
Wagner,
Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatsicherheitsdienstes Roland Jahn,
Landesbeauftragter für die Unterlagen des Staatsicherheitsdienstes Christian Dietrich
Oberbürgermeister Erfurt Andreas Bausewein,
Prof. Dr. Hans-Joachim Veen,
Vertreter der Zeitzeugenvereine,
Damen und Herren,
auf die Stunde genau vor 24 Jahren besetzten Erfurter Bürgerinnen und
Bürger die Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit. Damit
gingen sie gegen die laufenden Aktenvernichtungen vor. Gleichzeitig forderten
sie die Auflösung des MfS. Die Erfurter Bürgerrechtler setzten mit der
Besetzung als erste in der DDR ein Zeichen. Anderen Städten war dies ein
Vorbild. Zehn Tage nach den Erfurter Ereignissen beschloss der Ministerrat
der DDR, die Staatssicherheit aufzulösen.
Mit der Besetzung des Komplexes ermächtigten sich die Bürgerinnen und
Bürger dieses Ortes. Damit erhielt die Andreasstraße eine neue Bedeutung: Es
ist ein Ort der Repression und es ist ein Ort des mutigen Widerstands.
Die meisten von Ihnen sind dabei gewesen und Sie werden sich erinnern, was
für eine schwierige Zeit nach der Wiedervereinigung begann. Gleichsam aus
dem Nichts musste ein anderes Land geschaffen werden. Die Überreste der
sozialistischen Planwirtschaft mussten in ein ganz anderes Wirtschaftssystem
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überführt werden. Die Bildungs- und Kultureinrichtungen des neuen Landes
wurden restrukturiert. Diese Prozesse waren für viele Thüringer hoffnungsvoll,
aber auch schmerzhaft. Sie liefen selten ohne Konflikte ab und forderten
unsere ganze Aufmerksamkeit.
In dieser Zeit wurde das Gebäude in der Andreasstraße weiter als
Untersuchungs-Haftanstalt genutzt. Die letzten Häftlinge verließen es im Jahr
2002. Nun stand das Gebäude leer. Es war ein gespenstischer, ein toter Ort.
Seine leeren Fenster blickten auf eine Stadt, die sich im Aufbruch befand.
Aber es war kein bedeutungsloser Ort. Zwischen 1952 und 1989 hatten hier
über 5000 politische Häftlinge des MfS gelitten. Das war nicht in
Vergessenheit geraten.
Im Jahr 2002 kamen erste Gerüchte auf, dass das ehemalige Gefängnis in
der Andreasstraße abgerissen werden soll. Mit einem Abriss drohte auch die
Erinnerung an das Leid der politisch Verfolgten verloren zu gehen. Ehemalige
Inhaftierte und engagierte Bürger waren alarmiert. Die Erfurter begannen, sich
für eine zukünftige Gedenkstätte stark zu machen. Es gab erste
Veranstaltungen, Führungen und Ausstellungen. Mit wenig Geld und viel
Einsatz etablierte sich der Komplex als neuer Erfurter Erinnerungsort.
Diese Entwicklung wäre ohne das ehrenamtliche Engagement vieler Thüringer
Bürger nicht möglich gewesen. Ich möchte an dieser Stelle den Mitgliedern
der „Gesellschaft für Zeitgeschichte e.V.“ und des Fördervereins „Freiheit e.V.“
für ihre Initiative danken. Ebenso danke ich der „Bezirksgruppe der
Vereinigung der Opfer des Stalinismus“ und dem „Verein Aufrecht“ für ihren
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Einsatz. Sie alle stehen für ein vorbildliches zivilgesellschaftliches
Engagement.
Die vielen Initiativen um die Erhaltung der Andreasstraße überzeugte auch die
Politik. Ich freue mich, dass das Thüringer Ministerium für Bildung,
Wissenschaft und Kultur einen großen Beitrag zum Ausbau der Gedenk- und
Bildungsstätte und zur Finanzierung der Dauerausstellung leisten konnte. Einen
erheblichen Beitrag leistete auch der Beauftragte der Bundesregierung für
Kultur und Medien. Dafür meinen herzlichen Dank. Die Umgestaltung des
Zellentrakts wurde vom TMBWK finanziert; die neue Dauerausstellung haben
TMBWK und BKM gemeinsam ermöglicht.
Der Ort allein spricht nicht. Das gilt auch für Gefängniszellen mit schweren
Türen. Selbst dieser Inbegriff der Unfreiheit bedarf der Erklärung. Das „WER?“,
das „WARUM?“, das „WIE?“ steht nicht an die Wände geschrieben. Wir
können die Beantwortung dieser Fragen auch nicht nur der Einfühlung und
Vorstellungskraft der Besucher überlassen. Daher sind die Berichte der
Zeitzeugen so wichtig für uns. Sie sind unersetzbar. Ich bin froh und dankbar,
dass mittlerweile viele Erfahrungsberichte vorliegen.
Da ist von den Zersetzungsmethoden des MfS zu lesen und von den
unwürdigen Haftbedingungen. Ehemalige Häftlinge haben bewegende Zeugnisse
abgelegt. Viele der ehemaligen Gefangenen berichten, wie schrecklich es war
„die Menschen am Domplatz zu hören, ohne Hoffnung zu haben, dort jemals
wieder hingehen zu dürfen.1“ Oder Horst Schwarz beschreibt das Gefühl, wie
es ist „nicht zu wissen, was mit nächsten Verwandten geschieht, die ebenfalls
verhaftet wurden.2“ 1976 schrieb die damals 18-jährige Verena Kyselka ihrem
inhaftierten Vater. Sie kündigte an, dass sie am Petersberg einen Drachen
steigen lassen will, damit er ihn durchs Fenster sieht. Der Brief der jungen
Frau hat ihren Vater nie erreicht. Erst später hat sie erfahren, dass seine
Zelle gar kein Fenster besaß, durch das er den Drachen hätte sehen können.3
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Solche Erinnerungen sind wichtig. Zusätzlich muss die Erinnerung aber immer
wieder am Ort des Geschehens anschaulich gemacht werden. Dabei helfen
Führungen mit Zeitzeugen und Gesprächsrunden. Dabei helfen auch
Ausstellungen wie die, die wir heute eröffnen. Ich kann mich an die Sorgen
erinnern, die sich viele ehemalige Inhaftierte um den Erhalt und die Nutzung
des Gebäudes gemacht haben. Ich bin sicher: Wir haben ein Konzept
gefunden, dass allen Betroffenen gerecht wird. Anhand der erlebten und
erlittenen Schicksale hier im Haus zeigt die neue Dauerausstellung „Haft,
Diktatur, Revolution. Thüringen 1949-1989“ die Geschichte der SED-Diktatur
und ihrer Überwindung. Damit gelingt es der Ausstellung, deutlich über das
hinaus zu gehen, wofür das Gebäude selbst steht: die unmittelbare
Unterdrückung durch das MfS einerseits und dessen Auflösung andererseits.
Mit der Ausstellung gewinnt die Andreasstraße als historisch-politischer
Lernort im Zentrum der Landeshauptstadt weiter an Bedeutung. Das war auch
ein Ziel, das die Historikerkommission in ihren Empfehlungen (2011) formuliert
hat.
Und um es klar zu sagen und um Befürchtungen zu entgegnen: Die Gedenkund Bildungsstätte Andreasstraße wird nicht zu einer Zentralisierung der
Erinnerung führen. Ein Kennzeichen der Thüringer Gedenkorte und Initiativen
ist die historisch gewachsene Vielfalt. Das hat auch die Historikerkommission
besonders hervorgehoben.
Wir bekennen uns zu dieser Vielfalt, die sich in der Arbeitsgemeinschaft des
Thüringer Geschichtsverbundes widerspiegelt. Ohne den Anspruch auf
Vollständigkeit zu erheben möchte ich nennen:
Das Grenzmuseum „Schifflersgrund“, das Deutsch-Deutsche Museum
Mödlareuth, das Grenzlandmuseum Eichsfeld in Teistungen, die Gedenkstätte
Point Alpha in Geisa, die ehemalige MfS-Haftanstalt im Torhaus in Gera, das
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Thüringer Archiv für Zeitgeschichte in Jena, die Geschichtswerkstatt Jena, die
Gesellschaft für Zeitgeschichte in Erfurt, Freiheit e.V., und nicht zuletzt die
Stiftung Ettersberg.
Diese unterschiedlichen Initiativen zeigen, dass wir viele Fragen an unsere
Vergangenheit haben. Das ist gut so, denn die Auseinandersetzung mit
unserer Vergangenheit ist keineswegs Selbstzweck oder nur etwas für
Historiker. Unsere Gedenkorte sind immer auch Prüfsteine für die Gegenwart,
in der wir leben. Anhand der Gedenkstätten können wir unsere Entwicklung
überprüfen. Sind wir auf dem richtigen Weg? Rechtssicherheit und
demokratische Verhältnisse scheinen heute selbstverständlich. Dem ist aber
nicht so! Es sind Werte, die immer wieder erstritten werden müssen. Das ist
manchmal anstrengend und unbequem. Aber genau das ist ein notwendiger
Bestandteil der Demokratie. Die SED-Diktatur hat einen Staat geschaffen, in
dem der Wille des Volkes nichts, oder nur wenig zählte. Der demokratische
Staat ist anders aufgebaut. Er ist kein Herrschaftsinstrument mit dem eine
Gruppe andere unterdrückt. Er ist ein Instrument der Bürger, mit dessen Hilfe
die Bürger selbst ihre Gemeinschaft organisieren. An diesen hohen
demokratischen Wert erinnern wir uns hier.
Anders ausgedrückt: Die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße hilft uns,
achtsam und sensibel gegenüber Machtmissbrauch und Willkür zu bleiben. Die
Ausstellung zeigt, dass wir uns engagieren dürfen, können und müssen, um
die Gegenwart besser zu gestalten. Ich erinnere mich noch gut: Am 60.
Jahrestag des Aufstands vom 17. Juni 1953 haben wir hier der Opfer
gedacht und den ehemaligen Freihof eingeweiht. Eine Woche später konnte
ich hier den Preisträgern des Schülerwettbewerbs der Stiftung Ettersberg
gratulieren. Das ist kein Zufall sondern zeigt den hohen Stellenwert, den die
Auseinandersetzung mit Geschichte in unserem Land hat. Im ersten Jahr ihres
Bestehens hat die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße ein vielfältiges
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Programm auf die Beine gestellt. Hier ist ein Ort der Begegnung und des
Gesprächs entstanden und ich bin sicher: Die neue Dauerausstellung wird
weiter dazu beitragen.
Doch, wie könnte es anders sein, die Planungen gehen schon weiter.
Nächstes Jahr begehen wir ein großes Jubiläum. Wir feiern 25 Jahre friedliche
Revolution. Die Stiftung Ettersberg wird hier in der Gedenk- und Bildungsstätte
Andreasstraße mit allen Mitgliedern des Thüringer Geschichtsverbundes ein
Bürgerfest ausrichten. Viele Vereine und Initiativen werden sich beteiligen und
ein reiches Spektrum bürgerschaftlichen Engagements zeigen. Wir alle sind
dazu herzlich eingeladen.
Das aus der vom Abriss bedrohten ehemaligen MfS-Haftanstalt heute die
Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße geworden ist, haben wir vielen
Menschen, Initiativen und Institutionen zu verdanken. Ich danke dem
Architekturbüro Ottmar Stadermann und der Projektgesellschaft
Andreassstraße mbH für die angenehme Zusammenarbeit. Ganz besonders
danke ich den vielen Zeitzeugen, der Arbeitsgruppe Andreasstraße, der
Stiftung Ettersberg, dem Aufbaustab des Hauses und der Agentur KOCMOC
aus Leipzig, die die Gestaltung übernommen hat. Mein ganz herzlicher Dank
gilt heute den Frauen und Männern, die genau vor 24 Jahren aus diesem Ort
der Unterdrückung einen Ort der Hoffnung und des Mutes gemacht haben.
Die heutige Eröffnung zeigt: Wir vergessen die Menschen nicht, die hier
Unrecht erlitten haben.
Ich wünsche der Andreasstraße viele interessierte Besucher, die bereit sind,
sich auf den Dialog mit der Vergangenheit einzulassen.
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1
Andrea Herz, Der Gefängnisbau Andreasstraße 37, S. 9
2
Horst Schwarz, Sieben Schritte zwischen Tür und Fenster, S. 20, 24
3
Barbara Sengewald, Einschluss, S. 151
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