Kombinatorik und Polynommultiplikation 3 Vorträge für Schüler SS 2004 W. Plesken RWTH Aachen, Lehrstuhl B für Mathematik 1 Was ist Zählen? Wir sind zusammengekommen, um Mathematik an einem Beispiel kennenzulernen. Da wir nicht sehr viel an Vorwissen voraussetzen können, wollen wir uns mit dem Zählen beschäftigen. Dies ist einmal für sich interessant. Zum anderen ist es repräsentativ für viel allgemeinere Theorien und Begriffsbildungen in der Mathematik. Am Anfang stehen einige Beispiele und die Frage nach dem, was wir tun, wenn wir zählen. Am Ende der Vortragsreihe kann jeder sehr schnell ausrechnen, in wievielen verschiedenen Reihenfolgen sich n = 30 Schüler aus a = 5 Bankreihen zu je ki = 6 Schülern sich ihr Zeugnis vorne beim Lehrer abholen können. Die einzige Regel ist, dass innerhalb jeder Bankreihe nicht überholt werden darf. Die Antwort ist eine 19-stellige Zahl. Interessanter ist die allgemeine Formel, die diese Zahl produziert. Noch interessanter sind die Zusammenhänge, Begriffsbildungen und Methoden, kurz die Theorie, die zu dieser Formel führt. Letzteres soll der Inhalt dieser dreitägigen Veranstaltung sein. Ein erster Schritt bei der Behandlung solcher Zählprobleme ist ihre Visualisierung. Hier ein ganz einfaches Beispiel dafür: Beispiel 1.1 Wir haben zwei Würfel, einen roten und einen grünen. Die Frage lautet: Wie viele Möglichkeiten gibt es, dass die Augenzahlen sich um i unterscheiden? Der Fall i = 0 ist einfach: Beide Würfel müssen dieselbe Augenzahl zeigen, also haben wir 6 Möglichkeiten. Unterrichtsübung: Die i-te Reihe bearbeitet den Fall i. 1 Lösung: Visualisierung: 1 2 3 4 5 6 1 0 1 2 3 4 5 2 1 0 1 2 3 4 3 2 1 0 1 2 3 4 3 2 1 0 1 2 5 4 3 2 1 0 1 6 5 4 3 2 1 0 Durch Zählen der Zifferdifferenzen i in der Matrix sehen wir, dass wir die folgende Häufigkeitstabelle haben: Unterschiede 0 1 2 3 4 5 Anzahl Möglichkeiten 6 10 8 6 4 2 Wir sehen den Nutzen der Visualisierung. Aber um weiterzukommen, ist die Formalisierung noch wichtiger als die Visualisierung. Wir stellen zwei allgemeine Fragen und beantworten sie zunächst in diesem konkreten Beispiel: Frage 1.2 1) Was zählen wir? 2) Was tun wir beim Zählen? Diese Fragen will ich nicht philosophisch verstanden wissen, sondern ganz sachlich: Ich muss z. B. wissen, ob ein Objekt dazugehört oder nicht. Die Mathematik stellt uns zur Beantwortung der ersten Frage eine Art Datenstruktur zur Verfügung: Die Menge. Gezählt werden die Elemente einer Menge. Die Mathematik sagt nicht, was eine Menge ist, sie verlässt sich dabei auf einen allgemeinen Konsensus. Sie sagt aber sehr wohl, was man mit Mengen machen kann, z. B. ihre Elemente zählen. Mengen sind entweder gegeben durch Aufzählung ihrer Elemente oder durch (eindeutige) Beschreibung ihrer Elemente, etwa durch Eigenschaften. Wenn sich die Begriffe “Menge” und “Elemente” nicht schon eingebürgert hätten, könnte man auch Verein und Mitglieder sagen. Sehen wir uns das im obigen Beispiel nochmals etwas formaler an: 2 Beispiel 1.3 Die Menge M der Möglichkeiten, Augenzahlunterschied 4 bei den Würfeln zu haben, formalisieren wir in beschreibender Form zu: M := {(a, b)|a, b ∈ {1, 2, 3, 4, 5, 6}, a − b = 4 oder b − a = 4} und in aufzählender Form zu M = {(1, 5), (2, 6), (5, 1), (6, 2)}. Erklärung: 1) := heißt: Was links steht, wird durch das, was rechts steht, festgelegt (definiert). 2) {. . . } : Zwischen diesen beiden Zeichen werden die Elemente einer Menge aufgezählt oder beschrieben. 3) ∈ bedeutet: Was links steht, ist ein Element der Menge, die rechts steht. 4) | bedeutet (bei beschreibender Festlegung von Mengen): Links steht der Name oder die Bezeichnung eines typischen Elementes der Menge und rechts seine Eigenschaften. 5) (nur für dieses Beispiel) (a, b) bedeutet: Der rote Würfel zeigt a Augen und der grüne b Augen. Wir halten auf der informellen Ebene fest: Die Objekte, die wir zählen wollen, sind formalisiert zu den Elementen einer Menge. Die Menge ist die Zusammenfassung der Objekte bzw. Elemente. Es kann durchaus sein, dass wir unendlich viele Elemente in einer Menge haben, z. B. bei N := {1, 2, 3, . . .}, der Menge der natürlichen Zahlen. Nun zum Zählen: Definition 1.4 (vorläufig) Sei n eine natürliche Zahl 1, 2, 3, 4, . . ., d. h. n ∈ N. Eine Menge M hat n Elemente, kurz |M | = n, falls man die Elemente von M durch a1 , a2 , . . . , an benennen oder nummerieren kann, d. h. jedes Element von M kommt unter den ai genau einmal vor und kein i ∈ {1, 2, 3, . . . n} ist ausgelassen. Klar: Statt {1, 2, . . . , n} kann man auch {0, 1, 2, . . . , n − 1} zum Nummerieren einer n-elementigen Menge benutzen. 3 Beispiel 1.5 Für M = {(1, 5), (2, 6), (5, 1), (6, 2)} haben wir |M | = 4. Z. B. können wir wählen a1 := (1, 5), a2 := (2, 6), a3 := (5, 1), a4 := (6, 2). Jetzt haben wir genügend Sprache, um ein interessanteres Beispiel zu betrachten. Beispiel 1.6 Wie viele Wege der Länge n (= Anzahl der Blöcke) gibt es in Manhattan, wenn man an jeder Straßenecke nur nach Osten (0) oder nach Norden (1) gehen darf und der Ausgangspunkt eine feste Straßenecke ist? Sei Mn diese Menge der Wege der Länge n. Jeden Weg der Länge n, also jedes Element von Mn , schreiben wir als 01-Folge aus n Symbolen. n = 3: M3 := {000, 001, 010, 011, 100, 101, 110, 111}. Man sieht sofort: |M3 | = 2|M2 |, weil man die Elemente von M3 aus denen von M2 dadurch bekommt, dass man eine 0 oder eine 1 davorschreibt. In diesem Fall bietet es sich an, die Nummerierung, also die Abzählung der Elemente nicht bei 1 sondern bei 0 anfangen zu lassen: Interpretiere die 01-Folgen als Binärdarstellung von Zahlen: M3 := {000 = 0, 001 = 1, 010 = 2, 011 = 3, 100 = 4, 101 = 5, 110 = 6, 111 = 7}. Allgemein: an an−1 . . . a1 = a1 + a2 2 + a3 22 + . . . + an 2n−1 . Wir sehen, |Mn | = 2n . Unterrichtsübung: Wie sieht in der obigen Nummerierung(, die bei Null anfängt,) der 23-te Spaziergang in Manhattan aus? Hat er dasselbe Ziel wie Nummer 30? Wir wollen unsere Sichtweise der 01-Folgen noch einmal benutzen. 4 Definition 1.7 Sei M eine Menge. Die Menge N heißt Teilmenge von M , falls gilt: Ist m ∈ N , so folgt m ∈ M . Wir schreiben dann: N ⊆ M . Die Menge aller Teilmengen von M heißt Potenzmenge von M : Pot(M ) := {N |N ⊆ M }. Z. B. {1, 2, 3, 4} ⊆ {1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8}, aber {1, 2, 3, 4} 6⊆ {3, 4, 5, 6, 7, 8} Beispiel 1.8 Pot({1, 2}) = {∅, {1}, {2}, {1, 2}}. Wie die Wege in Manhattan können wir die Teilmengen von {1, 2, . . . , n} durch 01-Folgen der Länge n ansprechen: 01001 interpretieren wir als die Teilmenge von {1, 2, 3, 4, 5}, die nur das zweite und fünfte Element, also 2 und 5 enthält. Man beachte: Eigentlich haben die Elemente einer Menge keine besondere Reihenfolge, aber bei {1, . . . , n} drängt sich die natürliche Reihenfolge auf. Also würden wir Pot({1, 2}) beschreiben als: {∅, {1}, {2}, {1, 2}} ≡ {00, 10, 01, 11}. Man sieht: Pot({1, . . . , n}) hat genauso viele Elemente wie Mn , die Menge der Wege der Länge n in Manhattan. Ein drittes Beispiel liefert uns wieder 01-Folgen der Länge n: Beispiel 1.9 Wie viele Terme hat (x + y)n , wenn man es vollständig ausmultipliziert? Wie kann man die einzelnen Terme mit Namen ansprechen? Sei n = 4. Wir schreiben (x + y)4 := (x + y)(x + y)(x + y)(x + y). Ein typischer Term sieht so aus: Man wählt aus jedem der 4 Faktoren einen Summanden, also x oder y aus und multipliziert diese dann zusammen. Jeder solchen Wahl entspricht genau eine 01-Folge der Länge 4: Wir schreiben 0 bzw. 1 an der i-ten Stelle, wenn der gewählte Summand gleich x bzw. y ist. Also 0011 entspricht xxyy und 0110 entspricht xyyx. Resultat: Die Anzahl der Terme von (x + y)n ist 2n . 5 Unterrichtsübung: Multipliziere (x + ay)(x + by)(x + cy) aus und fasse soweit wie möglich zusammen! Wir fassen zusammen: Satz 1.10 Sei n eine natürliche Zahl. Die folgenden Mengen haben dieselbe Anzahl von Elementen, nämlich 2n : 1) {0, 1, 2, . . . , 2n − 1}. 2) Die Menge Mn der Wege der Länge n in Manhattan. 3) Die Potenzmenge Pot({1, . . . , n}), also die Menge aller Teilmengen von {1, 2, . . . , n}. 4) Die Menge der Terme, die durch Ausmultiplizieren von (x+y)n zustande kommen. Wenn wir uns anschauen, wie diese Einsicht zustande kam, so sehen wir noch mehr. Man kann noch eine Zahl k zwischen 0 und n wählen und dann bei den jeweiligen Punkten Zusätze machen: Bei 4) : Die Terme sollen xk y n−k ergeben. Bei 3) : Die Teilmengen sollen k Elemente haben. Bei 2) : Die Wege sollen nicht nur denselben Ausgangspunkt haben, sondern sollen auch da enden, wo |00 {z . . . 0} 11 . . . 1} endet. | {z k n−k Bei 1) : Die Zahlen (zwischen 0 und 2n − 1) sollen in ihrer Binärdarstellung genau k Ziffern gleich 1 haben. Beachte: Der Satz ist jetzt stärker geworden, weil er etwas aussagt für jedes Paar (n, k) mit 0 ≤ k ≤ n. Er ist aber auch schwächer geworden, weil er uns nicht mehr die einzelnen Anzahlen sagt, nur die Gesamtzahl: Definition 1.11 Die gemeinsame Anzahl bezeichnet man mit über k”. Sie heißt auch Binomialkoeffizient. 6 n k , lies “n Unterrichtsübung: n n n n = + + ... + , 0 1 n 2 n = 1, 0 n = n, 1 n = 1, n n n n n (x + y)n = xn + xn−1 y + . . . + y , 0 1 n n n n n 0 = − ± . . . + (−1) . 0 1 n Wie man nk ausrechnet, wissen wir noch nicht. Aber wir wollen sehen, ob es uns weiterhilft bei unserem Ausgangsproblem. Bemerkung 1.12 n Schüler seien auf a = 2 Bankreihen verteilt, so dass k1 = k Schüler in der ersten und k2 := n − k Schüler in der zweiten Reihe sitzen. Dann ist die Anzahl der Reihenfolgen, in denen die Zeugnisse abge n holt werden können k . (Einzige Regel: Die Reihenfolgen berücksichtigen die Reihenfolgen in den Bankreihen.) Beweis. Ordne jeder Reihenfolge eine 01-Folge wie folgt zu: Kommt ein Schüler aus der 1. Reihe an der Stelle i, so schreibe dort 1, sonst 0. Klar: Die Folge hat Länge n und genau k Einsen. Die Reihenfolge kann rückwärts aus der Folge konstruiert werden. Jede 01-Folge der Länge n mit k Einsen kommt vor. q. e. d. Übung: Bringe (x + x−1 )n in Beziehung mit den Wegen aus n Schritten auf einer Geraden von einem festen Nullpunkt aus, wo ein Schritt nach vorne (x) oder nach hinten (x−1 ) geht. Übung: (Pascalsches Dreieck) Schreibe an jede Straßenecke von Manhattan, wie viele Wege von der Ausgangsecke dorthin führen. Wie setzen sich diese Zahlen aus denen der vorangegangenen Ecken zusammen? 7