Römisches Kaiserreich 1 EINLEITUNG Römisches Kaiserreich, Epoche der römischen Geschichte, die mit der Errichtung des Prinzipats durch Augustus 27 v. Chr. begann und deren Ende auf die Absetzung des weströmischen Kaisers 476 n. Chr. datiert wird. An der Spitze des Römischen Reiches standen in dieser Epoche ein oder mehrere Kaiser; geographisch umfasste das Reich den gesamten Mittelmeerraum, Gallien, sowie Teile Britanniens und Germaniens. Zur Geschichte des Römischen Reiches bis 27 v. Chr. siehe Römische Republik. 2 AUGUSTUS UND DIE BEGRÜNDUNG DES PRINZIPATS (27 V. CHR. BIS 14 N. CHR.) Octavians Sieg über Marcus Antonius bei Aktium 31 v. Chr. beendete das Jahrhundert der Bürgerkriege und machte den 31-Jährigen faktisch zum Alleinherrscher des Römischen Reiches. Octavian schritt nun zur Institutionalisierung und Legalisierung seiner gewaltsam usurpierten Macht. Anders als zuvor Caesar verschleierte er seine autokratische Stellung und kleidete sie ins Gewand republikanischer Rechtsbegriffe. Er nannte sich princeps („der Erste”) und demonstrierte so, dass er sich als Standesgenosse der Senatoren sah, die er – als Richter, Legionskommandeure und Statthalter in den Provinzen – an der Macht teilhaben ließ. 27 v. Chr. gab Octavian alle außerordentlichen Befugnisse an Senat und Volk zurück und nahm, gleichsam als zweiter Gründer Roms nach Romulus, den Ehrentitel Augustus („der Erhabene”) an. Augustus erhielt mit prokonsularischem Imperium (27 v. Chr.) und tribunizischer Gewalt (23 v. Chr.) faktisch den Oberbefehl über das Militär und die Finanzhoheit, ohne dass er die entsprechenden Magistraturen zu bekleiden hatte. Das Heer, das sich zu einem Berufsheer wandelte, verband er sich in der sozialen Nahbeziehung der Klientel, symbolisiert durch die Allgegenwart von Augustusbildnissen in den Legionslagern. Die Legitimität des Prinzeps ruhte maßgeblich auf seiner Rolle als Friedensbringer nach dem Chaos der Bürgerkriege (siehe Augusteisches Zeitalter). Gleichwohl expandierte Rom, wenn auch zurückhaltender, unter Augustus weiter: auf dem Balkan bis zur Donau, in Spanien, das erst jetzt vollständig erobert wurde sowie in Germanien, wo freilich die Niederlage des Varus 9 n. Chr. über den Rhein hinausgehende Eroberungspläne scheitern ließ. Insgesamt leitete der augusteische Prinzipat eine Epoche außenpolitischer Konsolidierung ein: Mehr und mehr ging das Reich in die Defensive und konzentrierte sein militärisches Potential auf die Grenzbefestigung. Augustus förderte die Urbanisierung der Provinzen durch Anlage von Veteranenkolonien und großzügige Verleihung des römischen und latinischen Rechts. Nach und nach verbesserten sich die Aufstiegsmöglichkeiten für Provinzialen, die seit Kaiser Claudius (Regierungszeit 41-54 n. Chr.) auch in den Senatorenstand gelangen konnten. Hauptproblem des Prinzipats war und blieb die Nachfolgefrage. Am meisten Legitimität konnte eine dynastische Lösung beanspruchen: Der Prinzeps „vererbte” Klientel und Vermögen, wie im Privatrecht üblich, seinem Nachkommen. Von den mangels eigener Söhne von Augustus adoptierten Kandidaten überlebte einzig Tiberius, der 14 n. Chr. reibungslos die Nachfolge des postum vergöttlichten Augustus antreten konnte. 3 DER PRINZIPAT (14-284) Das römische Weltreich stand beim Tod des Augustus über alle Maßen gefestigt da. Mit der Person des Prinzeps war eine neue Klammer für das seit der Expansion heterogenere und komplexere Herrschaftsgebilde geschaffen. Die rivalisierenden Aristokraten waren in ein System integriert, das die Spielräume zur Entfaltung des Einzelnen drastisch beschnitt. Die zahlreichen Einzelverantwortungen des Prinzeps schmolzen allmählich zu einer einheitlichen kaiserlichen Gewalt zusammen. Ausgehend von den Provinzen wurde die Person des Prinzeps nach und nach auch Gegenstand kultischer Verehrung. Bis zur Vergöttlichung schon zu Lebzeiten des Monarchen war es nur noch ein kleiner Schritt. Der kaiserliche Haushalt wurde zur Keimzelle eines eigenständigen Verwaltungssystems, das die Funktionen der republikanischen Institutionen schrittweise übernahm. Ritter und (seit Claudius) zunehmend auch Freigelassene machten hier Karriere und besetzten Schlüsselpositionen. Indessen nahm die Bedeutung des Senats, den die Kaiser wiederholt mit ihren Günstlingen besetzten, kontinuierlich ab; seine Rolle als Machtfaktor übernahm nun sukzessive das Heer, und hier besonders die Prätorianer als kaiserliche Leibgarde. Die enge Verbindung des Kaisertums mit dem Militär war zugleich seine wesentliche Schwachstelle: Wenn beim Tod eines Kaisers kein legitimer Nachfolger bereitstand oder der Amtsinhaber seine Legitimität eingebüßt hatte, betätigte sich oftmals das Heer als Kaisermacher. Zunehmend standen in den Kommandeursrängen Usurpatoren bereit, die, gestützt auf ihre Truppen und nicht selten von diesen gedrängt, den Kaiser für abgesetzt erklärten und selbst nach dem Diadem griffen. Oft wuchsen sich Usurpationen zu Bürgerkriegen aus und erschütterten, zumal wenn sie mit außenpolitischen Krisen zusammentrafen, das Reich aufs schwerste. Die erste gravierende Krise des Prinzipats trat ein, als Nero (54-68), der sich vom geistigen Ziehkind des stoischen Philosophen Seneca zum despotischen Tyrannen gewandelt und jede Legitimität verspielt hatte, zum Selbstmord getrieben wurde und kein Nachfolger aus dem julisch-claudischen Kaiserhaus (14-68) mehr zur Verfügung stand. In diesem Machtvakuum riefen der Senat und in den Provinzen stehende Truppenteile je eigene Kaiser aus: Als Sieger aus dem Bürgerkrieg (siehe Vierkaiserjahr) ging Vespasian (69-79) hervor, der seine Söhne Titus und Domitian an der Macht teilhaben ließ und so eine neue Dynastie, die flaviische (69-96), begründete. Domitian (81-96) forderte, die Grenzen kaiserlicher Macht überschreitend, göttliche Verehrung für sich ein, nannte sich dominus („Herr”) und provozierte die alten Eliten mit seinem autokratischen Herrschaftsstil. Als er im Jahr 96 einer Palastverschwörung zum Opfer fiel, drohte erneut ein Machtvakuum. Diesmal jedoch verschaffte sich ein Prinzip Geltung, das die Nachfolgefrage löste und dem Amtsinhaber Rückhalt sicherte: Der vom Senat inthronisierte Kaiser Nerva (96-98) adoptierte mit Trajan unverzüglich einen Nachfolger und schuf so das Modell des Adoptivkaisertums (96-180). Die Praxis der Nachfolgeradoption spiegelte das stoische Ideal vom Herrscher, der hohen ethischen Ansprüchen zu genügen hatte. Die Adoptivkaiser – der militärisch tüchtige Trajan (98-117), unter dem das Reich seine größte Ausdehnung erreichte, der reisefreudige, belesene Hadrian (117-138), unter dem besonders die griechischen Städte des Ostens eine neue Blüte erlebten, Antoninus Pius (138-161) und schließlich Mark Aurel (161-180), der „Philosoph auf dem Kaiserthron” – setzten zwar politisch je eigene Akzente, regierten aber alle ein Weltreich, das nach Außen wie im Inneren den Höhepunkt seiner Macht und seines Wohlstands erreicht hatte. Dennoch warf jene Krise, die Rom im 3. Jahrhundert zutiefst erschüttern sollte, bereits unter Mark Aurel ihre Schatten voraus: Mit Markomannen und Quaden drängten germanische Stämme von Norden her gegen die Donaugrenze und gefährdeten unmittelbar auch Italien. Zugleich erfasste eine schwere Pestepidemie das Reich und gerieten die Staatsfinanzen in eine gefährliche Schieflage, die die Staatsführung mit einer Verschlechterung der Münzen durch Beimischung unedler Metalle beantwortete. Die Nachfolge Mark Aurels trat, mit dem Adoptionsprinzip brechend, dessen Sohn Commodus (180-192) an, ein zweiter Nero, der einer Palastverschwörung zum Opfer fiel. Abermals erhoben die Legionen an der Reichsperipherie rivalisierende Prätendenten, bis sich 197 Septimius Severus aus Leptis Magna in Afrika durchsetzte. Das Chaos der Usurpationen verschärfte die seit Claudius gängige Praxis des Donativs: Die Soldaten erhielten von ihren Feldherren Geldgeschenke, deren Höhe inflationär zunahm. So kam es, dass nach dem Tod des Commodus das Kaisertum regelrecht versteigert wurde – die stets an Donativen interessierten Soldaten wurden ein Hauptfaktor bei der Destabilisierung der Reichsspitze. Septimius Severus kürzte zwar das Donativ, erhöhte aber den regulären Sold so drastisch, dass sich die Armee bald zu einem untragbaren Kostenfaktor entwickelte. Die Solderhöhung brachte die Spirale von Kostensteigerung, Geldentwertung und wirtschaftlichem Niedergang erst recht in Schwung, mit verheerenden Folgen für die gesellschaftliche Stabilität. Zugleich vollzog sich eine Schwerpunktverlagerung im Reich von Italien zu den Provinzen. Mit Trajan war erstmals ein Provinziale (aus Spanien) Kaiser geworden; aus den Provinzen ergänzte sich die römische Führungsschicht, und namentlich die Osthälfte des Reiches profitierte wirtschaftlich von der Pax Romana („Römischer Frieden”). Unter der severischen Dynastie (192-235), die selbst familiäre Bindungen nach Syrien unterhielt, breiteten sich orientalische Mysterienkulte (Mithras, Sol Invictus) rasant im Reichsgebiet aus. Italien büßte seinen Sonderstatus allmählich ein, und folgerichtig erhielten unter Caracalla (211-217) alle freien Reichsbewohner das römische Bürgerrecht (Constitutio Antinoniana von 212). Schon in severischer Zeit wandelte sich auch das außenpolitische Umfeld Roms: Im Osten trat an die Stelle des feudalisierten, innerlich geschwächten Partherreiches die Dynastie der Sassaniden (seit 224), die aus Persien in der Tradition der Achaimeniden ein neues, die römische Euphratgrenze bedrohendes Machtzentrum machte. Ihren Höhepunkt erreichte die Konfrontation mit der Gefangennahme des römischen Kaisers Valerian 260 und dem Vorstoß der Perser unter Schapur I. (242-272) bis Antiochia. Ungefähr gleichzeitig (seit etwa 230) bildeten sich zwischen Rhein und Schwarzem Meer neue Konföderationen germanischer und anderer Stämme, die gegen den römischen Limes und die Donaugrenze drängten. Mit dem Ende der severischen Dynastie setzte sich ein verhängnisvoller Kreislauf aus Usurpationen und Gegenusurpationen in Gang, der den Bürgerkrieg zum Dauerzustand machte und die Verteidigungskraft nach außen lähmte. In den knapp 50 Jahren zwischen der Ermordung des Severus Alexander (235) und der Thronbesteigung Diokletians (284), der Zeit der Soldatenkaiser, lösten sich 21 vom Senat anerkannte und eine Unzahl illegitimer Herrscher in rascher Folge ab. Innere Konflikte und äußere Bedrohung schaukelten sich gegenseitig, fast bis zur Katastrophe, auf. Die politische und militärische Krise des Reiches, gemeinsam mit dem wachsenden, besonders auf der städtischen Bevölkerung lastenden Steuerdruck, schufen ein Klima von mystischer Weltabgewandtheit durchdrungener Endzeitstimmung. Bereits die aufkeimenden Mysterienreligionen hatten die traditionelle römische Religiosität nachhaltig verändert. Nun trat mit dem Christentum und seiner raschen Ausbreitung unter der Reichsbevölkerung ein neuer Faktor hinzu. Christliche Vorstellungen standen der im Zeichen der Krise von zahlreichen Kaisern betriebenen religiösen Fundierung des Kaisertums radikal entgegen. Als Kaiser Decius (249-251) von allen Reichsbewohnern ein Opfer für die Staatsgötter einforderte und sich die Christen dem verweigerten, ordnete der Prinzeps die erste allgemeine Christenverfolgung an (250), beispielgebend für ähnliche Aktionen 257 unter Valerian und 303 unter Diokletian. 4 DER DOMINAT (284-476) Diokletian (284-305), einem altgedienten Offizier, gelang es, mit einem Bündel von Maßnahmen den drohenden Untergang des Reiches noch einmal abzuwenden. Er stellte die angestammte, in den Jahrhunderten vielfach modifizierte Prinzipatsordnung auf ein gänzlich neues Fundament und begründete damit auch ein qualitativ anderes Kaisertum: Der Kaiser, von nun an legibus solutus dominus („von Gesetzen losgelöster Herr”), wurde absoluter Herrscher und, mehr noch, in eine religiöse Sphäre entrückt, die Reichsbewohner umgekehrt zu Untertanen (subiecti). Kaiserliche Erlasse, bald in Kodizes kanonisiert, ersetzten die Gesetzgebung. Mit Reformeifer ging Diokletian das Problem der Münzverschlechterung und die Sanierung der Staatsfinanzen an. Das Kaiserhaus wurde zur Schaltzentrale einer einheitlichen Verwaltung mit consistorium (Kronrat) und Fachsekretären für Finanzverwaltung und Justiz. Auch das Besteuerungssystem wurde vereinheitlicht, um einen steten Zufluss an Steuermitteln zu gewährleisten. Diokletian gestaltete die kaiserliche Reichsspitze zur Tetrarchie (Viererherrschaft) um: Er berief als Kollegen und zweiten Augustus Maximian (286), und jeder der beiden Augusti ernannte 293 je einen Caesar als „Unterkaiser” (Constantius Chlorus und Galerius). Damit war die höchste Reichsgewalt, gleichsam vervierfacht, in allen Reichsteilen vor Ort präsent. Zugleich waren potentielle Usurpatoren ins diokletianische Herrschaftskartell eingebunden. Trotz oder gerade wegen der ausgeklügelten Mechanik der Tetrarchie (die Augusti sollten nach 20 Herrschaftsjahren abdanken, die Caesares zu Augusti aufsteigen und wiederum zwei Caesares ernennen) lief das System schon kurz nach der Abdankung Diokletians und Maximians (305) aus dem Ruder: Ohne die überragende Autorität Diokletians brachen Konflikte zwischen den Tetrarchen auf, die abermals in einen Bürgerkrieg mündeten, aus dem schließlich Konstantin der Große, der Sohn des Constantius Chlorus, als Sieger hervorging (Schlacht an der Milvischen Brücke 312). Konstantin (306-337), selbst durchaus alter römischer Tradition verhaftet, legalisierte das Christentum und räumte dem christlichen Gott, wenngleich noch innerhalb des heidnischen Pantheons, einen privilegierten Platz ein. Die Kirche mit ihrer regional gegliederten Organisation wuchs in das römische Verwaltungssystem hinein und wurde schon unter Konstantin, erst recht unter seinen Nachfolgern, zu einer tragenden Säule der Reichsgewalt. So rückten auch theologische Dispute der Christen auf die Agenda der Reichspolitik: An ihnen entzündeten sich mehrfach blutige Auseinandersetzungen (Donatisten-Streit, Orthodoxie versus Arianismus, Monophysiten). Von den Kaisern nach Konstantin versuchte allein Julian Apostata („der Abtrünnige”, 361363), der Christianisierung entgegenzuwirken. Wegweisend wirkte Konstantins Neugründung einer Hauptstadt im Osten: Damit verschoben sich die Gewichte endgültig nach Osten. In Konstantinopel, dem „Neuen Rom”, rückte das Kaisertum näher an die ökonomisch prosperierenden Reichsteile (Syrien, Kleinasien) und zugleich an die kritische Euphratgrenze zum Sassanidenreich. Rom behielt seine symbolische Bedeutung, verlor aber mehr und mehr seine politische Funktion, bis es auch im Westen von neuen Hauptstädten (Mailand, Ravenna) abgelöst wurde. Der spätantike Staat mit seinen spezifischen Entwicklungstendenzen (Bürokratisierung, Militarisierung, Vereinheitlichung des Steuersystems, Umwandlung Roms in ein christliches Reich) entfaltete bald seine eigene dialektische Dynamik: Einerseits wirkten die diokletianisch-konstantinischen Reformen durchaus stabilisierend – dem Staat erschlossen sich neue Geldquellen, verstärkte Militarisierung erlaubte einen verbesserten Grenzschutz, das Kaisertum fand mit dem Christentum eine neue Legitimationsgrundlage. Dem Druck des „Zwangsstaates” (Steuern, Berufszwang, Dienstpflicht) entzogen sich aber gleichzeitig immer mehr Untertanen; einige Reichsteile erfasste eine regelrechte Deurbanisierungswelle. Zudem förderte das Christentum eine neue Form jenseitsorientierter Innerlichkeit: Mönchstum und Eremitenwesen entzogen Wirtschaft und Militär einen wachsenden Personenkreis. Innere Probleme trafen seit etwa 375 mit äußerer Bedrohung durch mobile Stämme, die ihrerseits durch die Westwanderung der Hunnen in Bewegung versetzt worden waren (Völkerwanderung), zusammen. Beides mündete in die für das Westreich tödliche Krise des 5. Jahrhunderts. Die im Krimraum ansässigen Goten drängten über die Donaugrenze; der römische Kaiser Valens stellte sich ihnen 378 bei Adrianopel entgegen, wurde besiegt und fand in der Schlacht den Tod. Angesichts immer neuer Invasionsschübe sah sich die Reichsspitze gezwungen, Germanen als zu Heeresfolge verpflichtete Föderaten (Bundesgenossen) auf römischem Boden anzusiedeln. Damit waren potentielle Unruheherde geschaffen, die besonders dann akut wurden, wenn Rom von internen Konflikten, etwa Usurpationen, geschüttelt wurde. Zumal seit der endgültigen Reichsteilung nach dem Tod des Theodosius (395) in einen West- und einen Ostteil wurden die Föderaten zum Problem, lehrbuchartig demonstriert durch den Zug der Westgoten unter Alarich durch Griechenland und den Balkan bis nach Rom (396-410): Abwechselnd verpflichteten sich beide Reichshälften in ihrem Konflikt Alarich als Bundesgenossen und machten die Alarich-Goten zu regulären römischen Truppen, bald des Westens, bald des Ostens. Mit dem Ende des Bruderkrieges zwischen West und Ost auf sich allein gestellt, belagerte, eroberte und plünderte Alarich 410 Rom – ein Fanal für die noch immer auf die Roma aeterna („ewiges Rom”) blickende spätantike Welt, das sich 455, knapp 50 Jahre später, bei der Plünderung Roms durch die Wandalen wiederholte. Stilicho, Magister Militum (Heermeister) des Westens und selbst Germane, entblößte beim Versuch, Alarich in Norditalien aufzuhalten, die Rheingrenze. In der Neujahrsnacht 406/407 überschritten Sweben, Wandalen und Alanen den Rhein; Gallien und die Iberische Halbinsel wurden endgültig Siedlungsgebiete germanischer Stämme, die nun auf römischem Reichsboden eigene, mit Rom nurmehr lose verbundene Staaten gründeten (Westgoten-, Burgunder-, Wandalen-, Frankenreich). In seiner Agonie geriet das weströmische Kaisertum in vollständige Abhängigkeit von wechselnden römischen und germanischen Heermeistern (Stilicho, Aetius, Ricimer, Odoaker). Zwar gelang 451 auf den Katalaunischen Feldern noch einmal die Abwehr einer hunnisch-ostgotischen Stammeskonföderation unter Attila, aber danach versank die westliche Reichsspitze endgültig im Chaos. 476 setzte der germanische Heermeister Odoaker den letzten Kindkaiser ab, der in seinem Namen symbolträchtig zwei römische Gründerfiguren vereinigte: Romulus Augustulus. Das darf jedoch nicht über die vielfältigen Kontinuitäten hinwegtäuschen, die das Ereignis den Zeitgenossen kaum als historische Zäsur erscheinen ließen: Im Westen wirkten römische Traditionen, vermittelt über die das Machtvakuum füllenden germanischen Staatenbildungen, durch Bürokratie und Kirche über Jahrhunderte fort; im Osten setzte sich das römische Kaiserreich als „Reich der Rhomäer” (so die Eigenbezeichnung des Byzantinischen Reiches) bis 1453 direkt fort, wenn auch unter gewandelten kulturellen und politischen Vorzeichen. Verfasst von: Michael Sommer Microsoft ® Encarta ® Enzyklopädie 2003. © 1993-2002 Microsoft Corporation. Alle Rechte vorbehalten.