seel03 Handbuch, 66-70 b) Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie nach Carl R. Rogers und ihre kritische Rezeption in der DDR Den Einfluß der Humanwissenschaften auf die moderne Seelsorge wollen wir uns beispielhaft vergegenwärtigen an der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie. 1. Die Gedankenentwicklung von C. R. Rogers läßt sich verdeutlichen anhand der Biographie. Sein Elternhaus war gekennzeichnet durch "eine strenge und kompromißlose religiöse und ethische Atmosphäre" (Rogers, 21). Es gab "keine alkoholischen Getränke, kein Tanzen, keine Karten oder Theater, sehr wenig gesellschaftliches Leben und viel Arbeit" (ebd., 21). Nachhaltig wirkte auf C. R. Rogers die Teilnahme an einer Konferenz des Christlichen Studentenweltbundes; er machte die Erfahrung, "daß ernsthafte und ehrliche Menschen sehr verschiedenen religiösen Doktrinen anhängen können". Dies bewirkte eine Emanzipation von den religiösen Ansichten seiner Eltern. Rückblickend sagt er von sich, daß er "hierbei - mehr als zu irgendeinem anderen bestimmten Zeitpunkt - ein unabhängiger Mensch wurde" (ebd., 23). Nach einigen Semestern an einem als liberal geltenden theologischen Seminar entstand der Wunsch nach einem neuen Arbeitsbereich: "Daß Fragen über den Sinn des Lebens und die Möglichkeit einer konstruktiven Verbesserung des Lebens der einzelnen mich wahrscheinlich immer interessieren würden, ahnte ich; ich konnte jedoch nicht in einem Bereich arbeiten, in dem man immer von mir verlangen würde, an eine bestimmte religiöse Doktrin zu glauben" (ebd., 24). Ein Arbeitsbereich, der ihm die Freiheit der Gedanken ließ, schien ihm die Psychologie. Nach Studien an der Pädagogischen Hochschule der Columbia-University arbeitete C. R. Rogers in der Erziehungsberatung; zwölf Jahre war er tätig in der Arbeit an straffällig gewordenen und unterprivilegierten Kindern. In dieser Zeit bahnt sich die Erkenntnis an, die später zu voller Klarheit ausreifte, "daß der Klient derjenige ist, der weiß, wo der Schuh drückt, welche Richtungen einzuschlagen, welche Probleme entscheidend, welche Erfahrungen tief begraben gewesen sind. Langsam merkte ich, daß, wenn ich es nicht nötig hätte, meine Cleverneß und Gelehrsamkeit zu demonstrieren, ich besser daran täte, mich auf den Klienten zu verlassen, was die Richtung des Prozeßablaufes anging" (ebd., 27f.). Hier zeichnet sich die klientenzentrierte Orientierung bereits ab. Nachdem C. R. Rogers längere Zeit die Anerkennung der Fachwelt versagt blieb, konnten die Psychologen auf die Dauer seine Erfahrungen und Erkenntnisse nicht ignorieren. So erfolgte 1940 die Berufung zum Professor an die Ohio-State-University. 1942 erschien "Counseling and Psychotherapy" (dt.: Die nicht-direktive Beratung, 1972). Die weitere Tätigkeit an den Universitäten von Chicago und Wisconsin ist bestimmt durch zwei Tendenzen: 1. Praktische Tätigkeit als Therapeut verbunden mit reicher subjektiver Erfahrung; 2. wissenschaftliche Forschung, die die subjektive Erfahrung mit Objektivität betrachtet (ebd., 30). Diese Arbeit ist durchzogen von dem unbeirrbaren "Vertrauen in andere Personen als Individuen mit starken Motiven zur eigenen Verwirklichung" (Minsel, 16). In der "Client-centered therapy" von 1951 (dt.: Die klientbezogene Gesprächstherapie, 1972) wird die Theorie der Gesprächspsychotherapie dargelegt. In der nachfolgenden Zeit werden die gesprächspsychotherapeutischen Hypothesen wissenschaftlich untermauert. Die gewonnenen Erfahrungen werden derart verallgemeinert, daß sie als Grundbedingungen allgemeinmenschlicher Beziehungen gelten. Ein Beispiel dafür ist "Carl Rogers an encounter groups" (dt.: Encountergruppen, 1974), wo gesprächstherapeutische Verhaltensmerkmale in großen Gruppen angewendet werden mit dem Lernziel, soziale Beziehungen besser zu realisieren. 2. Wenn der Prozeß der Therapie beschrieben wird als eine Entwicklung von Starre (Rigidität) zum "Prozeß-Sein" (Flexibilität), so läßt sich dies über den Klienten Gesagte auch auf die Theorie der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie selbst übertragen. Unklarheiten und Mißverständnisse entstanden und entstehen aus der falschen Annahme heraus, es würde sich hierbei um eine ein für allemal feststehende Technik, um ein starres -1- seel03 System handeln. Doch es ist ein stets in der Entwicklung begriffenes Verfahren, das nicht nur von C. R. Rogers selbst, sondern auch von anderen Therapeuten variiert worden ist (Rogers, 23; Czell, 306). Die Grundrichtung des Konzepts der Gesprächspsychotherapie ist bereits in "Counseling and Psychotherapy" angegeben: "Für die Veränderung psychoneurotischer Störungen ist direkte Lenkung, etwa in Form von Ratschlägen, Empfehlungen und Anweisungen, ungünstig" (Minsel, 16). Es handelt sich also um eine nicht-direktive Haltung. Damit unterscheidet sich C. R. Rogers von einer direktiven und diagnostizierenden Psychotherapie. In der weiteren Entwicklung werden drei Phasen unterschieden: a) In einer durch Akzeptierung und Wertschätzung bestimmten Atmosphäre sollte der Klient ermutigt werden, frei von Angst seinen eigenen Weg aus den Problemen zu suchen. Aufgabe des Therapeuten war es, die wichtigsten Gefühle zu reflektieren (Hammers, 148). b) Bei Beibehaltung der nichtdirektiven Grundrichtung wurde in der 2. Phase (1950 -1967) der Prozeß der Selbstexploration weiter präzisiert und der Gefühlsverbalisierung noch mehr Aufmerksamkeit geschenkt. "Neu war, daß der Therapeut nicht nur die offensichtlichen, starken Gefühle aufgriff, sondern in seinen Verbalisierungen möglichst präzise und differenziert dem Erleben des Klienten folgte, so als würde er es in den einzelnen Nuancen detailliert miterleben" (ebd.). Der Therapeut versucht mit seinen Worten, den Klienten besser zu verstehen, als dieser es selbst zu formulieren vermag. c) Eine 3. Phase (ab 1967) ist gekennzeichnet durch eine neue Rollendefinition des Therapeuten. Dieser versteht sich nicht mehr als neutraler Reflektor, als der Spiegel für das Erleben des Klienten, sondern er ist mit seiner Person am therapeutischen Prozeß beteiligt. Somit wird die aktuelle Beziehung zum Wesentlichen des therapeutischen Prozesses. "Die Therapie entwickelt sich in ihrer Konzeption zunehmend zu einem zwischen- und mitmenschlichen Prozeß" (ebd., 149). Früher fragte sich C. R. Rogers: "Wie kann ich diesen Menschen behandeln oder heilen oder verändern? Heute würde ich die Frage so stellen: Wie kann ich eine Beziehung herstellen, die dieser Mensch zu seiner eigenen Persönlichkeitsentfaltung benutzen kann? ... Wenn ich eine gewisse Art von Beziehung herstellen kann, dann wird der andere die Fähigkeit in sich selbst entdecken, diese Beziehung zu seiner Entfaltung zu nutzen, und Veränderung und persönliche Entwicklung finden statt" (Rogers, 46f.). Eine solche Beziehung ist determiniert durch die drei sogenannten Therapeutenmerkmale, deren Realisierung nach C. R. Rogers als notwendige und hinreichende Bedingung für den therapeutischen Prozeß gilt. Er selbst nennt diese drei Säulen des Therapeutenverhaltens wie folgt: a) "Authentizität und Transparenz, ich zeige mich in meinen wirklichen Gefühlen"; b) "warmes Akzeptieren und Schätzen des anderen als eigenständiges Individuum"; c) "Einfühlung, die Fähigkeit, den anderen und seine Welt mit seinen Augen zu sehen" (ebd., 51; dies schließt aber eine gewisse Distanz nicht aus). Eine Beziehung, die durch ein solches Therapeutenverhalten strukturiert ist, führt beim Klienten zu Veränderungen. Das Gefühl, akzeptiert und verstanden zu werden, läßt auch den Klienten sich selbst akzeptieren (reziproke Reaktion), fördert die Bereitschaft, auch bisher unterdrückte und geleugnete Gefühle und Erfahrungen wahrzunehmen. Es kommt der Pro zeß der Selbstexploration in Gang, der von C. R. Rogers wie folgt beschrieben wird: "Je mehr der Klient den Therapeuten als jemanden wahrnimmt, der wirklich, ehrlich, empathisch und bedingungslos zugewandt ist, desto mehr wird er sich von einer statischen, fixierten, gefühlsarmen, unpersönlichen Art des Sich-Verhaltens wegentwickeln, desto mehr wird er zu einer Art des Verhaltens kommen, die durch fließendes, sich veränderndes, akzeptierendes Erleben sich unterscheidender persönlicher Gefühle gekennzeichnet ist. Die Folge dieser Entwicklung ist eine Änderung der Persönlichkeit und des Verhaltens in Richtung auf psychische Gesundheit und Reife, realistische Beziehungen zum Selbst, zu andern und zur Umwelt" (ebd., 79). Der Klient gewinnt ein neues Selbstwertgefühl, lernt sich selbst achten und bestimmen. Die Diskrepanz zwischen dem, "was er ist, und dem, was er sein möchte, ist -2- seel03 weitgehend verringert" (ebd.). Insofern ist diese Therapie gerade bei Selbstwertstörungen angezeigt. Es sei noch einmal unterstrichen, daß die klientenzentrierte und nichtdirektive Orientierung auf die Eigenverantwortlichkeit des Klienten abhebt; hierin ist eingeschlossen, daß der Klient selbst das Therapieziel im Laufe des therapeutischen Prozesses bestimmt. 3. Der angedeutete therapeutische Prozeß impliziert ein bestimmtes Menschenbild. Weil die Seelsorge bei der Übernahme humanwissenschaftlicher Methoden auch diese anthropologischen Implikationen im Blick haben muß, wollen wir dieser Frage nachgehen. Auf eine Formel gebracht könnte man sagen, C. R. Rogers hat ein optimistisches und humanistisches Menschenbild. Die klientenzentrierte, nichtdirektive Gesprächspsychotherapie baut auf die Tendenz des Menschen zur psychischen Reife (ebd., 49). Diese Tendenz kann zwar verschüttet sein und vor lauter Destruktivität und asozialem Verhalten nicht sichtbar (ebd., 42), doch im tiefsten kann man auch hier die positiven Richtungsneigungen entdecken. "Diese Tendenz wird in einem angemessenen psychologischen Klima frei, wird aktualisiert" (ebd., 49). Für diese Haupttriebfeder des Lebens kann C. R. Rogers vielfältige Begriffe verwenden wie: Neigung zur Reorganisation, Tendenz zur Entfaltung, Drang zur Selbstaktualisierung, eine sich vorwärtsentwickelnde Gerichtetheit (ebd., 49). Nach H. Lemke ist C. R. Rogers' Menschenbild von der Evolutionstheorie bestimmt: "Wie beim Evolutionsprozeß das gesamte organische Leben eine Richtungskraft in sich trage, so habe auch der individuelle Organismus eine Tendenz in sich, die nach Selbsterhaltung . . ., Selbstaktualisierung oder -verwirklichung . . . nach wachsender Selbstbeherrschung und Autonomie ... dränge. Letztlich scheine die Entwicklungstendenz des Organismus eine solche in Richtung auf Sozialisierung` hin zu sein" (Lemke, 23). Diese positive Entwicklungstendenz wirkt sich also nicht nur selbsterhaltend, sondern auch sozial aus. Es ist ein Grundbedürfnis des Menschen, sich anderen anzuschließen und zu kommunizieren. So gibt es für C. R. Rogers keine Bestie im ,Menschen (Rogers, 112, 177), eine triebhaft angelegte Destruktivität kann nicht bestätigt werden (ebd., 194). Zwar weiß er, daß "Individuen aus Abwehr und innerer Angst sich unglaublich grausam, destruktiv, unreif, regressiv, asozial und schädlich verhalten können" (ebd., 42), doch kann unter den Bedingungcn der hilfreichen Beziehung der positive Kern freigelegt werden. Bestärkt sieht sich C. R. Rogers in seinen Anschauungen durch S. Kierkegaard (ebd., 167) und M. Buber, auf den er sich so bezieht: "Er sagt, für ihn bedeute bestätigen, die ganzen Möglichkeiten des anderen annehmen, in ihm den Menschen erkennen, seiner innewerden, der zu werden er angelegt ist, ihn mir und dann ihm selbst, im Verhältnis zu diesem Angelegtsein, das jetzt entwickelt werden, das sich jetzt entfalten kann, bestätigen" (ebd., 69; vgl . 197). Zusammenfassend läßt sich sagen: "Der innerste Kern der menschlichen Natur, die am tiefsten liegenden Schichten seiner Persönlichkeit, die Grundlage seiner tierischen Natur ist von Natur aus positiv - von Grund auf sozial, vorwärtsgerichtet, rational und realistisch" (ebd., 99f.). Ohne dies aus der Erfahrung gewonnene Credo ist die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie nicht zu verstehen. Getreu seinem Grundsatz der Nichtdirektivität will sich C. R. Rogers der Propagierung von Philosophie, Glauben und Prinzipien enthalten. Dennoch kann nicht übersehen werden, daß dieses Therapiemodell selbst nicht frei von philosophischen Implikationen und Wertungen ist. (Die Strömungen, die C. R. Rogers in Theorie und Praxis beeinflußt haben, hat A. Zottl in einer umfangreichen Darstellung nachgezeichnet: "Erfahrung und Gegenwärtigkeit. Dialogische Folien über der Anthropologie von Carl Rogers", 1980.) Heute wird schärfer gesehen, daß a) ein Einfluß auf Therapieziele durch normative Einflußgrößen, b) ein versteckter Einfluß durch persönliche Wertvorstellungen des Therapeuten und c) durch Zielimplikationen der Methode vorliegt (vgl. Stauß, 134ff.). -3- seel03 Dieterich, 48f 4.22 Zum ideologischen Überbau psychotherapeutischer Verfahren Kritischer und abgesetzt von den Methoden ("dem Handwerkszeug") der verschiedenen Formen der Psychotherapie ist deren ideologischer Hintergrund zu sehen. So stellt beispielsweise Rogers als einer der führenden Vertreter der Gesprächspsychotherapie seinen humanistischen (und damit bibelfremden) Ansatz folgendermaßen dar: "Die Kirche, unsere Regierung und unsere Erziehung gehen alle von der Auffassung aus, daß man dem Menschen nicht trauen kann. Er muß kontrolliert, gelenkt und angeleitet werden. Es wäre gefährlich, dem Individuum wirkliche Freiheit zu gewähren. Gemäß meiner Erfahrung jedoch ... erkannte ich: Je mehr ich dem Einzelnen dazu verhalf, offen zu sein, je mehr Unabhängigkeit, je mehr Wahlfreiheit er hatte, desto mehr Beweise gab es dafür, daß der Mensch im Grunde seines Wesens sozial und konstruktiv ist. Deshalb betrachte ich Therapie und Gruppenprozeß auch als einen Weg, die schöpferischen Anlagen, den Wunsch zur Selbstverwirklichung zu fördern, der jedem Individuum angeboren ist. Die Leute sagen: 'Ja, aber wie steht es mit all dem Bösen auf der Welt?' Ja, es gibt viel Böses auf der Welt und viele unglaublich brutale, schreckliche Handlungen, aber ich gehöre nicht zu denen, die glauben, daß das dem Menschen angeboren sei. Ich glaube nicht, daß der Mensch als Sünder geboren wird. Ich glaube, daß immer das Bestreben zur konstruktiven Selbstverwirklichung besteht. Das kann allerdings durch gesellschaftliche Faktoren und Umstände schrecklich irregeleitet werden ... Es gibt alle Arten des Bösen auf der Welt. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, daß dies nicht dem eigentlichen Wesen des Menschen entspricht. Ich finde, daß die menschliche Natur grundsätzlich positiv und konstruktiv ist . -4- seel03 Rebell, 184 Da die Auseinandersetzung mit Rogers so wichtig ist, soll sie hier in einiger Ausführlichkeit nachgezeichnet werden (die Aufstellung ist entnommen aus H. Lemke, Theologie und Praxis annehmender Seelsorge, Stuttgart 1978, 38): Urstand / Natur (Organismus) Theologische Menschenbild Der Mensch als Geschöpf Gottes ist verantwortlich für seine Welt. peccatum originale / Sozialisationsschäden Durch die Abwendung von Gott verliert der Mensch Freiheit und Geborgenheit. Er handelt deshalb schuld haft an sich selbst und sei nen Mitmenschen. Erlösung/Selbstfindung Annahme des Menschen durch Gott im Christusgeschehen, im seelsorgerlichen Bereich erfahrbar durch die Beziehung zum Seelsorger, gestaltet durch Annahme, Liebe und Wahrhaftigkeit. Der Mensch findet durch Christus zu Gott, zu sich selbst und seinen Mitmenschen zurück. Aus neugewonnener Bindung an Gott gewinnt er Freiheit von verknechtenden Zwängen und übernimmt Verantwortung für seine Welt. Der durch Christus erlöste Mensch lebt weiter in Anfechtung auf Hoffnung hin. Neues Sein / Selbstkongruenz Im Sein Werden / Prozeß -5- Rogers' Menschenbild Der Mensch ist von seiner Grundnatur her konstruktiv, sozial und verantwortlich für die Welt. Durch negative Erfahrun gen im Sozialisationsprozeß verliert der Mensch seine Freiheit und entwickelt destruktives Verhalten sich selbst und seinen Mitmenschen gegenüber. Möglichkeit zur Selbstaktualisierung durch die Beziehung zum Therapeuten, gestaltet durch Akzeptieren emotionale Wärme und Echtheit. Der Mensch findet zu einem konstruktiven Selbst und seinen Mitmenschen zurück. Er gewinnt Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen und übernimmt Verantwortung für die Welt. Die in der Therapie begonnene Selbstaktualisierung bleibt ein Prozeß auf die Selbstkongruenz hin. seel03 REAKTION AUF GEFÜHL VERSUS [gegen] REAKTION AUF INHALT. Am schwierigsten ist für den Berater vermutlich die Fähigkeit zu erwerben, das ausgedrückte Gefühl anzuerkennen statt lediglich dem gedanklichen Inhalt des Gesagten Aufmerksamkeit zu schenken. In unserer Kultur sind die meisten Erwachsenen geschult, auf vorgebrachte Ideen einzugehen und nicht auf Gefühle. Nur Kinder oder Dichter zeigen tieferes Verständnis für den Umstand, daß emotionelle Einstellungen alles begleiten, was wir ausdrücken. Diese begleitenden Einstellungen zu erkennen und zu ihrem Ausdruck zu verhelfen ist eine wirkungsvolle Unterstützung der Beratung. Einige Beispiele sollen diesen Punkt verdeutlichen. Im folgenden Auszug reagiert der Berater auf den Inhalt statt auf das Gefühl. Ein Student beschreibt bei seinem ersten Kontakt mit dem Berater sein Problem wie folgt: [125] (Tonbandprotokoll) K: Ich habe immer gewußt, daß meine Lernmethoden, meine Lerngewohnheiten falsch sind. Ich habe nicht das Gefühl, daß ich eine überragende Persönlichkeit bin, aber ich glaube auch nicht, daß ich so dumm bin, wie es nach meinen Noten den Anschein hat. Der Leser wird gut daran tun, sich zu fragen, was dieser Student fühlt, als er das sagt. Es ist klar, daß er enttäuscht ist angesichts der Diskrepanz zwischen seiner Fähigkeit und seinen Noten und sich Gedanken darüber macht, daß seine Noten als Maßstab für seine Fähigkeiten betrachtet werden. Eine Reaktion auf dieses Gefühl wäre ein Schritt zur tieferen Enthüllung des Problems gewesen, aber der Berater antwortet: B: Wie schlecht sind denn Ihre Noten? Ich dachte, sie seien ganz gut. K: Im Schnitt liegen sie derzeit unter 3. Letztes Semester war der Durchschnitt 2,5. B: Hm. K: Ich weiß ja, daß ich hart arbeiten muß, um mich zu halten, aber andere Leute tun das auch und bekommen gute Noten. Ich weiß nicht, warum ich das nicht kann. B: Hm. K: Ich bin erst im vierten Jahr hier und hab noch einiges vor mir. Der Berater verzögert zeitweise einen Fortschritt, indem er auf eines der intellektuellen Elemente der Unterhaltung eingeht, aber der Student kehrt zu seinem Problem zurück, und sein Gefühl der Verwirrung und Enttäuschung wird deutlicher erkennbar. Eine Reaktion auf dieses Gefühl würde den Prozeß vorantreiben, aber der Berater geht wieder auf ein inhaltliches Element ein und fragt, ob die Nebenbeschäftigung des Studenten Einfluß auf seine Noten habe. B: Führt diese Nebenbeschäftigung nicht dazu, daß Sie Ihre Fächerzahl einschränken müssen? K: Nein, bislang war das nicht notwendig. B: Ach so. K: Verstehen Sie, ich möchte Medizin machen, aber es sieht nicht so aus, als wäre das bei meinen Noten möglich. Im Augenblick konzentriere ich mich auf Musik und mache das, was ich für das Medizinstudium brauche, nebenher, weil ich hoffe, daß ich es doch noch schaffe. B: Hm. Und angenommen, Sie schaffen es nicht? Was würde das bedeuten? K: Das hieße, daß ich wahrscheinlich Musiklehrer werden würde. B: Ist das so schlimm? K: So schlimm ist es nicht, aber ich möchte schon seit langem Medizin machen, und ich glaube, daß es nichts gibt, was ich so gerne studieren würde. Nicht daß ich die Welt retten zu können glaube oder so was. Ich möchte es einfach. [126] -6- seel03 B: Hm. An diesem Wunsch ist natürlich nichts auszusetzen, ich meine, ich will Ihnen da nicht widersprechen. Ich wüßte nur gerne, was es für Sie bedeuten würde, wenn Sie es nicht schaffen würden, was dann Ihre Alternativen wären und wie Sie darüber denken. Mit Ausnahme der Frage »Ist das so schlimm?« führen alle Bemerkungen des Beraters vom Gefühlsaspekt der Situation des Klienten fort und hin zu dem einen oder anderen intellektuellen Aspekt. Eine Zeitlang widersetzt sich der Klient und fährt fort, von seinen Gefühlen zu berichten, aber zuletzt beugt er sich der Führung des Beraters, und es beginnt eine Diskussion über die Vorzüge der Musik bzw. der Medizin. Der Berater ließ eine echte Gelegenheit zum Ausdruck der motivierenden Einstellungen und der tieferliegenden Probleme des Klienten ungenutzt verstreichen. aus: Carl R. Rogers Die nicht-direktive Beratung München, 5. Auflage 1972 -7-