DOC - Europa.eu

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SPEECH/04/170
Romano Prodi
Präsident der Europäischen Kommission
Europa und der Frieden
Universität Ulster, 1. April 2004
Derry, den 1. April 2004
Herr Vizerektor, Professor Hume, meine Damen und Herren!
Gruß – und Dankesworte
Es ist mir eine Freude und Ehre, hier zu sein dürfen. Ich möchte Herrn Professor
McKenna und der Universität von Ulster wie auch Herrn Professor John Hume für
ihre freundliche Einladung danken.
Anerkennung für John Hume
Erlauben Sie mir, John Hume an dieser Stelle meine persönliche Anerkennung
aussprechen. Seine Rolle im Friedensprozess dieses Landes ist für uns alle
beispielhaft und ermutigend zugleich.
Zusammen mit David Trimble hat er einen ungeheueren Beitrag zur Überwindung
der Spaltung dieses Landes geleistet. Jeder der hier Anwesenden weiß die Früchte
dieser Arbeit zu schätzen. Sie als Iren wissen besser als viele andere, was Frieden
bedeutet und wie viel er wert ist.
Bei der Entgegennahme des Friedensnobelpreises in Oslo im Jahr 1998 zollte John
dem irischen Volk mit den Worten Anerkennung: „Wir verdanken diesen Frieden
dem einfachen Volk in Irland und vor allem in Nordirland, wo die Menschen unseren
Konflikt konkret erlebt und erduldet haben.“
Er erwähnte auch, wie sehr er sich bei seinem Einsatz für den Frieden vom
europäischen Gedanken hat leiten lassen. Ich stimme ihm darin ganz und gar zu
und möchte heute darlegen, warum auch ich dieser Überzeugung bin.
Über die Europäische Union lässt sich vieles sagen. Eine Sache steht jedoch für
mich an erster Stelle: das Wachsen und Gedeihen von Frieden.
Wir sollten uns stets daran erinnern, dass der eigentliche Grund für den
europäischen Integrationsprozess – und die Europäische Union – der Frieden ist.
Dies war das eigentliche Ziel, das unsere Gründungsväter vor Augen hatten. Wie
sagte Jean Monnet: „Europa schaffen heißt Frieden schaffen.“ Deutlicher kann man
es nicht sagen.
Als Europa noch in Schutt und Asche lag, vom Krieg verwüstet und voller Hass, den
der Krieg geschürt hatte, hätte ein Außenstehender wohl kaum an eine Aussöhnung
zwischen Frankreich und Deutschland geglaubt.
Jetzt – ein halbes Jahrhundert später – wissen wir, dass dies mehr war als nur ein
Traum. Ich stimme John zu, wenn er sagt, dass „die Europäische Union ein in der
Weltgeschichte einzigartiges Beispiel für eine Konfliktlösung ist …“
Unser Kontinent ist neu gestaltet worden. Europa – einst brodelnder Konfliktherd –
ist heute ein Motor für den Frieden, der Stabilität und Wohlstand über die eigenen
Grenzen hinaus schafft.
Die Union hat uns eine der längsten Friedensperioden in unserer Geschichte
beschert. Und sie hat ein Zeichen gesetzt, das Millionen von Menschen in der
ganzen Welt mit Hoffnung erfüllt.
Der Erfolg zeigt uns, dass wir einen Weg gefunden haben, der funktioniert. Einen
Weg, an den bei der Ausgestaltung der Beziehungen zwischen Staaten an unseren
Außengrenzen und selbst darüber hinaus angeknüpft werden kann.
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Wir können stolz auf diese Errungenschaften sein. Wir haben die Lehren aus der
Vergangenheit gezogen und begriffen, wie wichtig es ist, Vielfalt mit Achtung zu
begegnen. Vor allem aber haben wir entdeckt, wie sich der Frieden mit Hilfe von
Strukturen sichern lässt, die die Konflikte an ihrer Wurzel anpacken.
Wir Europäer kennen uns mit Konflikten aus. Abgesehen von kurzen Phasen
trügerischen Friedens bestimmte Krieg die Geschichte unseres Kontinents.
Ein Blick auf die politische Landkarte Europas in den letzten fünf Jahrhunderten
zeigt die ewige Unruhe auf einem Kontinent, der nur wenig natürliche Grenzen
aufweist. Die Grenzen sind nichts weiter als der Ausdruck des willkürlichen
Kommen und Gehens der Macht von Herrschern und Lehnsfürsten.
Die Lehren aus der Vergangenheit
Meine Damen und Herren!
Jahrhunderte lang war Krieg für Europäer der einzige Weg, um ihre Sicherheit zu
gewährleisten. Die Losung hieß anzugreifen, bevor man selbst angegriffen wurde,
und die Städte des Feindes zu zerstören, bevor die eigenen Städte niedergebrannt
wurden. Wir sollten uns stets vor Augen halten, dass nie ganz ausschließen
ist, dass diese schrecklichen Zeiten wiederkommen.
Die dicken Mauern dieser Stadt erinnern uns immer wieder an die fernen von
Auseinandersetzungen und Unsicherheit geprägten Zeiten, als die Menschen um
ihres Überlebens willen enorme Verteidigungsanlagen bauen mussten. Und nicht
selten entrichteten die Völker Europas für das bisschen Schutz einen hohen
Blutzoll.
Dies ist die Welt, die Thomas Hobbes beschrieb. Der große englische Philosoph
sah als natürlichen Zustand der Menschheit den Kriegszustand an, wo jedermann
jedermanns Feind ist.
In seinem großen, 1650 veröffentlichten Werk Leviathan, erläutert er, warum es
eines starken Staat bedarf, um mit der ständigen Kriegsbedrohung fertig zu werden.
Erst zwei Jahre zuvor hatte der Westfälische Frieden dem Dreißigjährigen Krieg ein
Ende gesetzt. Er beendete ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Menschheit,
als sich die Menschen gegenseitig zerfleischten.
Nachdem dreißig Jahre Religionskrieg endlich vorüber waren, begann man, die
Verluste zu zählen.
Sie waren fast überall in Europa erschreckend hoch. Deutschland, wo die Schlacht
hauptsächlich ausgetragen wurde, hatte nahezu die Hälfte seiner Bevölkerung
verloren. Städte lagen in Schutt und Asche, der Handel war zum Erliegen
gekommen, die Leibeigenschaft wurde wieder eingeführt. Raubzüge, Hunger,
Krankheit, Vergewaltigung und gesellschaftliche Spaltung drehten die Uhr um ein
Jahrhundert zurück.
Anderenorts war die Lage nicht besser.
Das Ende der Dreißigjährigen Krieges erinnert uns an 1945 – mit einigen
grundlegenden Unterschieden.
Der Westfälische Frieden befriedete Europa tatsächlich bis zu einem gewissen
Grad, indem er die Machtpolitik in die Hände eines modernen, souveränen Staates
legte.
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Hiermit wurde ein neue Phase in der europäischen Geschichte eingeleitet und der
Grundstein für eine neue Ordnung in den zwischenstaatlichen Beziehungen gelegt.
Und es wurde gleichzeitig der Weg für eine neue Form der Instabilität bereitet.
In Europa begann ein neues Zeitalter, in denen sich Ordnung und Unruhe
abwechselten. Es begann eine neue verzweifelte Suche nach stabilen Verhältnissen
in einer neuen Runde des von mir beschriebenen Spiels, bei dem es Gewinner und
Verlierer gab.
Die Niederlande und die Schweiz wurden unabhängig und die deutschen Staaten
erstarkten. Diese neuen Akteure verständigten sich auf den Grundsatz der
Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des jeweils anderen Landes.
Dies bedeutete eine Sicherheitsgarantie für die Menschen im Inneren eines Staates
und einen gewissen Fortschritt, den wir nicht unterschätzen wollen.
Aber Frieden und Sicherheit im Inneren brachten nur wenig Verbesserung. Hobbes
Sichtweise zum Verhältnis der Menschen untereinander galt weiterhin auch für das
Verhältnis zwischen Staaten. Die europäischen Staaten verhielten sich
untereinander weiterhin wie Raubtiere, gingen wechselhafte Koalitionen ein und
stritten sich um Territorien.
Da es kein richtiges Völkerrecht gab, galt das Gesetz des Dschungels: Die Staaten
auf dem europäischen Kontinent machten, was sie wollten.
Vor diesem Hintergrund sind die politischen Ideen des Zeitalters der Aufklärung zu
sehen.
Schaffung eines dauerhaften Friedens
Immanuel Kant, dessen Todestag sich in diesem Jahr zum 200. Male jährt,
erkannte, dass es zwischen solchen Staaten kein dauerhaftes Bündnis geben
konnte.
Für ihn glich das Verhältnis der Staaten untereinander tatsächlich der Welt, wie sie
Hobbes beschreiben hatte – einem „Naturzustand“, in dem die Gefahr des Krieges
jederzeit präsent war.
Wie ließ sich dieser unhaltbare Zustand ändern? Dies ist die Frage, die Kant in
seinem kurz nach der französischen Revolution im Jahr 1795 veröffentlichten Werk
„Zum ewigen Frieden“ stellte.
Um den Weg für einen ewigen Frieden zu bereiten, schlug Kant eine Förderation
republikanischer Staaten vor. Er war der Ansicht, dass zwischen Staaten mit einer
bürgerlichen Rechtsordnung, die das moralische Gesetz achteten, kein Platz
für Krieg war.
Wir würden heute vielleicht von gemeinsamen Grundwerten reden. Und genau
wie wir heute dachte Kant, dass sich Bürger, die ein unmittelbares Interesse am
Erhalt des Friedens haben, weil sie sich ihren Wohlstand und ihr Wohlergehen
erhalten wollen, in einer Republik stets gegen Krieg aussprechen werden.
Kant dachte genauso wenig an eine Weltrepublik oder einen Superstaat wie wir
heute in der Europäischen Union.
Es ging ihm einzig darum, einen praktikablen Weg zu einer friedlichen Koexistenz
zwischen den Staaten und zu echter Sicherheit zu finden.
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Hierin dachte Kant sehr modern. Er sehnte das Ende unserer Nationen und Staaten
ebenso wenig herbei wie wir. Der entscheidende Punkt ist, dass Kant einen
Staatenbund wollte, der sich auf bestimmte Grundsätze und Regeln einigt.
Er glaubte daran dass ewiger Friede durch eine friedliche Förderation von Staaten
erreicht werden kann, die Krieg als Mittel zum Zweck ablehnen. Gestärkt werden
kann dieser Bund, so Kant, durch Handel und eine völkerrechtliche Ordnung.
Wie Kant glauben wir an die Herrschaft des Rechts im Inneren eines Staates und
im Verhältnis der Staaten untereinander.
Kant hätte sich vielleicht gefreut zu sehen, was uns mit der Europäischen Union
gelungen ist – eine Art supranationale Demokratie in einem Verbund souveräner
Mitgliedstaaten. In gewisser Weise verkörpert unsere Union Kants Gedanken von
einem Bündnis freier Staaten.
Auch wir haben erkannt, dass gemeinsame, auf das gleiche Ziel zulaufende
Interessen ein wirksames Mittel sind, um Frieden zu schaffen. Außerdem erfolgte
die Gründung der Union auf der Grundlage gemeinsamer Werte und einer
gemeinsamen Ordnung.
Wie ist es uns gelungen, in Bezug auf Frieden und Stabilität dorthin zu kommen, wo
wir heute stehen?
Feinde versöhnen und Stabilität stützen
Meine Damen und Herren!
Unsere Union ist begründet auf der Versöhnung zwischen den Völkern und
Nationen unseres Kontinents, auf der Toleranz gegenüber anderen, auf den
individuellen Freiheiten und Minderheitsrechten.
In Vielfalt vereint basiert die Union auf der Bereitschaft, den Standpunkt des
anderen zu achten und nicht den eigenen aufzuzwingen, auf gegenseitigen
Verpflichtungen, die frei eingegangen und demokratisch bestätigt wurden.
Es ist auffallend, wie unterschiedlich die Verfassungsursprünge unserer
Mitgliedstaaten sind. Die im Laufe der Zeit eingeführten Checks and Balances
haben die ursprünglichen Strukturen erheblich verändert. Ganz gleich, ob sie als
konstitutionelle Monarchien oder Republiken entstanden sind, alle funktionieren
heute als hoch entwickelte Demokratien, die dieselben Werte und Prinzipien
achten.
Die Achtung der Vielfalt hat es den einzelnen Staaten erlaubt, ihre Eigenheiten zu
wahren. Dies tat der kollektiven Achtung unserer gemeinsamen Werte und
Prinzipien keinen Abbruch. Aber es bedeutet, dass unsere Konflikte nicht in
Gewalttätigkeiten ausarten. Wie John Hume sagt:
Bei allen Konflikten geht es um Unterschiede – Unterschiede der Rasse, der
Religion oder der Nationalität. Die europäischen Visionäre stellten fest, dass
Unterschiede keine Bedrohung, sonders ganz natürlich sind. [...] Die Antwort
darauf ist, sie zu respektieren. Hierin liegt das zentrale Grundprinzip des Friedens
– Achtung der Vielfalt."
Wie die Europäische Union es gemacht hat
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Meine Damen und Herren!
Das Prinzip der Vielfalt ist in unserem institutionellen Rahmen verankert. Unsere
Regeln sind dazu da, die Interessen unserer Mitgliedstaaten, der großen und der
kleinen, zu schützen.
Bereits zwei Generationen unserer Bürger sind inzwischen aufgewachsen, ohne
dass es Krieg in ihren Ländern gab. Dies ist unsere größte Leistung, aber wir
müssen uns vor Selbstgefälligkeit hüten.
Wir tendieren dazu, unsere Stabilität, unseren Wohlstand, unsere Demokratie und
die Achtung der Menschenrechte und Grundwerte für selbstverständlich zu halten.
Als ob es niemals anders sein könnte.
Ausschlaggebend für den Erfolg der Gründerväter war eine zurückhaltende
Rhetorik und bescheidene Ambitionen. Sie haben sich auf erreichbare Schritte
konzentriert.
Fünfzig Jahre lang fügten wir einen Stein auf einen anderen und errichteten eine
Gebilde aus Institutionen, Regeln und Grundsätzen.
Die vier Freiheiten – freier Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Personen und
Kapital – haben zum Binnenmarkt geführt.
Die meisten Mitgliedstaaten haben eine gemeinsame Währung. Und es gibt keine
Passkontrollen mehr. Möglich war dies, weil wir die Zusammenarbeit zwischen
Polizei- und Justizbehörden intensiviert haben.
Aufgrund all dessen verlieren unsere Binnengrenzen an Bedeutung.
Wir haben gemeinsame Politiken entwickelt, um unsere Stabilität und unseren
Wohlstand zu konsolidieren.
Nun sind wir dabei, entscheidende Schritte im Bereich Justiz und Inneres
einzuleiten. Der Schutz der Sicherheit unserer Bürger ist von zentraler Bedeutung,
insbesondere in einer Zeit terroristischer Bedrohung. Und wir können unsere innere
Sicherheit wirksamer schützen, wenn wir zusammenarbeiten.
All dies hat uns gezeigt, dass nur ein multilateraler Ansatz funktionieren kann. Da
wir auf einem Kontinent mit wenig natürlichen Grenzen leben, können wir unsere
Nachbarn nicht ignorieren.
Auch auf internationaler Ebene setzen wir uns für Multilateralismus ein, denn wir
wissen, dass einzelne Staaten allein nichts ausrichten können.
Seit 1945 haben sich auf der internationalen Bühne enorme Veränderungen
vollzogen. Neue Institutionen, die in erster Linie errichtet wurden, um Frieden und
Sicherheit zu sichern und die Zusammenarbeit zu fördern, haben dem multilateralen
Ansatz Form und Substanz gegeben.
Wir haben ein System überlappender Strukturen errichtet, um mehr Sicherheit zu
schaffen. Dies bedeutet, dass wir andere regionale und internationale Einrichtungen
unterstützen, um unsere Sicherheit zu stärken – wie NATO, UNO, Europarat, OSZE
und in jüngster Zeit den Internationalen Strafgerichtshof.
Dies bedeutet, dass ein internationales System zur Verwaltung und Konsolidierung
unseres Wohlstands geschaffen wurde – durch Organisationen wie die
Welthandelsorganisation und Abkommen wie das Kyoto-Protokoll zur UNKlimarahmenkonvention.
1989: Zeit für eine echte Friedenspolitik
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Meine Damen und Herren!
Bestimmte Daten nehmen einen Sonderplatz in der Geschichte ein, weil sie für
epochale Veränderungen stehen. Wir müssen darauf bedacht sein, die richtigen
Lehren daraus zu ziehen. Erinnern wir uns an Michail Gorbatschow, der zu Erich
Honecker sagte: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“
1989 war ein Wendepunkt in der europäischen Geschichte.
Für Historiker beginnt das 19. Jahrhundert normalerweise 1789. Für mich begann
das 21. Jahrhundert 1989.
Einige sahen 1989 als Triumph der liberalen Demokratie und des wirtschaftlichen
Liberalismus und behaupten, dies sei das Ende der Geschichte.
Ich meinerseits glaube, 1989 markiert den Zeitpunkt, an dem die Geschichte wieder
beginnt. Es ist das Ende des Kalten Krieges – nicht das Ende der Geschichte.
Mit dem Kalten Krieges ging eine Zeit zu Ende, in der es weder Krieg noch Frieden
gab, sondern eher eine Art Waffenruhe.
Aber 1989 markiert auch die Rückkehr zu bewaffneten Konflikten mit dem
Auseinanderbrechen des früheren Jugoslawien.
Natürlich waren unsere Institutionen bereits errichtet. Wir hatten begonnen,
Überlegungen über eine auswärtige Politik anzustellen. Seit Bestehen der Union
hatte es niemals einen Krieg vor unserer Haustür gegeben. Und wir alle wissen,
dass wir darauf völlig unvorbereitet waren.
Aber 1993 trafen wir zwei strategische Entscheidungen. Wir unterzeichneten den
Vertrag von Maastricht, der eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
einführte. Und wir öffneten den mittel- und osteuropäischen Ländern unsere Tür.
In anderen Worten, wir trafen strategische Entscheidungen, um unsere Sicherheit
im Lichte der postjugoslawischen Erfahrung zu stärken. Dazu gehörten sowohl
„harte“ als auch „weiche“ Instrumente.
Sicherheit in einer komplexen und gefährlichen Welt
Meine Damen und Herren,
Ein intelligenter multilateraler Ansatz schließt sowohl die „harte“ Sicherheit als auch
die „weiche“ Sicherheit ein.
Wir alle wissen, was „harte“ Sicherheit bedeutet: Glaubwürdige Androhung - oder
Anwendung von Gewalt. Und dies ist völlig legitim, wenn die Regeln des
Völkerrechts eingehalten werden. Wir haben unsere Union für den Frieden
aufgebaut. Wir hätten gerne alle Waffen abgeschafft. Aber wir wissen, die Welt ist
weiterhin ein gefährlicher Ort.
Der 11. März dieses Jahres hat uns vor Augen geführt, wie wichtig gemeinsames
Handeln ist, um unsere Bevölkerung zu schützen und Sicherheit zu gewährleisten.
Das Ausmaß der Gräueltat und ihre Auswirkungen haben die politische Landschaft
verändert.
Es war beeindruckend, wie die Bevölkerung darauf reagiert hat. Dies hat mich in
meinem Glauben an die Europäer bestärkt.
In ganz Spanien - und ganz Europa - haben Millionen schweigend gegen die
Bomben in den Madrider Bahnhöfen demonstriert.
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Einige Tage darauf sind die Spanier massiv zur Wahl gegangen um zu zeigen, dass
sie an die Demokratie glauben und sich vom Terrorismus nicht einschüchtern
lassen. Die Wahlbeteiligung lag um 10 % über der des Jahres 2000.
Die Botschaft war klar. Die Menschen wandten sich gegen die Logik von Gewalt
und Angst.
Dies sollte auch die Antwort Europas sein. Wir müssen den Terrorismus
bekämpfen, wir müssen unsere Bürger schützen und wir müssen unsere
Lebensweise verteidigen. Wir müssen die Werte der Demokratie, Offenheit und
Toleranz schützen. Wir müssen gewährleisten, dass Minderheiten und legale
Migranten weiterhin die Vorteile unserer offenen Gesellschaft genießen können.
Im Dezember vergangenen Jahres hat die Union erstmals eine europäische
Sicherheitsstrategie entworfen. Das Problem des Terrorismus und dessen
Ursachen sind dabei ein wichtiger Aspekt. Diese Initiative des Hohen Vertreters für
die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik muss nun dringend umgesetzt
werden, wie der Europäische Rat auf seiner Frühjahrstagung vergangene Woche
festgestellt hat.
Außerdem hat der Rat beschlossen, einen europäischen Koordinator für
Terrorismusbekämpfung zu benennen, dessen Aufgabe es sein wird, den
Informationsaustausch zu verbessern. Bestätigt wurde auch eine Reihe von
Maßnahmen einschließlich:
Gemeinsame Nutzung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse
Eindämmung der Finanzquellen von Terroristen
Handeln gemäß der Solidaritätsklausel des Verfassungsentwurfs.
Natürlich geht die Sicherheit im Innern mit der äußeren Sicherheit einher. Seit dem
Maastrichter Vertrag haben wir damit begonnen, unsere Außen- und
Sicherheitspolitik zu organisieren. Hier müssen wir weitermachen.
Seit der britisch-französischen Verteidigungsinitiative von St. Malo sind die Dinge
vorangekommen. Eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik nimmt
langsam Gestalt an.
Ziel ist es, den europäischen Pfeiler der NATO zu stärken. Die NATO trägt weiterhin
die Hauptverantwortung für unsere Sicherheit. Aber wir müssen dafür sorgen, dass
wir militärisch handeln können, wenn unsere amerikanischen Partner nicht betroffen
sind.
Im Jahr 2003 haben sich die Ereignisse beschleunigt. Im Januar beschloss die
Union eine erste Mission im Rahmen der europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik. Sie hat die UN-geführte internationale Polizeieinsatztruppe bei
der Überwachung und Unterstützung polizeilicher Aufgaben in Bosnien und
Herzegowina abgelöst. Außerdem bereitet die Union eine Nachfolgemission zur
SFOR vor, der NATO-Stabilisierungstruppe in Bosnien und Herzegowina.
Im März starteten wir als NATO-Folgeoperation eine EU-Stabilisierungsmission
unter der Bezeichnung Concordia in der ehemaligen Jugoslawischen Republik
Mazedonien. Nach dem erfolgreichen Abschluss stellten wir Proxima auf - die EUPolizeimission in der ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien.
Außerhalb Europas hat die Union bereits eine militärische Operation unter dem
Namen Artemis in der Demokratischen Republik Kongo durchgeführt.
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Diese Beispiele zeigen, dass die Union erforderlichenfalls zu einer modulierten,
situationsbezogenen Reaktion in der Lage ist, die auch Aspekte der harten
Sicherheit einbeziehen kann.
Allerdings bin ich davon überzeugt, dass Kriege nicht allein mit Waffen gewonnen
werden können.
Dies gilt umso mehr, wenn man nicht gegen einen Staat, sondern gegen eine
terroristische Organisation kämpft. Im Krieg gegen den Terrorismus scheitern die
Konzepte der Vergangenheit. Das Gleichgewicht des Schreckens des Kalten
Krieges funktioniert nicht bei Terroristen. Abschreckung hat keine Wirkung auf
Selbstmordattentäter. Gezielte Tötungen bringen den Terroristen nur neuen Zulauf.
Wir müssen bei der Lösung des Terrorismusproblems realistisch vorgehen. Es ist
eine gefährliche Illusion zu glauben, der Terrorismus könne besiegt werden, ohne
die Wurzeln anzugehen. Gewalt allein reicht nicht aus, um den Terrorismus zu
besiegen. Sowohl Gewalt als auch Intelligenz müssen eingesetzt werden. Neben
der militärischen Option muss mit gleicher Entschlossenheit nach politischen
Auswegen gesucht werden. Für beide Optionen ist ein multilateraler Ansatz
notwendig: Einseitige Ansätze genügen nicht mehr aus.
Harte Fakten zur „weichen“ Sicherheit
Lassen Sie mich zu den harten Fakten der „Soft Power“ kommen. „Soft Power“
bedeutet nicht, mit Samthandschuhen vorzugehen. Es gibt keinen leichten Weg
zum Frieden. Es ist einfach zu sehen, wie Staaten scheitern. „Nation building“ ist
eine wirklich schwere Aufgabe, die erst dann beendet ist, wenn keine
Besatzungstruppen mehr benötigt werden.
Dies kann nicht über Nacht erreicht werden und bringt möglicherweise keine
Schlagzeilen, führt aber langfristig zum Ziel. Prävention ist besser als Präemption.
Gute Beispiele zeigen, wie Entwicklungshilfe weltweit Frieden und Sicherheit
fördern und so unsere demokratischen Grundsätze untermauern kann. Ich bin stolz
darauf sagen zu können, dass die Europäische Union hierbei eine Vorreiterrolle
einnimmt.
Die Union ist weltweit der größte Geber von Entwicklungshilfe.
Auch fördern wir aktiv eine nachhaltige Entwicklung. Entwicklung ist ein
Schlüsselfaktor bei der Friedensbildung.
Die Union geht die wichtigsten Konfliktursachen an wie Armut, Bevölkerungsdruck
und Wettbewerb und knappe Naturressourcen wie Wasser und Land.
Das Cotonou-Abkommen zwischen der Union und 77 Ländern aus Afrika, der
Karibik und des pazifischen Raum unterstreicht, wie wichtig Armutsbekämpfung und
Integration in die Weltwirtschaft, verantwortungsvolle Staatsführung und
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind.
Und wie funktioniert „Soft Power". Um dies zu erklären, müssen wir einen Blick
zurückwerfen.
Wie gesagt, die Förderung von Frieden und Stabilität in der Europäischen Union
begann mit der Aussöhnung alter Feinde.
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Die nachfolgenden Erweiterungen haben den Frieden durch Unterstützung der
Demokratie in Griechenland, Spanien und Portugal gefördert. Sehen wir nur, wie
lebendig sich diese Demokratien in den vergangenen drei Jahrzehnten entwickelt
haben.
Bei der anstehenden Erweiterung hat die Aussicht auf Mitgliedschaft noch größere
Wirkung. Sie fördert Demokratie, Frieden und Stabilität über die Trennungslinie
hinweg, die Europa 50 Jahrelang gespalten hat.
Die „Soft Power“ der Europäischen Union gab Impulse für wirtschaftliche, soziale
und politische Reformen in den Beitrittsländern. Und sie hat die Achtung der
Menschenrechte und demokratischer Werte gefördert.
Aber mit unserer „Soft Power“ können wir auch dazu beitragen, bewaffnete
Konflikte zu lösen. Das beste Beispiel ist Zypern. Die Aussicht, dass der griechische
Teil der Insel der Union beitritt, hat die türkischen Zyprioten aktiv werden lassen.
Sie haben in großer Zahl für den Beitritt demonstriert. Ich hoffe immer noch, dass
uns Zypern als ungeteilte Insel beitreten wird.
Ein wichtiger Aspekt der weichen Sicherheit ist die Behandlung von Minderheiten.
In einer Demokratie regiert die Mehrheit, aber die Rechte der Minderheit müssen
geschützt werden. Keiner unserer Nationalstaaten ist ethisch homogen und noch
weniger religiös oder kulturell.
Häufig haben Minderheiten unter dominierenden Volksgruppen gelitten. Manchmal
dienten sie auch als Vorwand für Interventionen von außen.
Besonders akut ist das Problem auf dem Balkan.
Die jüngsten Ereignisse im Kosovo zeigen klar, wie prekär die Lage dort ist. Es gibt
keinen Anlass zu Selbstgefälligkeit. Frieden ist eine zarte Pflanze, die konstant
gepflegt und genährt werden muss. Es wird keine dauerhafte Lösung auf dem
Balkan geben, wenn wir den Ländern der Region keine realistische Aussicht auf
den Beitritt zur Europäischen Union bieten. In der Vergangenheit hat dies bei
anderen Ländern funktioniert. Es wird auch im Kosovo funktionieren.
In einer Union verlieren Grenzen an Bedeutung, so dass eine Minderheit innerhalb
eines einzelnen Mitgliedstaats weniger problematisch ist.
In unserer Union gehört jeder – in einem gewissen Sinne – einer Minderheit an. Und
in unserer Union kann kein Staat über die anderen bestimmen.
Grundsätzlich darf keine religiöse, ethnische, kulturelle oder sonstige Gruppe über
andere herrschen, alle sind mit der gleichen Würde ausgestattet. Deshalb
bezeichne ich unsere Union als eine „Union von Minderheiten“.
Einen Ring von Freunden schmieden
Um den Frieden zu fördern, ist vor allem eine starke gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik erforderlich.
Dies setzt auch voraus, dass wir in unserer Region handeln.
Zu Beginn habe ich davon gesprochen, dass der Frieden durch Strukturen
abgestützt werden muss, welche die Ursachen der Konflikte angehen.
Wir können unsere Anstrengungen nicht auf unsere Mitgliedstaaten beschränken.
Wir müssen unsere Stabilität über unsere Grenzen hinaus projizieren. Dies
bedeutet, politische und wirtschaftliche Reformen zu fördern, damit unsere
Nachbarn an unserem Frieden und unserem Wohlstand teilhaben können.
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Dies bedeutet, mit den Partnerländern auf Grundlage konvergierender Interessen
und gemeinsamer Werte zu kooperieren. Auf lange Sicht dient die Politik, die wir
für die Länder entlang den Grenzen der erweiterten Union entwickeln, unserem
eigenen Interesse.
Ziel ist es, die Union mit einem Ring von Freunden zu umgeben – der von Russland
rund ums Mittelmeer bis nach Marokko reicht - und mit ihnen Frieden, Stabilität und
Wohlstand teilen, die uns in der Union in den vergangenen 50 Jahren zuteil wurden.
Ich hoffe, dass zu diesen Freunden auch die Israelis und die Palästinenser gehören
werden. Dies kann nur geschehen, wenn beide Völker in souveränen und
unabhängigen Staaten, innerhalb sicherer Grenzen und in Frieden miteinander
leben.
Wenn sich beide an dem Prozess der politischen und wirtschaftlichen Integration
beteiligen können, wird dies langfristig Stabilität in die Region bringen und die Welt
zu einem sichereren Ort machen und effektiv einen dauerhaften Frieden
garantieren.
Ich bin mir dessen bewusst, dass dies ein gewagter Vorschlag ist, aber ich sehe
keine Alternative dazu.
Um ganz klar zu sein, die Zwei-Staatenlösung wäre nur der erste Schritt, wenn auch
ein gigantischer. Aber selbst ein solch gigantischer Schritt würde uns dem Ziel
eines dauerhaften Friedens in der Region nicht näher bringen.
Wir müssen uns darüber im Klaren sein, das wir uns nicht länger nur auf die
staatliche Diplomatie verlassen dürfen. Dieses Ziel verlangt sehr viel mehr.
Das neue Modell, das ich mir vorstelle, würde Individuen und soziale Gruppen nicht
länger als passive Subjekte behandeln, sondern sie zu den wirklichen Protagonisten
der nationalen und internationalen Politik machen.
Dies wird wahrscheinlich viele Jahre dauern, aber es ist der einzige Weg.
Schließlich wollen wir die vier Freiheiten, auf denen die Union basiert, auf diese
Länder ausdehnen. Damit wird unser Engagement, keine neuen Grenzen in Europa
zu errichten, greifbare Form annehmen.
Die Bombenanschläge in Madrid haben gezeigt, wie dringlich eine solche Politik ist.
Solange der Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis nicht beigelegt ist,
werden vom Nahen Osten weiter Terrorismus und Unsicherheit ausgehen.
Deshalb brauchen wir eine globale Antwort. Wir müssen unsere Verbündeten davon
überzeugen, dass in einem multilateralen Kontext vorgegangen werden muss und
wir müssen sie davon überzeugen, dass „Soft Power“ effizient ist. Dies wird dazu
beitragen, unsere Sicherheit sowohl intern als auch extern zu gewährleisten.
In Frieden investieren
Meine Damen und Herren,
wir Europäer wissen aus langer und bitterer Erfahrung, dass Krieg die schlimmste
aller Lösungen ist und das allerletzte Mittel bleiben muss.
Und weil wir stets in engem Kontakt mit anderen Kulturen und Zivilisationen gelebt
haben, ist Isolation niemals eine Option für Europa. Wir wissen, dass die offenen
Gesellschaften und toleranten Kulturen, wie wir sie pflegen, die ersten Opfer eines
jeden Konflikts oder einer terroristischen Bedrohung sein können.
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Wir haben die Waffenruhe des Kalten Krieges in einen echten Frieden verwandelt.
Am 1. Mai wird die Europäische Union 25 Mitgliedstaaten zählen. Frieden ist fester
Bestandteil der Europäischen Union.
Allerdings sehen wir, wie sich neue Bedrohungen und neue Herausforderungen
abzeichnen.
Terrorismusbekämpfung, Sicherung der internationalen Stabilität und Sicherheit, die
Weltwirtschaft in ruhigem Fahrwasser zu halten, die Erhaltung der Umwelt für eine
nachhaltige Zukunft liegen außerhalb der Möglichkeiten eines einzelnen Staates –
wie gewaltig und wie unbegrenzt seine Ressourcen auch sein mögen.
Dies gilt für die Länder Europas und für unsere Verbündeten und Partner in der
Welt. Deshalb ist Multilateralismus die einzige Option.
Morgen können neue Mächte und vielleicht neue Supermächte entstehen.
Deshalb ist es langfristig für unsere eigene Sicherheit so wichtig, dass wir uns
weltweit für unsere Werte einsetzen.
Ich danke Ihnen.
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