MEDIZIN AKTUELL Otoakustische Emissionen Aktive Schallaussendungen des Innenohres ermöglichen neue Wege der objektiven Hördiagnostik Thomas Lenarz Otoakustische Emissionen stellen eine aktive Antwort des Innenohres auf einen Schallreiz dar. Sie werden durch die mechanische Aktion äußerer Haarzellen erzeugt und entgegengesetzt zur Ausbreitungsrichtung des Schallreizes aus dem Innenohr über das Mittelohr und das Trommelfell in den äußeren Gehörgang abgestrahlt. Da die Aktion der äußeren Haarzellen für eine normale Innenohrfunktion erforderlich ist, andererseits die meisten Schwerhörigkeiten innenohrbedingt sind, kommt der Messung otoakustischer Emissionen eine äußerst große klinische Bedeu- B is vor einigen Jahren galt das Innenohr als ein rein passives Sinnesorgan, das nach der Wanderwellentheorie (1) den Schall im Innenohr nach einzelnen Frequenzen auftrennt. Dies geschieht ähnlich der am Sandstrand auslaufenden Wasserwellen, wobei die hohen Frequenzen sich näher am Steigbügel, tiefe Frequenzen näher an der Schneckenspitze mit einem Amplitudenmaximum abbilden. Diese passive Wanderwelle vermochte jedoch nicht die hohe Empfindlichkeit, die große Dynamikbreite und das gute Frequenz- und Zeitauflösungsvermögen des Innenohres zu erklären. Es wurde deswegen bereits 1948 von Gold (3) aufgrund theoretischer Berechnung ein aktiver Verstärkungsmechanismus im Innenohr gefordert. 1970 wurden von Kumpf und Hoke (5) Schallphänomene im äußeren Gehörgang registriert, die sich auf aktive Schallaussendung des Innenohres zurückführen ließen. 1978 gelang erstmals Kemp (4) der Nachweis sogenannter cochleärer Echos, die auf einen kurz dauernden Schallreiz hin auftreten und mit empfindlichem Meßmikrophon registriert wurden. Diese Otoakustischen EmisA 2168 - tung zu. Das objektive, nicht invasive Verfahren erlaubt es zum allerersten Mal ein schnelles und sicheres Hörscreening bei Neugeborenen und Kleinkindern, ein Monitoring der Innenohrfunktion bei ototoxischer Medikation und eine Früherfassung des vulnerablen Innenohres bei Lärmexposition zu diagnostizieren. Die otoakustischen Emissionen besitzen zusätzlich topodiagnostische Bedeutung zur Differenzierung cochleärer und retrocochleärer Hörstörungen, indem sie eine Lücke im diagnostischen Spektrum objektiver Hörprüfmethoden schließen. sionen (OAE) stellen eine aktive Energieaussendung des Innenohres dar und belegen den von Gold geforderten aktiven Verstärkungsmechanismus des Innenohres. Damit war ein neues Meßverfahren gefunden, das erstmals eine direkte, objektive und nicht invasive Funktionskontrolle des Innenohres erlaubt. Da die meisten Schwerhörigkeiten im Innenohr lokalisiert sind, kommt der Methode eine große klinische Bedeutung zu. 1. Otoakustische Emissionen als Korrelat der normalen Innenohrfunktion Durch die Fortschritte der modernen Innenohrforschung können die elementaren Vorgänge der OAE auf der Ebene der Hörsinneszellen erklärt werden (10, 12). Der über den äußeren Gehörgang, das Trommelfell und die Gehörknöchelchenkette Hals-Nasen-Ohrenklinik (Direktor: Prof. Dr. med. Thomas Lenarz) der Medizinischen Hochschule Hannover (32) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 33, 19. August 1994 dem Innenohr zugeleitete Schallreiz löst im flüssigkeitsgefüllten Innenohr die Wanderwelle aus. Dadurch kommt es zu einer Auslenkung der Basilarmembran, auf der die Sinneszellen des Innenohres, die sogenannten Haarzellen, sitzen (Abbildung la). Sie haben an ihrem oberen Ende haarähnliche Fortsätze, sogenannte Stereozilien. Bei den Haarzellen unterscheidet man, bezögen auf ihre Lage zur äußeren Schneckenwand, zwischen äußeren Haarzellen (ÄHZ) und inneren Haarzellen (IHZ). Bei Auslenkung der Basilarmembran durch den akustischen Reiz werden die Stereozilien umgebogen. Durch Ioneneinstrom bildet sich ein Rezeptorpotential mit Freisetzung von Transmitterquanten in den synaptischen Spalt zur Auslösung eines Aktionspotentials an den ansetzenden afferenten Hörnervenfasern (Abbildung lb). Gleichzeitig kommt es zu einer aktiven reizsynchronen Bewegung der äußeren Haarzellen wahrscheinlich durch ihre in der Zellmembran gelegenes Aktomyosin-Filament-Skelett, das ihnen motorische Eigenschaften verleiht (12). Der genauere Mechanismus der Bewegung äußerer Haarzellen ist nicht bekannt. MEDIZIN AKTUELL Vermutet werden unter anderem durch Ladungsverschiebungen, ähnlich einem Kondensator, ausgelöste Veränderungen der molekularen Struktur. Diese Bewegungen verlaufen in Phase mit dem akustischen Reiz. Dadurch wird die Wanderwelle deutlich verstärkt und gleichzeitig die Auslenkung der Basilarmembran scharf begrenzt (Abbildung 2). Nur am Ort der maximalen Auslenkung werden die wesentlich weniger empfindlichen inneren Haarzellen ebenfalls erregt, die für den eigentlichen bewußten Hörvorgang, das heißt die Umsetzung akustischer Reize in elektrische Impulse, die über die afferenten Hörnervenfasern zur zentralen Hörbahn weitergeleitet werden und dort auf ihren Bedeutungsinhalt hin analysiert werden, verantwortlich sind. Die Tätigkeit der äußeren Haarzellen besteht also darin, das Ohr für ankommende Schallreize empfindlicher zu machen und die Trennschärfe zu erhöhen und damit Tabelle 1: Formen der Otoakustischen Emissionen 1. Spontane OAE (SOAE) treten ohne akustischen Reiz ständig auf 2. Evozierte OAE (EOAE) werden durch einen akustischen Reiz ausgelöst und unterhalten a) transiente EOAE (TEOAE): treten nach einem Kurzzeitreiz (z. B. Click) auf b) Distorsionsprodukte (DP-OAE): treten als Interferenztöne auf, wenn das Ohr mit zwei Sinusdauertönen unterschiedlicher, jedoch eng benachbarter Frequenz gereizt wird. die inneren Haarzellen adäquat anzuregen. Die mechanische Aktivität der äußeren Haarzellen stellt die Energiequelle für die OAE dar. Durch die verstärkte aktive Auslenkung der Basilarmembran wird eine Flüssigkeitswelle im Innenohr erzeugt, die in umgekehrter Richtung zur akustisch in- Abbildung 1: a) oben) Schema des Innenohres mit Basilarmembran und den darauf sitzenden Haarzellen. Die Hörsinneszellen weisen am apikalen Ende haarähnliche Fortsätze, sog. Stereozilien auf (a), die bei Auslenkung der Basilarmembran durch den akustischen Reiz reizsynchron abgebogen werden (b). B) rechts) Die über eröffnete lonenkanäle einströmenden Kaliumionen führen zu einer Depolarisation der Zelle und zur Freisetzung von Transmitterquanten in den synoptischen Spalt. In der afferenten Hörnervenfaser führt dies zum Aufbau eines Aktionspotentials. (aus Boenninghaus, 1993) Ablenkung —0.K+ Endolymphe I/ /IIIIi Perilymphe Depolarisation Ca++ Transmittervesikel Synaptischer Spält Generatorpotential Nervenfaser duzierten Wanderwelle zum Steigbügel läuft. Die dadurch in Schwingungen versetzte Gehörknöchelchenkette und das Trommelfell strahlen diese Energie in Form von Schallwellen in den äußeren Gehörgang ab, wo sie mit Hilfe von empfindlichen Meßmikrophonen registriert werden können. Da die aktive Bewegung der äu- ßeren Haarzellen den akustischen Reiz nachahmt, besitzen die OAE einen dem akustischen Reiz vergleichbaren Frequenzgehalt, erscheinen jedoch aufgrund der Laufzeit des akustischen Reizes bis zum Innenohr, der Wanderwelle, der Verarbeitung in den äußeren Haarzellen und der zurücklaufenden Welle mit einer Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 33, 19. August 1994 (33) A-2169 MEDIZIN AKTUELL Abbildung 2: Aktive Wanderwelle undd otoakustische Emissionen. Durch die motorische Aktivität der äußeren Haarzellen wird die passive (gestrichelte Kurve), allein durch den akustischen Reiz ausgelöste Wanderwelle erheblich verstärkt und verschärft (aktive Wanderwelle, durchgezogene Kurve). Als Folge dieser zusätzlichen Energiezufuhr kommt es zu einer retrograden Flüssigkeitswelle, die die Gehörknöchelchenkette und das Trommelfell zu Schwingungen mit einer Intensität unterhalb der Hörschwelle anregt. Sie können im äußeren Gehörgang als otoakustische Emissionen registriert werden (modifiziert nach 10). Amplitude (linear) .3Pa - - .3Pa 1 4msi 16 IC Mode° NonLin 20 dB Response 12 Noise Limit 5.2MPa (peak) 48.3dB No.Lo 260 No.Hi 141 ./. No.Lo 64 % Level 37.5 dB Response Cochlear Response Echo 23.0 dB Repro 98 % A-B 4.3 dB - .5MPa (28dB) 10 8 6 4 mm Abbildung 3: Evozierte OAE eines normalen Innenohres. Sie treten mit einer Latenz bis zu 20 ms auf (Diagramm unten). Das Amplitudenspektrum (Diagramm rechts oben, nicht ausgefüllte Fläche unter der oberen Kurve entspricht der Emission, die schwarz ausgefüllte Fläche dem Störgeräusch im äußeren Gehörgang) weist Frequenzen zwischen etwa 500 und 6000 Hz auf, was dem Frequenzgehalt des anregenden Clickreizes entspricht (Diagramm links oben). Stimulus Peak 89 dBspl Stabil 86 % Test Time 1 Min. 8 secs File Number - - .5MPa 93072615.DTA No. of files stored = 182 OMS Tc /2 Phase Abstand vom Stapes 20 Cain 0.0dB 7t Basis --I> IL088 Otodynamic Analyser Patient MM Ear right Date 26/07/1993 U2.9 Stimulus CLIKN 2000 Hz v. Bekesy Wanderwelle und Einhüllende 1 2 zeitlichen Verzögerung. Je nach Frequenz beträgt diese Latenz bis zu zwanzig Millisekunden (Abbildung 3). Diese evozierten OAE stellen somit ein physiologisches Korrelat des normal funktionierenden Innenohres dar. Sie weisen eine große individuelle Variabilität, jedoch eine gute intraindividuelle Stabilität auf. Stimulus 1 Effekt des cochlären Verstärkers 10ms Neben diesen evozierten OAE kommen bei etwa 30 Prozent aller normalhörenden Personen auch spontane OAE vor. Sie treten ohne akustische Anregung meistens permanent mit individuell sehr konstanter Frequenz und Amplitude auf. Man spricht daher auch vom Fingerabdruck des Innenohres. Als Mechanismus werden hauptsächlich überaktive äußere Haarzellen diskutiert, die ähnlich, wie bei einem Oszillator, sich über eine Rückkopplungsschleife ständig selbst stimulieren (11). 20ms 2. Meßtechnik der OAE OAE lassen sich am einfachsten durch verschiedene akustische Kurzzeitreize auslösen (4). Unter Verwendung eines Klickreizes, der ein breites Frequenzspektrum zwischen etwa 100 und 6000 Hz aufweist, wird das Innenohr kurzfristig breitbandig angeregt. Die Antwort eines gesunden Innenohres tritt mit einer Latenz von 2 bis 20 ms auf und besteht ebenfalls aus einem breiten Frequenzgemisch (Abbildung 3). Die hochfrequenten Anteile treten bereits nach wenigen ms auf, während die tieffre- A-2170 (34) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 33, 19. August 1994 quenten Anteile eine wesentlich längere Latenz aufweisen. Dies kann durch die unterschiedlichen Laufzeiten der einzelnen Frequenzen in der Cochlea bis zum Erreichen des Wanderwellenmaximums erklärt werden. Die tiefen Frequenzen müssen einen längeren Weg bis zur Schneckenspitze zurücklegen, während die hohen Frequenzen sich stapesnah abbilden. Bei Verwendung von frequenzspezifischen Kurzzeitreizen (Tonburst) kommt es zu einer frequenzselektiven Anregung der Cochlea. Das Spektrum der OAE umfaßt daher nur einen schmalen Bereich mit einem Maximum bei der anregenden Frequenz. Dadurch ist eine frequenzspezifische Aussage zur Funktion des Innenohres möglich. OAE lassen sich auch durch Dauerschallreize auslösen. Wird das Innenohr mit zwei eng benachbarten Sinusdauertönen simultan beschallt, treten neben den dadurch ausgelö- MEDIZIN AKTUELL Abbildung 4: Meßsystem für otoakustische Emissionen im Schema. Die Gehörgangssonde enthält einen miniaturisierten Lautsprecher zur Erzeugung des akustischen Reizes sowie ein hochempfindliches Meßmikrophon zur Registrierung der OAE. Das Signal wird anschließend verstärkt, gemittelt und nachbearbeitet. Die Darstellung erfolgt wie in Abbildung 3 gezeigt (nach Lenarz, 1992). sten Emissionen zusätzlich Interferenztöne, sogenannte Distorsionsprodukte (DP-OAE) auf, die nicht im Schallreiz enthalten sind und aktiv vom Innenohr erzeugt werden (11). Sie geben Auskunft über den Funktionszustand des Innenohrbereiches, der von den beiden ausgesandten Tönen umgrenzt wird, und erlauben damit auch eine annähernd frequenzspezifische Messung. Eine Zusammenstellung aller OAE-Formen findet sich in Tabelle 1. Das Herzstück des Meßsystems stellt eine Gehörgangssonde dar, die schalldicht abschließt (Abbildung 4). Abbildung 5: Topodiagnostik von Hörstörungen mit Hilfe der OAE im Verbund mit anderen objektiven Hörprüfmethoden (nach Lenarz, 1992). Schall- I leitung Mittelohr Schalltransformation rew Impedanzaudiometrie Innenohr OAE ECochG AP- I leitung A-2172 Hirn- [4.. Hörnerv stam ECochG I BERA In ihr befinden sich ein kleiner Schallgeber (bei den Distorsionprodukten zwei Schallgeber) zur Erzeugung des akustischen Reizes und ein hochempfindliches Meßmikrophon zur Registrierung der OAE sowie zur Kontrolle des akustischen Reizes. Die Einzelmessung wird mehrfach wiederholt, die Einzelantworten werden gemittelt (Averaging), um das Rauschen in Form von Umgebungslärm zu reduzieren und dadurch den Signal-Rauschabstand zu verbessern. Die OAE werden sowohl im Zeitverlauf als auch nach Fourier-Transformation im Frequenzspektrum dargestellt. Berechnet werden zusätzlich die Gesamtamplitude sowie der Kor- SignalAnalyse BERA I Hör- I cortex MLRA I CERA relationskoeffizient von zwei Teilmittelwerten, um den Grad der Übereinstimmung und damit die Zuverlässigkeit zu überprüfen. Ein Korrelationskoeffizient > 50 Prozent zeigt an, daß OAE vorhanden sind und das Innenohr im getesteten Frequenzbereich funktionstüchtig ist. 3. Klinische Anwendungen 3.1 Hörscreening Hörvermögen und Sprachentwicklung sind untrennbar miteinander verbunden. Je früher eine (36) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 33, 19. August 1994 Schwerhörigkeit erkannt wird, um so größer sind die Chancen für das Kind, durch eine geeignete und rechtzeitig eingeleitete Therapie eine möglichst normale Sprachentwicklung zu erreichen. Mehr als 95 Prozent aller kindlichen Schwerhörigkeiten sind im Mittel- oder im Innenohr lokalisiert. Da das Innenohr bereits bei der Geburt voll funktionstüchtig ist, können OAE bei Neugeborenen, zum Beispiel im Postprandialschlaf abgeleitet werden. Eine Beeinflussung durch Sedativa ist nicht bekannt. Sind OAE vorhanden, kann mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine für die Sprachentwicklung relevante Innenohrschwerhörigkeit ausgeschlossen werden. Lediglich die seltenen retrocochleären Hörstörungen mit Sitz im Hörnerven oder der zentralen Hörbahn würden normale OAE aufweisen und damit dem Nachweis entgehen. Die OAE fehlen auch bei Schalleitungsschwerhörigkeiten, zum Beispiel bedingt durch Fruchtwasserreste, verdickte Mittelohrschleimhaut oder Paukenergüsse. Deren Ausmaß erreicht jedoch selten mehr als 30 dB, so daß die Sprach- MEDIZIN AKTUELL entwicklung dadurch allenfalls verzögert, nicht jedoch erheblich gestört würde. Sie lassen sich zudem einfach durch Otoskopie und Tympanometrie aufdecken. Innenohrschwerhörigkeiten unterschiedlichen Ausmaßes bis hin zur Taubheit treten mit deutlich erhöhter Inzidenz auf bei Kindern, die einen oder mehrere Risikofaktoren aufweisen (Tabelle 2). Fehlen otoakustische Emissionen, kann eine für die Sprachentwicklung relevante Schwerhörigkeit durch die sich anschließende weiterführende audiologische Diagnostik mit Hilfe von Tympanometrie und Hirnstammaudiometrie geklärt werden. Die OAE stellen also eine Screening-Methode 0,25 0 5 1 Stimulus 0.3Pa 0,25 0,5 Stimulus 2 4 , 20 o- 40 -.3Pa 4ms 20dB 0 60 80 100 dB HL .5MPa (28dB) ■• 10ms OMS 2 4 8 kHz 20- 20 - Response 60 0 20 dB 44 0, , 6kHz 100 0.5mPa 120 dB A 10ms dar, die gegenüber den bisher verfügbaren Methoden deutliche Vorteile aufweisen. Sie lassen sich bereits bei Neugeborenen sicher ableiten, sind nicht vigilanzabhängig, weisen keine pharmakologischen Einflüsse auf, testen die für die Diagnostik der Innenohrschwerhörigkeit relevanten Strukturen, lassen sich nichtinvasiv mit einem geringen zeitlichen Aufwand messen und stellen ein objektives Meßverfahren mit eindeutig definierten Auswertungskriterien dar. Dies wird durch entsprechende klinische Studien belegt, die im Vergleich mit der Hirnstammaudiometrie eine sehr geringe Rate falsch positiver Befunde (OAE vorhanden, obwohl Schwerhörigkeit besteht) nachweisen konnten (9). Mittlerweile wurden in 20ms Abbildung 6: OAE bei cochleärer und retrocochleä rer Schwerhörigkeit a) oben) OAE bei Hochton-Innenohrschwerhörigkeit oberhalb 2 kHz im Tonaudiogramm. Im Amplitudenspektrum der OAE fehlen die hochfrequenten Anteile, da hier der innenohrbedingte Hörverlust mehr als 30 dB beträgt. b) links) OAE bei Hirnstammtumor. Trotz des Hörverlustes von 70 dB über alle Frequenzen im Tonaudiogramm sind die OAE vorhanden, da die Haarzellen intakt sind und die Schädigung zentral vom Innenohr liegt (nach Hoth u. Lenarz, 1993). dy 0 5mPa OMS • 4 - .5MPa 0 80 Response 20- .3Pa- 40 - 0.3Pa- 8 kHz MO. 0 20ms den Vereinigten Staaten die OAE als Screening-Methode der Wahl für alle Neugeborenen landesweit vom National Institute of Hearing and other Communication Disorders (NIHCD) empfohlen. Dies ist angesichts einer Rate von drei schwerhörigen Neugeborenen pro tausend Geburten auch für hiesige Verhältnisse zu überlegen. Den HNO-Ärzten wächst daraus eine neue wichtige Aufgabe zu. 3.2. Hörschwellenbestimmung und Begutachtung bei Erwachsenen Die meisten Schwerhörigkeiten sind Innenohrschwerhörigkeiten als Folge einer Schädigung der äußeren Haarzellen. Sind die äußeren Haar- zellen defekt, können keine OAE im Innenohr erzeugt werden. Bei einer Funktionseinschränkung können bei geringem Hörverlust bis zu 30 dB OAE mit verminderter Amplitude evoziert werden. Zur Auslösung sind weit überschwellige Reize erforderlich, eine eigentliche Hörschwellenbestimmung kann daher nicht vorgenommen werden. Die wesentliche Aussage beschränkt sich auf das Vorhandensein ( = Hörschwelle besser als 30 dB) oder Nichtvorhandensein ( = Hörschwelle schlechter als 30 dB). Damit ermöglicht die Methode eine qualitative Beurteilung der Funktion des Innenohres. Die notwendige Voraussetzung dafür ist eine intakte Schalleitungskette des Außenund Mittelohres. Daher ist eine ohrenärztliche Untersuchungvor Durchführung der Messung unerläßlich. Obwohl eine quantitative Bestimmung der Hörschwelle nicht möglich ist, kann auch beim Erwachsenen eine relevante Innenohrschwerhörigkeit ausgeschlossen wer- Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 33, 19. August 1994 (37) A-2173 v••·•••" AKTUELL den. Anhand des Frequenzspektrums der OAE nach Klickreizung, genauer durch Anwendung von Sinusbursts, verschiedener Frequenz oder mit Hilfe der Distorsionsprodukte, kann eine Abschätzung des Hörschwellenverlaufes im Tonaudiogramm vorgenommen werden (4). Aus Bereichen mit einer Hörschwelle besser als 30 dB werden OAE vorhanden sein, aus Bereichen mit einem Hörverlust größer als 30 dB werden sie fehlen (Abbildung 6a). Dies ist im Rahmen der Begutachtung zum Nachweis einer Aggravation oder Simulation sowie zur Überprüfung zweifelhafter subjektiver Hörschwellenangaben von Bedeutung. 3.3 Ototoxische Medikamente Die meisten Pharmaka mit ototoxischer Potenz führen direkt, zum Beispiel Aminoglykoside, oder indirekt, zum Beispiel Schleifendiuretika, zu einer Schädigung äußerer Haarzellen. Vor allem bei Aminoglykosid-Antibiotika und Cisplatin sind eingetretene Hörverluste als irreversibel zu betrachten. Die OAE weisen bereits vor Eintritt eines Hörschadens Veränderungen auf. Es kommt zur Amplitudenreduktion oder Teilverlust der OAE, so daß gefährdete Personen erkannt und eine Therapie mit ototoxischen Medikamenten rechtzeitig abgebrochen oder umgestellt werden kann (8). 3.4 Lärmschäden des Innenohres -vulnerables Innenohr Die berufsbedingte Lärmschwerhörigkeit ist eine der häufigsten Berufskrankheiten. Hinzu kommen die durch ein Knalltrauma im Rahmen des Wehrdienstes sowie durch Freizeitlärm geschädigte Personen. Da bis heute eine wirksame Therapie der lärmbedingten Innenohrschwerhörigkeiten nicht existiert, kommt der Prophylaxe besondere Bedeutung zu. Durch übermäßige Lärmeinwirkung werden in erster Linie die äußeren Haarzellen geschädigt, die gleichsam überlastet werden und bei zu starker Beanspruchung auch morphologische Dauerschäden zeigen. Hinsichtlich der Vulnerabilität des Innenohres bestehen erhebliA-2174 Tabelle 2: Risikofaktoren für das Auftreten einer kongenitalen Schwerhörigkeit .... perinatale Hypoxie oder Asphyxie ..... Hyperbilirubinämie ..... Rötelninfektion der Mutter während der Schwangerschaft ..... Toxoplasmoseinfektion der Mutter während der Schwangerschaft ..... Syndrome und Mißbildungen, die mit Schwerhörigkeit einhergehen ..... Gesichtsdysmorphien .... Frühgeburt ..... familiäre Schwerhörigkeit ehe interindividuelle Unterschiede. Bisher existiert kein Meßverfahren, um diese vor Beginn einer Lärmexposition zu erfassen. Hier scheinen die OAE einen Beitrag liefern zu können. Wie Pilotuntersuchungen mit experimenteller Lärmbelastung gezeigt haben, kommt es bei den meisten Versuchspersonen zu einer Amplitudenabnahme der OAE, die sich über einen Zeitraum von Minuten bis Stunden wieder erholten (10). Parallel einher geht damit eine subjektiv empfundene Hörminderung. Dabei treten erhebliche interindividuelle Unterschiede auf. Die Bedeutung dieser Befunde für das Risiko einer späteren lärmbedingten Schwerhörigkeit, werden Folgeuntersuchungen zeigen müssen. 3.5 Topodiagnostik In der Reihe der objektiven Hörprüfmetbaden schließen die OAE eine Lücke, in dem sie eine Funktionskontrolle des Innenohres auf nicht invasive Weise ermöglichen (Abbildung 5). Zusammen mit der Impedanzaudiometrie und der Hirnstammaudiometrie steht damit eine Meßbatterie zur Verfügung, die eine genaue Differenzierung von Schwerhörigkeiten zuläßt. Während die OAE bei der mittelohrbedingten und cochleären Schwerhörigkeit fehlen , sind sie bei rein retrocochleären (38) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 33, 19. August 1994 Schwerhörigkeiten, zum Beispiel bei multipler Sklerose oder Hirnstammtumor, nachweisbar. Dies trifft bei einem Teil der Akustikusneurinome zu (Abbildung 6b ). Hier fällt die Hirnstammaudiometrie pathologisch aus. Bei den Akustikusneurinomen kommt es jedoch zu einer cochleären Schädigung durch Beeinträchtigung der Blutzufuhr zum Innenohr. Dann können die OAE auch fehlen (4). ~~----------------­ Jnteblatt 91 (1994) A-2168-2174 [Heft 33] Literatur 1. Bekesy, G. v.: Experiments in hearing. McGraw-Hill, New York (1960) 2. Boenninghaus, H .-G.: Hals-Nasen-Ohrenheilkunde für Medizinstudenten. BerlinHeidelberg-New York, 9. Auflage (1993) 3. Gold, T .: Hearing Il. The physical basis of the action of the cochlea. Proc. R . Soc. London Biol. Sei. 135 (1948) 492 4. Hoth, S.; T. Lenarz: Otoakustische Emissionen. Grundlagen und Anwendung. Thieme, Stuttgart, New York (1993) 5. Kemp, D. T.: Stimulated acoustic emission from within the human auditory system. J. Acoust. Soc. Am. 64 (1978) 1386 6. Kumpf, G.; M. Hoke: Ein konstantes Ohrgeräusch bei 4000 Hz. Arch. klin. exp. Ohr. Nase. Kehlkopfhk. 196 (1970) 243-247 7. Lenarz, T.: ERA und OAE: Objektive Audiometrie. in: Hüttenbrink, K. B. (Hrsg): Manual der Methoden: HNO. BiermannVerlag, (1992) 8. Lenarz, T.: Neue Verfahren zur Erfassung der Ototoxizität von Zytostatika. Otoakustische Emissionen. in: Lang, N., W. Jäger (Hrsg.) Zytostatikabedingte Nebenwirkungen. Aktuelle Onkologie 68 (1993) 1-4, Zuckschwerdt-Verlag München, Bern, Wien, New York 9. Plinkert, P. K. , G. Sesterhenn et al. : Evaluation of otoacoustic emissions in highrisk infants by using an easy and rapid objective auditory screening method. Eur. Arch. Otorhinolaryngol. 247 (1990) 356 10. Plinkert, P. K. ; H. P. Zenner: Sprachverständnis und otoakustische Emissionen durch Vorverarbeitung des Schalls im Innenohr. HNO 40 (1992) 111 11. Probst, R.: Otoacoustic emissions: an overview. In: Pfaltz, C. R. (Hrsg.): New aspects of cochlear mechanics and inner ear pathophysiology. Adv. Otolaryngol. 44, Karger, Basel (1990) 12. Zenner, H. P.: Motile responses in outer hair cells. Hear. Res. 22 (1986) 83-90 Anschrift des Autors: Prof. Dr. med. Thomas Lenarz Direktor der Hals-Nasen-Ohrenklinik Medizinische Hochschule Hannover Konstanty-Gutschow-Straße 8 30623 Hannover