Transiente und stationäre Reizantworten des Hörsystems und ihre Nutzung in der Audiometrie Sebastian Hoth Univ.-HNO-Klinik Heidelberg Im Neuenheimer Feld 400 69120 Heidelberg Beitrag zur Strukturierten Sitzung „Hördiagnostik und Audiologie“ 39. wiss. Jahrestagung der DGMP Oldenburg, 11. 9. 2008 Übersicht Objektive Hörprüfmethoden sind mit einer beträchtlichen „Artenvielfalt“ seit geraumer Zeit fester Bestandteil der praktischen Audiometrie. Als wichtige Meilensteine bei der Einführung dieser Methoden seien die Arbeiten von Keidel und Spreng (1963), Gerull und Mrowinski (1972), Hecox und Galambos (1974), Kemp (1978 und 1979), Picton und Mitarbeitern (1987) sowie Aoyagi und Mitarbeitern (1994) genannt. Die Vielfalt der Methoden lässt sich im historischen Kontext weniger gut gliedern als in einer Systematik, die sich an der Art und dem Ursprungsort der zugrundeliegenden akustisch evozierten Signale, ihrer Latenzzeit und dem methodischen Vorgehen für ihren Nachweis orientiert. Der Art und dem Ort der Potentialentstehung entspricht die Einteilung in akustische und elektrische sowie periphere und zentrale Reizantworten, der Latenzzeit die Unterscheidung zwischen frühen und späten Antworten und dem methodischen Vorgehen trägt die Einteilung in transiente und stationäre Reizantworten Rechnung. Die otoakustischen Emissionen (OAE) sind messbarer Ausdruck der aktiven nichtlinearen Schallverarbeitung durch das Innenohr. Sie können durch einen transienten Reiz evoziert und als zeitabhängiges Signal im Gehörgang registriert werden (TEOAE, s.u.) oder als Verzerrung bei Stimulation mit zwei Dauertönen im Frequenzspektrum auftreten (DPOAE, s.u.). Herausragendes Merkmal der OAE ist ihre erhebliche interindividuelle Variabilität. Sie begrenzt bis heute die quantitative Verwertung der Messergebnisse. Die Stärke der OAE besteht in ihrer engen Korrelation zu praktisch allen klinisch relevanten Hörstörungen insbesondere im Kindesalter. Die akustisch evozierten Potentiale (AEP) spiegeln die an der Kopfhaut registrierbare elektrische Aktivität des Hörsystems bei der Verarbeitung akustischer Reize wider. Neben vielen wissenschaftlichen Erkenntnissen fördert die Messung dieser Potentiale im Wesentlichen die Antworten auf zwei diagnostisch bedeutende Fragen zutage: Welches ist das Ausmaß einer Hörminderung (Hörschwelle) und welche Teile des Hörsystems sind an ihr beteiligt (Topodiagnostik)? In Hinblick auf die Zuverlässigkeit dieser Antworten ist die Mächtigkeit der einzelnen Potentialgruppen sehr unterschiedlich, weswegen in der objektiven Audiometrie mehrere Methoden der „Elektrischen Reaktions-Audiometrie“ (ERA) friedlich koexistieren. Mess- und Nachweismethoden Der Nachweis von OAE und AEP beruht auf der Messung von Signalen kleiner Amplitude, die von starken (akustischen oder elektrischen) Störeinflüssen überlagert sind. Hierfür existieren geeignete und erprobte Signalverarbeitungsverfahren, die letztendlich nie einen D:\75876131.doc 1 exakten Messwert, sondern nur einen genäherten Schätzwert für die Amplitude des Nutzsignals liefern können. Diese Problematik pflanzt sich ohne Umwege auf die Genauigkeit der Reizantwortschwelle fort, die nicht durch das absolute Verschwinden der Reizantwort sondern durch ihre Relation zum Hintergrundniveau definiert ist. Daher ist ein möglichst niedriges Niveau des Restrauschens die wichtigste Voraussetzung für zuverlässige Ergebnisse, unabhängig von der diagnostischen Fragestellung und den Einzelheiten der für die Signalverarbeitung eingesetzten Algorithmen. Zur Messung dienen im Wesentlichen zwei Paradigmen: Die Rekonstruktion des Signals im Zeitbereich als verzögerte Reaktion auf den Reiz bzw. seinen Beginn und die Darstellung von Signal und Hintergrund im Frequenzbereich während der gleichzeitigen Einwirkung des akustischen Reizes1. Auch für die Auswertung existieren wenig mehr als zwei alternative Konzepte: die visuelle Identifizierung der Reizantwort mit Unterstützung durch das Kriterium der Reproduzierbarkeit und die maschinelle Erkennung der Antwort auf der Grundlage signalstatistischer Verfahren. Objektivierung der Hörschwelle Grundsätzlich kann aus der Messung evozierter Emissionen oder Potentiale niemals die Hörschwelle, sondern allenfalls die Reizantwortschwelle bestimmt werden. Als Ausgangsmaterial hierfür muss eine Serie von Ableitungen bei verschiedenen Reizpegeln vorliegen, die für die Bestimmung des Übergangs zwischen eindeutig vorhandenen und definitiv abwesenden Reizantworten geeignet ist. Die Schwelle kann mit etwas größerer Genauigkeit bestimmt werden, wenn der funktionale Zusammenhang zwischen Reizstärke und Antwortamplitude bekannt ist und eine numerische Anpassung dieser Funktion (an dessen Stelle meistens eine lineare Näherung gesetzt wird) an die Messwerte oder eine Extrapolation aus den Daten durchgeführt werden kann. Die Bestimmung der Hörschwelle aus der Reaktionsschwelle erfolgt dann mit Hilfe empirisch begründeter Regeln. Im Zusammenhang mit den OAE ist zu beachten, dass mit den gängigen Verfahren zur Messung der Reizantwort immer zwei Reize verwendet werden, die sich entweder im Pegel oder in der Frequenz unterscheiden. Die Definition der Schwelle erfordert aber eine eindeutige Zuordnung zu den Reizparametern. Für die TEOAE (transitorisch evozierte OAE) lässt sich dies dadurch erreichen, dass die Messung im sonst nicht üblichen „linear mode“ durchgeführt wird (Hoth et al. 2007), für die DPOAE (otoakustische Distorsionsprodukte) ist ein Ansatz beschrieben worden, der auf den „Wachstumsfunktionen“ und der „Pegelschere“ beruht (Janssen 2005). Die übliche „semi-quantitative Hörschwellenbestimmung“ erfolgt anhand von Einzelmessungen bei hohen Reizpegeln nach der empirischen Regel, dass die TEOAE dann und nur dann nachweisbar sind, wenn der Hörverlust bei mindestens einer der tonaudiometrischen Prüffrequenzen im Bereich von 1 bis 4 kHz weniger als 30 dB beträgt; für die DPOAE gilt die Regel analog mit einem kritischen Hörverlust von 50 statt 30 dB, gemessen bei der höheren der zwei Reizfrequenzen (Hoth 1996). Ein grundsätzliches Defizit der heutigen objektiven Audiometrie besteht darin, dass eine frequenzspezifische Hörschwellenbestimmung nur bei erwachsenen, wachen und aufmerksamen Patienten mit ausreichender Zuverlässigkeit möglich ist. Dies gelingt regelmäßig mit der CERA (cortical electric response audiometry), wohingegen die BERA 1 Der Bedarf für die weiter oben erwähnte Einteilung in transiente und stationäre Reizantworten entstand für die AEP erst in den letzten Jahren, als die perstimulatorischen auditory steady state responses (ASSR) zusätzlich zu den bereits gut eingeführten (und bis dahin niemals als „transient“ bezeichneten) poststimulatorischen AEP zunehmend an Bedeutung gewannen. D:\75876131.doc 2 (brainstem electric response audiometry) zwar im Schlaf durchgeführt werden kann, aber nur für den Hochtonbereich ausreichend zuverlässige Ergebnisse liefert. Möglicherweise erweisen sich die zu den ASSR gehörenden amplitude modulation following responses (AMFR) als geeignet, die Hörschwelle im Tieftonbereich bei schlafenden Kindern und Kleinkindern zu objektivieren. Die ersten klinischen Erfahrungen sind jedenfalls durchaus ermutigend, auch wenn sie die ursprünglichen hohen Erwartungen nicht bestätigen. Topodiagnostik Zur Gewinnung topodiagnostisch verwertbarer Aussagen werden die akustisch evozierten Signale des Hörsystems einerseits qualitativ dichotom und andererseits quantitativ differenziert ausgewertet. Aus der Lokalisation der Generatoren von OAE, FAEP, ASSR und SAEP entlang der Hörbahn ergibt sich zwanglos eine in der Praxis gut bestätigte Korrelation zu den einzelnen Signalen. Demzufolge sind für das Fehlen von OAE entweder eine Dämpfung im Mittelohr oder ein Funktionsdefizit des Innenohres, hier insbesondere der äußeren Haarsinneszellen, verantwortlich. Dysfunktionen im inneren Gehörgang oder Raumforderungen im Hirnstamm wirken sich auf die mit der BERA gemessenen Latenzen und Amplituden der FAEP sowie auf ihre Beziehung zu den Reizparametern aus. Charakteristisch für Hörstörungen mit weiter zentral gelegener Ursache sind unauffällige OAE und FAEP bei Veränderungen im Auftreten und in den Parametern (Schwelle, Latenzen, Amplituden) der ASSR und SAEP. Der topodiagnostische Wert der objektiven Audiometrie besteht darin, dass die Differenzierung zwischen konduktiven, sensorischen, neuralen und zentralen Störungen mit den subjektiven Methoden nur in sehr engen Grenzen möglich ist. Literatur Aoyagi M, Furuse H, Yokota M, Kiren T, Suzuki Y, Koike Y (1994) Detectability of amplitude-modulation following response at different carrier frequencies. Acta Otolaryngol (Stockh) Suppl 511: 23-27 Hecox K, Galambos R (1974) Brain stem auditory evoked responses in human infants and adults. Arch Otolaryngol 99: 30-33 Hoth S (1996) Der Einfluß von Innenohrhörstörungen auf verzögerte otoakustische Emissionen (TEOAE) und Distorsionsprodukte (DPOAE). Laryngol Rhinol Otol 75: 709-718 Hoth S, Polzer M, Neumann K, Plinkert P (2007) TEOAE amplitude growth, detectability, and response threshold in linear and nonlinear mode and in different time windows. Int J Audiol 46: 407-418 Janssen T (2005) Diagnostik des kochleären Verstärkers mit DPOAE-Wachstumsfunktionen. HNO 53: 121-133 Keidel WD, Spreng M (1963) Elektronisch gemittelte langsame Rindenpotentiale des Menschen bei akustischer Reizung. Acta oto-laryng (Stockh) 56: 318-329 Kemp DT (1978) Stimulated acoustic emissions from within the human auditory system. J Acoust Soc Am 64: 1386-1391 Kemp DT (1979) Evidence of mechanical nonlinearity and frequency selective wave amplification in the cochlea. 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