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Antidiskriminierung nach EU-Recht und deutsches Recht
von Eberhard Eichenhofer, Jena
I.
Einleitung
Nach Art. 13 des Vertrages über die Europäische Gemeinschaft (EG-Vertrag) darf die
Europäische Gemeinschaft (EG) „geeignete Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen aus
Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der
Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu
bekämpfen“1. Auf dieser Grundlage verabschiedete der Rat die Richtlinien (RL) 2000/432 und
2000/783. Die erste („Anti-Rassismus-RL“) bezweckt_ die Gleichbehandlung aller Menschen
ohne Unterschied der Rasse und der ethnischen Herkunft, die zweite („RahmenRL“) erging
„zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in
Beschäftigung und Beruf“.
2002 beriet die Öffentlichkeit einen Gesetzes-Entwurf4 zur Umsetzung der Antirassismus-RL
in deutsches Recht. Er wollte das Schikaneverbot nach § 226 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)
um die in Art. 13 EG-Vertrag aufgeführten Diskriminierungsgründe erweitern und zugunsten
der
darin
aufgeführten
Gruppen
potentieller
Diskriminierung
ein
allgemeines
Benachteiligungsverbot bei Begründung, Ausgestaltung, Durchführung und Beendigung von
Verträgen über die Beschaffung von Waren und Diensten, Beschäftigung, Wohnung und
Bildung vorsehen (§ 319 a BGB-Entwurf (E)). Ferner sollte jede unmittelbare wie mittelbare
Diskriminierung wegen der inkriminierten Umstände (§ 319 b BGB-E) untersagt und bei
Vorliegen von auf Diskriminierungsumstände hindeutenden Tatsachen die widerlegbare
Vermutung der Diskriminierung begründet sein (§ 319 c BGB-E). Er erlaubte indes bei
sachlicher Rechtfertigung eine Differenzierung auf der Basis der inkriminierten Umstände
(§ 319 d BGB-E) und begründete schließlich Beseitigungs- und Schadenersatzansprüche bei
Diskriminierungen (§ 319 e BGB-E).
1
2
3
4
Mark Bell, Antidiscrimination Law, Oxford University Press, 2002, p.121 ss; Streinz, in ders., EUV/ EGV,
2003, Art. 13 EGV, Rn. 18 f.
Vom 29. Juni 2000 (ABl. L 180/22 vom 19.7.2000).
Vom 27. November 2000 (ABl. L 303/16 vom 2.12.2000).
Diskussionsentwurf des Bundesministeriums der Justiz vom 10.12.2001.
Dem Entwurf wurde in der Öffentlichkeit wie der Fachöffentlichkeit5 massive Kritik
entgegengebracht. Die Heftigkeit der Gegenreaktionen begründete die Sorge, dass das mit
dem Entwurf verfolgte Anliegen eher Schaden nehme, als daraus Nutzen erwachse. Diese
Schwierigkeiten sind jedoch europarechtlich unbeachtlich. 2003 lief die Umsetzungsfrist für
die beiden RLen – abgesehen von Sonderregeln wegen der Diskriminierungsgründe bei Alter
und Behinderung (bis 2006 umzusetzen) – ab, ohne dass ein neuerlicher Anlauf zu einer
umfassenden
Anti-Diskriminierungsgesetzgebung
unternommen
wurde.
Dieses
wäre
unbedenklich, falls bereits das geltende Recht den Anforderungen der RLen genügte (II).
Wäre dies jedoch zu verneinen, so ist zu erörtern, ob sich die Diskriminierungsverbote mit
den Freiheitsrechten – namentlich der Privatautonomie – vereinbaren lassen (III). Weiter ist
fraglich, in welcher Weise die Diskriminierungsverbote in deutsches Recht umzusetzen sind
(IV, V).
II.
Schutz vor Diskriminierungen nach geltendem Recht
1.
Geltendes Recht
a)
Verfassungsrecht
Beginnend mit dem Augsburger Religionsfrieden6 besteht in Deutschland eine gefestigte
Rechtstradition im Umgang mit religiösen, weltanschaulichen und landsmannschaftlichen
Minderheiten. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz (GG) verbietet jegliche Diskriminierung
aufgrund des Geschlechts, der Abstammung und Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, des
Glaubens, der religiösen oder politischen Anschauungen. Ferner gelten die Grundsätze:
„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG)
und „der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und
Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ (Art. 3 Abs. 2 Satz 2
GG). Diese Verfassungsgebote binden Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung als
unmittelbar geltendes Recht (Art. 1 Abs. 3 GG). Die genannten Gebote sind daher sowohl im
öffentlichen Recht – namentlich auch dem öffentliche Leistungsgewährung regelnden
5
6
Baer, ZRP 2002, 291; Bäuerle, Vertragsfreiheit und Grundgesetz, 2001; Johann Braun, Übrigens –
Deutschland wird wieder totalitär, JuS 2002, 424; Neuner, JZ 2003, 57; Picker, JZ 2002, 880; Schiek, in Rust
u.a., Die Gleichbehandlungsrichtlinie und ihre Umsetzung in Deutschland, 2003, 129, 138.
Dazu Stolleis, Reformation und öffentliches Recht in Deutschland, Der Staat 24 (1985), 51 ff.; Eberhard
Schmidt-Aßmann, in Isensee/Kirchof (Hg.), HdB Staatsrecht, 1987, Band 1 - § 24, nicht in der Anerkennung
unterschiedlicher Konfessionen und der Verankerung des Prinzips: Cuius regio – eius religio ein Fundament
des Rechtsstaats.
2
Sozialrecht – als auch im Privatrecht zu beachten.7 Die Diskriminierungsverbote und
Förderungsgebote wirken jedenfalls – nach der Lehre von der mittelbaren Wirkung der
Grundrechte über die
ausfüllungsbedürftigen
normativen Tatbestandsmerkmale der
Privatrechtsnormen – etwa dem Schikane-Verbot (§ 226 BGB), der Nichtigkeit sittenwidriger
Rechtsgeschäfte (§ 138 BGB), der deliktischen Schadenersatzpflicht für die vorsätzliche
sittenwidrige Schädigung (§ 826 BGB) oder das Gebot von Treu und Glauben (§ 242 BGB) auf die Privatrechtsordnung ein.
b)
Völker- und Europarecht
Darüber hinaus ist Deutschland vielfältig in die internationale Rechtsordnung einbezogen.
Daraus erwachsen Pflichten zum Schutz der Menschenrechte, insbesondere aufgrund der
beiden Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen (VN)8 über die bürgerlichen und
politischen Rechte sowie die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Auf der Ebene
der Vereinten Nationen gilt ferner das Anti-Rassismus-Abkommen,9 dem Deutschland
beigetreten ist und mit der Ratifikation Teil des deutschen Rechts wurde. Das
Übereinkommen Nr. 11110 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) verpflichtet
Deutschland
zur
Schaffung
einer
Arbeits-
und
Sozialrechtsordnung
frei
von
Diskriminierungen. Art. 14 EMRK untersagt bei dem Genuss der Konventionsfreiheiten jede
Diskriminierung wegen des Geschlechts, der Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, politischen
oder sonstigen Anschauung, nationalen und sozialen Herkunft, Zugehörigkeit zu einer
nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status.11 In Art. 21
der Grundrechtecharta der Europäischen Union (EU) sind Diskriminierungsverbote
formuliert, die sich an den in Art. 13 EG-Vertrag erfassten Tatbeständen wesentlich
orientieren
12
Die international anerkannten Diskriminierungsverbote sind auch in
Deutschland anzuwenden und durchzusetzen.
7
8
9
10
11
BVerfGE 89, 214, 232 ff; Claus-Wilhelm Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999; ders., AcP 200 (2000),
273, 295 ff.
Karl Doehring, Völkerrecht, 1999, § 20 Rn. 967, 987 f.: ius cogens; Kay Hailbronner, Der Staat und der
Einzelne als Völkerrechtssubjekt, in Graf Vitzthum (Hg.), Völkerrecht, 2001, S. 161, Tz. 247 ff.
Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vom 7.3.1966
(BGBl. 1969 II, 961), dazu Knut Ipsen, Völkerrecht, 1999, § 48 Rn. 21, Art. 2 dieses Abkommen verpflichtet
die Staaten zu aktiven Bekämpfung des Rassismus.
Vom 25.6.1958, BGBl. 1961 II, 97; Übereinkommen Nr. 111, in IAO (Hg.), Übereinkommen und
Empfehlungen 1919-1991, Band 1, S. 1103.
Vgl. Art. 1 Prot. Nr.12 zur EMRK, der ein generelles Diskriminierungsverbot formuliert (vgl. dazu MeyerLadewig, EMRK, 2002, Art. 14 Rn. 3 ff., 6 ff.).
3
c)
Historische Erfahrung
Darüber hinaus hat Deutschland im 20. Jahrhundert während der NS-Zeit, Diskriminierungen
aus rassischen, religiösen, weltanschaulichen Gründen, wegen einer Behinderung, des
Geschlechts oder der sexuellen Ausrichtung praktiziert. Auch in der DDR wurden Menschen
wegen ihrer Religion oder politischen Überzeugung gesellschaftlich geächtet und politisch
verfolgt. In Fortführung der unrühmlichen Tradition der „Fremdarbeiter“-Beschäftigung nach heutigen Maßstäben verfassungs- wie völkerrechtswidrige Zwangsarbeit13 - lebten aus
„Bruderstaaten“ stammende in der DDR Beschäftigte kaserniert und isoliert am Rande der
Gesellschaft. Das wiedervereinigte Deutschland hat also eine gefestigte leidvolle Erfahrung
mit vielfältigen Erscheinungen von Diskriminierung. Es gehört daher zum Grund-, weil
Gründungskonsens der Bundesrepublik Deutschland, allen Menschen – ohne Ansehen der
Person – die elementaren Menschen- und Freiheitsrechte zu gewähren und gewährleisten.
Deutschland hat also zur Thematik Diskriminierung einen klaren, eindeutigen Zugang:
Diskriminierungen sind die Herrschaftsinstrumente totalitärer Regime. Diesen ist die offene
Gesellschaft entgegenzusetzen, in der alle Menschen als Freie und Gleiche einander begegnen
und miteinander zusammenarbeiten sollen.
2.
Reicht der vorhandene Normenbestand zur Erfüllung des Richtlinienauftrages
aus?
a)
Das Bekenntnis zur Nichtdiskriminierung genügt nicht
Ausweislich ihrer Erwägungsgründe14 nehmen die beiden Richtlinien (Rlen) die genannten
internationalrechtlichen Gewährleistungen der Diskriminierungsverbote als gemeinsames
völkerrechtliches Fundament sämtlicher Mitgliedstaaten an, lassen es bei der Anerkennung
der darin enthaltenen abstrakten Rechtsgrundsätze jedoch nicht bewenden. Die RLen
präzisieren vielmehr den Tatbestand der Diskriminierung, untersagen jede unmittelbare und
mittelbare Diskriminierung. Sie gebieten den Schutz potentieller Diskriminierungsopfer vor
Belästigungen, regeln den Rechtsschutz, die Beweislastverteilung zum Nachweis einer
Diskriminierung, den Schutz vor Viktimisierung, die Unterrichtung der Allgemeinheit,
Einbeziehung von Sozialpartnern und Nichtregierungsorganisationen in die Verwirklichung
12
Hölscheidt, in Jürgen Meyer, Kommentar zur Charta der Grundrechte der EU, 2003, Art. 21 Rn. 27 ff.;
Matthias Mahlmann, in Rust, Anm. 5, 47, 52; Streinz, Anm. 1, Art. 13 EGV, Rn. 9.
13
4
der Diskriminierungsverbote und sehen deren administrative Kontrolle und wirksame
Sanktionierungen
bei
Verstößen
vor.
Die
RLen
setzen
also
Verletzungen
der
Diskriminierungsverbote voraus und entwickeln Maßnahmen für die Sanktionierung der
Normverletzung. Es genügt mithin nicht, dass sich die einzelnen Mitgliedstaaten zu den
vielen international anerkannten Diskriminierungsverboten förmlich bekennen.
14
Erwägungsgründe (3) RL 2000/43/EG; (4) RL 2000/78/EG.
5
b)
Die Pflichten im einzelnen
Die RLen gehen über diese Zielsetzung hinaus und verlangen „die Schaffung eines
allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung … im Hinblick auf die
Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten“.15 Die Staaten
sind danach angehalten, zur Sicherung der Gleichbehandlung aktive Maßnahmen gegen
einzelne Diskriminierungsakte zu ergreifen. Deshalb wird der Diskriminierungsopfern
gewährleistete Rechtsschutz ergänzt um Beteiligungsrechte für Verbände, Organisationen und
andere juristische Personen, die ein rechtmäßiges Interesse an der Einhaltung von
Diskriminierungsverboten haben. Diese sollen entweder stellvertretend für die Opfer oder mit
Billigung und im Zusammenwirken mit diesen Ansprüche geltend machen können.
Der Schutz vor Viktimisierung bedeutet, bei Wahrnehmung von Klagebefugnissen wegen
Diskriminierungen nicht gemaßregelt zu werden. Die Mitgliedstaaten haben die Berechtigten
am Arbeitsplatz über die geltenden Vorschriften und die ergriffenen Maßnahmen zu
unterrichten. Die zur arbeitsrechtlichen Normsetzung berufenen Betriebs- und Tarifpartner
sind durch die Mitgliedstaaten auf den Schutz vor Diskriminierungen zu verpflichten.
Nichtregierungsorganisationen die dem Schutz vor Diskriminierungen verpflichtet sind,
müssen durch die Mitgliedstaaten anerkannt und beteiligt und Verstöße gegen die Pflichten
zum
Schutz
vor
Diskriminierungen
wirkungsvoll
sanktioniert
werden.
Einzelne
Diskriminierungsakte können auch Schadensersatzleistungen an die Opfer umfassen. Die
Diskriminierungen aus den in Art. 13 EG-Vertrag genannten Gründen sind daher durch
rechtseigene Maßnahmen effektiv – d.h. durch Sanktionierung zu unterbinden.
c)
§ 75 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG)
Die in den RLen geforderten vielfältigen und differenzierten rechtlichen Garantien weist das
geltende deutsche Recht nur in Ansätzen auf. Für die Beschäftigten gilt zwar das allgemeine
Verbot der Diskriminierung nach § 75 BetrVG. Dessen Anwendbarkeit auf die Einstellung
von
Arbeitnehmern
ist
Betriebsverfassungsrecht
aber
keine
nicht
eindeutig16
Regelung
für
Diskriminierungsverbots.
15
Art. 1 RL 2000/43/EG; Art. 1 RL 2000/78/EG.
6
geklärt.
den
Fall
Außerdem
der
enthält
Verletzung
das
dieses
16
Alle – aber auch nur die – Beschäftigten: Fitting, BetrVerfG, 2002 (21. Aufl.), § 75 Rn. 10 f.; Richardi,
BetrVG, 2002 (8. Aufl.), § 75 Rn. 7; aA Galperin-Löwisch, BetrVerfR, § 75 Rn. 5; Zöllner, Gutachten 52.
DJT D 81 (auch Einstellung).
7
3.
Einzelne ausgearbeitete Diskriminierungsverbote
a)
Schutz behinderter Menschen
Weit gediehen ist in Deutschland der Schutz behinderter Menschen. In einem Volk, das zwei
Weltkriege erleiden musste, in deren Folge Millionen junger Menschen in ihrer
Erwerbsfähigkeit gravierend beeinträchtigt wurden, hat der Schutz und die Förderung
behinderter Menschen eine gefestigte Tradition.17Die im Sozialgesetzbuch IX (SGB IX)
niedergelegte Behinderten-Gesetzgebung18 setzt durch zahlreiche Bestimmungen19 die in der
RahmenRL getroffenen Schutzpflichten um.20
Danach sind Arbeitgeber mit mehr als 20 Beschäftigten gehalten, 5 %21 Arbeitsplätze mit
Schwerbehinderten zu besetzen. Darüber hinaus hat der Arbeitgeber unter den zu
beschäftigenden
schwerbehinderten
Arbeitnehmern,
Arbeitnehmer
mit
besonderen
Benachteiligungen bevorzugt zu berücksichtigen (Art. 72 SGB IX). Arbeitgeber, die dieser
Pflicht nicht nachkommen, schulden eine an das Intergrationsamt zu entrichtende
Ausgleichsabgabe. Deren Höhe hängt vom Maß der Unterschreitung der Beschäftigungsquote
ab. Schwerbehinderte Menschen erhalten Arbeitsentgelt ohne Anrechnung der ergänzend
gewährten Sozialleistungen (§ 122 SGB IX), sind von der Pflicht zur Mehrarbeit generell
ausgenommen (§ 124 SGB IX), erhalten Zusatzurlaub (§ 125 SGB IX) und dürfen wegen
ihrer Behinderung bei Beschäftigung und Ausbildung nicht benachteiligt werden (§ 81 Abs. 2
SGB IX). Sie können Beschäftigung, Weiterbildung und die behindertengerechte Gestaltung
von Arbeitsplätzen und Arbeitsorganisation verlangen (§ 81 Abs. 3 SGB IX). Arbeitgeberund Schwerbehindertenvertretung haben eine Integrationsvereinbarung abzuschließen,22
welche die Berücksichtigung der Behindertenbelange im Betrieb sichern und alle Einzelheiten
der behindertengerechten Regelung der Arbeit konkret normieren soll (§ 83 Abs. 2 SGB IX).
Die behinderten Menschen genießen Sonderkündigungsschutz (§§ 85 ff. SGB IX).
17
18
19
20
21
Michael Stolleis, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2003, 238 ff.; Zacher, Bd. 1, 2002, …
Dazu Klaus Lachwitz/Walter Schellhorn/Felix Welti (Hg.), SGB IX, 2002; Pitschas, SGb 2003, 65; Volker
Neumann, Handbuch Rehabilitation und Teilhabe, 2003.
Ulrike Davy, in Deutscher Sozialrechtsverband, Die Behinderten in der sozialen Sicherung, 2001; Moritz,
ZfSH/SGB 2002, 204 ff.
Wolfhard Kohte, Die Verantwortung für Prävention im Arbeitsleben von Arbeitgebern,
Rehabilitationsträgern und Integrationsamt, in: Gerhard Igl/Felix Welti/Dagmar Felix (Hg.), Gesundheitliche
Prävention im Sozialrecht, 2003, 107 ff.
Oder falls die Arbeitslosigkeit der Behinderten überdurchschnittlich hoch bleibt, ab dem 1.1.2003 der 6 %.
8
Das deutsche Behindertenrecht wird den in der RahmenRL getroffenen Anforderungen
weitgehend gerecht.23 Es enthält Regeln, welche den behinderten gegenüber den
nichtbehinderten Arbeitnehmern zwar Vorteile sichern; diese sollen aber die auf die
Behinderung zurückzuführenden Nachteile ausgleichen. Sie werden damit durch den in Art. 5
RahmenRL enthaltenen Förderauftrag legitimiert.
Man mag streiten, ob der Schutz der behinderten Menschen deren Beschäftigungschancen
förderlich ist. Es ist eine allgemeine und grundsätzliche Frage der Sozialpolitik, ob
Schutzregeln für typisch Benachteiligte diesen letztlich nützen oder – da sie den Arbeitgeber
belasten24 – den Zugang Benachteiligter zu Arbeitsplätzen erschweren.25 Die EG-rechtlichen
Anforderungen sind aber gewahrt. Der Rechtsschutz ist umfassend gewährleistet, die
Beweislast ist in § 81 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX dahin geregelt, dass den Arbeitgeber bei dem
objektiv begründeten Anschein einer Diskriminierung eines behinderten Menschen die
Nachweislast trifft, einen Beschäftigten nicht wegen seiner Behinderung zu benachteiligen.
Ein
Schutz
vor Viktimisierung ist
ebenso
gesichert, wie die
Mitwirkung der
Behindertenorganisationen im Rahmen des Integrationsamtes, dessen beratendem Ausschuss
sie anzugehören haben (§ 3 SGB IX).
Noch zu schaffen ist allerdings der Schutz Behinderter vor Belästigungen. Des weiteren ist
der Begriff der Behinderung des Gemeinschaftsrechts weiter als derjenige des deutschen
Rechts.
Hieraus
mögen
sich
weitere
Anpassungsnotwendigkeiten
des
deutschen
Behindertenrechts an den europäischen Rechtszustand ergeben. Sie berühren den
grundsätzlich bereits heute bestehenden Einklang von deutschen und EU-Recht jedoch nicht.
b)
Schutz vor rassischer und ethnischer Verfolgung
Für den Schutz rassisch Verfolgter musste Deutschland wegen seiner jüngeren Geschichte
besondere Regelungen aufweisen. In der Tat ist die Leugnung des Holocausts und die
Herabsetzung der „Juden“ als Gruppe nach § 130 Strafgesetzbuch (StGB) wegen
22
23
24
25
Silke Ruth Laskowski/Felix Welti, Positive Maßnahmen als Option: Integrationsvereinbarungen nach § 83
SGB IX als Lehrbeispiel?, in Rust/Däubler u.a., Anm. 5, 261, 277.
Umsetzungsprobleme sind allerdings weit verbreitet: Keyvan Danesch, Justitia und andere Blinde, in: DIE
ZEIT 9.10.2003, 20.
Zgl. Zu dieser Problematik BVerfG 18.11.2003 – 1 BvR 302/96 mit Anm. Eichenhofer, BB 2004, 47, 50 f.
Alternative ist die Entlastung des Privatrechts von Aufgaben sozialen Schutzes und deren Übertragung auf
Einrichtungen sozialer Sicherheit (grundlegend: Hans F. Zacher, Zur Anatomie des Sozialrechts, in ders.,
Abhandlungen zum Sozialrecht, 1993.
9
Volksverhetzung26 strafbar. Außerdem sieht das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) die
Entschädigung der wegen ihrer religiösen oder politischen Überzeugung während der NS-Zeit
Verfolgten vor. Aber das deutsche Recht kennt kein allgemeines Verbot rassistischer - d.h. an
äußerlichen Merkmalen geknüpfter - Zuschreibungen oder Unterscheidungen.27 Auch Art. 3
Abs. 3 Satz 2 GG verwirft nur eine rassistische Regelung oder Praxis als nichtig, sieht aber
keine weiteren Vorkehrungen gegen ihr Vorkommen und keinerlei Sanktionen bei ihrer
Verletzung vor.
c)
Religion
Auch hinsichtlich des Verbots der Diskriminierung wegen der Religion ist der Hinweis auf
das gedankliche Fundament von Religionsfreiheit gestattet, welches John Locke bereits
1685/6 mit seinem „Letter Concerning Tolerance“28 legte. Glaubensfreiheit erschöpft sich
danach nicht in dem Recht, einen Glauben zu haben, sondern umschließt das Recht, im
Einklang mit anderen den eigenen Glauben im öffentlichen Raum zu praktizieren. Freiheit der
Religion bedeutet seit- und daher, die Speise-, Arbeits- und Ruhe – sowie Bekleidungsgebote
der eigenen Religion zu befolgen und einzuhalten – einerlei, ob diese den Traditionen der
Christenheit, des Judentums, des Islam oder einer anderen Religion entsprechen. Das Gebot
der Achtung der religiösen Überzeugung eines jeden ist nach den Diskriminierungsverboten
des Gemeinschaftsrechts also nicht auf die Angehörigen der Mehrheitsreligion zu
beschränken.
4.
Gehalt gemeinschaftlicher Diskriminierungsverbote
a)
Der europarechtliche Auftrag
Auf dem Prüfstand des Europarechts verfangen die Bedenken gegen Diskriminierungsverbote
nach innerstaatlichem Recht freilich nicht. Ihr Inhalt liegt fest. Die RLen haben ein gefestigtes
Fundament in Art. 13 EG-Vertrag. Die in Deutschland vorherrschenden Bedenken bestehen
26
27
28
Eine Norm, die zentral rechtsextremistische und nazistische Propaganda und Verhaltensweisen poenalisiert:
Lencker, in Schönke-Schröder, StGB, 2001, 26 Aufl., § 130 Rn. 1 ff., 7 (Auschwitzlüge).
Guild, 29 (2000) ILJ 416, 418 immutable characterististics approach.
John Locke, Ein Brief über Toleranz, Englisch- Deutsch, 1996: “The care of souls cannot belong to the civil
magistrate” ,,because his power consists only in outward fora: but true and saving religion consists in the inward persuasion of the mind” (14); “all men know and acknowledge that God ought to be physically worshipped … Men, therefore, constituted in this liberty, are to enter into some religious society“ (54).
10
auch andernorts; dennoch nahmen es manche Gesetzgebungen anderer Staaten auf sich, die
Diskriminierungsverbote umzusetzen.
Die RLen gehen über den Stand der bereits seit Jahrzehnten anerkannten nationalen und
internationalen Diskriminierungsverbote hinaus, weil sie einen „allgemeinen Rahmen zur
Bekämpfung der Diskriminierung“29 aus den in Art. 13 EG-Vertrag aufgeführten Gründen
schaffen. Die Menschenrechte sollen also nicht durch einen primär permissiven Staat beachtet
werden. Die Mitgliedstaaten sollen durch die RLen vielmehr dazu gebracht werden, die
Gleichheit aller und damit Bedingungen der Möglichkeit zur Entfaltung der Menschenrechte
für alle zu schaffen und zu gewährleisten. Die RLen wenden sich damit an den Staat als den
zentralen gesellschaftspolitischen Akteur. Dieser wird nicht als Garant individueller, als
vorstaatlich gedachter natürlicher Freiheiten verstanden, sondern als der zur Sozialgestaltung
ermächtigte, wie berufene Sozialstaat angesprochen30und in zahlreichen Handlungsgeboten
höchst differenziert in die Pflicht genommen.
b)
Der Traditionsbestand
Deswegen werden die Mitgliedstaaten angehalten, sich aktiv schützend – Diskriminierungen
„bekämpfend“ – vor Menschen zu stellen, die hergebracht oder gegenwärtig Opfer sozialer
Ausgrenzung und Zurücksetzung geworden sind oder werden: Frauen, Angehörige religiöser
Minderheiten, Freidenker, Junge oder Alte, behinderte oder homosexuelle Menschen. Die
traditionell marginalisierten Gruppen zum tätigen Gebrauch der für alle gleichen
Menschenrechte durch Einsatz der in den RLen im einzelnen detailliert aufgeführten
Instrumente zu befähigen, ist deren Anliegen. Sie stellen sich damit gegen seit Jahrhunderte
tradierte geistige und soziale Orientierungen: Das Eigene gegen das Fremde, das Gesunde
gegen das Kranke, das Männliche gegen das Weibliche, das Rechtgläubige gegen das
Heidnische, das gottgefällige, im Dienst der Fortpflanzung der Menschheit stehende Eheleben
gegen die als Perversion geächtete sexuelle Ausschweifung zu setzen, dies entsprach bis in
die jüngste Vergangenheit den sozial üblichen Orientierungsalternativen.
c)
29
30
Universalität der Menschenrechte und Diskriminierungsverbote
Art. 1 RL 2000/43; Art. 1 RL 2000/ 78.
Mark Bell, Anm. 1,: „the social citizenship model will not only legitimise, but will also promote further integration“ (14), “anti-discrimination law has been a central element of social policy from the earliest stage of
European integration„ (32), Art. 13 EC „now forms a core component of the essential social objectives of the
Union“ (121).
11
Die RLen zielen gegen den Versuch, soziale Identifikation durch die soziale Exklusion
Marginalisierter zu stiften. Diese Bemühungen lassen sich als die unmittelbare Folgerung aus
der Universalität der Menschenrechte sowie einem angemessenen Verständnis von Gleichheit
verstehen, demzufolge Gleichheit stets das Absehen von tatsächlich vorhandener
Ungleichheit31 ist. Die Menschenrechte bezwecken nicht, die Gleichheit aller Gleichartiger zu
gewährleisten, sondern die Gleichartigkeit der Lebensbedingungen angesichts der
Verschiedenartigkeit
der
Menschen
zu
verwirklichen.
Sie
wollen
damit
einem
Gesellschaftsentwurf zum Durchbruch verhelfen, den der israelische Sozialphilosoph Avishai
Margalit32 als die „anständige Gesellschaft“ (decent society) beschreibt. Sie bezeichnet eine
Gesellschaft, in der die Menschen in ihrer von Natur und Kultur aus begründeten
Verschiedenheit gleichwertige gesellschaftliche und rechtliche Bedingungen vorfinden, die
allen ein Leben in Würde und ohne rassistische, sexistische, xenophobe, religiöse
Zurücksetzung ermöglicht. Dieser Ansatz widersteht jeder Permissivität gegenüber
Herabsetzungen von Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu marginalisierten Gruppen.
Der als „enabling state“ oder „activating welfare state“ agierende auf die Ermöglichung
konkreter Freiheiten zielende Staat33 wird mithin in die Pflicht genommen.
III. Diskriminierungsverbote und Freiheitsgarantien
1.
Der aktivierende sozial gestaltende = verhaltensändernde Staat
Der sich im „Kampf“ gegen Diskriminierungen mit Rechtsregeln an die soziale Gestaltung
der Gesellschaft begebende Staat möchte historisch überkommene Verhaltensmuster
überwinden. Er begibt sich daran, die Einstellungen und Werthaltungen der Menschen zu
verändern, welche traditionelle soziale Orientierungen darstellen. Der Staat wird damit zum
praeceptor einer neuen Sozialmoral. Ein solcher Versuch bedarf der Legitimation vor den
Menschenrechten. Matthias Mahlmann
34
betont zu Recht: “Ein grundsätzliches Problem des
Anti-Diskriminierungsrechts besteht darin, einerseits bestimmte Diskriminierungen nicht
zuzulassen, andererseits aber das zentrale Gebot gesellschaftlicher Freiheit nicht übermäßig
einzuschränken“. Der Streit um die Anti-DiskriminierungsRLen wird von deren Kritikern im
31
32
33
34
Radbruch, Rechtsphilosophie, 1932, „Gleichheit ist immer nur Absehen von vorhandener Ungleichheit unter
einem bestimmten Gesichtpunkt.“
Ders., Politik der Würde, 1997.
Eichenhofer, Was legitimiert sozialen Sicherheit morgen: Staat, Gleichheit oder Freiheit?, VSSR 2003, 57.
Ders., Gerechtigkeitsfragen im Gemeinschaftsrecht, Rust, Anm., 47, 56; Streinz, Anm. 5, Art. 13 EGV Rn.
23.
12
Namen der Freiheit geführt. Sie sehen sich als Opfer politischer Korrektheit und halten
deswegen die Meinungs- und Vertragsfreiheit durch die in den RLen enthaltenen
Diskriminierungsverbote für elementar gefährdet.35
a)
Meinungsfreiheit
Der Zusammenhang zwischen Meinungsfreiheit und dem Verbot der Diskriminierung wegen
der Rasse wird durch Erwägungsgrund (6) der AntirassismusRL beleuchtet. Darin heißt es:
„Die EU weist Theorien, mit denen versucht wird, die Existenz unterschiedlicher
menschlicher Rassen zu belegen, zurück. Die Verwendung des Begriffs‚ Rasse‚ in dieser
Richtlinie impliziert nicht die Akzeptanz solcher Theorien.“ Die RL sagt sich damit von den
von Gobineau und Chamberlain im 19. Jahrhundert postulierten Rasse-Vorstellungen als keinerlei Einsichten vermittelnde und daher nicht als „Theorien“ zu bezeichnenden
Fehlvorstellungen los. Die das Recht auf Verbreitung von Irrtümern, ja Unsinn
umschließenden,
weil
Kommunikation
eigentlich
erst
ermöglichenden
Kommunikationsgrundrechte – Meinungs-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit – werden damit
begrenzt, insoweit rassistische Äußerungen wegen ihrer dem sozialen Zusammenhalt
abträglichen Wirkungen geächtet und verboten werden. Eine solche Rechtssetzung setzt sich
dem Verdacht der latenten Freiheitsgefährdung aus. Dies erklärt, dass die Verbreiter
rassistischer Thesen bisweilen als Tabu-Brecher – Aufklärer! - oder als für sich lediglich die
Meinungsfreiheit in Anspruch nehmende Biedermänner aufzutreten pflegen.
b)
Vertragsfreiheit
Desgleichen sehen sich die auf Schutz potentieller Opfer von Diskriminierung bei
Begründung,
Ausgestaltung
und
Beendigung
von
Verträgen
zielenden
Benachteiligungsverbote dem Vorwurf ausgesetzt, mit der Vertragsfreiheit unvereinbar zu
sein. Wird diese wie in der deutschen, auf Carl Friedrich von Savigny zurückgehenden
Vorstellung als das Resultat zweier einander entsprechender Willenserklärungen und diese
selbst als eine dem einzelnen zustehende Willensmacht (Stet pro ratione voluntas. – Anstelle
der Vernunft stehe der Wille!) gedeutet, so erscheinen die RLen als unstatthafter Eingriff in
35
Anerkannt ist freilich, dass aufgrund der Treuepflicht ein Offizier der Bundeswehr, der während einer
Verwendung in den USA vor deutschen Offiziersanwärtern NATO-Verbündete schmäht, antisemitische
Parolen verbreitet und den Rassenmord an Juden während des NS-Regimes leugnet, für seinen Dienstherrn
selbst dann untragbar ist, wenn er dies außer Dienst bei einer privaten Zusammenkunft tut (BVerwG NJW
1991, 997).
13
die Entschließungsfreiheit. Statt die Menschenrechte zu verbreitern, gelten die Verbote
ihrerseits als schwerwiegende Menschenrechtsverletzung. Gibt es aus diesem Dilemma ein
Entkommen?
2.
Diskriminierungsschutz und Privatautonomie
Diese Deutung widerspricht den Absichten der RLgeber. Denn die RLen sollen die Chancen
auf Vertragsschluss für die potentiellen Opfer von Diskriminierung verbessern. Ob sie dies
auch können,36 wird von deren Umsetzung abhängen. Die RLen zielen nicht auf die
administrative Zuteilung von Gütern und Diensten, Wohnungen, Beschäftigung oder
Bildungsleistungen und stellen deshalb das Instrument des Vertrages auch nicht in Frage. Sie
bezwecken die Chancen zum Vertragsschluss für die vom sozialen Ausschluss potentiell
bedrohten Vertragspartner zu sichern. Wenn im Privatrecht die Chancen einer am
Rechtsverkehr benachteiligten Gruppe erhöht werden soll, so muss der bevorrechtigten
Gruppe notwendig ein Rechtsnachteil auferlegt werden. Freiheitssicherung im Privatrecht
mündet stets in eine Neuverteilung von Rechten und Lasten: Jede Ausweitung von Rechten
zugunsten einer Gruppe ist nur in dem Maße möglich, wie der ihr entgegengesetzten Gruppe
Rechte genommen werden.37
a)
Das savignyanische Vertragsmodell
Die aus dem savignyanischen Verständnis des Vertrages stammende Kritik beruht auf einem
Vertragsmodell, das seinen geistesgeschichtlichen Ursprung im deutschen Idealismus hat. Es
steht damit im Gegensatz zu den Vertragsthemen anderer europäischer Staaten. Freiheit wird
darin nicht praktisch und konkret als das Recht zum Handeln, sondern gedanklich – ideell als
Willensfreiheit des isolierten Einzelnen verstanden. Dieses Denken findet seinen
verfassungsrechtlichen Niederschlag und seine Entsprechung im Denken in negativen
Freiheiten (z. B. der negativen Koalitionsfreiheit). Sie legt die Annahme nahe, die
Vertragsfreiheit bedeutete im wesentlichen die Freiheit, einen Vertrag nicht zu schließen.
Diese ist aber für die Sinndeutung von Vertragsfreiheit nicht die entscheidende Dimension.
Denn nur in engen Ausnahmefällen vermag der einzelne mittels seiner rechtsgeschäftlichen
Freiheit rechtsgeschäftlich etwas allein bewirken.
36
Hierzu Thüsing, RdA 2003, 257.
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Die Einsicht – dass Vertragsfreiheit auf den Vertragspartner unabweisbar angewiesen ist, weil
sie von jenem abhängt – macht das französische Vertragsdenken weit klarer. In Art. 1134
Code Civil heißt es: „Les conventions légalement formées tiennent lieu de loi à ceux qui les
out faites.“ Diese Formulierung verdeutlicht, dass der Vertrag nicht einen außerrechtlichen –
gleichsam natürlichen – Gebrauch von Freiheiten darstellt, sondern vielmehr einen seinerseits
durch rechtliche Regeln gestalteter Akt privat(rechtlich)er Rechtsetzung darstellt. Die
deutsche Vertragstheorie ist daher international nicht anschlussfähig.
b)
Diskriminierungsverbot und Vertragsschluss
Die Diskriminierungsverbote haben ihren Ort nicht bei Bestimmung der Bedingungen
möglicher
individueller
Selbstentfaltung.
Diese
Frage
steht
im
Mittelpunkt
des
savignyanischen Ansatzes. Ihr Anliegen liegt in der Umschreibung der Bedingungen, unter
denen Verträge zustande kommen. Sie betreffen nicht „die Willenersklärung“, sondern das
„Zustandekommen des Vertrages“ – mithin die äußeren und äußerlichen Modalitäten des
Vertragsschlusses. Diesen Fragenkreis zu regeln, ist seit jeher Sache des objektiven
bürgerlichen Rechts. Dieses formuliert in den Bestimmungen des Vertragsrechts die
Wirksamkeitsvoraussetzungen von Vertragsschlüssen. Die Vertragsfreiheit ist deswegen nicht
primär als ein Abwehrrecht, sondern – was das französische Vertragskonzept verdeutlicht –
als ein privatrechtlich zu gestaltendes und ausgestaltetes Teilhaberecht zu begreifen - ganz
ebenso wie übrigens die Kommunikationsfreiheiten nicht primär Abwehr – sondern
Teilhaberechte sind. Die Vertragsfreiheit hat auch die Teilhabe aller an der Distribution von
Waren und Diensten, Beschäftigungen, Wohnraum und Bildungsangeboten zu sichern. Und in
diesem
Zusammenhang
haben
rechtliche
Bestrebungen
um
Chancengleichheit
marginalisierter Gruppen einen gesicherten Ort, weil eine deren Bedarfsdeckung sichernde
Funktion. Die Vertragsfreiheit wäre daher missverstanden, würde sie als ein Instrument zu
introvertierter Selbstentfaltung verstanden. Diese Art Vertragsfreiheit ist auf die
Testamentserrichtung, das Stiftungsgeschäft und die Auslobung – als den einzigen einseitig
wirksamen Rechtsgeschäften – beschränkt. Weit überwiegend sichert die Vertragsfreiheit –
ähnlich wie die Kommunikationsgrundrechte – den Prozess der autonomen Verständigung
Privater über die autonom zu setzenden Inhalte wechselseitig zu begründender und danach zu
erfüllender Rechte und Pflichten. Dieser Prozess wird durch die Diskriminierungsverbote
37
Schiek, in Rust, Anm. 5, 129, 138 ff.
15
nicht unterbunden, sondern er soll durch die zu schaffenden Maßnahmen erst eigentlich
gefördert werden, weil er auf die Beseitigung von Imparitäten zielt.
16
c)
Verletzen die Diskriminierungsverbote die Freiheitsrechte?
Die Diskriminierungsverbote der RLen können daher nur überzeugend im Namen der
Freiheitsrechte bekämpft werden, wenn der Vertragsschluss einseitig aus der Position des von
dem Verbot belasteten Partners betrachtet würde. Die Freiheitsrechte gewähren jedoch häufig
allen das Recht auf Selbstentfaltung in gesellschaftlicher Kooperation, welche nur durch die
Sicherung der gleichberechtigten Teilhabe aller gelingen kann. Freiheitsrechte umfassen
weder die Befugnis zur ostentativen Diskriminierung Marginalisierter, noch zur Verbreitung
notorischer, das soziale Einvernehmen in einer pluralistischen Gesellschaft unterminierender,
rassistischer Propaganda. Allerdings verlangen die Diskriminierungsverbote – im Sinne
praktischer Konkordanz – eine Auslegung, die sich auf die Untersagung manifester und
handgreiflicher Diskriminierung beschränkt. Wer den Freiheitsgebrauch um der Vermeidung
von Diskriminierungen beschränkt, trägt im Rechtsstaat die Begründungslast – nicht
umgekehrt.
IV. Umsetzung der Handlungsgebote
Es sollte daher bei der Umsetzung der RLen-Gebote und -Instrumentarien bedacht werden,
dass die Opfer potentieller Diskriminierung am ehesten geschützt werden, wenn die
Sanktionierung von Verbotsverstößen möglichst vielen unmittelbar einsichtig erscheint. Es
sollte also auch hier das Goethe-Wort gelten: „In der Beschränkung zeigt sich erst der
Meister.“ Der „Kampf gegen Diskriminierung“ sollte sich sämtlichen Anflügen
volkspädagogischer
Verkrampfung
geschichtsvergessener
Schulmeisterei
und
einem
prinzipienversessenem missionarischem Gestus enthalten. Dennoch bleibt manches durch
Gesetz oder Sozialpartner zu regeln: Das Benachteiligungsverbot ist für sämtliche in Art. 13
EG-Vetrag aufgeführte Diskriminierungsgründe zu formulieren, und zwar sowohl das Verbot
direkter wie indirekter Diskriminierung: jene als ostentative Zurücksetzung anderer, diese als
nicht-ostentative Maßnahme gleicher Wirkung. Ausnahmen für eine auf die in Art. 13 EGVertrag gestützte Differenzierung sind ebenso zu umreißen, wie klarzustellen ist, dass
Förderungsmaßnahmen zum Schutze potentiell Benachteiligter das Diskriminierungsverbot
nicht verletzen. Beweiserleichterungen sind vorzusehen, falls der auf Tatsachen zu stützende
Anschein der Diskriminierung vorliegt. Es geht dabei aber eher um die Auslotung von
Verantwortungssphären als um die Beweislastumkehr. Jede Partei trägt die Behauptungs- und
Beweislastumkehr für die ihrer Sphäre jeweils zugänglichen Informationen. Das sich der
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Diskriminierung erwehrende Opfer darf nicht gemaßregelt werden - genießt also Schutz vor
Viktimisierung -, die Öffentlichkeit ist über die zur Sicherung der Anliegen von AntiDiskriminierung
ergriffenen
Maßnahmen
zu
unterrichten,
Sozialpartner
und
Nichtregierungsorganisationen sind an der Verwirklichung der Anti-Diskriminierung zu
beteiligen, bei der Rechtsverfolgung sind den Betroffenen-Organisationen das Recht zur
advokatorischen Geltendmachung von Diskriminierungsverboten einzuräumen, wirksame
Sanktionen sind festzusetzen und Belästigungen zu unterbinden. Die Umsetzung dieser
Gebote bedarf – schon um rechtsstaatlichen Elementaranforderungen zu genügen - einer
gesetzlichen Präzisierung. 2005 hat Deutschland über den Stand der Anti-Diskriminierung an
die EG-Kommission zu berichten. Was wird dann wohl zu berichten sein?
V.
Braucht Deutschland ein Anti- Diskriminierungsgesetz?
Deutschland braucht aufgrund der RLen eine Anti-Diskriminierungspolitik, die über die
punktuelle Bekämpfung von Diskriminierungen einzelner Gruppen hinausgeht und
systematisch angelegt ist. Sicher ist der Schutz in Deutschland für behinderte Menschen weit
entwickelt – und er dürfte den strengen Maßstäben des Gemeinschaftsrechts weithin
standhalten.38 Aber für andere der in Art. 13 EG-Vertrag genannten Gruppen steht noch
Arbeit an. Wie steht es um die Nicht-Diskriminierung wegen des Alters39 oder der
geschlechtlichen Ausrichtung? Ist der Schutz vor rassistischer Diskriminierung im
Vertragsrecht nicht einer ausdrücklichen Regelung bedürftig? Fraglich ist aber: Wie sollte die
Regelung getroffen werden - in Form eines eigenen Anti- Diskriminierungsgesetzes oder in
Form einer Integration der Regelungsgebote in die verschiedenen Rechtsgebiete?
Zugunsten eines Anti-Diskriminierungsgesetzes spricht, dass die Umsetzung der RLen und
damit auch der Nachweis der RL-Konformität des deutschen Rechts gegenüber der
Kommission am einfachsten wäre. Wenn nicht die RLen selbst zum Ausgangspunkt der
gesetzlichen Regelung genommen werden, so könnte sich die Regelung an den im
Vereinigten Königreich, in Belgien oder in den Niederlanden getroffenen Bestimmungen
ausrichten und versuchen, diesen nachzufolgen. Ein Anti-Diskriminierungsgesetz erleichterte
38
39
Wenn man einmal vom Schutz behinderter Menschen gegen Belästigungen einmal absieht; Schiek. in Rust,
Anm. 5, 129, 146 bringt dies mit der Sonderstellung des Behinderten-Schutzes in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG in
Verbindung. Dieses Phänomen erklärt sich wohl vor allem aus der deutschen Geschichte des 20 Jahrhunderts,
die zweimal die Aufgabe mit sich brachte, Millionen behinderter Menschen in jungem Lebensalter in
Erwerbsleben und Gesellschaft einzugliedern.
Vgl. dazu Kuras und Linsenmeyer, in Sonderbeilage 5, RdA 2003, 11, 22.
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die Information und die Administration, sie höbe die Diskriminierung marginalisierter
Gruppen als gesellschaftlichen Missstand hervor und erlaubte die öffentliche Debatte auf der
Basis der in ihm getroffenen Regelungen.
Dieses Verständnis von der Funktion von Gesetzgebungsakten ist ganz und gar
angelsächsisch. Denn sie folgt der mischief-rule. Danach hat das Gesetz in erster Linie
gesellschaftliche Missstände – zu denen auch eine dem Gesetzgeber missfallende
Rechtsprechung gehören kann – abzustellen.40 Die mischief-rule widerspricht jedoch der
deutschen Gesetzgebungstradition. Das Maßnahmegesetz gilt ihr als Notbehelf; das Gesetz
soll dagegen die überzeitlich gültige Ordnung schaffen, die in sich schlüssig und von obersten
und allgemein gehaltenen Begriffen geleitet und getragen in die Vielgestaltigkeit von
Einzelregelungen ausmündet. In einem solchen Rechtssystem sind neue rechts- und
gesellschaftspolitische Anliegen besser im gegebenen Rahmen des „Rechtssystem“ zu
verwirklichen. Deshalb sind zivil-, arbeits- und sozialrechtliche Einzelregelungen nötig, die in
den jeweiligen Rechtsgebieten diskriminierenden Praktiken entgegenwirken. Außerdem ist
nur so gesichert, dass die jeweilig zuständigen administrativen Adressaten des
Diskriminierungsschutzes – die Verwaltungsbeamten und Richter – von den Anliegen der
Anti- Diskriminierung Notiz nehmen. Schließlich gebietet die Sozialpartner–Beteiligung und
diejenige von Nichtregierungsorganisationen, dass in den deren Wirken regelnden Normen
die Anliegen und Ziele des Anti-Diskriminierungsrechts verankert werden.
40
S.H. Bailey and M.J. Gunn, The Modern English legal System, 1991 (2nd ed.), p. 321 klassisch formuliert als
Grundsatz zur Gesetzesauslegung: „that for the sure and true interpretation of all statutes in general (be they
penal or beneficial, restrictive or enlarging of the common laws) four things are to be discerned and considered: - 1st. What was the common law before the making of the Act. 2nd: What was the mischief and defect
for which the common law did not provide. 3rd: What remedy the Parliament hath resolved and appointed to
cure the disease of the commonwealth. And, 4th. The true reason of the remedy; and then the officer of all
the Judges is always to make such construction as shall suppress the mischief, and advance the remedy, and
to suppress subtle inventions and evasions for continuance of the mischief“ (Heyolon’s case – 1584).
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