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Flussfahrt St. PETERSBURG – MOSKAU
Sonntag, 17. August 2003
Mit einer lumpigen Stunde Verspätung flogen wir (Renate, Helga und ich) mit einer
Iljuschin von Pulkovo – Airlines in München so um halb acht ab. Pulkovo ist auch der
Name des St. Petersburger Flughafens, an dem wir wegen der Zeitverschiebung um
eine Stunde (der finnische Meerbusen liegt immerhin am 36. Längengrad Ost) und
der nicht vorhandenen Sommerzeit, also 2 Stunden später als 23 Uhr etwas holperig
landeten. Eins im Sinn gemerkt, über Mitternacht gezählt und schwupps war es
schon 1 Uhr in der Früh am
Montag, 18. August 2003.
Gottlob kamen diesmal alle Koffer an
und draußen holte uns eine nette
Russin mit Schild „Konstantin Fedin“
ab. So heißt unser Flussdampfer.
Der halbe Bus war schon voll, als wir
restlichen 10 Leute einstiegen. Die
armen hatten eineinhalb Stunden auf
unsere Ankunft warten müssen. Am
Flusshafen spuckte uns der Bus auf
den Kai.
Schiffe lagen in Dreierpäckchen, weil
nur
drei
dieser
Ungetüme
hintereinander an den Kai passten. Unseres lag innen, so dass wir nicht den anderen
durchs Wohnzimmer mussten. Um das Gepäck kümmerten sich die Matrosen, die es
vor die Kabinentür schleppten. Wir brauchten nur noch den Bordausweis in Empfang
zu nehmen und das Nachtessen zu bestaunen. Irgendwas mit Hühnerfleisch gab es
und Renate und ich bestellten uns danach gleich einmal den ersten Wodka.
Schließlich war man in Russland! Drei wars dann, glaub ich.
Der Kaffee ist bluatsstark, aber das winzige Tässchen reicht mir natürlich nirgends
hin. Quarkhefeblini oder so ähnlich zum Frühstück. Nach geraumer Zeit hatte ich es
geschafft, 3 Tassen Türkengebräu zu bekommen. Helga wollte einen anderen Tisch,
wo´s nicht so zieht.
Schon um 9 begann der erste Programmpunkt: Stadtrundfahrt im strahlenden
Sonnenglanz. Die Goldkuppeln leuchteten grade so wie frisch angegoldet. Denis, der
Petersburger Führer erzählte so lebhaft und engagiert, dass man das Gefühl hatte,
wirklich etwas erfahren zu haben. Bei
ein paar Wichtigkeiten stiegen wir aus
und hatten immer genau 7 Minuten
Zeit. Komischerweise gab er uns im
Souvenirladen, den er in erster Linie
als Klo verkaufte, mehr Zeit. Wir
warteten auf andere Gelegenheiten,
Spezialitäten zu erstehen. Es boten
sich so viele Eindrücke in drei
Stunden, die erst einmal verdaut
werden wollten.
Ich konnte Renate überreden, nach
dem Mittagessen an Bord (wir speisen jetzt statt an Tisch 19 an Tisch 11) mit der
Metro in die Innenstadt zu gondeln, um alles noch einmal zu Fuß und langsam zu
beäugen. Helga wollte unbedingt den fakultativen Ausflug zum Sommerpalast
mitmachen. 35 €. Die Metrofahrt kostete jeden sagenhafte 7 Rubel (30 Rubel sind ein
Euro) und mithilfe eines Planes gelang es uns doch, die Station „Nevski Prospekt“ zu
finden.
Schönstes Sommerwetter
begleitete uns beim Stadtbummel. Die
Kanäle entlang, in kleine Kirchen
spitzend, über den fast leeren Platz
vor dem Winterpalast schlendernd,
wunderten wir uns über die allerorten
zu findenden Regenfallrohre, die direkt
auf dem Bürgersteig endeten. Das
musste schon bei Nieselregen eine
Überflutung des Gehsteigs geben,
wenn das ganze Wasser aller
angrenzenden Dächer auf der Straße
landete.
Nach drei Stunden Weges und unserem tollen orientalischen Sinn fanden wir das
Loch zur U-Bahn wieder, das uns verschluckte und nach 15 Minuten Fahrt wieder
ans Licht ließ. 5 Minuten hatten wir zum Flusshafen und unserer Konstantin Fedin zu
laufen und kamen gerade an, als sich der Ausflugsbus mit der Helga drin auch eben
leerte. Und wir hatten schon Angst, zu spät zum Abendessen zu sein. Oho. Drei
Stunden mussten sie anstehen, um überhaupt in den Sommerpalast zu kommen,
erzählte sie. Und das Bernsteinzimmer, na ja.
In Anbetracht der kurzen vergangenen Nacht schliefen wir schon um 9.
Dienstag, 19. August 2003
Fakultativer Ausflug nach Peterhof 40 €. Aber da wollten wir alle hin wegen des
Parks und der Fontänen. Hab ich mir sagen lassen. Nein, das habe ich aber nicht
bereut: Sagenhafte Parkgestaltung hatte sich der liebe Zar Peter da machen lassen.
Und gar net so gspinnert französisch, sondern mit vielerlei Baumarten in doch
akkurat gezogenen Linien von Wegen. Auf den Kreuzungen Brunnen, nein Brunnen
kann man eigentlich nicht sagen. Es sind schon Fontänen. Gerade als unsere
Führung mit dem besagten Denis
startete,
drehten
die
Spritzbrunnenaufdreher
die
Spritzbrunnen auf. Einen nach dem
anderen. Die Löwenfontäne, den
Evabrunnen, der im anderen Teil des
Gartens natürlich ein Pendant im
Adambrunnen hatte (der Zar und
seine Gattin sollten das sein), die
Schachbrettkaskade
mit
der
beruhigenden
chinesischen
Fließgeschwindigkeit und die große Kaskade direkt vor dem Schloss mit seinen zig
goldenen Figuren. Ein Rausch aus Wasser, Bäumen und Gold. Und in der nahen
Ferne – der finnische Meerbusen. Der Ausblick auf das Meer und die Ahnung von
Finnland im Nordwesten ließ den Zar entspannen. Die kleinen Bauern und Arbeiter
waren halt nicht so entspannt zur gleichen Zeit.
Mittagessen
und
weiter
ohne
Einoder
Ausschnaufen
zum
Ausflugsstandardprogramm Ermitage.
Staatliche Ermitage bedeute soviel wie staatliche Einsiedelei. Wie es denn so etwas
geben könne, fragte Denis, der Petersburger Führer. Na ja, er erklärte schon, dass
die frühe Bildersammlung Peter, des Großen zuerst in einem kleinen Haus
untergebracht war und dann und so weiter. Er war der erste, der überhaupt Bilder
(unter anderem seine Geschenke von anderen Staatsoberhäuptern) gesammelt hat
in Russland. Seine Nachkommen
und Nachzaren taten es ihm gleich,
ließen sich zum Beispiel Schulden in
Form von Bildern bezahlen und so
ist ein kleines Häuflein Kunstwerke
zusammen gekommen, die praktisch
den halben Winterpalast mit seinen
1700 und irgendwas Zimmer ausfüllt.
Der Wahnsinn! Von Rembrandt über
Monet zu van Gogh, von den
Breughels über berühmte Italiener
zu Dali – alles da, was die Welt
sonst nirgendwo zu sehen kriegt. Malachitvasen von über 2 Metern Höhe,
abgekupferte Vatikanmalerei (Zarin Katharina schickte ihre Maler einfach ein paar
Jahre in den Vatikan und ließ alles dort abmalen – quasi) und Edelsteinmosaiktische
– das alles läuft sich hier den Rang ab. Wie war das? Wollte man vor jedem
Kunstwerk in der der Ermitage nur 30 Sekunden verweilen, bräuchte man 4 Jahre
oder so.
Alle Mann aufs Sonnendeck: Der Kapitän möchte die Mannschaft sehen. Nein.
Sektempfang für die Reisegruppe mit Dolmetscherinnen für Deutsch und Italienisch.
Belangloses Geblubbere und ein Glas russisches Sekt.
Um 19 Uhr legte das Flusskreuzfahrtschiff Konstantin Fedin in St. Peterburg, wie die
Leute dort sagen, ab. Ohne, dass man auch nur irgendwas gemerkt hat, war das
Schiff schon in Fahrt, abgelegt und auf der Newa. Langsam zog das Ufer am
Kabinenfenster vorüber. Der Fluss ist hier noch breit.
Folkloreabend im Veranstaltungsraum auf dem Sonnendeck. Akkordeon, Balalaika
und Sopran. Wir kauften danach jeder eine CD!
In der Nacht um 5 wache ich auf. Renate zeigt mir, dass der Onegasee uns schon
aufgenommen hat, den wir am Südende durchfahren. Ein fantastisches Morgenrot
geht leider relativ spurlos an mir vorüber, weil das einfach nicht meine Zeit ist.
Mittwoch, 20. August 2003
Ah ja, der Tag ist hier bei 60° nördlicher Breite jetzt ziemlich lang. Die Sonne kommt
früh um 4 und verzieht sich erst wieder um halb zehn auf die Nacht.
Aber trotzdem bin ich heute erst fünf vor oder nach acht zum Kaffee auf. Heute hat
unsere Bedienerung gelernt, dass sie mir eigentlich nur eine Kanne Kaffee hinstellen
muss und schon hat sie ihre Ruhe. Es ist immer noch tollstes Sommerwetter und
deshalb rennen wir schleunigst aufs Sonnendeck, breiten unsere Decken auf einen
der Liegestühle und lesen oder kniffeln. Das Newaufer begleitet uns mit ein paar
Holzhäuschen und verrosteten Betonhallen. Mittags gabs nur die Vorspeise, weil um
16 Uhr ein Spezialschaschlik angesagt war auf Mandrogi. Wir lagen zu dritt
wiedermal im Päckchen, diesmal aber aussen. Also marschierten alle durch zwei
andere Schiffe, um an den Steg und russisches Land zu kommen. Mandrogi ist ein
künstliches, nach gebautes Dorf nur für Touris. Kunstvolle Häuser mit Souvenirläden,
in denen gehandwerkt wird, ein Restaurant, eine Post im Bau, eine Windmühle, ein
paar normale Wohnhäuser, die aber doch museumsmäßig ordentlich angemalt und
begartelt werden, ein Zirkus, eine Datscha, die man Putin geschenkt hat und das
große Zelt, in dem wir Touris mit Tee, Piroschki und Schaschlik befriedigt werden –
das alles ist Mandrogi.
Mich faszinieren vor allem die Sachen aus Birkenrinde. Birken stehen überall am
Fluss und wahrscheinlich auch sonst überall. Aus dieser Rinde entstehen kunstvolle
Döschen, Brillenetuis, Bucheinbände
und weiss ich was alles. An dem
Birkenrindenstand pries ein Junge die
Sachen seiner Familie an, der so gut
deutsch sprach, dass wir ihn fragten,
wie er das gelernt hatte. „Von den
Touristen und aus Büchern“ war die
Antwort.
Zum Schaschlik um 4 wollte ich
unbedingt mein im Petersburger 24Stunden-Supermarkt
erstandenes
kaukasisches Aivar vom Schiff holen.
Grade als ich zum Anleger kam, fuhr der erste des Päckchens ab und unsere MS
Konstantin Fedin wartete, bis sie wieder festmachen konnte. So eine
Päckchenliegerei wie in Dänemark zur besten Reisezeit.
Heute konnte ich im Bett noch den 10. Band von Donna Leon anfangen. Brunetti hielt
mich wach bis halb 12.
Donnerstag, 21. August 2003
Die ganze Nacht waren wir durch den Ladogasee nach Norden gefahren und um 6
wachte ich von einer angenehmen Schaukelei auf. 1,5 Meter Welle wiegte mich aber
gleich wieder in den Schlaf.
Um 8 noch vor dem Frühstück machen wir auf der Museumsinsel Kishi fest. Diesmal
lagen wir im Fünferpäckchen. Es wird immer doller. Wolken dräuten am Himmel und
als wir um 9 den Marsch zur ersten Holzkirche Russlands antraten, regnete es
sprühnieselig. Zuerst schonte ich noch mein Schirmchen, aber als die Hose schon
nass war, spannte ich das rote Stück doch auf. Die Bilder der Türmchenkirche vor
blauem Himmel kannten wir schon aus den
Reiseführern. Jetzt war leider alles grau in
grau, aber die Stimmung passte irgendwie
trotzdem. Auch hier hatte man Häuser aus den
umliegenden Inseln dazu gebaut, damit die
Reisenden etwas zu schauen haben. Die
passenden Geschichten kamen von einem
etwas schüchternen Mädelchen, die mit leiser
Stimme und etwas ungelenken Redewendungen historische Daten und Erklärungen
bot. Als ich an den Souvenirständen vor dem Steg die Birkenrindendöschen! in den
Auslagen studierte, fragte sie mich, ob ich ihr die Euromünzen in Scheine tauschen
könnte, weil die Bank Münzen nicht annehme. Na klar, Mädel! Nach Tagen
Überlegung kaufte ich also eine Birkenrindendose mit Deckel, in die man Tee tun
kann. Das Glöckchen habe ich mir wieder verkniffen. Kommt schon noch.
Nach Kishi gings durch Angst einflößende Untiefen. Wir mit unseren 2,8 Metern
Tiefgang sollten durch das Inselgewirr im Ladogasee schon aufpassen, gell!
Um 14.40 war für die Gruppe 3 (dazu gehören wir) die Führung auf der Brücke.
Renate hatte keine Lust. Aber ich. Der Kapitän erzählte was über Länge und Breite
des Schiffes, Tiefgang 2,60 m und so Zeug. Drei Maschinen brauchen am Tag 7000
Liter. Wir fahren ja auch täglich ungefähr 20 Stunden. Das macht pro
Maschinenstunde ca. 100 Liter. Ich wollte wissen, wie viel Wasser wir an Bord haben
(400 Tonnen) und ob nachgetankt werden muss (3 mal). Das Radar ist a bissl
antiquiert, aber es funktioniert und das ist bei den dauernden Nachtfahrten schon gut
zu wissen. GPS gibt’s natürlich auch. So eins, wie auf allen Segelyachten auch.
Ohne Plotter und winzig. Raymarine oder so stand drauf. Aber für die Navigation
gibt’s einen Computer mit Seekarte. Alles geplottet und zusätzlich natürlich auf der
Karte mitgekoppelt, wie sich das eben gehört. Ziemlich geplättet war ich, als ich auf
der Seekarte die Kompassrose mit der Missweisung sah: 10,was Grad Ost jährliche
Änderung 0,3° Ost. Ja, das sei hier so am 60° Breitengrad und außerdem sei da so
eine Insel nördlich, die diesen Wert mit verursache. Da werden in einem Buch noch
richtig Kurse umgewandelt, ich hab’s gesehen. Gut, dann werde ich vertrauensvoll
weiterhin diesem Schiff anvertrauen.
Zweite Russischstunde war heute auch angesagt. Gestern war schon der Anfang
gemacht mit der Aussprache der Buchstaben und 5 Wörtern. Heute kamen ein paar
dazu und jetzt wird’s schwierig mit den ganzen Zahlen. Zimmernummer dwestidwadzat-djewjat heißt 229, aber ausgesprochen wird’s noch mal komplizierter.
Um 17 Uhr dann kleine Geschichtsstunde über das Ende der Zarenzeit und den
tausend Aufständen. Jelena sprach leider so langweilig und inkompetent, dass
Renate nach 3 und ich nach 15 Minuten aufstand und ging. Lieber spielten wir ein
kleines PingPong im Keller.
Abends spielte ein Wettbewerbspreisträger und eine Wettbewerbspreisträgerin ein
geniales Konzert (Violine und Klavier) mit Brahms und Kreisler. Fantastisch
einfühlsame Musik mit vorbeiziehendem Kanalufer.
Freitag, 22. August 2003
Vormittags wieder Russisch. Die
strenge
Lehrerin
Natascha
kontrollierte, ob wir alle unsere
Zimmernummern hersagen konnten
und nach der Wiederholung der
beiden Lieder Stenka Rasin und
Kalinka gab es ein neues Lied, das
mit Akkordeonbegleitung gesungen
wurde. Witscherny swon nach der
schönen Melodie „Mi leckst am Arsch,
am Arsch leckst mi“. Oder ist das
russische Lied vielleicht das Orginal? Alle Lieder sangen wir in einer unendlichen
Langsamkeit, dass man fast das Kribbeln kriegen konnte.
Kaum in der Kabinezurück und zwei Zeilen gelesen, war es wieder Zeit, in den
Vortrag über russische Ikonenmalerei zu gehen. Runter vom Sonnendeck - rauf aufs
Sonnendeck! Wir wohnen im Hauptdeck, fast das unterste Deck mit einem
angenehmen Blick aufs Flussufer. Hier ist es von allen Kabinen am ruhigsten, sagt
die Helga, die ja mittlerweile die dritte Kemenate bezogen hat, weil sie das Zittern
und Wummern des Schiffes nicht aushalten kann. Tanja machte die Erklärungen
ganz gut, wenn man mal davon absieht, dass jeder Satz mit „und“ begann
beziehungsweise der Vortrag ein einziger Wurmsatzwurm war. Sie erläuterte die
Bedeutung der Farben in der Ikonenmalerei, wie der Maler vor der Arbeit gefastet
haben musste und dass die Hälfte der alten wertvollen Ikonen heute nicht mehr in
Russland seien, sondern ins Ausland verkauft wurden.
Um 14 Uhr legten wir in GORITZY an. Der Busausflug ging zu einem berühmten
Nonnenkloster, dem drittgrößten in ganz Russlang. Reiseleiter Michael bot aber
alternativ an, mit ihm zwei Bauernhöfe zu besuchen. Ich stellte mir natürlich
Scheunen und Tiere vor, aber zu sehen bekam das kleine Häuflein, das von Klöstern
schon genug hatte, zwei winzige Hüttlein. Die Hausfrau bat uns herein und durch
einen muffligen Eingang von 2 Quadratmetern traten wir in die Ein-Raum-Wohnung.
Das wichtigste in so einem Raum ist der Ofen, der bei winterlichen – 40°C für eine
Überlebenschance sorgt. Die Omi hatte die Bettstatt direkt hinterm Ofen. Die
restliche vierköpfige Familie teilte sich die verbleibenden drei Betten und den
Fussboden. Räumliche Trennung schufen die quer im Zimmer verteilten drei
Schränke. Und das alles fand Platz auf ungefähr 20 qm. Dementsprechend sah es
auch aus. In einem Eisentöpfchen köchelte in einer Nische des Ofens ein Süppchen
– ich hab den Deckel aufgehoben und gerochen. Kohl mit irgendwas, nicht schlecht!
Im Gärtchen gab es wie überall Kohl, rote Bete, Möhren, Gurken, Salat und viel Dill.
Auch auf unserer Konstantin Fedin wurde furchtbar viel mit Dill gewürzt.
Das zweite Hutzelhäuschen, in das wir geführt wurden, gehörte einer einzelnen
Rentnerin, deren Mann gestorben und die Kinder in der Stadt waren. Sie hatte genau
so viel Platz wie die fünf Leute nebenan für sich und deshalb viel mehr Ordnung.
Eine schöne Decke lag auf ihrem Bett, das wieder durch einen Schrank abgeteilt in
einer Ecke stand. Eine sehr interessante Stromverkabelung 10 Zentimeter unter der
Decke führte zu einer supertollen Deckenlampe, die bestimmt ein Geschenk der
Kinder war. Sie passte so gar nicht zum Rest der ärmlichen Einrichtung. Beim
Eintreten schon bekamen wir ein Glas Wodka in die Hand gedrückt. Ausspülen oder
nur Auswischen von den Vorgängern hats nicht gebraucht. Alkohol desinfiziert!
Augen zu und runter mit dem Wässerchen. Kuchen hatte sie für ihre Gäste am
laufenden Band gebacken und Bonbons im Magasin gekauft. Beim Verabschieden
drückte ihr jeder Geld in die Hand, nachdem wir von Michael aufgeklärt wurden, dass
sie von 50 Dollar?? im Monat leben muss. Wahrscheinlich wird von jedem Schiff ein
Grüpplein durch diese zwei „Bauernhöfe“ geführt und das Einkommen der beiden
ums Zehnfache aufgebessert.
Vor dem Landesteg hatten sich neben
den üblichen Souvenirständen, an
denen es die immer gleichen Sachen
zu kaufen gibt, ein langer Tisch
aufgebaut, an dem die kleinen Leute
Gemüse, Pilze (die größten Steinpilze
lagen da haufenweise), Essiggurken
und geräucherte Fische aus dem
Fluss anboten. Riesige Zander von
bestimmt 1,5 kg warteten da nebst
kleineren Barschen oder was das war.
Mmh. Ich beschloss, einen solchen Räucherfisch zu probieren, wollte ihn aber erst
kaufen, wenn ich wieder aufs Schiff ging.
So schlenderte ich die Staubstraße entlang – Zeit hatte ich ja genug bis 17 Uhr. An
der Kreuzung zog mich das Magasin an. Ich muss doch immer schauen, was es in
Supermärkten so gibt. Emailtöpfe, Mehl und Zucker in Plastiktüten, Brot, eine ganze
Süßwarenabteilung, in der es sogar M&M Schokodrops gab, Zigaretten aller Marken
für 1 €! (ohne unsere hohe Steuer geht das) neben den russischen billigen. Gemüse
und Tiefkühlpiroggen, Fertiggerichte mit Plastikgabel und viel Gesöff. Biere, Weine
und mindestens 25 Wodkasorten. Ich nahm einen Rotwein, eine Plastikflasche
einheimisches Bier und einen Wodka mit. Im Kaufrausch verstieg ich mich sogar zu
einer Packung Balkanskaja-Zigaretten für 7 Rubel (20 Ct.). Für alles zusammen
bezahlte ich 120 Rubel (keine 4 €). Im obligaten Rucksack trug ich alles aufs Schiff
und dekorierte das kleine Tischchen in der Kabine damit.
Anschließend zog ich wieder los und spazierte über ausgetretene Wiesenpfade
entlang des Ufers 400 m zu zwei Kirchen und den Häusern, die innerhalb der
Kirchenmauer standen. Ein altes Mütterchen mit restlichen drei Zähnen im Oberkiefer
wollte mir unbedingt etwas erzählen, nachdem ich sie mit „dobryj den“ begrüßt hatte.
Aber zu viel mehr haben die Russischstunden noch nicht gereicht. Schad! Die letzten
Tage zeigte sich der Himmel meistens bewölkt und es war nur 17°C warm, war mit
dem Fahrtwind zusammen schon die Wolldecke aus dem Zimmer erforderlich
machte, wenn man an Deck sitzen und kniffeln oder nur schauen wollte. Beim
Aussteigen in GORITZY spitzte die Sonne hervor und schon riss ich mir alles bis aufs
Top und die Bermuda vom Leib.
Eine weitere kleine weiße Kirche, von
außen ganz unscheinbar, war im
Innern reich mit Ikonen und farbigen
Malereien geschmückt. Sie steht
direkt am Ufer und Gott sei Dank
verirrte sich kein Tourist außer mir
dorthin. Beim Rückweg kam flotten
Schrittes eine Frau vielleicht um die
40 auf mich zu, blieb ganz nah vor mir
stehen und öffnete eine blaue
Plastikdose mit geklöppelten kleinen
grauweißen Kreuzchen drin. Kaufen.
Zigaretten und Wodka verliehen ihrem Atem eine besondere Note. Ob ich mit in ihr
Haus kommen möchte, fragte mich Jelena. Als sie meinen Namen erfragt hatte,
redete sie mich fortwährend mit „Elisabjet“ an. Ihr Mann Newgenij saß vor einem
LKW-Wagenheber und sinnierte, wie er ihn wohl schmieren könne. Sie führte mich
durch einen verbieselt riechenden Eingang in den besagten Wohnraum dieser
Häuser, die alle gleich ausschauen. Der Raum war aber nicht unterteilt durch
Schränke, sondern alle Einrichtungsgegenstände reihten sich an der Wand auf. Das
Bett der 3-jährigen Tochter Margerita, Newgenijs leere-Flaschen-Sammlung, die
Malsachen der Jelena und auf der anderen Seite das andere Bett und der Ofen.
Jelena schenkte mir ein Bild, das sie auf ein Holzbrett gemalt hatte und das ich erst
gar nicht annehmen wollte. „Doch, Geschenk“. Hinterm Ofen war noch ein kleines
Räumelein, die Küche. Fließend Wasser gibt es natürlich nicht, das holt Jelena in 5Liter-Plastikflaschen von einer Zapfstelle bei der Kirche. Verbeulte und verrostete
Emailschüsseln und –töpfe standen abgespült in einer Aussparung im gekalkten
Ofen. Eine der im Wasser liegenden Gurken mit viel Salz sollte ich essen. Brav tat
ich, wie mir geheißen. So viel Salz – und das mir!
Ich bemerkte, dass der Rauch und der Russ von der Feuerstelle bestimmt nicht
gesund sei, aber Jelena meinte, die kleine Margerita sei kerngesund, auch wenn im
Winter viel Rauch in der Wohnung sei. Wir unterhielten uns auf russisch-deutsch, das
heißt, sie sprach deutsch garniert mit russischer Ausschmückung und wenn wir nicht
mehr weiter wussten, schlug sie im schmuddligen Wörterbuch nach und zeigte mir
das Wort. Irgendwie kamen wir darauf, dass die Gegen schön sei und ich fragte sie,
ob sie denn glücklich sei. Das Wort glücklich zeigte ich ihr im Wörterbuch. Sie
schüttelte nachdenklich den Kopf und suchte den Begriff „sich gewöhnen“ und dann
noch „müde sein“.
Anschließend zeigte sie mir noch ihren Garten. Gurken, Möhren, Salat und – Dill.
Und ob ich denn nun die Klöppelkreuze kaufen würde. Sie zeigte mir ihre
Klöppelrolle mit den Instrumenten und klöppelte ein paar Klöppelschlaufen. Na klar
kaufe ich. Ohne Band 60 Rubel und
mit 100. Ich nahm das Kreuz mit
Band. Das andere sollte ich für
meinen Mann mitnehmen. Oder für
die Kinder. Auch nicht? Dann für die
Mutter. Also gut. Sie wollte dann noch
von mir fotografiert werden, drückte
mir ein vorbereitetes Kuvert mit ihrer
Adresse in die Hand und beschwor
mich, ich solle ihr unbedingt das Foto
schicken. Sie würde auch sofort
zurück schreiben – in deutsch.
Newgenij saß immer noch vor seinem Wagenheber.
Als ich schon zur Tür hinaus war, rief sie mich noch mal zurück. Sie hätte die Blumen
vergessen, die sie mir schenken wollte. Brach drei schöne Blütenstengel einer
Asternart ab und gab sie mir. Nach 200 Metern drehte ich mich noch einmal um, in
der Hand das Holzbrettbild, die Klöppelkreuzchen im Rucksack und das Kuvert mit
Jelenas Adresse im Bauchwimmerl – wir winkten uns zu. So eine eigenartige
Begegnung.
Vor unserer Konstantin Fedin warteten die Verkäufer wie vor einer Stunde geduldig
mit ihren vielen Hunden (die spielten zu siebt ganz ungeniert auf der Wiese), den
großen Steinpilzen und den geräucherten Fischen auf Kundschaft. Nein, die Hunden
wurden nicht verkauft. Ich wählte einen kleineren Fisch mit 20 cm Länge aus und
fragte nach dem Preis. 30 Rubel wollte die Frau und gegen meine Gewohnheit
handelte ich nicht, sondern gab den Gegenwert eines Euros. Die Nachbarfrau
meinte, ich brauche dazu unbedingt noch Möhrchen und Gurken und damit die liebe
Seele ihre Ruhe hat, kaufte ich ihr noch 5 Essiggurken für 10 Rubel ab. Auf dass das
Abendessen rund werde.
Mit einem Bier setzte ich mich aufs Mitteldeck und beobachtete die Szenerie noch
währende der halben Stunde bis zum Ablegen.
Als das Ufer wieder gemächlich an uns vorbeizog, spielten Renate und ich unsere
Kniffelrevanche. Das erste Spiel hatte ich gewonnen und nun strengte sie sich
mächtig an. Eine halbe Flasche Wodka leerten wir zusammen und schon hatte sie
gewonnen. 1:1!
Um 19 Uhr Neptunsfest auf dem Sonnendeck: Die Plastikgabeln vom Flugzeug
mussten als Dreizack herhalten, die wir dann beim Einmarsch vor uns hertrugen. Das
Bordpersonal kam als Schwimmer und Nixen verkleidet, ein Passagier durfte mit
zwei zusammengebundenen Flaschen und aufgemalten Augen als Fernglas den
Kapitän spielen und die russische Sprachlerngruppe sang „Stenka Rasin“. Ein paar
witzige Spielchen wurden veranstaltet und nach 25 Minuten war Neptunsfest vorbei.
Zum Abendessen brachte ich dann meinen Räucherfisch und die Gurken mit, trat
Renate die Hälfte ab und genoss diese Vorspeise. So etwas müsste es auf dieser
Reise programmmäßig geben. Jeder kauft sich seinen Fisch und bringt ihn zum
Essen mit. Witzig wäre das!
Der viele Wodka am frühen Abend tat seine Wirkung und um 21 Uhr schnarchten wir
schon in den Kojen.
Samstag, 23. August 2003
Zum Frühstück Hefepfannkuchen. Unsere Bedienung bringt mir jetzt immer freiwillig
den Kaffee. Und fragt sofort, wenn sie meine leere Tasse erspäht, ob sie
nachschenken soll. 10:15 Russisch-Stunde. Wir sangen wieder unsere Lieder und
lernten fünf neue Wörter. Kaum dass ich in meiner Koje an diesem Bericht weiter
schreiben wollte, war der dumme Uhrzeiger schon weiter gerückt auf 11:45. Vortrag
über russische Tradition und Kultur im Veranstaltungsraum auf dem Sonnendeck.
Also wieder raus aus de Kartoffeln und drei Decks nach oben getreppt. Juri und
Alexei saßen schon parat zum Musizieren und zwei Mädels der Crew lasen über
Hochzeitsrituale, Trachten und Feste vor. Renate hatte schon gestern gemeint, ob
die Musiker vielleicht zu uns nach Deutschland, genauer Nussdorf kommen könnten
um kleine Konzerte zu geben und überhaupt. Auf der Treppe traf sie Juri und sprach
ihn an. Sie solle mit der Sängerin Jelena sprechen, sie manage die Troijka. Samt
Dolmetscherin kam Jelena auch dazu und wir unterhielten uns über das Vorhaben.
Nein, abgeneigt war sie nicht. Juri brachte Renate keine Viertelstunde später einen
großen Zettel mit seiner Adresse und der von zwei russischen und dem Münchner
Kulturinstitut samt Telefonnummern und mailadressen. Er jedenfalls hat starkes
Interesse, zu uns zu kommen.
Jetzt bin ich wieder mit dem Schreiben nachgekommen, Liege im Bett mit dem
Laptop auf dem Bauch und werde bis zur Ankunft in JAROSLAWL noch etwas ruhen.
Ganz schön beschäftigt ist man auf so einer Flusskreuzfahrt!
JAROSLAWL: Mit einem günstigstenfalls 25 Jahre alten Bus kreuzten wir
Kreuzfahrer durch das Städtchen, das wir gut auch zu Fuß durchwandern hätten
können. Stets nach 600 Metern stiegen wir aus, um die Eliaskirche zu besuchen, die
an einem Platz steht, wo gegenüber das alte KPDSU-Gebäude thront. Oder thront
die Kirche? Innendrinnen eine
fünfgeschossige
(logisch,
wie
immer) Ikonostase. Das ist die
Wand mit den Ikonen, die das
Irdische vom Himmel trennt. Hinter
der Wand hielten die Priester die
Messe ab. Buben wurden stets
hinter der Ikonostase getauft,
Mädchen davor. In den Himmel
kommen ja auch nur die Männer!
Der Klapperbus brachte uns dann
die 600 Meter weiter in ein altes
Kloster. Alt ist in Russland relativ.
Alles, was vor 1800 gebaut wurde,
ist hier alt. Ein Glockenturm in
Kleinformat war auf dem Hof
aufgebaut und ein griesgrämig gelaunter, vielleicht 45-jähriger Glöckner glockte
kunstvoll auf den 10 oder 12 Glocken eine Improvisation.
Wieder keine Zeit mehr zum Weiterschreiben, das Abschiedskonzert beginnt in 2
Minuten und Renate ist schon auf dem Sprung.
Zwischendrinnen: So, nach dem ersten Teil, den ich wegen Überfüllung am Boden
sitzend genoss, trat ich an Deck und bemerkte die unglaubliche Langsamkeit des
Dahingleitens. Der Standortmonitor mit Position (57°N und 35°E) und Logge sagte
mir, dass wir grade mit lumpigen 3,3 km/h, also guten 1,5 kn dahinsausten. Heute
Nachmittag über den Stausee waren es 14 kn! Es ist ja auch fast stockdunkel und
soweit ich sehen kann, sind keine Fahrwassertonnen in Sicht. Also Wahrschau.
Das Konzert war wie das letzte schon sehr gefühlvoll gespielt von den beiden
Moskauer Konservatoriumsabsolventen und wirklich ein Genuss. Nur dass ihnen die
Stücke ausgehen, die Hälfte kannte ich schon vom Konzert vorgestern.
Nun zurück nach JAROSLAWL: Der Glöckner hatte an seinen Bändseln gezupft und
gezogen und die wunderbarsten Bimmeleien aus den Glocken geholt. Weiter gings
zur Bärin Mascha. Das arme Vieh wurde irgendwann als Baby von einem sibirischen
Jäger angeschleppt und fristet nun ihr langweiliges Dasein in einem 4 mal 20 m
großen grünen Käfig. Ob sie denn auch einmal spazieren gehen dürfe, wurde der
Wärter gefragt. „Nein, das braucht sie nicht“ war die Auskunft.
Renates heutiger Kaufrausch kündigte sich schon an den Ständen innerhalb der
Klostermauern ab. Sie erstand ein Aquarell, Lackdöschen und natürlich Filme. Es ist
bestimmt schon der 8. Streifen, den sie verknipst. Ich
kam an bemalten Holzschälchen nicht vorbei. Freie Zeit
in der „Fußgängerzone“. Ein Mütterchen bot
Schmalzgebackenes feil und ich konnte nicht umhin, mir
so ein fettes Ding zu kaufen. Schmeckte aber fei gut, so
nach Leberkäs in der Mitte und machte ziemlich satt und
durstig kurz vor dem Abendessen. Drei Viertel der
Geschäfte hatten zu, aber am Ende der 500 m langen
gepflasterten Avenue hatten 3 Straßenlokale mit
Bierausschank Tische aufgestellt. Wir genehmigten uns
ein Bierchen vom Fass für 19 Rubel und beobachteten
Leute. Die Jugend hat Jeans oder Tigerhosen an, stolpert in 10 cm hohen, langen
und spitzen Schuhen daher und bevorzugt halten alle eine Flasche Bier oder
wenigstens Cola in der Hand. Wahlweise tragen sie auch Stulpenhosen und stellen
ein Bauchnabelpiercing zur Schau. Grad wie bei uns.
Unser antiquierter Bus fuhr uns wieder 600 m zurück zur Anlegegstelle.
Der Ableger wurde wie immer mit einer schauderhaft meditativen Schnulzenmusik
über die Deckslautsprecher begleitet. Das schreib ich aber in die Beurteilung, dass
sie sich das sparen könnten! Oder wenigstens was russisches!
Das Konzert um 21:30 und das noch spätere fakultative Vodka-Seminar schenkten
wir uns wegen akutem Schlafbedürfnisses.
Sonntag, 24. August 2003
Schon um 7 Frühstück mit Wurstnestchen. Unsere Bedienung weiß schon seit ein
paar Tagen, dass ich glücklich bin, wenn sie mir sofort eine und nach 10 Minuten
eine weitere Tasse Kaffee serviert. Ich esse immer das Spezialgericht morgens, den
langweiligen Brot-Käse-Schinken-Marmeladen Frühstückskram brauch ich nicht.
Vielleicht noch eine dritte Tasse schwarzes Gebräu. Das mitternächtliche Frühstück
hatte schon seinen Grund: wir waren schon um 7 in UGLITSCH angekommen.
Gleich anschließend brachen wir auf mit unserer
Gruppe 3, der wir am Anfang der Reise einmal zugeteilt
worden waren. UGLITSCH ist so klein, dass wir nicht
einmal einen Bus brauchten. Aber geschichtsträchtig ist
das Städtchen. Der kleine Zarensohn Dimitij ist hier
ermordet worden. Niederträchtig mit einem Messer in
die Kehle. Ein Messdiener hatte das beobachtet,
schloss sich in den Glockenturm ein und läutete die
Stadt zusammen, die daraufhin die Mörder lynchten.
Tage später rückte aus Moskau eine Kommission an,
die die halbe Stadt nach Sibirien verbannte, die
Kinderfrau meuchelte und die böse Glocke durch
Herausreissen des Glockenschwengels und Abhacken
der Ohren bestrafte. Die armen Neusibirianer mussten die so malträtierte Glocke bis
nach Nowosibirsk schleppen. Die spinnen, die Russen.
Heute ist die arme Glocke wieder da und kann inmitten von Myriaden von Ikonen mit
mehr oder weniger Geschichte bewundert werden. Nein, faszinierend sind die Bilder
und die über und über mit Fresken bemalten Wände schon. Nun war es fast 10 Uhr
und die verbleibende Stunde lebte Renate den sich gestern abzeichnenden
Kaufrausch aus. An den Uhren aus der örtlichen Manufaktur kamen wir noch vorbei,
aber Malachitbroschen, Leinenhüte und Schals konnten diesmal einfach nicht liegen
bleiben. Ich hatte nur ein Räuschlein und so nahm ich ein graues Cape, eine
Haarbürste mit Birkenrindenverzierung und eine Malachitkette mit. Schon morgens
um 8! kaufte ich einem hutzligen Mütterchen genähte Topflappen ab, die mich
prompt segnen musste, weil ich ihr 20 Rubel mehr gab als sie verlangt hatte.
Grade als wir ablegten um 11 kam die
Sonne raus und wir nutzten die
Gelegenheit, unsere Kniffelentscheidung
zu spielen. Renate gewann aus einem
unerfindlichen
Grund.
Sowas!
Nachmittags gingen wir ausnahmsweise
zu keiner einzigen Veranstaltung, obwohl
wir für den Abschiedsabend heute
russische Lieder üben hätten sollen.
Morgen kommen wir in MOSKAU an und
bleiben da bis Mittwoch früh, aber
trotzdem ist heute schon Abschied. Ich
musste ja an diesem Bericht schreiben.
Kapitänsdinner nennt man das, wenn der
olle griesmufflige Kapitän drei Worte
durchs Mikrofon nuschelt und das dann
zweimal übersetzt wird. Die Vorspeise mit
15
Kügelchen
rotem
Kaviar
in
Gurkennestchen,
Lachstörtchen
und
Fischpastete war schon edel. Als zweite
Vorspeise kam ein Kinderpfännchen
Schwammerl in Mehlpapp und dann gabs noch Fleisch mit Kartoffelstäbchen. Na ja,
aber das Essen schmeckt eigentlich immer gut, wenn auch manchmal tschut tschut
gewöhnungsbedürftig. Tschut – tschut heißt ein bisschen.
Das Konzert mit Olessja und Ivan habe ich oben schon beschrieben und nach dem
Folkloreteil bin ich wieder hoch aufs 4. Deck zum Abschiedsabend der Gäste. Der
„deutsch-russische akademische Chor“ sollte auftreten und Witscherny swon und
Kalinka zum besten geben. Wir schlugen uns tapfer gegen die Sabotageversuche
einiger männlicher Mitsänger und das Publikum klatschte brav.
Montag, 25. August 2003
Ankunft um 13 Uhr am nördlichen Flusshafen MOSKAUs. Das Hafengebäude ziert
ein Stahl-Roter-Stern, der vormals Kremltürme zierte. Stalin hatte die alten Sterne
durch elektrisch leuchtende Rubinglassterne ersetzen lassen, wie wir erfahren sollten
und einen der alten so entsorgt. Gleich nach dem Anlegen stiegen wir wieder in
Busse zur Stadtrundfahrt. Heute war freie Buswahl, aber wie die Schafe wählte die
ganze 3-er Gruppe den Bus Nummer 3. Das musste bezahlt werden mit sich
steigerndem Einnickbedürfnis, weil die blasse Führerin mit eintönigster Stimme jedes
Gebäude abhandelte: „Links erblicken Sie ein schönes grünes Gebäude erbaut von
bla bla bla. Zur Sowjetzeit war es soundso und heute ist es ein irgendwas. Jetzt
fahren wir schon weiter und recht können Sie sehen ……“. So ging das drei Stunden
lang. Bei der Heimfahrt schlief zumindest der hintere Teil des Busses tief und fest,
während sie mit meditativem Singsang weiterblubberte.
Die Stadt ist bombastisch mit ihren
Riesenpalästen, dem zweitgrößten
Fernsehturm der Welt (500 und was
Meter), dem Riesenjungfrauenkloster
für ausgemusterte Zarenfrauen und –
töchter und natürlich unzähligen
Wohnklötzen aus der Stalinzeit , die
so grauslich daherschauen, dass man
wieder mal weiß, dass man selbst im
Paradies wohnt. Am roten Platz (rot =
schön!) rochen wir ins Kaufhaus Gum,
bewunderten die unermüdlichen Souvenirverkäufer und von den allen daher
geleierten Erklärungen ist sonst nicht viel hängen geblieben. Im Gum reiht sich eine
Boutique an die andere: Pierre Cardin, Yves Rocher, Chanel und wie die
gschpinnerten Wucherer noch heißen. Schicke Moskauer eilen durch die
zweischiffige Anlage, die mit Glasgewölbe überdacht ist oder sitzen lasziv im Cafe
auf der Empore. Kaum waren wir wieder draußen im Regen, sollten wir wieder
Moskaubücher kaufen – oder Regenschirme.
Durch den Park vor dem Flusshafen spazierten wir in einem hellen Moment
nachmittags noch Richtung eines Marktes. Wie im Kaufhaus Gum war der Markt ein
Sammelsurium von einzelnen Läden in einem Bauwerk aus Beton, Glas und einem
grünen Dachgewölbe und außen herum im Freien bildeten Kioske und offene Stände
zwei Ringe um das Gebäude. Komischerweise gleichen die Preise der Waren denen,
die auf der Straße angeboten werden. Also nix von wegen Angebot und Nachfrage!
Die Kodakfilme kosteten 100 Rubel, ob Touristen das Zeug jetzt dringend brauchen
oder nicht.
Am Rand des Marktes standen die
Bäuerleins aus dem Umland und
boten
Gurken,
Tomaten,
Johannisbeeren, Blumen, Kartoffeln
und Berge von Steinpilzen an. Nur
schade, dass wir nicht selber kochen
konnten! Zu gerne hätten wir da
mitgemischt.
Vor dem Abendessen kamen Alexej und Jelena samt Dolmetscherin in die berühmte
Kabine 229 und teilten uns mit, dass sie gerne Renates Einladung nach Deutschland
annehmen möchten. Fotos und Kopfputze der russischen Tracht hatten sie
mitgebracht und wir verhandelten über den Termin. Bis Anfang Oktober fahren sie
noch auf diesem Schiff und anschließend hätten sie Zeit. Nein, Flieger bräuchten sie
gar keinen, es gehe ein Bus von MOSKAU bis nach München. Für 200 €. Na dann.
Dienstag, 26. August 2003
In den Bus Nummer 3 stiegen wir
heute nicht! Kurz vor Abfahrt hieß es,
im Bus Nummer 2 wären 2 Leute
zuviel, während im 3er noch Platz
wäre. Wir dachten gar nicht daran,
umzusteigen; es war je freie Buswahl
seit gestern. So mussten die beiden
zuletzt Eingestiegenen rüber. Unser
Führer begann schon mit einem
Witzchen
über
den
Moskauer
Wetterbericht und so versprach der Kremlausflug heute interessanter zu werden als
gestern. Es nieselte abwechselnd mit ordentlichem Regen. Die Fahrt in die
Innenstadt dauert über eine halbe Stunde immer die Leningrader Straße entlang wie
gestern auch schon. Vor dem Kreml standen wir dann mindestens 30 Minuten an,
bevor man uns durch Metalldetektoren in Zweierreihen in die heilgen Hallen ließ. Es
nieselte ununterbrochen und der kalte Wind freute mich besonders. Ansichtskarten,
Bücher, mit Orden und Münzen übersäte Mützen und natürlich Regenschirme sollten
wir den Straßenhändlern abnehmen. Statt dass sie Wodka, Tee und heiße Piroggen
anboten! Oder Tücher für den Kopf und Wetterhexen.
Der Kreml selbst (Festung in der Mitte der Stadt heißt das übersetzt) ist eine wilde
Ansammlung von Palästen, Plätzen und Kirchen (sie heißen in Russland scheints
alle Kathedralen). Jeder, der irgend etwas zu melden hatte, baute ein neues Haus
dazu. Der Staatspalast von Chruschtschow schießt aber den Vogel ab. Dass er sich
nicht schämt!
Nach der größten Kanone der Welt,
dem Amtssitz von Putin und allerlei
Geschichten unseres Reiseführers
besichtigten wir die Kathedrale, in der
alle Zaren gekrönt worden waren mit
viiiel Gold an den Wänden, Ikonen aus
dem 15. Jh. und nicht einem Flecken
unbemalter Wand oder Decke.
Beeindruckend! 15 Minuten ohne
Regen und Herbstwind. In Russland
ist es nämlich Ende August schon
Herbst
Der Bus beförderte uns durch den alltäglichen Riesenstau durch MOSKAU hindurch
wieder zu unserem lauschigen Flusshafen.
Zurück in der Kabine überfiel mich ein kleines Fieber. Ich konnte unmöglich abends
mit unseren Musikern noch MOSKAU bei Nacht ertragen; sie hatten uns angeboten,
uns zu begleiten, damit Renate und ich nicht allein durch die finstere Stadt laufen
mussten. Der nasskalte Kreml mit meinen offenen Sandalen war offensichtlich selbst
mir zuviel. Die einzigen zwei Stunden, in denen sich die Sonne hervortraute,
verschlief ich und um 17 Uhr regnete es bereits wieder platz.
Elena und Alexej kamen statt unseres Ausfluges zu uns in die Kabine. Gurken, Brot,
eine Dolmetscherin, Salami und eine Flasche Wodka hatten sie dabei. Es ging mir
mit jedem Wodka (dat na = ex), danach einer Essigurke und Salamibrot besser.
Mittwoch, 27. August 2003
Abfahrt um 7:45 zum Flughafen. Pünktlich um 10:40 startete die Aeroflot und lieferte
uns brav im heimeligen Bayern wieder ab.
Nächstes Jahr mache ich die Reise noch mal, aber dann rückwärts, damit
PETERSBURG, der Höhepunkt der Reise auch am Ende liegt.
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